Kabul direkt - im Gespräch mit afghanischen Spitzenpolitikern
In: KAS-Auslandsinformationen, Volume 19, Issue 8, p. 32-63
ISSN: 0177-7521
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In: KAS-Auslandsinformationen, Volume 19, Issue 8, p. 32-63
ISSN: 0177-7521
World Affairs Online
Schon immer gab es Versuche, Schmerz zu lindern und Betäubung zu erzeugen, die jedoch an ihrer Unzulänglichkeit und den teils gravierenden Nebenwirkungen scheiterten. Erst ab 1846 fand mit der Äthernarkose eine Methode weithin fachliche Anerkennung. Wenig später etablierte sich die Chloroformnarkose als vorherrschende zivile Narkoseform. Im Krieg 1870/71 operierte man daher fast ausschließlich in Chloroform-Narkose. Der Äther wurde wegen seiner Explosivität und der häufigen Nutzung offener Flammen zur Beleuchtung gemieden. Die Applikation von Chloroform erfolgte meist mittels Gesichtsmasken oder Tüchern. Konsequente Prämedikation mit Morphium konnte den Narkotikabedarf für Allgemeinnarkosen verringern. Atemwegssicherung konnte 1870/71 allenfalls mithilfe von Tracheotomien vorgenommen werden. Die Lokalanästhesie hingegen gab es in ihrer heutigen Form erst ab 1884, allenfalls wurde bereits Kälteanästhesie genutzt (auch mittels Schwefeläther). Transfusionen wurden schon vereinzelt vorgenommen, Kochsalzlösungen kamen hingegen nicht zum Einsatz. Wiederbelebungsmethoden nach Hall oder auch nach Silvester wurden empfohlen. Ebenso wurde bei der Wiederbelebung zur Applikation von Elektrizität am Hals zur Stimulation des Zwerchfells geraten. Zwischen 1871 und 1914 hielten zum Teil maßgebliche Neuerungen in der zivilen Medizin Einzug. Bereits in den 1890er Jahren entstanden umfangreiche Statistiken zu Narkosetodesfällen, die Anlass gaben, auf Äther zurückzugreifen und Chloroform zu vermeiden. Ab 1884 begann dann die Ära der Lokalanästhesie mit Nutzung des Kokains. Später kamen neue Substanzen hinzu; die Technik wurde insbesondere in Deutschland immer weiter vorangetrieben – teils zu Lasten der Allgemeinnarkose. Auch die intravenöse Narkose wurde getestet, konnte mangels geeigneter Substanzen allerdings erst mit Einführung des Evipans 1932 dauerhaften Erfolg vorweisen. Auch mit Bluttransfusionen ist bis zum Ersten Weltkrieg viel experimentiert worden. Doch erst die international verbindliche Festlegung der Blutgruppen ermöglichte nach dem 1. Weltkrieg die Herstellung von Blutkonserven und die Etablierung sicherer Transfusionsverfahren. Versuche zur künstlichen Beatmung ab den 1880-er Jahren führten 1901 zu Brauns Mischnarkose-Apparat und 1902 zum Roth-Dräger-Apparat mit Druckgasreduzierventil zur Sauerstoff-Chloroform-Narkose. Ab 1907 erschien dann der "Pulmotor" der Dräger-Werke in immer höheren Stückzahlen, aber unter fortbestehender fachlicher Kritik. Insgesamt standen kurz vor dem Ersten Weltkrieg bereits wirkungsvolle Beatmungsgeräte zur Verfügung. Die endotracheale Intubation zur Atemwegsicherung in Verbindung mit der Überdruckbeatmung (wie von Kuhn angeregt) scheiterte an der Dominanz des mit Unterdruck arbeitenden Sauerbruch, sodass Fortschritte der Intubation in der neu etablierten Thoraxchirurgie vor allem in den USA und in England erzielt wurden. Infolge von Narkosezwischenfällen gelangte die Reanimation zu größerer Beachtung. Zur Ventilation wurden mit unterschiedlicher Gewichtung die Mund-zu-Mund-Beatmung, Blasebalge, manuelle Kompression und Zuführung von Elektrizität angewandt. Trotz Überwiegens des Äthers in der zivilen Medizin blieb Chloroform - mittels Gesichtsmasken appliziert - das Narkotikum der Wahl im Feldgebrauch 1914-1918. Jedoch wurde häufiger die Lokalanästhesie eingesetzt, sofern Lokalanästhetikum und ein erfahrener Anwender verfügbar waren. So wurde diese während des Ersten Weltkrieges auch partiell weiterentwickelt und teils routinemäßig eingesetzt. Auf britischer Seite wurden Intubationen erprobt; in Deutschland dauerte ihre regelhafte Anwendung bis nach dem 2. Weltkrieg. Narkosegeräte für den Feldgebrauch wurden nicht in großem Maßstab eingesetzt. Arterio-venöse oder veno-venöse Transfusionen wurden ebenfalls nur selten versucht. Kolloidale Lösungen kamen lediglich auf englischer Seite zum Einsatz; die Infusion von Kochsalzlösung war auf deutscher Seite eine Ausnahme. Es dürften auch vereinzelt Beatmungsgeräte wie der Pulmotor zur Wiederbelebung zur Verfügung gestanden haben, diese wurden jedoch bei geringer Verfügbarkeit nicht regelhaft eingesetzt. Bis auf eine positive Entwicklung der Lokalanästhesie durch die Feldmedizin blieb diese im Ersten Weltkrieg hinter den Methoden der zivilen Medizin in Deutschland zurück. Eine Erklärung dafür könnte die späte Etablierung der Anästhesie als eigenständige Fachrichtung (erst nach dem Zweiten Weltkrieg) sein. Die meisten Chirurgen wollten diese Abspaltung verhindern und sahen die Anästhesie als Teil ihres Fachgebietes. Eine frühere Abspaltung und Verselbstständigung hätte die Feldmedizin dem Niveau der zivilen Medizin angeglichen und hätte damit eine bessere Versorgung der Verwundeten bewirken können. ; Though there have always been attempts to ease pain and to achieve anaesthesia, those failed due to their inadequacy and their sometimes grave adverse effects. It was not until 1846 that a method, the ether anaesthesia, was widely recognized by professionals. Soon after that chloroform became the predominant substance for anaesthesia. In the war of 1870 to1871 surgery was almost exclusively performed in chloroform anaesthesia. Ether on the other hand was shunned because of its explosive potential–especially when using open flames for lighting. Application of chloroform was usually done with face masks or cloth. Premedication with morphine was used to lower the demand for anaesthetics during narcosis. Airway management could only be achieved by tracheotomy in 1870 to 71. Local anaesthesia as we know it was used as of 1884. At the most there was anaesthesia by cooling – for example through local application of sulfuric ether. There was sporadic use of blood transfusion, but physiologic salt solution was not used at all. The suggested methods for resuscitation were those of Hall or Silvester, while cervical electric stimulation of the diaphragm was also recommended. Between 1871 and 1914 several major innovations were made in civil medicine. As early as the 1890s detailed statistics concerning anaesthetic deaths were created. Those soon gave reason to turn to ether again while avoiding chloroform at all. 1884 was the begin of local anaesthesia initially using cocaine. Later, new substances were discovered or rather found suitable and the method was further developed in Germany neglecting narcosis on the downside. Intravenous narcosis was also tested, but could not succeed until more appropriate substances were discovered in 1932. There have also been many experiments regarding blood transfusion until the outbreak of World War I. Nevertheless, secure procedures for producing and applying blood transfusions were not available until blood groups were defined on an international consensus after the war. Serious efforts to achieve artificial ventilation going back to the 1880s lead Braun to the invention of his "Mischnarkose-Apparat" (apparatus for mixed anaesthesia) in 1901 and to the 'Roth-Dräger-Apparat' of 1902 which used a special valve to reduce pressure and applied oxygen and chloroform for narcosis simultaneously. In 1907 the 'Pulmotor' was invented at Dräger in Lübeck, was produced in constantly growing quantities and was continuously criticised by professionals. In general, there were sufficient ventilators available right before the outbreak of World War I. Endotracheal intubation for airway management in combination with positive pressure ventilation (as supported by Kuhn) did not succeed because of the resistance of Sauerbruch, who worked with negative pressure ventilation. This led to innovations with intubation especially in the newly formed field of thoracic surgery being primarily made in the US and England. Following anaesthetic deaths, resuscitation became a topic with growing impact. With the idea of providing ventilation mouth-to-mouth resuscitation and manual thoracic compression were used in different extents next to the application of electricity. Although ether was much more commonly used in civil medicine chloroform application via face masks was the method of choice in military medicine of 1914 to 1918. Nevertheless, local anaesthesia was even more common, provided that there were a supply of local anaesthetics and skilled users. This technique was even further developed, refined and routinely used during World War I. While intubations were field-tested on the British side, Germany implemented this method not until after World War II. Military grade anaesthetic machines were not broadly used as well. Furthermore, arterio-venous or veno-venous transfusion were only sporadically used while colloidal solutions were only used on the British side. Ventilators might have been occasionally used for resuscitation, but were not commonly employed due to a short supply. Excepting the positive development of local anaesthesia military medicine in Germany was left behind by the capabilities of civil medicine in World War I. An explanation for that could be the late implementation of anaesthesia as an independent medical speciality, namely after World War II. Most surgeons tried to prevent that separation, because they thought anaesthesia to be part of their own speciality. An earlier separation and even sovereignty of anaesthesia would have equalised the standard of military and civil medicine and would have led to an improvement in the treatment of the wounded.
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In Deutschland wurden von 1979 bis heute 14 Biosphärenreservate sowohl national von der jeweiligen Landesregierung im Rahmen des Landesnaturschutzgesetzes als auch von der UNESCO international anerkannt. Damit unterliegen diese Großschutzgebiete einer einheitlichen und weltweit anerkannten Zielstellung. In der internationalen Naturschutzpolitik gilt Deutschland als Vorbild, da eine aus Biosphärenreservatsleitern bestehende Arbeitsgruppe 1996 Ausschluss- und Bewertungskriterien für die Anerkennung und Überprüfung von Biosphärenreservaten (kurz: BR-Kriterien) definiert hat, nach denen Biosphärenreservate ausgewiesen bzw. evaluiert werden können. Biosphärenreservate stellen Modelllandschaften dar, in der beispielhaft Konflikte ausgetragen, nach Lösungswegen gesucht und Alternativen angeboten werden sollen. Daher ist es wichtig, vorprogrammierte Dauerkonflikte durch ein gut funktionierendes Monitoring rechtzeitig zu erkennen und zu lösen. Mit Hilfe von regelmäßigen Evaluierungen von Biosphärenreservaten lassen sich die Schutzvorhaben für die einzelnen Großschutzgebiete zielstrebig verwirklichen. Die Entwicklung, Festsetzung und regelmäßige Durchführung von Evaluierungen der Biosphärenreservate ist unbedingt erforderlich, um Erfolge zu bestätigen sowie Defizite und Fehlentwicklungen aufzuzeigen. Die BR-Kriterien und auch die "Internationalen Leitlinien für das Weltnetz der Biosphärenreservate" verlangen nach spätestens zehn Jahren eine Evaluierung der Biosphärenreservate. Elf (von 14) Biosphärenreservate sind bereits älter als zehn Jahre und hätten dem Generalsekretariat der UNESCO in Paris eine Evaluierung vorlegen müssen. Die von der Autorin geleisteten Untersuchungen zeigen die Notwendigkeit einer einheitlichen und von unabhängiger Seite praktizierten Evaluierung aller Biosphärenreservate in Deutschland auf. Die im Rahmen dieser Dissertation durchgeführten Evaluierungen der deutschen Biosphärenreservate beleuchten, wie sich die einzelnen Biosphärenreservate in den Jahren seit ihrer Anerkennung entwickelt haben. Dabei sind drei verschiedene Evaluierungsvorgaben berücksichtigt und miteinander verglichen worden. 1. Die deutschen Biosphärenreservate erzielen vorbildliche Ergebnisse bei der UNESCO-Evaluierung. Bei deskriptiven Verfahren kann es allerdings zu Verzerrungen in der Abbildung von Realitäten kommen. Defizite werden nicht zwangsläufig hervorgehoben. 2. Die Anwendung der BR-Kriterien gestaltet sich schwierig, da sie keine Rechtsgültigkeit besitzen. Außerdem ist der Qualitätsanspruch so hoch, dass keines der Biosphärenreservate alle Ausschlusskriterien erfüllt. 3. Das neu entwickelte Bewertungsverfahren greift diese Aspekte auf und ergänzt sie durch zusätzliche, übergeordnete Evaluierungserfahrungen und Qualitätskriterien. Der besondere Ansatz dieser Arbeit liegt darüber hinaus in der Überprüfung von Evaluierungserfahrungen der Biosphärenreservate im Ausland. Hierzu werden internationale Vergleiche mit evaluierten Biosphärenreservaten gezogen (z. B. Großbritannien, Norwegen, USA, Schweiz, Argentinien, Polen, Ägypten), um positive Erkenntnisgewinne zu vermitteln. Des Weiteren werden potentielle Biosphärenreservate in Deutschland berücksichtigt (z. B. Drömling, Karstlandschaft Südharz, Bliesgau, PLENUM-Modellprojekte), um zu überprüfen, welche Voraussetzungen diese erfüllen, bevor es zur nationalen und internationalen Anerkennung kommt. Die Dissertation stellt somit ein einheitliches, praxisnahes und umfassendes Evaluierungskonzept für die deutschen Biosphärenreservate vor. Die Methodik selbst basiert auf guter Anwendbarkeit, zweifacher Absicherung aller inhaltlich relevanten Fragestellungen, Bewahrung der Objektivität, unabhängigen und neutralen Beurteilungen. Die Ergebnisse sind vergleichbar, und positive Aspekte können übertragen werden. Damit leistet die Dissertation einen Beitrag, die bestehenden Biosphärenreservate in Deutschland für die Zukunft zu erhalten bzw. die Schaffung neuer Biosphärenreservate zu fördern, um die artenreichen Naturlandschaften mit ihrer genetischen Vielfalt dauerhaft zu schützen, die historisch gewachsenen sowie gestalteten Kulturlandschaften nachhaltig zu entwickeln und neue Perspektiven für die lokale Bevölkerung zu geben. Es wird auch zukünftig erforderlich sein, Konzepte zu erarbeiten, welche die Anpassung an neue Gegebenheiten gewährleisten. Die Evaluierungen sind in regelmäßigen Abständen durchzuführen, um Entwicklungsfortschritte und "tendenzen beurteilen zu können. Das ist mit der vorliegenden Arbeit klar herausgearbeitet worden. ; Between 1979 and the present, fourteen biosphere reserves in Germany have been designated both at a national level by the governments of the respective federal states and at an international level by the UNESCO. These large conservation areas are thus subject to standardised internationally accepted objectives. Germany is regarded internationally as a model for nature conservation policy, because in 1996 a working group made up of biosphere reserve managers defined additional evaluation and exclusion criteria for the recognition and review of biosphere reserves (abbr. BR-criteria). The development, definition and regular implementation of evaluation procedures for biosphere reserves is absolutely essential, in order to reward successes as well as to identify shortcomings and mistakes. Biosphere reserves represent showcase landscapes in which conflicts should be dealt with, solutions sought and alternatives suggested in an exemplary way. What is important in this context is that an efficient monitoring system should provide early identification of possible long-term problems which can then be avoided. With the help of regular evaluation of biosphere reserves, conservation plans for the individual large conservation areas can be put into practice with determination. This dissertation addresses this task. The evaluation of all biosphere reserves in Germany has been carried out and described in detail by an independent survey. In addition both the UNESCO guidelines and the BR-criteria are considered, as well as additional important factors derived from them and resulting from the author- experience. These will be presented as newly developed assessment procedures. Both the BR-criteria and UNESCO- international guidelines require an evaluation of any biosphere reserve after a maximum of ten years. Eleven of the fourteen biosphere reserves are already more than ten years old and should have presented an evaluation to the General Secretariat of UNESCO in Paris. The survey carried out by the author shows the necessity for a standardised and impartially conducted evaluation of all biosphere reserves in Germany. In a preliminary monitoring process, short-comings are identified and approaches to possible solutions discussed, but positive aspects are also highlighted. This dissertation concentrates in particular on a review of the evaluation experience of biosphere reserves abroad. Comparisons will be drawn using evaluations from other biosphere reserves, in order to pass on any positive insights gained. In addition the dissertation will consider potential new biosphere reserves in Germany in order to review which conditions they fulfil, before the stage of national or international designation is reached. The evaluation procedures for German biosphere reserves carried out for this dissertation show how the individual biosphere reserves have developed during the time since their designation. In the process, three different sets of evaluation guidelines have been considered and compared with one another. 1. The German biosphere reserves achieve exemplary results using the UNESCO evaluation. These descriptive procedures can, however, distort the current condition of a biosphere reserve, because shortcomings do not have to be pointed out. 2. The application of the BR-criteria proves to be difficult, because they have no legal validity. In addition, the quality requirement is so high that none of the fourteen biosphere reserves is able to fulfil all the exclusion criteria. 3. The newly developed assessment procedure addresses these aspects and supplements them with additional higher-ranking evaluation methods and quality criteria. The methodology itself is based on ease of use, duplicate coverage of all relevant problems and the preservation of objectivity as well as independent and neutral evaluation. In addition, the results are comparable. Positive aspects can be passed on. The dissertation therefore presents a standardised, easily manageable but nevertheless comprehensive evaluation strategy for the German biosphere reserves. In this way the dissertation makes a contribution to the conservation of the existing biosphere reserves in Germany for the future and supports the creation of new biosphere reserves, with the aims of giving permanent protection to the species-rich natural landscape with its genetic diversity; promoting sustainable development of the cultural landscape formed by human activity down the ages; and providing new prospects for the local population. There will also be need in future to work out strategies which can accommodate new conditions. The evaluation procedures should be carried out at least every ten years, in order to be able to assess progress and developmental trends. This has been clearly established by the dissertation.
BASE
POLPAN ist eine Panelstudie zur Beschreibung der sozialen Struktur und ihres Wandels während der postkommunistischen Transformation in Polen. Es wird in fünfjährigen Wellen ab 1988 durchgeführt. Im Jahr 1988 wurde die Erhebung unter einer nationalen Stichprobe der erwachsenen Bevölkerung Polens (21-65 Jahre) mit N = 5.817 durchgeführt. Im Jahr 1993 wurde diese Stichprobe stichprobenartig reduziert und 2.259 Befragte nahmen an der Studie teil. Die Forscher versuchten, sie in jeder der aufeinander folgenden fünfjährigen Wellen zu erreichen. Um eine angemessene Altersbilanz zu gewährleisten, wurden später weitere Teilproben mit jungen Kohorten ergänzt.
Beschäftigung. Selbständigkeit und selbständiges Arbeiten. Unregelmäßige Beschäftigung und zusätzlicher Job. Arbeitslosigkeit. Erfolgschancen und Konfliktquellen. Meinungen über Einkommen. Meinungen über die Gesellschaft. Privatisierung und der Markt. Statusbewertung und Ansichten zu sozialen Fragen. Freunde. Familie und Haushalt. Computer und Internet, Basisdaten. Körperliche Gesundheit und psychologische Items. Raven´s Test. Religion.
Themen: 1. Beschäftigung: Beruf; Anzahl der Arbeitsplätze; Arbeitssituation; Beginn der Beschäftigung in der aktuellen Firma (Jahr/Monat); ISCO 88 Internationale Berufsklassifikation; Polnische SCO-2009 Berufsklassifikation; 14 sozio-arbeitsbezogene Kategorien; SES 1979 Skala des sozioökonomischen Status; Umfang des beruflichen Ansehens 1979 und 2009; Umfang der Qualifikationsanforderungen; Umfang der Komplexität der Arbeit; Umfang der materiellen Vergütung; Gründung des Unternehmens (Jahr); Industrie (NACE); Unternehmensgröße (Anzahl der Arbeitnehmer im Unternehmen); Berufseinstieg; jemand anderes arbeitete zuvor in dieser Position; Arbeitsbeginn (Jahr/Monat); Weisungsbefugnis; Anzahl der Untergebenen; Weisungsniveau; wöchentlich geleistete Arbeitsstunden; befristete/unbefristete Zeitarbeit/ Vollzeitarbeit/Teilzeitarbeit (Arbeitsvertrag); nicht angemeldete Arbeit; Arbeitsplatzverlust unwahrscheinlich oder sicher; Arbeitsplatzverlust während des Jahres; Dauer der Arbeitsplatzverpflichtung in Monaten; Anzahl der Monate bis zum Ende der Arbeitsplatzverpflichtung; Erwartung nach Ablauf des Arbeitsvertrages; Verdienst pro Monat in Zloty; Grundgehalt / Lohn; Nebenbeschäftigung (Arbeitssituation).
2. Selbständigkeit und selbständiges Arbeiten: Beginn der selbständigen Erwerbstätigkeit (Jahr/Monat); selbständiger Landwirt oder andere Tätigkeiten; Industrie (NACE); ISCO 88 Internationale Berufsklassifikation; Polnische SCO-2009 Berufsklassifikation; 14 sozio-berufliche Kategorien; Skala der Qualifikationsanforderungen; Skala der Komplexität der Arbeit; Skala der materiellen Entlohnung; SES 1979 Skala des sozioökonomischen Status; Skala des beruflichen Prestiges 1979 und 2009; bebaute landwirtschaftliche Fläche und nicht bebaute landwirtschaftliche Fläche (Hektarzahl); Vertrag über den Verkauf landwirtschaftlicher Erzeugnisse vom Bauernhof; Einkommen pro Monat; Eigentum (Betrieb/Bauernhof); Unternehmensgründung oder -übertragung; Wochenarbeitszeit; Beschäftigung von Nicht-Familienmitgliedern; Anzahl der beschäftigten Nicht-Familienmitglieder; Zielgröße; Arbeitsplatzverlust unwahrscheinlich oder sicher; Arbeitsplatzverlust während des Jahres; Vergleich des Gewinns mit Konkurrenten; Präferenz für Arbeit als Arbeitnehmer; Nebenbeschäftigung: Arbeitssituation; Beschäftigung von Nicht-Familienmitgliedern; Zahl der beschäftigten Nicht-Familienmitglieder.
3. Unregelmäßige Beschäftigung und zusätzliche Arbeitsplätze: erste zusätzliche Beschäftigung: mit Vorgesetzten in dieser Position; Weisungsbefugnis; Anzahl der Untergebenen; ISCO 88 International Occupational Classification; Polnische SCO-2009 Occupational Classification; 14 sozio-arbeitsbezogene Kategorien; Skala der Qualifikationsanforderungen; Skala der Komplexität der Arbeit; Skala der materiellen Entlohnung; SES 1979 Skala des sozioökonomischen Status; Skala des beruflichen Prestiges 1979 und 2009; Beginn der Arbeit (Jahr/Monat); Stelle war bereits zuvor besetzt; Wochenarbeitszeit; Monatseinkommen in Zloty; Befragter hat eine andere Arbeitsstelle; zweite zusätzliche Arbeitsstelle: Weisungsbefugnis; Anzahl der Untergebenen; ISCO 88 Internationale Berufsklassifikation; Polnische SCO-2009 Berufsklassifikation; 14 sozio-berufliche Kategorien; Skala der Qualifikationsanforderungen; Skala der Komplexität der Arbeit; Skala der materiellen Vergütung; SES 1979 Skala des sozioökonomischen Status; Skala des beruflichen Prestiges 1979 und 2009; Beginn der Beschäftigung (Jahr/Monat); Stelle war bereits zuvor besetzt; Wochenarbeitszeit; Verdienst pro Monat in Zloty; Arbeitsplatzverlust unwahrscheinlich oder sicher; Arbeitsplatzverlust während des Jahres.
4. Arbeitslosigkeit: Wie werden Qualifikationen in der Arbeit genutzt; Arbeit beinhaltet direkte oder indirekte Kontakte mit anderen Menschen; Anzahl der Stunden pro Woche, die für Kontakte mit anderen Menschen aufgewendet werden; Arbeit beinhaltet Lesen, Schreiben oder Datenverarbeitung; Anzahl der Stunden pro Woche, die mit Daten verbracht werden; aktuelle Tätigkeit oder Einkommensquelle; Jahr, in dem die Rente, das Studium, die Haushaltsführung oder die Arbeitslosigkeit begonnen haben; Arbeitssuche von Januar 2003 bis heute; Zeiten der Arbeitssuche: Beginn des ersten bis dritten Zeitraums der Arbeitssuche (Jahr/Monat); Ende des ersten bis dritten Zeitraums der Arbeitssuche (Jahr/Monat); sonstige Stellen zwischen dem 1. Januar 2003 und Anzahl der Stellen.
5. Beruflicher Werdegang: Beruflicher Werdegang vom ersten bis zum fünften Arbeitsplatz: Arbeitssituation; ISCO 88 International Occupational Classification; Polnische SCO-2009 Occupational Classification; 14 sozio-ökonomische Kategorien; SES 1979 Skala des sozio-ökonomischen Status; Skala des beruflichen Prestige 1979 und 2009; Skala der Qualifikationsanforderungen; Skala der Komplexität der Arbeit; Skala der materiellen Vergütung; angefangene Arbeit (Jahr/Monat); Stelle war bereits vorher besetzt; Befragter hat zuvor in derselben Firma gearbeitet; Art der Beschäftigung; befristete/unbegrenzte Zeitbeschäftigung/Vollzeitbeschäftigung/Teilzeitbeschäftigung (Arbeitsvertrag); nicht registrierte Beschäftigung; Verdienst pro Monat in Zloty; Grundgehalt / Lohn; Nicht-Familienmitglieder beschäftigt; Zielgröße; Verdienst pro Monat nach Steuern; wöchentlich geleistete Arbeitsstunden; Arbeit gekündigt (Jahr/Monat); Grund für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses; später anderen Arbeitsplatz; Unterbrechung der beruflichen Laufbahn mehr als 3 Monate; Anzahl der Unterbrechungen; erste bis fünfte Unterbrechung in der beruflichen Laufbahn: Grund; Anfangsjahr; Endjahr; Anzahl der Monate; Job im Ausland für 3 Monate oder mehr; Jahr, in dem der Job im Ausland beendet wurde.
6. Erfolgschancen und Konfliktquellen: Kriterien für den Erfolg im Leben: Ehrgeiz, Netzwerke, harte Arbeit, politischer Einfluss, Abstammung aus einer reichen Familie, gute Bildung, Glück, vererbte Fähigkeiten und Talente; Einfluss der Regierung auf Arbeitslosigkeit und Korruption; Konfliktquellen: reich vs. arm, manuelle vs. nicht-manuelle Arbeiter, Manager vs. Aufseher, Stadtbewohner vs. Landbewohner, Gläubige vs. Ungläubige, Machthaber vs. Andere, Firmeninhaber vs. Angestellte; eigene Schuld oder die Schuld anderer Leute oder Umstände, wenn etwas im Leben schief geht; den meisten Menschen kann man vertrauen.
7. Meinungen zum Einkommen: Präferierte Steuer für verschiedene Einkommensgruppen (Wert in Zloty und Prozentsatz).
8. Meinungen über die Gesellschaft: Meinungen über politische und wirtschaftliche Veränderungen in Polen; Bewertung des gegenwärtigen Wirtschaftssystems in Polen; Meinungen über Demokratie: Demokratie ist immer die beste Regierungsform vs. nicht-demokratische Regierung ist manchmal besser vs. kein Unterschied zwischen beiden.
9. Privatisierung und der Markt: Stellungnahme zur Privatisierung staatlicher Unternehmen/
Privatisierungsbeschränkungen; Beschränkungen beim Erwerb von Eigentum (ausländisches Kapital, alte Nomenklatura, gegenwärtige politische Elite, Menschen ohne Erfahrung in der Führung eines Unternehmens); Marktpreis vs. staatlich festgelegte Preise für Grundnahrungsmittel; Bereitschaft zur Übernahme des Risikos für die Gründung einer Firma; Betrag, den der Befragte für die Gründung einer Firma ausgegeben würde.
10. Statusbewertung und Ansichten zu sozialen Fragen: subjektive Einschätzung der sozialen Lage auf einer 10-Punkte-Skala; in Polen wurde keine Regierung gebildet, der man vertrauen kann; Politiker kümmern sich nicht darum, was die Menschen wirklich denken; viele Korrupte unter Regierenden; die Wähler haben zu wenig Einfluss darauf, wie das Land regiert wird; man sollte immer Respekt vor den Behörden zeigen; es ist falsch, etwas anders zu tun als in früheren Generationen; es ist nicht falsch, durch die Arbeit als Arbeitnehmer reich zu werden; die Regierung verschwendet zu viel Steuern; die Politik ist so kompliziert, dass die Menschen nicht verstehen, was geschieht; der Staat sollte Kindern aus armen Familien in der Hochschulbildung helfen; eine gute politische Partei in Polen würde andere Parteien überflüssig machen; Staat soll Einkommensunterschiede abbauen; Staat soll Arbeitsplätze für alle schaffen, die arbeiten wollen; es lohnt sich, ein neues Geschäft auszuprobieren, auch wenn es unsicher ist; Demokratie bedeutet Minderheitsgewinne für die Mehrheit; in der Politik sind gegenseitige Zugeständnisse der beste Weg um Probleme zu lösen; Gehorsam ist das wichtigste Thema, das Kinder gelehrt werden sollte; Minderheit sollte ein uneingeschränktes Recht haben, die Mehrheit im politischen Leben zu kritisieren; Wahlen sind nicht notwendig, wenn Führer die Interessen der Bürger vertreten; gute Führer müssen nicht dem Gesetz gehorchen; bestimmte Gruppen sollten vom Wahlrecht ausgeschlossen werden; die katholische Kirche hat zu viel Einfluss in der Politik; zwei Arten von Menschen: schwach und stark; Auswirkung auf das Land durch den Beitritt Polens zur Europäischen Union; Auswirkung auf das Leben der Befragten durch den EU-Beitritt Polens; Meinung über die Bedingungen der Teilnahme an militärischen Aktionen gegen den Terrorismus; Ausmaß des politischen Interesses.
11. Freunde: Gesamtzahl der engen Freunde; Beziehungen zwischen engen Freunden; Personen unter den Freunden, auf die sich der Befragte verlassen konnte; Anzahl der Personen, auf die sich der Befragte in schwierigen Situationen verlassen konnte; Berufsinformationen über den engsten Freund: ISCO 88 Internationale Berufsklassifikation; Polnische SCO-2009 Berufsklassifikation; 14 sozio-berufliche Kategorien; Skala der Qualifikationsanforderungen; Skala der Komplexität der Arbeit; Skala der materiellen Entlohnung; SES 1979 Skala des sozioökonomischen Status; Skala des beruflichen Prestiges 1979 und 2009.
12. Familie und Haushalt: Familienstand des Befragten; Jahr der Eheschließung; Zusammenleben mit dem Partner; Scheidungs- oder Witwenjahr; dauerhafte Beziehung außer der Ehe (Jahr des Beziehungsbeginns); Ehegatte/Partner: Arbeitssituation; ISCO 88 Internationale Berufsklassifikation; Polnische SCO-2009 Berufsklassifikation; 14 sozio-arbeitsbezogene Kategorien; SES 1979 Skala des sozioökonomischen Status; Skala des beruflichen Prestiges 1979 und 2009; Skala der Qualifikationsanforderungen; Umfang der Komplexität der Arbeit; Umfang des materiellen Entgelts; Weisungsbefugnis des Ehegatten/Partners; wöchentlich geleistete Arbeitsstunden; befristete/unbegrenzte Zeitarbeit/Vollzeitarbeit/Teilzeitarbeit (Arbeitsvertrag); nicht registrierte Beschäftigung; Verlust des Arbeitsplatzes ist unmöglich oder sicher; Arbeitsverdienst pro Monat in Zloty; Grundgehalt; Festgehalt; beschäftigte Nicht-Familienangehörige; Zielgröße; Verdienst pro Monat nach Steuern; Bildung; Weiterbildung; Geburtsjahr, Anzahl der Personen im Haushalt; Behinderung oder Langzeitkrankheit des Befragten; Zahl der Personen im Haushalt, die einer bezahlten Arbeit nachgehen; Zahl der Arbeitslosen im Haushalt; Zahl der Kinder im Haushalt; Geschlecht und Alter jedes Kindes und Angabe, ob es sich bei diesem Kind um ein eigenes Kind oder um das Kind eines Ehegatten/Frau/Partners handelt; Haushaltsmitglieder von eins bis fünf: Beziehung zum Befragten, Geschlecht, Geburtsjahr; Person mit einer Behinderung oder einer langfristigen Krankheit im Haushalt (Befragter, Partner oder andere Person); der Befragte lebt mit den Eltern zusammen; Jahr, in dem der Befragte aufgehört hat, mit den Eltern zu leben; der Befragte lebt in einer anderen Stadt; die Eltern des Befragten leben in derselben Stadt; durchschnittliches monatliches Haushaltseinkommen; Haushaltseinkommen schließt externe Quelle ein; durchschnittliche monatliche Ausgaben für Lebensmittel; Ausgaben für Lebensmittel, wenn das Einkommen um die Hälfte gestiegen ist; durchschnittliche monatliche Ausgaben für kulturelle Güter; Ausgaben für kulturelle Güter, wenn das Einkommen um die Hälfte gestiegen ist; Haushalt zahlt Darlehen, Immobiliendarlehen oder Hypothekenkredite ab; durchschnittliche monatliche Zahlungen für Kredite/Darlehen; finanzielle Probleme in den letzten 12 Monaten bei Ausgaben für: Nahrungsmittel, Gebrauchsgegenstände, Kulturgüter, Freizeit, medizinische Versorgung und Bildung; Zahlungsfähigkeit: Möglichkeit, kurzfristig (innerhalb einer Woche) Geld zu beschaffen; Einkommensquellen des Haushalts; Wohnsituation: Jahr des Einzugs in die Wohnung.
Interviewer-Bewertung: Interview im Haus des Befragten oder an einem anderen Ort; Art des Gebäudes; Wohnung / Haus befindet sich innerhalb einer geschlossenen Gemeinde; Eigentum der Wohnung / des Hauses; Miethaus / Mietwohnung; Anzahl der Zimmer der Wohnung; Anzahl der Quadratmeter; Anzahl der Bücher im Haushalt; Autobesitz; Wert des Autos laut Versicherungsgesellschaft; Bewertung des Lebensstandards des Befragten.
13. Computer und Internet: Haushaltsausstattung: Kabel-/Satellitenfernsehen; Computer/Laptop; Internetzugang; Computernutzung; Computerkenntnisse (z.B. E-Mail versenden, Ordner erstellen und benennen, etc.); Anzahl der Stunden pro Woche, die zu Hause, bei der Arbeit und an anderen Orten am Computer verbracht werden; Nutzung von Internet oder E-Mail; Gründe, warum keine Internetnutzung erfolgt; Häufigkeit der Internetnutzung für verschiedene Aktivitäten (z.B. Arbeiten zu Hause oder am Arbeitsplatz, Einkaufen, Bezahlen von Rechnungen usw.); Jahr des Beginns der Internetnutzung.
14. Grunddaten: Alter des Vaters; Beruf des Vaters während der Befragte im jetzigen Alter ist und im Alter von 14 Jahren: ISCO 88 Internationale Berufsklassifizierung; Polnische SCO-2009 Berufsklassifizierung; 14 sozio-berufliche Kategorien; Skala der Qualifikationsanforderungen; Skala der Komplexität der Arbeit; Skala der materiellen Vergütung; SES 1979 Skala des sozioökonomischen Status; Skala des beruflichen Ansehens 1979 und 2009; soziale Stellung im Vergleich zu der des Vaters im jetzigen Alter des Befragten; Befragter hat Geschwister; Anzahl der Geschwister; ältestes Geschwister: Geschlecht, Alter (Geburtsjahr) und Bildung; Bildung der Mutter; Bildung des Vaters; Bildung des Befragten; Beginn und Ende des letzten Schuljahres; spezielles Bildungslevel (ISCED); Weiterbildungen der Befragten; Schulbesuch: Studienart, Schulbildung mit Unterricht; Berufsausbildung mehr als 1 Monat; Abschlussjahr der abgeschlossenen Kurse; Teilnahme an den Wahlen für Sejm und Senat 2005 und 2007; Wahlverhalten bei den Wahlen für Sejm und Senat 2005 und 2007; Bereitschaft zur Teilnahme an den Wahlen, wenn sie heute stattfinden würden; Partei, für die der Befragte bei den Wahlen für Sejm und Senat stimmen würde.
15. Körperliche Gesundheit und psychologische Items: Selbsteinschätzung der körperlichen Gesundheit im Vergleich zu anderen Personen im gleichen Alter; Körpergröße in Zentimetern, Gewicht in Kilogramm; Selbsteinschätzung der körperlichen Gesundheit und der psychischen Stimmung insgesamt; Raven´s Test: Gesamtpunktzahl der betrachteten Gegenstände nach fünf Minuten; gegenwärtiger Zustand der körperlichen Gesundheit und psychischen Stimmung; gegenwärtiger Gesundheitszustand verursacht Probleme bei der Arbeit, bei der Pflege der Wohnung, im sozialen Leben, im Privatleben, im Sexualleben, bei Interessen und Hobbys und in den Ferien.
16. Religion: Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft; Häufigkeit des Besuchs einer Messe.
Demographie: Geschlecht; Geburtsjahr, Alter.
Zusätzlich verkodet wurde: ID; Region; Woiwodschaft; Größe des Ortes; Fragebogenversion; Datum des Interviews (Jahr, Monat); Gewicht.
GESIS
Blog: Menschenrechtsbildung
Sommer, Sonne, Strand - Zypern ist eine Ferieninsel geworden, auf der viele Touristen Urlaub machen. In Nikosia können Tourist*innen in hippen Läden shoppen gehen, die schöne Altstadt genießen und lecker Essen gehen. Aber aufgepasst! Mitten in der Hauptstadt stehen Friedenstruppen der Vereinten Nationen und überwachen die grüne Linie. Der schöne Schein trügt und erinnert an die vergangenen blutigen Ereignisse zwischen den beiden Volkstruppen. Eine Reise nach Nikosia ist nicht nur mit Urlaub verbunden, sondern auch eine lebendige Geschichtsstunde, denn die Insel ist bis heute geteilt. Dennoch ist die Lage entspannter geworden, die Grenzen sind geöffnet und EU-Bürger*innen können mit ihrem Personalausweis problemlos den Südteil hin zum Nordteil überqueren. Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit der Friedenssicherung durch die Vereinten Nationen. Die Friedenssicherung hat sich zu einem zentralen Auftrag der Vereinten Nationen entwickelt und soll am Fallbeispiel Zypern erläutert werden. Dabei gliedert sich die Arbeit in fünf Teile. Zu Beginn wird auf den Kontext der UN-Friedenssicherung im allgemeinen eingegangen. Anschließend wird Bezug auf die Charta der Vereinten Nationen genommen und der Prozess und die Verantwortlichkeit der Friedensmissionen geklärt. Im Folgenden werden die ersten Friedensmissionen beleuchtet und reflektiert. Dabei wird der Zypernkonflikt historisch eingeordnet. Ob die Vereinten Nationen im Fall Zypern richtig gehandelt oder den Konflikt nur auf Eis gelegt haben, ist eine Kontroverse. Um diese zu verstehen, müssen die Hintergründe des Konfliktes beleuchtet werden, welches im nächsten Kapitel geschieht. Weiter wird auf die Mitwirkung der UNO an einer Lösung des Konfliktes eingegangen. Hier sollen die Schwierigkeiten und Erfolge beleuchtet werden. Zum Schluss wird anhand von ausgewählten Praxisbeispielen der UNFICYP gezeigt, wie die Friedensmission vor Ort ablief. Die Probleme und Erfolge der Friedenstruppen werden betrachtet, ebenso werden die Konzepte der Vereinten Nationen, die in die Praxis umgesetzt wurden, auf ihre Standhaftigkeit überprüft. Friedenssicherung durch die Vereinten NationenIm folgenden Abschnitt wird das Konzept der Friedenssicherung vorgestellt und in seinen einzelnen Stufen dargestellt. Die Friedenssicherung ist, zusammen mit der Durchsetzung der Menschenrechte, ein zentraler Auftrag der Vereinten Nationen. Diese Ziele hängen direkt miteinander zusammen (vgl. Mathis, 2013). Es gibt festgeschriebene Grundsätze, die von den Mitgliedern beachten werden sollten; die folgenden stehen in unmittelbarem Zusammenhang der Friedenssicherung der Vereinten Nationen: Die Pflicht zur friedlichen Streitbeilegung, das allgemeine Verbot der Androhung und Anwendung von Gewalt und das Interventionsverbot. Ausnahme beim Gewaltverbot ist die Selbstverteidigung und die vom Sicherheitsrat erlassenen militärischen Zwangsmaßnahmen. Der UN-Sicherheitsrat nimmt hier das Gewaltmonopol ein. Durch das Interventionsverbot dürfen souveräne Staaten sich nicht in innere Angelegenheiten einmischen. Der UN-Sicherheitsrat kann deshalb nicht in innerstaatliche Konflikte und Menschenrechtsverletzungen eingreifen (Ebbing 2012, vgl. S. 3f). Dabei trägt der UN-Sicherheitsrat die Verantwortung für die internationale Sicherheit und den Weltfrieden; dieser kann bindende Entscheidungen für Mitgliedsstaaten treffen (vgl. Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V.). Alle UNO-Missionen zur Friedenssicherung und die Entsendung von UN-Soldaten gingen auf die Entscheidung des Sicherheitsrates zurück. Zu betrachten ist, dass durch Menschenrechtsverletzungen Konflikte gestärkt werden und diese in bewaffneten Konflikten und Kriegen enden können. Außerdem kommt es in Kriegen zu Menschenrechtsverletzungen wie z.B. durch Folter, Ermordung von Zivilisten oder sogar Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie Völkermord (vgl. Mathis, 2013). Ein zentrales Gremium für das UN- Konfliktmanagement, welches anhand der UN-Charta entscheidet, ob es sich um einen Friedensbruch oder um einen Bruch der internationalen Sicherheit handelt, ist etabliert. Hier werden Maßnahmen beschlossen, um die internationale Sicherheit und den Weltfrieden wieder herzustellen (vgl. Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V.). Mathis zeigt auf, dass die Friedenssicherung eine signifikante Anzahl an Aspekten aufweist und durch das Grundprinzip nicht direkt in bewaffnete Konflikte eingegriffen wird. Zu aller erst gibt es die Prävention, wirtschaftliche Hilfe, Sicherung von Menschenrechten, Verhandlung in Konflikten, Sanktionen gegen Staaten, die völkerrechtswidrig handeln oder völkerrechtliche Vereinbarungen nicht einhalten, wie die Ablehnung von ABC-Waffen. Der Sicherheitsrat kann hierbei Empfehlungen zur friedlichen Streitbeilegung nach Kapitel VI der Charta aussprechen. Darüber hinaus kann es zu Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII kommen. Dabei kann es sich um nicht-militärische, aber auch um militärische Maßnahmen handeln (Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V.). Hinzu kommt, dass der UN-Sicherheitsrat einen Krieg völkerrechtlich legitimieren kann (vgl. Mathis, 2013). Während eines Krieges werden Verhandlungen für einen Waffenstillstand geführt, es wird humanitäre Hilfe geleistet, und die Zivilbevölkerung wird durch UN-Soldaten zu schützen versucht. Selbst nach einem Krieg sorgen die UN-Soldaten für die Sicherung des Waffenstillstandes und die Einhaltung von Friedensvereinbarungen. Dabei steht der Schutz der Zivilbevölkerung permanent im Vordergrund. Ein Wiederaufbau, eine Entwaffnung und Abrüstung wird gefördert und schwere Kriegsverbrechen werden geahndet (vgl. ebd.). In einer Resolution wird vom Sicherheitsrat über die Größe und das Mandat einer Friedensmission entschieden, und anhand regelmäßiger Berichte durch den Generalsekretär kann das Mandat verlängert oder geändert werden (vgl. ebd.). Nun soll geklärt werden, wie genau eine Friedensmission abläuft und wer die Verantwortung trägt. Für die Friedensmissionen ist das Department of Peacekeeping Operations (DPKO) zuständig; dieses plant die Mission und führt diese durch. Dabei werden sie vom Department of Political Affairs (DPA) unterstützt, dieses beteiligt sich vor allem bei diplomatischen Bemühungen. Eine Einsatzleitung (Force Commander) vor Ort wird vom Generalsekretär bestimmt. Dieser verfügt ebenso auch über die ausführende Leitung der Friedensmission (vgl. Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V). Aus Kapitel VII der Charta geht eine starke Anteilnahme der Mitgliedstaaten hervor. Diese Staaten sollen auf Grundlage von Sonderabkommen Streitkräfte zu Verfügung stellen. Dabei sollte erwähnt werden, dass noch kein Sonderabkommen zustande gekommen ist. Festzustellen ist, dass die Anforderungen von den Vereinten Nationen zu hoch und den praktischen Möglichkeiten voraus sind (Gareis/Varwick 2014, vgl. S.117). Gareis analysiert, dass das kollektive Interesse der VN-Mitgliedstaaten oft zu gering ist, um ihre Streitkräfte aus der Hand zu geben und das Leben der Soldaten zu riskieren (vgl. ebd.). Daraus folgt, dass die Vereinten Nationen kein schnelles und effektives Sicherheitssystem besitzt. Die Vereinten Nationen sind "eine unvollkommene, reformbedürftige, aber doch in vielen Bereichen eminent wichtige internationale Organisation" (ebd. S. 356). Voraussetzung für den Erfolg der Vereinten Nationen ist, dass die Staaten multilaterale Strategien zur Problemlösung bevorzugen. Nur dann können die Vereinten Nationen eine Rolle in der internationalen Politik spielen. Die Mitgliedstaaten sind in der Praxis selten bereit, ihre Außenpolitik in die Hände der Vereinten Nationen zu legen. Die großen und mächtigen Staaten neigen dazu, unilateral vorzugehen. Staaten wollen alleine und, wenn notwendig, gegen andere Staaten handeln, um ihre eigenen Interessen zu verfolgen und zu maximieren. Auch wenn nur im Einzelfall unilateral gehandelt wird, entsteht dadurch trotzdem ein Bruch und gegenseitiges Vertrauen wird schwierig (vgl. ebd.). Aufgrund dessen haben sich alternative Formen der Friedenssicherung entwickelt. Diese müssen einerseits dem veränderten Kriegs- und Konfliktgeschehen standhalten und den Souveränitätsansprüchen der Mitgliedsstaaten. Eine eigene UN-Friedenssicherung sind beispielsweise die Blauhelme, welche durch Auslegung von Kapitel VII der Charta vom Sicherheitsrat seit den 1950er Jahren entsendet werden. Dabei bestehen die Blauhelme in der Regel aus unbewaffneten bis leicht bewaffneten Truppen und Beobachtern. Zu ihren Aufgaben gehört unter anderem die Überwachung der Einhaltung von Waffenstillständen oder dem Friedensvertrag. Die Neutralität steht dabei an oberster Stelle (vgl. Gareis 2015). Die ersten Friedensmissionen der Vereinten Nationen Im Mittelpunkt dieses Abschnittes stehen die Anfänge der Friedenssicherung. Dabei wird die Entwicklung beleuchtet und reflektiert. Weiterhin findet eine Einordnung der Friedenssicherung auf Zypern statt. Die Überwachung des Waffenstillstandes nach dem ersten arabisch-israelischen Krieg 1948 war der erste große Einsatz in der Entstehungsphase der Friedenssicherungen. Die nächste größere Mission bestand aus der Überprüfung des Waffenstillstandes zwischen Indien und Pakistan. Gareis stellt fest, dass es sich ebenfalls um eine zwischenstaatliche Auseinandersetzung handelte. Diese Mission wurde vom VN-Haushalt bezahlt und dauert bis heute an. Daraus entwickelte sich eine zweite Phase der Friedenssicherung, die Behauptungsphase von 1956-1967 mit neun Einsätzen (Gareis/Varwick 2014, vgl. S.127f). In die Behauptungsphase zählte der Einsatz der Friedenstruppen in Zypern, auf den im späteren Abschnitt des Blogbeitrages eingegangen wird. "Erstmals übernahmen die UN zeitweilige Autorität über ein Territorium auf dem Weg zur Unabhängigkeit, ergänzte zivile Polizei zu einer Friedensoperation, wurde in einen Bürgerkrieg verwickelt, führte einen Einsatz im größeren Ausmaß durch und erlaubte den Blauhelmen das Tragen von Waffen." (Jett 2000, S.23f), neue Aufgaben wurden erkannt. Die Vereinten Nationen bekamen zudem immer mehr Macht, aber hatten damals schon mit ersten Problemen zu kämpfen. Das klassische peacekeeping entstand durch die erste Notstandsgruppe der Vereinten Nationen, der United Nations Emergency Force (UNEFI) beim Einsatz in Ägypten. Hier kam es zu Schwierigkeiten, es konnte im Sicherheitsrat keine einstimme Verurteilung der israelischen Aggression und der ägyptischen Verstaatlichung erreicht werden. Durch das Veto von Großbritannien und Frankreich wurde der Sicherheitsrat lahmgelegt. Die Uniting for Peace-Resolution schaltete die Generalversammlung ein, welche auf den Einsatz von Friedenstruppen drängte. Eigentlich wäre laut Kapitel VII Artikel 24 Abs. 1 der UN-Charta der Sicherheitsrat zuständig gewesen, jedoch waren die Konfliktpartien freiwillig mit einem Einsatz einverstanden. Neben Frankreich und der UdSSR verweigerten einige Staaten die finanzielle Unterstützung. Dieses Problem vertiefte sich nochmal beim Einsatz im Kongo; hier wurde die Verantwortung für die Friedenserhaltung beim Sicherheitsrat gesehen. Folglich wurde der Internationale Gerichtshof eingeschaltet, welcher sowohl dem Sicherheitsrat als auch der Generalversammlung eine Zuständigkeit zusprach (vgl. Sucharipa-Behrmann 1999). Die Autoren stellten fest, dass sich aus der Kongo-Krise ein "akzeptiertes Miteinander dieser beiden Organe" (Gareis/Varwick 2014, S.129) entwickelte, wobei "der Sicherheitsrat die Initiative und Entscheidungsbefugnis stärker an sich gezogen hatte"(Gareis/Varwick 2014, S.129). Zu erkennen war außerdem eine zunehmende Bedeutung des Generalsekretärs, welcher über mehr Spielraum verfügte. Die UNEF-Mission ging durch wichtige Grundprinzipen der Notstandsgruppe durch den Generalsekretär in die Geschichte der internationalen Friedenssicherung ein. Hinzu kam der Konsens der Konfliktparteien, welcher beschlossen wurde und besagt, dass klassische Blauhelm-Soldaten nicht gegen den Willen eines Staates eingesetzt werden dürfen. Dadurch wurde eine Toleranz der Truppen gefördert und eine Bereitschaft für eine Zurverfügungstellung der Truppen, durch die Mitgliedstaaten, geschaffen. Dies waren die Grundlagen für das Modell des klassischen peacekeeping vom Generalsekretär Hammarskjöld (vgl. ebd.). Zu diesem Zeitpunkt wurde zudem die Verantwortlichkeit durch die Leitung des Generalsekretärs beschlossen. Aufgrund dessen entstand die DPKO im VN-Sekretariat. Außerdem wurde ein Budget für jede Friedensmission festgelegt, welches durch die Mitgliedstaaten gefüllt wird. Besonders wichtig ist die Unparteilichkeit der eingesetzten Truppen, welche mit dem Konsensprinzip einhergeht. Aus diesem Grund sollten die Truppen eine ausgewogene regionale Zusammenstellung haben (vgl. Auswärtiges Amt). Darüberhinaus wurde der Einsatz von Waffen zur Selbstverteidigung und zur Durchsetzung der Mission erlaubt. Hier besteht eine Problematik, die am folgenden Beispiel gezeigt werden soll: Bei der Kongo-Operation (1960-1964) sollte für den Rückzug belgischer Truppen aus der Republik Kongo gesorgt werden. Es kam zu einer Ausweitung des Mandats, wodurch ein Bürgerkrieg verhindert und die Regierung beim Aufbau ihres Amtes unterstützt werden sollte. Dafür gab es zum ersten Mal die Legitimation der Waffengewalt im Bezug auf das auszuführende Mandat (Gareis/Varwick 2014, vgl. S.131). Das führte dazu, dass die UNEF dadurch selbst zu Konfliktpartei wurde und sich in die innerstaatlichen Konflikte verwickelte. Der Einsatz wurde im Sommer 1964 beendet, aufgrund dessen, dass die Regierung Kongos einer Mandatsverlängerung nicht zustimmte. Dabei sollte man nicht außer Acht lassen, dass die Vereinten Nationen aus diesem Einsatz ihre Konsequenzen zogen. Zum einen wurden keine großen und komplexen Missionen die nächsten drei Jahrzehnte durchgeführt (vgl. ebd.). Zum anderen waren die Ziele der Friedenssicherung fortan bescheidener. Zudem kehrte man zu den Prinzipien von Hammarskjöld zurück und sicherte sich die Zustimmung der Konfliktparteien vor einem Einsatz. Zusätzlich wurden die Friedensmissionen vom Sicherheitsrat nun beobachtet (vgl. ebd.). An dieser Stelle wird nur kurz auf den Zypern-Einsatz eingegangen, um ihn in die Geschichte der Friedenssicherung der Vereinten Nationen einzuordnen. Der Zypern Einsatz gilt als klassisches peacekeeping und hält bis heute an. Nach Bellamy und Williams versteht sich unter klassischem peacekeeping die Phase zwischen einem Waffenstillstand und dem Abschluss einer politischen Konfliktlösung. Hier gibt es eine Unterstützung der zwischenstaatlichen Friedenssicherung (vgl. ebd. S. 127). Durch eine Resolution des Sicherheitsrats wurde im März 1964 die UNFICYP-Mission eingerichtet. Eine Kampfhandlung zwischen der griechisch-zypriotischen und der türkisch-zypriotischen Volksgruppe sollte verhindert werden. Trotz der Friedensmission kam es zur Teilung der Insel, es gab einen Waffenstillstand und zahlreiche Bemühungen zur Vermittlung durch den Generalsekretär. Seit 1974 wird die Pufferzone von der UNFICYP überwacht und das Mandat ab 1964 jedes halbe Jahr verlängert. Kritik an dem Einsatz gibt es durch die permanente Anwesenheit der Soldaten, wodurch der Eindruck erweckt wird, dass es keine Notwendigkeit einer Friedenslösung gibt.Durch den Einsatz der Bewachung des Waffenstillstandes zwischen dem Irak und Iran (UNIIMOG) und dem Abzug der UdSSR Truppen aus Afghanistan (UNGOMAP), wurde "eine Renaissance des peacekeeping eingeleitet" (vgl. ebd. S.132). Gareis verweist darauf, dass diese "Gute-Dienst-Missionen" vom Sicherheitsrat nur gebilligt und nicht mandatiert wurden. Alles in allem zeigt sich ein durchwachsenes Bild der Friedensmissionen in den ersten vier Jahrzehnten. Festzuhalten ist, dass jede Mission ein Einzelfall ist und separat betrachtet werden sollte. Hinzu kommen die Vorstellungen der UN-Charta, welche in der Realität nahezu utopisch umzusetzen sind. Die Blauhelme wurden zum innovativen Instrument. Ihre Aufgabe ist die Konfliktberuhigung und nicht die Konfliktlösung. Diese Aufgabe konnte in vielen Missionen erreicht werden. Bedenklich ist, dass diese häufig nur mit einer dauerpräsenten Lösung, wie in Zypern erreicht wurden (vgl. Mathis). Durch den Brahimi- Bericht von 2000 gab es neue Perspektiven in der Friedenssicherung der Vereinten Nationen. Diese beinhalten die folgenden drei Kategorien: die Konfliktvermeidung, Konfliktmanagement und die Konfliktnachsorge. Dabei gibt es erstens eine Neuorientierung für die politischen und strategischen Rahmenbedingungen. Zweitens muss das DPKO für eine personelle und strukturelle Voraussetzung der Friedensmission sorgen. Zudem gibt es für die Mitgliedstaaten konkrete geforderte Leistungen (vgl. Gareis/Varwick 2014, vgl. S.146). Hintergründe des ZypernkonfliktsUm den Zypernkonflikt verständlicher zu gestalten, werden zunächst die politischen Hintergründe beleuchtet. Der Zypernkonflikt ist die Folge der britischen Kolonialpolitik, denn bis 1960 war Zypern eine britische Kolonie (vgl. Gürbey 2014). Der Wunsch nach "Enosis", die Vereinigung mit Griechenland, wuchs unter den griechischen Zyprioten seit dem 19. Jahrhundert. Auf Grundlage der Tatsache, dass Großbritannien die Ionischen Inseln an Griechenland zurückgab, hofften die griechischen Zyprioten auf einen ähnlichen Ausgang. Dieser Wunsch wurde jedoch nicht erfüllt und deshalb gab es schon seit 1931 größere Unruhen, welche die diktatorische Führung unterdrückte (vgl. ebd.). Großbritannien nutzte Zypern geostrategisch. Zypern wurde zum Royal-Air-Force-Stützpunkt für Atombomber und Ansatzpunkt für Spionageflüge im Kalten Krieg (vgl. ebd.). Auf Grund dieser Entwicklung war Zypern für Großbritannien unverzichtbar. Deshalb begann der Unabhängigkeitskampf, bei dem die orthodoxe Kirche eine bedeutende Rolle einnahm. Der Erzbischof Makarios III. nötigte die griechische Regierung, den Zypern-Fall vor die UNO zu bringen (Gorgé 1986, vgl. S. 130). Der britische Premierminister Eden versuchte "die griechische Ambition [...] durch türkische zu neutralisieren" (Richter 2010), also die Türkei miteinzubeziehen und damit beide Länder gegeneinander auszuspielen (vgl. Gürbey 2014). Die türkische Position war glasklar; falls sich beim Status Zypern etwas ändern würde, wäre der Friedensvertrag von Lausanne ungültig und Zypern würde wieder der Türkei gehören. 1922 wurde Frieden mit den Briten geschlossen und sie erhielten die formelle Anerkennung ihrer Herrschaft über Zypern (vgl. Gründer). Richter beschrieb, dass das taktische Manöver Londons aufging und ein neuer griechisch-türkischer Konflikt ausgelöst wurde. Es kam dazu, dass die "divide et impera" Politik Großbritanniens auf die Volksgruppe ausgeweitet wurde. Daraus folge 1956 der griechisch-türkische Minoritäten Konflikt, wobei die Opfer die Istanbuler Griechen waren. Gleichzeitig misslang das Suez-Abenteuer der Briten und Zypern verlor für sie an strategischem Wert. Des Weiteren kam Druck aus den USA, welche die NATO durch die griechisch-türkischen Streitereien gefährdet sahen. Folglich einigten sich Griechenland und die Türkei 1959 zu einer "Scheinlösung" in Zürich. Gleichzeitig wurde der Konflikt nur zwischen den NATO-Verbündeten beigelegt. Wie schon erwähnt, gelang Zypern 1960 die Unabhängigkeit; der innerzypriotische Konflikt blieb jedoch bestehen und verschärfte sich in den nächsten Jahren noch mehr (vgl. Richter 2009). Im Folgenden wird die Position der Bevölkerung verdeutlicht. Die griechischen Zyprioten fordern "Enosis" und die türkischen Zyprioten "Taksim", die Teilung der Insel. Mit der Unabhängigkeit der Insel begann der griechische und türkische Nationalismus auf Zypern (vgl. ebd.). Problematisch waren die Mütterländer, welche den Zypern-Konflikt als nationale Frage ansahen und deshalb enormen Einfluss hatten. Dieser Einfluss wurde durch den Schutz der eigenen Volksgruppe legitimiert (Gorgé 1986, vgl. S. 130f). Zum einen gab es die Strategie von Griechenland; diese war eine Internationalisierung des Konfliktes, um den Druck gegen die Türkei aufzubauen. Dem gegenüber wollte die Türkei den Teilungsprozess forcieren und in seinem Bestand sichern. Ab 1963 gab es blutige Unruhen, weil die griechisch-zypriotische Führung die Verfassungsrechte der türkischen Zyprioten einschränken ließ. An diesem Punkt griffen die USA und die Vereinten Nationen ein und verhinderten eine Eskalation (vgl. Gürbey 2014). Mitwirkung der Vereinten Nationen an einer Lösung des KonfliktesAb 1964 gab es ein Friedensmandat der Vereinten Nationen, durch das eine Sicherung des Burgfriedens gewährleistet werden sollte. Das Wiederaufflammen von Kämpfen sollte verhindert werden, um die Kommunikation der beiden Volksgruppen zu ermöglichen. Die Friedenstruppe UNFICYP wurde vom Sicherheitsrat gesendet und sollte "nach besten Kräften eine Wiederaufnahme von Kämpfen zu verhindern und, soweit notwendig, zur Erhaltung und Wiederherstellung von Recht und Ordnung und zur Rückkehr normaler Lebensbedingungen [in Zypern] beizutragen" (Menning 1974, S.172). Dabei wurde für die Friedenstruppen die zypriotische Nationalgarde und die reguläre türkische Armee zum Konfliktpartner, nicht die bewaffneten Volksgruppen. Außerdem musste die UNFICYP aufpassen, dass lokale Befreiungsversuche nicht als Einmischungsversuche oder Provokation aufgefasst wurden.Festzuhalten ist, dass von 1964 bis Juni 1974 die UNFICYP ein erfolgreicher Vermittler der beiden Volksgruppen war, sodass 1973 eine Kürzung des Mandats stattfand. Auch weil Griechenland und die Türkei einwilligten, dass sie schlichtend auf ihre Volksgruppe einwirken (Menning 1974, vgl. S.172). Der Konflikt spitze sich jedoch wieder zu, im Halbjahresbericht von 1974 erklärte der Generalsekretär, dass weiterhin Misstrauen und Kampfbereitschaft herrscht. Ein Klima von trügerischer Sicherheit war entstanden, die Friedenstruppen wurden als Friedensersatz wahrgenommen, obwohl das Problem ungelöst blieb (Menning 1974, vgl. S.173). Dabei hatte Waldheim in seinem Jahresbericht 1973/74 darauf hingewiesen, dass Friedenseinsätze nicht als Selbstzweck der Vereinten Nationen dienen sollten und "daß eine Friedenssicherungsaktion nicht zu einem Nachlassen der Bemühungen, eine Lösung zu finden, führen dürfe, denn wenn die Konfliktursachen nicht beseitigt werden, könnten sie schließlich das Fundament, auf dem sich die Friedenssicherung aufbaue, zerstören." (Menning 1974, S.173). So kam es 1974 zu einem Putschversuch der Griechen, um die Insel an Griechenland anzubinden. Dieser wurde von dem griechischen Militär ausgelöst und richtete sich gegen die Regierung unter Präsident Makarios. Es gab Differenzen zwischen ihm und der Militärjunta, weil Makarios linksgerichtet war und einen individuellen Kurs mit Zypern vorhatte. Dabei reagierte die Türkei mit einer Invasion. Die Situation eskalierte und die Türkei eroberte fast 40 Prozent der Insel. Die UNFICYP konnte die Angriffe der türkischen Truppen nicht abwehren. Dennoch konnten einige lokale Angriffe auf die Bevölkerung verhindert werden. Außerdem blieb die "Green Line" bestehen und die Kontrolle der Hauptstadt aufrechterhalten. Zudem wurde auf die Forderung von Waldheim eingegangen, welcher in seinem halbjährlichen Bericht Verstärkung angefordert hatte. Im Jahr 1974 stockte die UNFICYP die Zahl der Soldaten von 2.188 auf 4.400 auf. Die Minimierung seit 1971 bis Mitte 1974 war im Nachhinein ein sicherheitspolitischer Fehler der Vereinten Nationen. Nach dem Krieg legte die UNFICYP zwei separate Waffenstillstandslinien fest. Eine UN-Pufferzone wurde von Morphou bis nach Famagusta eingerichtet (vgl. Lugert 2018). Aufgrund dieser Tatsachen war eine Konsolidierung einer Teilung der Inseln der einzige Ausweg. Von nun an gab es einen griechisch-zypriotischen Süden und einen türkisch-zypriotischen Norden. Die Türkei rief 1983 die Unabhängigkeit Nordzyperns aus, dieser Teil wird immer noch nur von der Türkei als Staat anerkannt und wirtschaftlich und politisch gefördert. Der UN-Sicherheitsrat erklärte die Unabhängigkeitserklärung für ungültig und rief andere Staaten dazu auf, dasselbe zu tun (vgl. Gürbey 2014). Faustmann brachte zum Ausdruck, dass Zypern der Ruf als "Friedhof der Diplomatie" (vgl. Faustmann 2009) zusteht. Wie er zu dieser Aussage kam, wird im Weiteren erklärt. Schon im November 1974 forderte die Vereinten Nationen eine Resolution, welche zunächst einen Rückzug der auswärtigen Truppen und die Rückkehr von Flüchtlingen beinhaltete. Darüber hinaus forderten beide Volksgruppen eine Verhandlung unter dem Schutz der Vereinten Nationen. Faustmann wies darauf hin, dass eine Rückkehr zur Verfassungsordnung von 1960 unmöglich für beide Parteien war (vgl. ebd.). Beide Parteien hatten klare Vorstellungen, so forderten die türkischen Zyprioten eine politische Gleichheit als Grundprinzip, allerdings wollte die griechische Seite auch eine Berücksichtigung ihrer prozentualen Bevölkerungsmehrheit von 82% Prozent (vgl. ebd.). In drei Verhandlungsrunden trafen sich die Konfliktparteien unter der Schutzherrschaft der Vereinten Nationen in New York. Nach zähen Verhandlungen kam es 1977 zu einem Abkommen und 1979 zur Erweiterung des Dokuments (vgl. Gürbey 2014). Das Abkommen umfasst die Grundprinzipien einer Wiedervereinigung, die High Level Agreements. Darin wird postuliert, das Zypern als bizonale, bikommunale Föderation wiedervereinigt und entmilitarisiert werden sollte. Außerdem wurden Grundfreiheiten, wie Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit und ein Recht auf Eigentum bestimmt. Das Abkommen gestand den türkischen Zyprioten dabei ein einheitliches Territorium zu, wobei die Größe strittig blieb (vgl. Faustmann 2009). Die Ergebnisse der Abkommen zusammengefasst, wird deutlich, dass eine Vereinigung mit Griechenland und eine Teilung ausgeschlossen wurde. Trotz der Unterzeichnung des High Level Agreements kam es zum Stillstand der Verhandlungen. Erst durch die Bemühungen der Vereinten Nationen fanden erneute Verhandlungen statt.Der griechisch-zypriotische Präsident Kyprianoú setzte auf die eigene Internationalisierungskampagne und die Vereinten Nationen. Denktaş forderte die Unabhängigkeit Nordzyperns, sein Streben wurde bestärkt, als eine Resolution der Vereinten Nationen zugunsten der griechischen Seite entschied (vgl. ebd.). Erkennbar wird, wie schwer es für die Vereinten Nationen ist, neutral zu bleiben und beiden Seiten gerecht zu werden. Denktaş führte die türkische Lira als Währung ein und errichtete eine Zentralbank, weiterhin blieb er bei seiner Forderung von einer Unabhängigkeit Nordzyperns. Es kam dazu, dass er am 15. November 1983 die Türkische Republik Nordzypern ausrief. Erst als sich die Beziehung zwischen Griechenland und der Türkei verbesserte, konnten 1988 neue Verhandlungen auf Basis der High Level Agreements beginnen (vgl. ebd.). Man erkannte die wichtige Rolle der beiden Mutterländer, die enormen Einfluss auf die Verhandlungen und die Situation nahmen. Außerdem ließ man eine zu große Einmischung der Vereinten Nationen auch nicht zu, mit den "Set of Ideas" von Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali war Denktaş nicht einverstanden. Er forderte Verhandlungen ohne die Vereinten Nationen, weil diese kein Recht für solch umfassende Lösungsvorschläge hätten. Jedoch kam es nie zu Verhandlungen ohne die Vereinten Nationen. Erneute Gespräche endeten 1990, weil die Republik Zypern der EU betreten wollte. Denktaş und die Türkei glaubten, dass die EU keine Konfrontation mit Ankara wollte und der Beitrittsantrag kein Erfolg haben würde, dennoch drohten sie mit einer Annexion des Nordens. Als klar war, die EU würde Zypern auch ohne Lösung des Konflikts aufnehmen, fanden 2002 erneute Verhandlungen unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen statt. Zugunsten kam diesen die neue AKP-Regierung unter dem linken Oppositionspolitiker Mehmet Ali Talat, welche von der status-quo-Politik abwich und auch Denktaş und seine Nachfolger verschwanden mehr und mehr. Auf türkischer-zypriotischer Seite entstand erstmalig eine moderate Politik. Die griechische Seite wählte mit Tassos Papadopoulos einen Hardliner zum Präsidenten (vgl. ebd.). Dennoch wurden erstmals umfassende Kernpunkte eines politischen Lösungsplans erarbeitet, welcher Anfang 2004 freigestellt wurden, der sogenannte Annan-Plan. Dieser beinhaltete folgendes: "Vom Parlament gewählte Regierung, bestehend aus vier griechischen und zwei türkischen Zyprioten; kollektive Führung mit Vetorechten für beide Volksgruppen; Zwei-Kammern-Parlament nach 1978er Modell; 27 Prozent des Territorium für den Norden; Ambivalenz: Gründung eines neuen Staates durch zwei gleichberechtigte Staaten (wie von der türkischen Seite gefordert, von der griechischen Seite aber als möglichen Ausgangspunkt für eine spätere Abspaltung abgelehnt) oder Umwandlung der bestehenden Republik Zypern in einen neuen Staat (wie von der griechischen Seite gefordert); Ambivalenz: Föderation oder Konföderation; Rückkehr von mehr als der Hälfte der Flüchtlinge unter griechisch-zypriotischer Verwaltung und Umsiedelung von mehreren zehntausend türkischen Zyprioten; Staatsangehörigkeit für mehr als 45 000 türkische Einwanderer, erhebliche und dauerhafte Beschränkungen bei der Rückkehr der griechischen Flüchtlinge und der Niederlassungsfreiheit im Norden; Dauerhafte griechische und türkische Militärpräsenz; Griechenland und die Türkei bleiben zusammen mit Großbritannien Garantiemächte mit Interventionsrecht." (ebd.). Im April 2004 stimmten beide Volksgruppen über den Wiedervereinigungsplan ab. Diese Gelegenheit wurde verpasst, denn 76 Prozent der griechischen Zyprioten stimmten dagegen, weil einige von ihnen hofften, durch den Beitritt in die EU ein besseres Abkommen zu erhalten (vgl. Gürbey 2014). Demgegenüber stand allerdings das türkisch zypriotische Ergebnis des Referendums, welches mit 65 Prozent für eine Wiedervereinigung stimmte. Die Vereinigung Zyperns scheiterte und damit auch der Annan-Plan. Trotzdem trat am 1.Mai 2004 der griechisch Zypriotische Teil der EU bei. Allerdings stellt völkerrechtlich gesehen ganz Zypern EU-Territorium dar, wobei der nördliche Teil ausgegrenzt ist (vgl. ebd.). Seitdem werden immer noch Verhandlungsprozesse unter Aufsicht der Vereinten Nationen geführt. Espen Barth Eide ist seit 2014 der Sonderbeauftragten für den Zypernkonflikt,. Durch ihn gab es eine Einigung, dass eine dritte entscheidende Verhandlungsphase geführt werden soll. Dennoch ging die letzte Verhandlungsrunde für eine Lösung des Zypernkonflikts am 07.07.2017 ohne Ergebnis zu Ende. Hier waren auch die Repräsentanten der sogenannten Garantiemächte Griechenland, Großbritanniens und der Türkei mit dabei. Nun sollen auf Empfehlung von VN-Generalskretär Guterres erstmals eigene Vorstellungen betreffend einer Fortführung des Verhandlungsprozesses gebildet werden (vgl. Auswärtiges Amt 2018). UNFICYP- Praxisbeispiel für die Leistungen und Probleme der Friedenssicherung Zypern wird durch eine 180 Kilometer lange grüne Line geteilt, welche auch durch die Hauptstadt Nikosia verläuft. Diese Pufferzone wird von den Friedenstruppen der UNFICYP überwacht. Die Waffenstillstandslinie wurde hart umkämpft, sodass sie vor allem in Nikosia nicht gerade verläuft, sondern vor- und zurückspringt. Dadurch ist die Überwachung des Status quo für die UN-Soldaten noch mehr erschwert (Ehrenberg 1991, vgl. S. 1). Seit dem Bürgerkrieg von 1963/64 gab es auf Zypern lange keinen dauerhaften Frieden. Wie schon beschrieben, haben die Sonderbeauftragten des UN-Generalsekretärs schon seit 1964 viele Verhandlungen gestartet, aber immer noch keinen dauerhaften Frieden erreicht. Dabei kam immer wieder der Vorwurf auf, die Vereinten Nationen würden den Kern des Problems nur auf Eis legen und damit könne kein Frieden entstehen (vgl. Gürbey 2014). Unter diesen Umständen versuchen die Friedenstruppen, der Bevölkerung so viel Normalität wie möglich zu gewährleisten. Die Hoffnung, dass durch einen Generationenwechsel sich das Problem von selbst lösen würde, trat nicht ein. Das zeigte sich gerade auf der griechisch-zypriotischen Seite; hier waren die Jugendlichen ernüchtert, weil sich der politische Stillstand nicht überwinden ließ (Ehrenberg 1991, vgl. S.1f). Ein Beispiel hierfür war die Versammlung von 3000 Schülern im November 1988 an der Pufferzone. Sie wollten gegen die türkischen Truppen demonstrieren. Dabei durchbrachen einige von ihnen die grüne Linie, konnten dann aber von UN-Truppen gestoppt werden, bevor sie die türkisch-zypriotischen Truppen erreichten (vgl. ebd. S. 2). Die Jugendlichen bewarfen die UN-Soldaten dabei mit Steinen, Flaschen, Holzstücken und Dachziegeln. Die griechisch-zypriotische Polizei griff erst nach Kommando der UNFICYP-Oberkommandanten ein und räumte mit den UN-Truppen den Platz. Hier ist kritisch anzumerken, dass in der Presse nicht die UN-Soldaten die Helden waren, sondern die Schüler, welche ihr Land zurückerobern wollten. Dabei sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass auch die türkisch-zypriotische Seite der UNFICYP die Schuld gab; diese hätten nicht rechtzeitig reagiert (vgl. ebd. S. 2). Demonstrationen wie diese waren kein Einzelfall zu dieser Zeit, ein halbes Jahr später kam es zu einer Frauendemonstration, bei der die UNFICYP noch machtloser war. Auch hier verhielt sich die griechisch-zypriotische Polizei sehr passiv. Die UN-Soldaten wurden von Männern, die am Rand standen, angegriffen. Zudem hatten sich griechisch-orthodoxe Kirchenmänner unter die Frauen gemischt (vgl. ebd. S. 2). Insgesamt zeigt sich, wie schwierig es die Friedenstruppen hatten. Sie mussten sowohl Blutvergießen verhindern und die Konfliktparteien auseinander halten als auch ihre eigene Akzeptanz aufrechterhalten. An diesem Beispiel wird auch deutlich, dass die Friedenstruppen ungerechtfertigte Kritik einstecken mussten. Im folgenden Beispiel wird auf den Waffengebrauch eingegangen. Wie kritisch dieser ist, zeigte sich anhand der Todesschüsse in Athienou Ende Mai 1988. Die Waffen dürfen nur zur Selbstverteidigung gebraucht werden, zum Schutz für das Leben anderer UN-Angehöriger oder Personen, die zu verteidigen sind. Dafür ist immer die Zustimmung des ranghöchsten Soldaten vor Ort nötig (Gareis/Varwick 2014, vgl. S. 117). Athienou gehörte zur griechisch-zypriotischen Seite, war zur damaligen Zeit aber ein umstrittenes Gebiet. Ein türkischer Soldat nahm eine Familie in ihrem Haus als Geiseln. Bevor die UN-Soldaten überhaupt eintrafen, bewegten sich zwei Nationalgardisten auf das Haus zu. Der Geiselnehmer schoss auf die beiden, sodass einer schwer verletzt liegen blieb. Die Nationalgardisten forderten Verstärkung an, ohne Rücksprache mit der UNFICYP. Währenddessen bargen die UN-Soldaten den Verletzten. Die türkischen Streitkräfte wurden nicht über die Geiselnahme informiert. Die UN-Soldaten räumten das Feld, als die griechisch-zypriotische Anti-Terror-Einheit eintraf. Diese stürmte das Haus und tötete den türkischen Soldaten gezielt, obwohl die Geiseln zu diesem Zeitpunkt schon geflohen und in Sicherheit waren (Ehrenberg 1991, vgl. S.3). Ehrenberg erklärte, die UNFICYP hätte eingreifen können. Ob es so klug gewesen wäre, die griechischen Zyprioten mit Androhung von Waffengewalt an der Verletzung der Pufferzone zu hindern, stellt er in Frage. Hieraus ergab sich die Konsequenz, dass die Erwartungen an die UNFICYP viel zu hoch waren, nur aufgrund der Tatsache, dass sie bewaffnet waren. Hier stellt sich die Frage, ob der Waffengebrauch die Sicherheit erhöht und dadurch die Funktion der UN-Soldaten entlastet. Außerdem konnte man beobachten, dass die UN-Friedenstruppen oftmals mindestens einer Konfliktpartei unterlegen waren. Dabei sollte kritisch hinterfragt werden, inwiefern militärische Überlegenheit die politischen und diplomatischen Absichten von Friedenstruppen fördern würde. Dies scheint fraglich, denn würde militärische Übermacht diese nicht eher zerstören (vgl. ebd. S.3ff)? FazitFestzuhalten bleibt, dass die Friedenssicherung als zentraler Auftrag der Vereinten Nationen gesehen werden kann. In direktem Zusammenhang mit der Durchsetzung der Menschenrechte, weil diese Ziele untrennbar sind und einander beeinflussen. Durch das Interventionsverbot wird eine Einmischung in innere Konflikte durch die Charta ausgeschlossen. Der Sicherheitsrat kann deshalb nicht in innerstaatliche Konflikte und Menschenrechtsverletzungen eingreifen. Daraus folgt, dass es zu aller erst zu Präventionsmaßnahmen kommt; daneben kann der Sicherheitsrat Empfehlungen zur friedlichen Streitbeilegung nach Kapitel VI der Charta geben. Es kann aber auch zu Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII kommen. Dementsprechend steht der Schutz der Zivilbevölkerung permanent im Vordergrund. Allgemein und in Bezug auf die Friedenssicherung gilt für die Vereinte Nationen, dass das Verhalten der Mitgliedstaaten entscheidend ist. Die Vereinten Nationen bieten zwar einen Rahmen, bei dem sich Staaten und ihre Interessen annähern können, aber die Staaten müssen diesen nutzen, um durch Lernprozesse Fortschritte zu machen. Darüber hinaus dürfen die Vereinten Nationen nicht zu viel versprechen; dies gilt gerade im Punkt der Friedenssicherung. Ihre Ankündigung ist oftmals höher als die Möglichkeiten und Aspiration der Mitgliedsstaaten. Andersherum dürfen die Erwartungen an die Vereinten Nationen nicht abwegig sein, sie sind keine Weltregierung. Dennoch bilden sie einen Rahmen für gemeinsame Lösungsansätze. Ziel der vorliegenden Arbeit war es ebenfalls zu erklären, wer für die Friedenssicherung zuständig ist. Dabei wurde festgestellt, dies geschieht durch das Department of Peacekeeping Operations (DPKO), welches die Missionen plant und durchführt. Unterstützt werden sie vom Department of Political Affairs (DPA), welches sich vor allem um diplomatische Bemühungen kümmert. Durch eine Einsatzleitung (Force Commander) vor Ort gibt es noch eine ausführende Leitung der Friedensmission. Deutlich wird die Problematik, dass die Vereinten Nationen keine eigenen Streitkräfte haben. Es kam noch nie zu einem Sonderabkommen in Bezug auf die Streitkräfte. Hier wird deutlich, dass die Anforderungen der Vereinten Nationen an ihre Mitgliedsstaaten zu hoch und den praktischen Möglichkeiten voraus sind. Dafür entwickelten die Vereinten Nationen alternative Formen, wie z.B. die Blauhelme. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es eine Entwicklung bei der Friedenssicherung der Vereinten Nationen gab. Eine Zuständigkeit für die Friedenserhaltung wurde durch den Internationalen Gerichtshof dem Sicherheitsrat und der Generalversammlung zugesprochen. Durch die vergangenen Einsätze wurde außerdem beschlossen, dass die Friedensmissionen vom Sicherheitsrat beobachtet werden. Und die Bedeutung und Verantwortung des Generalsekretärs nahm immer mehr zu. Durch Generalsekretär Hammarskjöld sind wichtige Grundprinzipen der Notstandsgruppe in die Friedenssicherung eingegangen. Daraus folgt der Konsens der Konfliktparteien, wodurch klassische Blauhelm-Soldaten nicht gegen den Willen eines Staates eingesetzt werden dürfen. Dieser Konsens führt dazu, dass die Mitgliedstaaten ihre Truppen eher bereitstellen und die Toleranz der Blauhelme gestärkt wird. Festgestellt wurde außerdem die Wichtigkeit von einer ausgewogenen regionalen Zusammenstellung der Truppen, damit die Unparteilichkeit gewahrt werden kann. Zielsetzung der vorliegenden Arbeit war es, die Friedenssicherung anhand vom Zypern-Konflikt zu schildern, dafür wurden die die politischen Hintergründe beleuchtet. Hier kann man festhalten, es gab unheimlich viele beteiligte Parteien. Zum einen Großbritannien, weil Zypern bis 1960 eine britische Kolonie war und geostrategisch genutzt wurde. Dann Griechenland, die Türkei und die griechischen und türkischen Zyprioten. Es ist zu erkennen, dass Großbritannien die beiden Mütterländer gegeneinander ausspielte. Sie sahen den Zypern-Konflikt als nationale Frage und übten deshalb enormen Einfluss aus, dieser wurde durch den Schutz der eigenen Volksgruppe legitimiert. Durch die Unabhängigkeit Zyperns ab 1960 wurde der innerzypriotische Konflikt nicht gelöst, sondern noch mehr verschärft; dieser endete in blutigen Unruhen. Seit 1964 gibt es ein Friedensmandat der Vereinten Nationen, wodurch das Wiederaufflammen von Kämpfen verhindert werden soll. Wie dieser Blogbeitrag gezeigt hat, musste die UNFICYP darauf achten, dass lokale Befreiungsversuche nicht als Einmischungsversuche oder Provokation aufgefasst wurden. Von 1964 bis Juni 1974 war die UNFICYP ein erfolgreicher Vermittler der beiden Volksgruppen, sodass es 1973 eine Kürzung des Mandats gab. Diese Kürzung erzeugte aber ein Klima von trügerischer Sicherheit, wobei die Friedenstruppen als Friedensersatz wahrgenommen wurden, obwohl das Problem ungelöst blieb. Hier wirft man den Vereinten Nationen vor, dass es zu einem Nachlass der Friedensbemühungen kam und die Friedenseinsätze als Selbstzweck genutzt wurden. Deshalb kam es für viele überraschend, als die Griechen 1974 durch einen Putschversuch die Insel an Griechenland anbinden wollten. Man stellte fest, dass die Minimierung der Blauhelme seit 1971 bis Mitte 1974 als sicherheitspolitischer Fehler der Vereinten Nationen gesehen werden kann. Offen bleibt die Frage, ob die Vereinten Nationen den Krieg 1974 hätten verhindern können. Nach dem Krieg war eine Konsolidierung, eine Teilung der Insel der einzige Ausweg.Von Faustmann bekommt Zypern den Titel "Friedhof der Diplomatie". Festhalten lässt sich, dass es etliche Verhandlungen durch die Vereinten Nationen gab und der Konflikt bis heute nicht gelöst wurde. Auch ein Grund dafür sind die klaren Vorstellungen der beiden Parteien, so forderten die türkischen Zyprioten eine politische Gleichheit als Grundprinzip und die griechische Seite eine Berücksichtigung ihrer prozentualen Bevölkerungsmehrheit. Ein Abkommen konnte im Jahre 1977 erreicht werden und eine Erweiterung 1979, hier wurden die Grundprinzipien einer Wiedervereinigung, die High Level Agreements festgehalten. Es kam immer wieder zum Stillstand der Verhandlungen, welcher meistens erst durch die Bemühungen der Vereinten Nationen unterbrochen wurde. Die Regierungen der beiden Volksgruppen trugen auch dazu bei, dass sich die Verhandlungen so schwierig gestalteten. Erkennbar wird, wie schwer es für die Vereinten Nationen war, neutral zu bleiben und beiden Seiten gerecht zu werden. Erneute Gespräche brachen 1990 ab, weil die Republik Zypern der EU beitreten wollte. Als klar war, die EU würde Zypern auch ohne Lösung des Konflikts aufnehmen, fanden 2002 erneute Verhandlung unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen statt. Es gab einen Erfolg, denn es wurden erstmals umfassende Kernpunkte eines politischen Lösungsplans erarbeitet, welcher Anfang 2004 fertiggestellt wurde, der sogenannte Annan-Plan. Im April 2004 wurde in den beiden Volksgruppen über den Wiedervereinigungsplan abgestimmt. Diese Gelegenheit verpasste man, weil die griechischen Zyprioten dagegen stimmten. Die Vereinigung Zyperns scheiterte und damit auch der Annan-Plan. Die stille Hoffnung, dass durch ein Generationenwechsel sich das Problem von selbst lösen würde, trat nicht ein. Festzuhalten ist, dass die Friedenstruppen den Zivilisten soviel Normalität wie möglich gewährleisten wollen. Die UN-Soldaten mussten in der Vergangenheit viel einstecken, sie wurden z.B. bei Demonstrationen attackiert oder in der Presse schlecht dargestellt. Insgesamt zeigt sich, wie schwierig es die Friedenstruppen haben. Sie müssen sowohl Blutvergießen verhindern als auch die Konfliktparteien auseinander halten und zum anderen ihre eigene Akzeptanz aufrechterhalten. Ebenso im Zypern-Konflikt wurde die Erlaubnis zum Gebrauch von Waffen zur Selbstverteidigung kontrovers diskutiert. Dadurch waren die Erwartungen an die UNFICYP teilweise zu hoch. Umstritten bleibt, ob der Waffengebrauch die Sicherheit erhöht und dadurch die Funktion der UN-Soldaten entlastet. Hinzu kam die Tatsache, dass die UN-Friedenstruppen oftmals mindestens einer Konfliktpartei unterlegen waren. Dabei stellt sich die Frage, inwiefern militärische Überlegenheit die politischen und diplomatischen Absichten von Friedenstruppen fördert. Die Vereinten Nationen geben den Konflikt nicht auf und führen immer noch Gespräche, nun auch mit der Beteiligung von den sogenannten Garantiemächten Griechenland, Großbritannien und der Türkei. Wünschenswert wäre eine Lösung des Konfliktes, hierfür reicht nicht allein das Engagement der Vereinten Nationen, sondern der Wille und ein Einsatz auf beiden Seiten ist notwendig. Dennoch gibt es eine Freizügigkeit trotz der Trennung. Die Trennungslinie ist keine Außengrenze, sondern hier wird die Freizügigkeit der Bürger*innen gewährleistet. Dadurch können EU-Bürger*innen und somit auch griechische und türkische Zyprioten*innen diese Linie an sieben Übergängen mit dem Personalausweis passieren. Literaturverzeichnis:Textquellen:Auswärtiges Amt: ABC der Vereinten Nationen. Edition Diplomatie, hg. Von Günther Unser, 7. Auflage, Berlin 2011, S. 57.Ehrenberg, Eckhart (1991): Die UNFICYP: Praxisbeispiel für Leistungen und Probleme der Eriedenssicherung vor Ort, In: Vereinte Nationen 1/1991, vgl. S.1-6.Gareis, Sven Bernhard/ Warwick, Johannes (2014): Die Vereinten Nationen, hg. Verlag Barbara Budrich Opladen & Toronto, 5.Auflage, vgl. S.111-148.Gorge, Remy (1986): Zypern und die Mutterländer, In: Vereinte Nationen 4/86, vgl. S.130-134.Jett, Dennis C. (2000): Why Peacekeeping Fails, In: New York, vol. S.23f.Menning, Gerhard (1974): Zypern-Mitwirkung der UNO an einer Lösung des Konflikts, In: Vereinte Nationen 6/74, vgl. S.172-176.Sucharipa-Behrmann, Lilly (1999): Die friedenserhaltende Operation der Vereinten Nationen, In: Cede/Sucharipa-Behrmann 1999, vgl. S. 232-239.Internetquellen:Auswärtiges Amt (2018): Aktuelle Lage im Zypernkonflikt, unter: https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/zypern-node/-/210292 (eingesehen am 26.09.2020).Auswärtiges Amt (2020): UN-Friedensmissionen und deutsches Engagement, unter: https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/internationale-organisationen/uno/04-friedensmissionen-un/205586 (eingesehen am 26.09.2020).Deutsche Gesellschaft für die Vereinte Nationen: Organe der UN-Friedenssicherung, unter: https://frieden-sichern.dgvn.de/friedenssicherung/organe/ (eingesehen am 26.09.2020).Faustmann, Hubert (2009): Die Verhandlungen zur Wiedervereinigung Zyperns: 1974 - 2008, unter: https://www.bpb.de/apuz/32118/die-verhandlungen-zur-wiedervereinigung-zyperns-1974-2008 (eingesehen am 26.09.2020).Gareis, Sven Bernhard (2015): UNO – Stärken und Schwächen einer Weltorganisation, unter: https://www.bpb.de/izpb/209686/uno-staerken-und-schwaechen-einer-weltorganisation?p=1 (eingesehen am 26.09.2020).Gürbey, Dr. Gülistan (2014): Der Zypernkonflikt, unter: https://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/185876/der-zypernkonflikt (eingesehen am 26.09.2020).Lugert, Alfred (2018): Der Fall Zypern - Teil 3, unter: https://www.truppendienst.com/themen/beitraege/artikel/der-fall-zypern-teil-3/#page-1 (eingesehen am 26.09.2020).Mathis, Edeltraud: Friedenssicherung als zentraler UN Auftrag, unter: https://www.brgdomath.com/politik-wirtschaft/gerechtfertigter-krieg-tk19/uno-und-un-weltsicherheitsrat/ ( eingesehen am 26.09.2020).Mehr zu den Wiedervereinigungs-Verhandlungen (2010), unter: http://friedensbildung.de/inhalt-der-ausstellung/zypern/verhandlungen/ (eingesehen am 26.09.2020).Richter, Heinz (2009): Historische Hintergründe des Zypernkonflikts, unter: https://www.bpb.de/apuz/32116/historische-hintergruende-des-zypernkonflikts?p=all (eingesehen am 26.09.2020).
Inhaltsangabe:Einleitung: Die Gemeinderatswahlen in der Landeshauptstadt Stuttgart vom 7. Juni 2009 haben deutlich gemacht, dass in der Stuttgarter Bevölkerung immer noch große Verunsicherungen aufgrund des Großprojektes Stuttgart 21 bestehen. Parteien, wie die Grünen und die SÖS, die sich als Projektgegner aufstellten, konnten Stimmen gewinnen, Projektbefürworter, wie die CDU und die SPD, mussten massive Einschnitte verkraften. Erstmals sind die Grünen stärkste Fraktion im Stuttgarter Gemeinderat. Zuvor wurde am 2. April 2009 - nachdem im März 2009 das Gutachten 'Volkswirtschaftliche Bewertung des Projekts Baden-Württemberg 21 (BW21)' fertig gestellt wurde - zwischen Bahn, Bund, Land und Stadt eine Finanzierungsvereinbarung unterschrieben, damit das Projekt ab 2010 realisiert werden kann. Durch eine Ausstiegsklausel können die Projektbeteiligten noch bis zum 31. Dezember 2009 von dem bestehenden Vertrag zurücktreten, sofern mit einer wesentlichen Kostenüberschreitung gerechnet werden kann und keine Einigung über eine Kostendeckung erzielt wird. Beim Bahnprojekt Stuttgart – Ulm geht es um die Umgestaltung des Stuttgarter Hauptbahnhofes von einem Kopfbahnhof in einen Durchgangsbahnhof sowie um die Neubaubahnstrecke zwischen Wendlingen und Ulm. Diese Eisenbahnstrecke wiederum ist Bestandteil der Magistrale für Europa zwischen Paris und Bratislava. Bereits 1988 gab es erste Überlegungen über eine neue Bahnstrecke. 1995 wurde eine Machbarkeitsstudie vorgestellt, die die Realisierungschancen des Projektes aufzeigte. Bei der Finanzierung dieses Großprojektes gingen die Projektbefürworter davon aus, dass eine Refinanzierung durch den Verkauf der freiwerdenden ehemaligen Bahnflächen teilweise möglich sei. Hier sollten neue immobilienwirtschaftliche Projekte im Zentrum von Stuttgart entstehen. Diese Masterarbeit befasst sich mit der Umsetzbarkeit dieses Refinanzierungsansatzes für die bereits freigelegte Fläche 'A1' ('Europaviertel'), dem ehemaligen Güterbahnhof, sowie für die künftigen freiwerdenden Flächen gemäß Rahmenplan Stuttgart 21 (Flächen A2, A3, B, C1, C2, D und E). Dabei soll untersucht werden, welche Wertansätze seinerzeit unterstellt waren und wie sich der Stuttgarter Immobilienmarkt in der Zwischenzeit entwickelt hat. Insbesondere werden die Aspekte Bodenpreis- und Mietpreisentwicklung in Stuttgart, die Hintergründe, die zur Realisierung der Bauprojekte im ersten Bauabschnitt und die daraus erzielbaren Rückschlüsse auf die weiteren zu bebauenden Flächen untersucht. Zu Beginn der Masterarbeit wird das Gesamtprojekt 'Magistrale für Europa' vorgestellt, wobei während der weiteren Arbeit der Schwerpunkt auf dem Bahn- und Städtebauprojekt Stuttgart 21 selbst liegt. Innerhalb dieses Projektes geht es dem Autor um den immobilienwirtschaftlichen Bezug. Dieser ergibt sich durch die freigewordenen bzw. freiwerdenden Flächen, die der Refinanzierung des Projektes dienen sollen. Hier stehen die Annahmen im Fokus, welche zu Planungsbeginn Mitte der 90er-Jahre dazu geführt haben, dass das Projekt weiterverfolgt wurde. Diese Annahmen werden mit dem aktuellen Projektverlauf abgeglichen. So sollen neben der Auswertung von Stuttgarter Immobilienmarktberichten die Büroflächenfertigstellung, Leerstände und Leerstandsquoten, Büroflächenumsätze sowie die Spitzenmieten der Stadt zwischen 1995 und 2009 ausgewertet werden. Der ehemalige Güterbahnhof wurde abgerissen. Auf diesem Gebiet, auch als Bauabschnitt A1 bzw. als Europaviertel bekannt, wurden noch vor Projektstart von Stuttgart 21 die ersten Neubauten erstellt. Mit der Vorstellung der geplanten Bauprojekte auf diesem Gebiet, lassen sich die damals geltenden Entwicklungsprognosen mit dem damaligen und heutigen Immobilienmarkt am besten vergleichen. Auch wenn es sich bei Stuttgart 21 um ein Leuchtturmprojekt für die Region handelt sollte die Wirtschaftlichkeit im Vordergrund stehen. Volkswirtschaftliche Gutachten gehen unter gesamtwirtschaftlichen Aspekten von jährlichen positiven Erträgen aus. Projektgegner haben Gutachten erstellen lassen, die von dauerhaften Verlusten ausgehen. Die finanziellen Auswirkungen, welche das Projekt auf den Immobilienmarkt bereits hatte und hat, sollen aufgezeigt werden. Des Weiteren sollen Machbarkeitsstudien mit dem heutigen Projektverlauf verglichen werden. Bereits seit über 20 Jahren – erstmalige Diskussion 1988 – wird über das Projekt Stuttgart 21 diskutiert. Daher wurde in dieser Zeit auch eine ganze Reihe von Publikationen veröffentlicht. Hier muss bei der Auswertung der Literatur darauf geachtet werden, dass mit diesen Publikationen in der Regel bestimmte Eigeninteressen verfolgt wurden, sei es von den Gegnern, sei es von Befürwortern. So wurden etliche Gutachten und Gegengutachten erstellt, Wahlprogramme auf Stuttgart 21 abgestimmt und in der Presse erheblich diskutiert. Da es sich um ein laufendes Projekt handelt, gibt es folglich auch noch keine abschließende Projektliteratur. Daher wird die Recherche über Zeitungsauswertungen, Internetquellen, Hintergrundgespräche mit beteiligten Personen und Auswertung von (Grundstücks)-Marktberichten und Gutachten sowie Studien erfolgen. Ferner wurde eine Befragung innerhalb der Stuttgarter Immobilienwirtschaft durchgeführt, um Rückschlüsse über die Akzeptanz zum Projekt Stuttgart 21 zu ziehen.Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis: Executive Summary1 1.Einleitung5 1.1Problemstellung und Zielsetzung5 1.2Gang der Untersuchung6 2.Bahnprojekt Stuttgart – Ulm als der Teil der Magistrale von Paris – Bratislava Historie und Überblick8 2.1Magistrale Paris – Bratislava8 2.2Bahnprojekt Stuttgart – Ulm: 'Baden-Württemberg 21' inklusive 'Stuttgart 21'12 3.Parteien Stuttgart 21 und ihre Argumentation18 3.1Projektgegner18 3.2Projektbefürworter29 4.Umfrage zu Stuttgart 21 innerhalb der Stuttgarter Immobilienwirtschaft32 4.1Methodik32 4.2Auswertung33 5.Stadtentwicklungsprojekt von Stuttgart 21 – Immobilienwirtschaftliche Bedeutung45 5.1Städtebauliche Dimension46 5.2Teilgebiet A1 – Europaviertel50 6.Stuttgarter Immobilienmarkt 1995 bis 200960 7.Refinanzierung von Stuttgart 21 aus Grundstückserlösen68 7.1Geplante Erlöse aus freiwerdenden Flächen68 7.2Abgleich der Prognosen mit der heutigen Situation71 7.2.1Teilgebiet A2 – E71 7.2.2Teilgebiet A1 – Europaviertel75 8.Bewertung der Ergebnisse81 8.1Erlöse der Bahn durch Grundstücksverkäufe81 8.2Folgeinvestitionen durch Stuttgart 21 – Stadtentwicklung84 8.3Gesamtinvestitionen durch das Bahnprojekt Stuttgart – Ulm86 9.Schlussbemerkungen89Textprobe:Textprobe: Kapitel 3.1.6, Kopfbahnhof K21: Das Alternativkonzept Kopfbahnhof K21 sei insgesamt wesentlich besser: Seitens der Projektgegner wird als Alternative von Stuttgart 21 angeführt, dass der bisherige Kopfbahnhof saniert werden könnte. Dies wäre einerseits kostengünstiger, andererseits würde es zu ähnlichen Fahrzeitverkürzungen wie bei Stuttgart 21 kommen. Dazu wurde seitens Klaus Arnoldi ein Alternativkonzept vorgelegt mit dem Namen Kopfbahnhof K21. Beim bestehenden Bahnhof sollten die Bahnanlagen im Dreieck Nordbahnhof, Hauptbahnhof und Bad Cannstatt modernisiert werden und die Anbindung an den Flughafen über das regionale Schienennetz erfolgen. Der Verwaltungsgerichtshof Mannheim stellt in seinem Urteil vom April 2006 fest: 'Der Senat hält es für zweifelhaft, dass K21 überhaupt eine Alternative zu S21 ist.' K21 impliziert die Sanierung des bestehenden Kopfbahnhofes, die Generalsanierung des Gleisfeldes und der bestehenden Tunnel sowie den Bau weiterer Gleise bis zum Neckar und einer neuen Neckarbrücke. Ferner müsste eine neue Hochgeschwindigkeitstrasse durch Bad Cannstatt, Untertürkheim und Obertürkheim bis Wendlingen erfolgen. Als wesentlicher Nachteil wird am K21-Konzept gesehen, dass eine städtebauliche Entwicklung nur begrenzt möglich sei. So wären keine Erweiterungen des Rosensteinparks und des Schlossgartens möglich. Ferner fehlen für das K21-Projekt die Finanzierungsmittel. 3.1.7, Kommunikation des Projektes Stuttgart 21 in der Öffentlichkeit: Ferner wurde in der Öffentlichkeit angeführt, dass das Projekt Stuttgart 21 der Bevölkerung schlecht kommuniziert wurde. Die Bahn und die Stadt haben bereits vor einigen Jahren am Stuttgarter HBF eine Ausstellung im TurmForum Stuttgart 21 etabliert. Regelmäßig finden hier Führungen und Rundfahrten zu Stuttgart 21 statt. Seit einigen Monaten befindet sich im Stuttgarter Rathaus eine Ausstellung zum Projekt. In der Stuttgarter Presse wird das Projekt seit Jahren kontrovers diskutiert. Regelmäßig finden Veranstaltungen zum Thema statt. So wurde beispielsweise der Architekt Ingenhoven am 30.6.2009 von den Stuttgarter Nachrichten zur Podiumsdiskussion eingeladen. Obwohl eine Vielzahl von Kommunikationsmöglichkeiten angeboten wird, fühlen sich viele Stuttgarter nicht ausreichend über das Projekt informiert und lehnen es daher ab. Um die Aufklärungs- und Informationsarbeit zu verstärken hat Rüdiger Grube, neuer Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bahn AG zusammen mit Ministerpräsident Günther H. Oettinger (CDU) am 24.7.2009 verkündet, dass der baden-württembergische Landtags-Vizepräsident Wolfgang Drexler (SPD) künftig als ehrenamtlicher Sprecher und 'Botschafter Stuttgart 21' (Mister Stuttgart 21) das Bahnprojekt Stuttgart 21 vertreten wird. Zusätzlich wird seitens der Landeshauptstadt Stuttgart ein Ombudsmann für die Bürger eingesetzt. 3.2, Projektbefürworter: Ein Großprojekt kann nur dann gelingen, solange ein 'Projektfenster' offen ist, bei dem die wesentlichen Rahmenbedingungen zueinander passen. Zu Beginn des Projektes sprach man von 'Schwaben-Connection', die das Projekt Mitte der neunziger Jahre auf den Weg brachte. Die Hauptakteure, Manfred Rommel (Stuttgarter Oberbürgermeister), Erwin Teufel (Ministerpräsident Baden-Württemberg), Matthias Wissmann (Bundesverkehrsminister) und Heinz Dürr (Deutsche Bahn Vorstandsvorsitzender) waren alle sehr eng mit der Region Stuttgart verbunden. Unter den Kommunalpolitikern gab es 1994 eine große Zustimmung für das 'Jahrhundertprojekt'. Ähnlich wie bei den Projektgegnern, hat sich auf der Befürworterseite auch eine ganze Reihe von Gruppierungen gebildet. Meist haben deren Initiatoren einen politischen oder einen wirtschaftlichen Hintergrund. Die Arbeitsgruppe 'Stuttgart21 – Ja bitte!' beispielsweise beantwortet die Frage nach der Notwendigkeit von Stuttgart 21 anhand der Bereiche 1) Vorteile für Städtebau und Landschaft, 2) besseres Verkehrsangebot auf der Schiene und 3) der zukünftige Hauptbahnhof. Die Argumente wurden in die Anlage 4 übernommen. Der Verein 'ProStuttgart21' setzt sich in der Öffentlichkeit mit bekannten Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Politik, Kultur und Sport für das Projekt Stuttgart 21 ein. Die Deutsche Bahn AG und die Stadt Stuttgart haben '21 gute Gründe für Stuttgart 21' gefunden, die in der Anlage 5 aufgeführt werden. In der Bundesrepublik Deutschland müssen die öffentlichen Körperschaften Wirtschaftlichkeitsberechnungen erstellen, bevor einzelne Maßnahmen beschlossen werden können. Hier sollen im Rahmen von Kosten-Nutzen-Analysen die Kosten im Verhältnis zum Nutzen errechnet werden. Der Quotient aus Nutzen und Kosten muss positiv sein, d. h. größer 1 um zu erkennen, ob eine Maßnahme wirtschaftlich ist. Der volkswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Faktor wurde 1999 für das Gesamtprojekt (Stuttgart 21 und NBS Wendlingen-Ulm) ohne städtebauliche Vorhaben nach Berechnungen der Deutschen Bahn AG mit 2,7 angegeben. Im Synergiekonzept Stuttgart 21 wurde im Jahre 1995 aufgrund der Berechnung des verkehrswissenschaftlichen Institutes an der Universität Stuttgart der Nutzen-Kosten-Quotient mit 2,6 angegeben. Dies entsprach einem volkswirtschaftlichen Nutzen in Höhe von 314 Mio. DM pro Jahr. Die Berechnung konnte nicht eingesehen werden. Dennoch handelt es sich um einen positiven Wert. Somit können die Befürworter den volkswirtschaftlichen Nutzen des Gesamtprojektes herausstellen. Das Innenministerium von Baden-Württemberg hat ein Gutachten über die 'Volkswirtschaftliche Bedeutung des Projekts Baden-Württemberg 21' durch die Institute IWW (Karlsruhe), SFR (Wien) und VWI (Stuttgart) erstellen lassen. Danach wurde festgestellt, dass durch das Gesamtprojekt ca. 1 Mrd. Pkw-km je Jahr eingespart werden können. Demnach werden sich die CO2-Emissionen um 177 Tonnen jährlich reduzieren. Ferner werden in dem Gutachten positive Effekte innerhalb der Bauzeit sowie Dauereffekte nach Fertigstellung durch die verbesserte Erreichbarkeit ausgemacht. Die Städtebauprojekte und die Beschäftigungseffekte werden sehr positiv gesehen. Die Amortisationszeit der öffentlichen Investitionen des Landes Baden-Württemberg wurde bei einer statischen Betrachtung (ohne Zinsen) mit 13 Jahren berechnet. Bei einer dynamischen Betrachtung unter Berücksichtigung von Zinsen in Höhe von 3,5 % p.a. beträgt die Amortisationszeit 20 Jahre. Das bedeutet, dass innerhalb von 20 Jahren die öffentlich investierten Gelder an das Land zurückfließen. Damit ist die Amortisationszeit im Vergleich zu anderen internationalen Großprojekten vergleichsweise niedrig. Zwischenfazit: Das 'Projektfenster' Stuttgart 21 hat sich durch die Finanzierungsvereinbarung vom April 2009 geöffnet: 'Die Zeit ist reif!' stellte der Ulmer Oberbürgermeister Ivo Gönner fest. Die Planungen sind weitgehend abgeschlossen, 2010 kann der Baubeginn erfolgen. Den Hauptnutzen werden hier die heranwachsenden Generationen haben. Während der knapp zehnjährigen Bauzeit werden die Stuttgarter mit Einschränkungen umgehen müssen. Bis alle freiwerdenden Flächen einer neuen Nutzung übergeben sind, werden 20 Jahre vergehen. Dennoch werden mehrere Generationen von dem 'Jahrhundertprojekt' profitieren können. Der Geschwindigkeitsvorteil für Bahnreisende in Deutschland und Europa ist enorm. München wird von Stuttgart in 1 h 35 Minuten (heute 2 h 18 Minuten) erreichbar sein, Wien in 4 h 50 Minuten. Für die Strecke von Stuttgart nach Paris werden nur noch 3 h 10 Minuten benötigt. Die Bahn wird Marktanteile gewinnen, der Flug- und Autoverkehr werden Marktanteile verlieren.
Blog: www.jmwiarda.de Blog Feed
Die Reaktionen von Wissenschaft und Politik auf die Pisa-Ergebnisse zeigten eine problematische Engführung der Bildungsdebatte. Für eine wirkliche Verbesserung müssen wir uns zunächst wieder an die eigentlich entscheidenden Fragen herantrauen. Ein Gastbeitrag von Kai Maaz, Sabine Reh und Tilman Drope.
Foto: Katerina
Holmes / Pexels.
DIE VIELEN ÖFFENTLICHEN REAKTIONEN auf die aktuelle PISA-Studie und die dort diagnostizierte nur mittelmäßige Leistungsfähigkeit des deutschen Bildungswesens bringen wenig Neues. Sie lassen
dominante, alte Denkmuster unangetastet, bildungspolitische Zielkonflikte bleiben ausgeblendet. Der Zustand der Schule wird nicht als Ausdruck vielfältiger gesellschaftlicher Problemlagen
verstanden, vielmehr wird in der Hauptsache ihr die Schuld am konstatierten Elend gegeben. Gleichzeitig wird weiter die Hoffnung gehegt, die Schule werde, richtig gesteuert, gesellschaftliche
Probleme heilen. Dass sie an einem solchen Anspruch nur scheitern kann, könnte man wissen. Denn dafür müssten alle Akteure sich endlich ehrlich den alten Denkmustern stellen und den mit ihnen
verbundenen Narrativen, Gefühlen und Zielkonflikten.
Da ist zunächst die Enttäuschung der Bildungsforscher und -forscherinnen darüber, dass die Bildungspolitik nicht einfach tut, was die Bildungsforschung besser weiß. So kritisieren manche, dass
Programme zur Verbesserung insbesondere des Mathematikunterrichts nicht dauerhaft installiert worden seien. Selbstverständlich wird niemand etwas gegen besseren Mathematikunterricht sagen wollen.
Wenn aber eine solche Kritik mit der Diskreditierung anderer Maßnahmen, etwa denen zur Schulsanierung und Schulsozialarbeit im Rahmen des angekündigten "Startchancenprogramm", verbunden wird,
zeigt sich eine problematische Engführung.
Die überschätzte Rolle
der einzelnen Lehrkraft
Denn die Annahme, dass guter Unterricht lediglich eine Frage des richtigen Vorgehens sei und losgelöst von den konkreten Handlungsbedingungen vor Ort wirken könne, bedient letztlich das alte
Denkmuster eines durch die einzelne Lehrkraft zu steuernden Verhältnisses von Input und Output. Es bleibt außer Acht, dass Schülerinnen und Schüler ihre fachlichen Fähigkeiten und Lernerfolge
miterzeugen; diese hängen daher auch mit den Lernbedingungen in einem intakten Schulgebäude und etwa der Begleitung durch sozialpädagogische Fachkräfte zusammen. Ganz abgesehen davon, dass die
für guten Unterricht nötigen Fachkräfte es vielleicht vorziehen, ihre auch woanders begehrten Fähigkeiten dort einzusetzen, wo sie sich nicht als Einzelkämpfer um ein funktionierendes WLAN
kümmern oder sich als Streitschlichter Gefahren für das leibliche Wohlergehen aussetzen müssen.
In der Fokussierung auf den Fachunterricht setzen sich Qualitätsdebatten und Fragen einer "inneren Schulreform" fort, wie sie in den 1980er begannen und bald darauf mit Ideen eines neuen
Managements der Schulen und der Steuerung durch Monitoring und Evaluierung verbunden wurden. Die empirische Bildungsforschung, die sich fast parallel dazu im Laufe der 1990er Jahre zu einer
elaborierten Kompetenzforschung entwickelte, erzeugte zwar neues und teilweise auch schulfachlich ausreichend detailliertes Wissen über den Unterricht. Dennoch reichte eine in deren Folge
verbreitete neue Aufgabenkultur nicht aus, nachhaltig und flächendeckend erfolgreiches Lernen im Unterricht durchzusetzen. Im Gegenteil: Das Vertrauen in die Schule und ihre Leistungen sank und
sinkt noch immer.
Ein weiteres so altes wie dominantes Denkmuster zeigt sich, wenn Leistungssteigerung gegen Chancengleichheit ausgespielt wird. Hier werden die seit dem Sputnik-Schock oder dem ersten Ausrufen der
Bildungskatastrophe tradierten Ängste vor dem Verlust der Wettbewerbsfähigkeit des Landes seit den 1960er Jahren gegen die nur unwesentlich jüngere Skandalisierung systematischer Benachteiligung
unterer Sozialschichten immer wieder von Bildungspolitiker:innen und auch von Journalist:innen in Stellung gebracht. Heute wie vor 50 Jahren kann mit diesem Denkmuster sowohl der Appell an
Lernende und ihre Familien als auch die Unantastbarkeit des auf die Universität vorbereitenden Gymnasiums begründet werden. So wird mindestens implizit die Verwirklichung von Chancengleichheit
von der Leistungsorientierung benachteiligter Familien abhängig gemacht und inzwischen wieder – wenn auch vorsichtig – die Frage gestellt, ob nicht doch einfach mehr Druck helfe.
Die am Gymnasium ausgerichtete Gliederung des
Schulwesen wird kontrafaktisch begründet
Folgenreich ist zudem, dass die am Gymnasium ausgerichtete Gliederung des Schulwesens kontrafaktisch damit begründet wird, dass im internationalen Vergleich Länder mit Gesamt- bzw.
Einheitsschulsystemen hinsichtlich der (Spitzen-)Leistungen nicht überlegen seien. Wenn in unserem Land sehr viele Schülerinnen und Schüler am Gymnasium die für die gesellschaftliche Teilhabe
notwendigen Grundlagen erwerben, an anderen Schulformen zu viele aber entsprechende Ziele nicht erreichen, verdeutlicht das den Zielkonflikt: Das Festhalten am Gymnasium ist mit Blick auf die
Leistungsspitze möglicherweise noch rational, die Absage an eine gemeinsame Beschulung bis zur neunten oder zehnten Klasse ist es mit Blick auf faire Chancen beim Erwerb von Basiskompetenzen
sicherlich nicht.
Ein drittes Denkmuster zieht sich schließlich durch beinahe alle Debattenbeiträge der vergangenen Wochen. Es spiegelt sich in der Forderung (und Erwartung) schneller und punktueller Bearbeitung
immer wieder neu und je etwas anders diagnostizierter Probleme. Die Vorstellung, dass man durch Nachsteuerung an einzelnen Stellschrauben die Outcomes des gesamten Bildungswesens entscheidend
verbessern könne, besteht seit Jahrzehnten. Seitdem Mitte der 1970er Jahre großangelegte Bildungsreformen scheiterten und stattdessen Schulqualitätsdebatten begannen, wurde die Schule meist nicht
mehr als vielfach verknüpfter Bestandteil der sie umgebenden gesellschaftlichen Umwelt gesehen. Die in der Folge aufgesetzten bildungspolitischen Maßnahmen waren und sind stets auf das Innen der
Schule und des Unterrichts gerichtet und dürfen dabei auf keinen Fall Fragen der – horribile dictu – Schulstruktur oder der Gesellschaftsstruktur berühren.
Dementsprechend fordert die Bildungspolitik Problemdiagnosen und Handlungsempfehlungen auch beinahe ausschließlich von einer Bildungsforschung ein, die beides evidenzbasiert anbietet.
Grundsätzliche Fragen an die Verfasstheit von Schule und Gesellschaft, etwa danach, welche Gründe es für eine nachlassende Identifikation der Lernenden mit ihren Schulen und vielleicht auch mit
den Zielen schulischer Bildung gibt, werden dabei nicht gestellt. Sie könnten im Moment evidenzbasiert auch nicht ohne Weiteres beantwortet werden. Symptome werden so in einer "educationalization
of social problems" zur Ursache gemacht. Als Folge dieses Denkens bestimmt die Individualisierung struktureller und somit politischer Fragen die Debatte um Schule und Bildung. Gesellschaftliche
Entwicklungen, deren problematische Auswirkungen sich in den Schulen zeigen, aber anderswo herrühren, sollen dennoch vorrangig in den Schulen gelöst werden.
Wirkt die Bildungsforschung zu bereitwillig mit
bei der Perpetuierung falscher Narrative?
Obwohl selbstverständlich an vielen Stellen im Bildungssystem Verbesserungsbedarf besteht, muss sich die Bildungsforschung die Frage gefallen lassen, ob sie an der Perpetuierung derart
vereinfachend-falscher Narrative nicht zu bereitwilligt mitwirkt. Nehmen wir die Situation von Schulen "in schwierigen Lagen". Sie würde nachhaltig eher durch eine auf sozialen Ausgleich bemühte
Stadtentwicklung verbessert werden – und nicht umgekehrt. Auch lässt sich zwar das Ziel anstreben, die Ungleichheit der Bildungschancen zu reduzieren, es ist jedoch unmöglich, den Zusammenhang
von familiärem Hintergrund und Bildungserfolg in Gänze aufzulösen. Seit über 50 Jahren wird überzeugend theoretisch erklärt und fortlaufend empirisch bestätigt, dass die Schichtung der
Gesellschaft Bildungsungleichheit zur Folge hat. Die Reduzierung letzterer muss also über die Abschwächung erster erfolgen – und nicht umgekehrt.
Den ständigen Anspruch an die Schulen und an die dort Tätigen, gesellschaftliche Missstände zu korrigieren, müssten diese eigentlich als Zumutung zurückweisen. Das gilt auch für die Illusion,
allein Bildung könne den individuellen Aufstieg ermöglichen. Damit die Lehrkräfte nicht wirklich irgendwann aufgeben, ist es unerlässlich, dass wenigstens die jeweils unterschiedlichen Lagen von
Schulen und Schüler:innen erkannt, benannt und berücksichtigt werden. Der landesweite Einsatz bereits erprobter Instrumente wie der Mittelzuweisung auf Grundlage von Sozialindizes ist hier
naheliegend.
Für eine erfolgreiche Arbeit vor Ort wäre es überdies an der Zeit, die verschiedenen Verantwortungsebenen aufeinander abzustimmen. Gemeint sind hier alle im System beteiligen Akteure, also
Schulträger, Schulaufsicht, Kommunen, Ministerialverwaltung, Landesinstitute und Qualitätsagenturen, Schulentwicklungsbegleitung und schließlich und vor allem auch die einzelnen Schulen, die alle
abgestimmt und gemeinsam arbeiten müssen. Die Erfahrungen zeigen, dass es den Ländern unterschiedlich gut gelingt, in den gegebenen Strukturen kohärente und passgenaue Angebote für die Schulen
vorzuhalten. Dies trifft umso mehr zu, wenn immer wieder verschiedene Programme von unterschiedlichen Anbietern implementiert werden.
Ein geteiltes Verständnis der Akteure, die Definition einer gemeinsamen Zielperspektive, ist dafür ebenso unerlässlich wie eine unterstützende Struktur, vielleicht eine neue Form intermediärer
Organisation. In dieser würden alle relevanten Informationen für die Auswahl, Implementation und Umsetzung einer Innovation oder Maßnahme an einer Schule gebündelt werden. So könnten Erkenntnisse
der Wissenschaft mit Gesetzesgrundlagen, Umsetzungslogiken der Verwaltung, politischen Interessen und Bedarfen der schulischen Praxis im Sinne einer kohärenten Schulentwicklung abgestimmt werden
und in Angeboten münden, die die unterschiedlichen Perspektiven zusammenbringen. Dafür müssten wir vielleicht aber auch diskutieren, was für eine Gesellschaft wir sein wollen und welchen Beitrag
die Schule dazu realistisch leisten kann.
Kai Maaz ist geschäftsführender Direktor des DIPF Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation; Sabine Reh ist Direktorin der
Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF) des DIPF; Tilman Drope leitet den Arbeitsbereich BBF-Forschung am DIPF.
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100-Milliardenfonds und Bildungsgipfel: Die Initiatoren von "Bildungswende JETZT" planen für den geforderten Neuanfang des Bildungssystems die Bundesregierung in einer tragenden Rolle ein. Warum das eine Fehleinschätzung sein dürfte.
Ausschnitt aus dem Appell "Bildungswende JETZT".
VIELES VON DEM, was die schon am Donnerstag über 90 Bildungsorganisationen, Gewerkschaften, Vertretungen und Initiativen in ihrem Appell "Bildungswende JETZT" geschrieben haben, kann man nur
unterstützen. Geschickt am Weltkindertag platziert, hat er die mediale Aufmerksamkeit erhalten, die ihm zusteht. Dabei kann man durchaus geteilter Meinung sein, ob Formulierungen wie "eine der
schwersten Bildungskrisen seit Gründung der Bundesrepublik" erstens historisch zutreffen und zweitens die zuständigen Politiker eher zum Handeln als in eine Abwehrhaltung hinein treiben.
Die Aufzählung der Problemlagen in dem dreiseitigen Aufruf aber beschreibt in jedem Fall die Realität: von den hunderttausenden fehlenden Kitaplätzen, Erziehern und Lehrkräften über den
wachsenden Teil von Schülern, die nur schlecht lesen, schreiben und rechnen können, bis hin zu 50.000, die jedes Jahr die Schulen ohne Abschluss verlassen. Auch die Kennzeichnung unseres
Bildungssystems als veraltet, segregiert und sozial ungerecht trifft – leider – vielerorts den Kern. Wie, fragen die Unterzeichner zu Recht, soll ein solches System die jungen Generationen auf
die Umwälzungen und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts vorbereiten?
Wo sich bei mir ernsthafte Zweifel meldeten, waren indes diejenigen Passagen des Bildungsappells, in denen die Unterzeichner dem Bund eine wichtige Rolle bei der Krisenrettung
zugestehen.
Ja, es ist populär derzeit, auf den Bund zu setzen. Etwa durch das in Forderung 1 enthaltene Plädoyer für ein Sondervermögen für Bildung in Höhe von 100 Milliarden Euro für Kitas und Schulen, das
schließlich auch die Bundeswehr erhalten hat. Da die Länder sich gar nicht so verschulden könnten, müsste das ja vom Bund kommen. Träumen von vielen Extra-Bundesbildungsmilliarden sollte man
sogar, auch ich habe es zu Ostern getan.
Aber dann muss man sich wieder den Realitäten stellen, zu denen gehört, dass sich die Ampel schon für eine einzige zusätzliche Bildungsmilliarde jährlich rühmt, deren Auszahlung noch nicht einmal
geplant wurde bislang. Wem in Hinblick auf die nötige Bildungswende insofern als erstes ein bundespolitischer Finanz-Großakt einfällt, leistet zwar einen ansehnlichen Beitrag zur Debattengalerie
– könnte aber beim Warten auf den Bund die Chance zum Aufbruch verpassen.
Das Gleiche gilt für die Forderung 4 nach einem "echten Bildungsgipfel", einberufen vom Bundeskanzler "in Absprache mit den Regierungschef*innen der Länder" und unter Einbeziehung von
"Zivilgesellschaft und Bildungspraxis" (interessanterweise wird die im Papier für ihre "dysfunktionalen Vorschläge" gescholtene Bildungsforschung hier ausgespart). Abgesehen davon, dass an
anderer Stelle zu Recht darauf hingewiesen wird, dass ein wesentliches Ziel des letzten echten (Dresdner) Bildungsgipfels von 2008 noch immer nicht erreicht wurde, kann man eine auch nur
teilweise konzeptionelle Neusortierung des Bildungssystems von einem solchen Format nicht erwarten. So, wie der Bund die 100 Milliarden nicht springen lassen wird, werden die Länder sich nicht
per Gipfel und unter Zutun des Bundes ihre Macht in der Kultuspolitik einhegen lassen. Weil sie hieraus ganz wesentlich ihre Daseinsberechtigung herleiten.
Den Bildungsföderalismus als unkaputtbar anerkennen
und trotzdem an den Wandel glauben
Wer will, kann dem Autor dieser Zeilen angesichts solcher Einwände Ambitions- oder Fantasielosigkeit vorwerfen. Ich behaupte, es ist genau umgekehrt: Anzuerkennen, dass der Bildungsföderalismus
in all seiner täglich erlebten Unzulänglichkeit realpolitisch gesehen unkaputtbar ist. Und trotzdem an den Wandel zu glauben, wie er in den Appell-Forderungen 2 ("Ausbildungsoffensive für
Lehrer*innen und Erzieher*innen") und 3 ("Schule zukunftsfähig und inklusiv machen") ausbuchstabiert wird, das ist gedanklich anspruchsvoll. Das erfordert Mut, weil eine solche Argumentation das
Heil in den Ländern und damit zwangsläufig ausgerechnet in jener Kultusministerkonferenz (KMK) sehen muss, die vielen oft als so heillos erscheint.
Mir selbst ja auch – wie oft habe ich meine gelegentlich an einen Föderalismus-Abgesang grenzenden Zweifel auch hier im Blog formuliert. So scheint denn auch in dem unter
anderem von Lehrergewerkschaften unterstützten Aufruf vor allem eine tiefe Enttäuschung mit den Kultusministern durch – etwa an deren Entscheidung, mancherorts mit Mehrarbeit (wie von der
Ständigen Wissenschaftlichen Kommission empfohlen) begegnen zu wollen. In dessen rigoroser Ablehnung durch die Unterzeichner könnte man übrigens, das nur nebenbei gesagt, einen
logischen Bruch zu ihrer Warnung vor einer der schwersten Bildungskrisen in der Geschichte vermuten – die dann ja wohl angesichts der dramatischen Lehrkräfte-Not auch für alle Beteiligten
unbequeme Maßnahmen rechtfertigen sollte.
Egal, ich bin jedenfalls davon überzeugt: Nur die Länder müssen und nur die Länder können es richten, angefangen mit den Finanzen. Sie sind für zwei Drittel der staatlichen Bildungs- und
Wissenschaftsausgaben verantwortlich. Womit der Hebel für mehr – etwa dauerhaft zehn Prozent der Wirtschaftsleistung für Bildung und Forschung, siehe Forderung 1 – ebenfalls vor allem bei ihnen
liegt. Umso stärker, da sich die Verteilung des Steueraufkommens in den vergangenen Jahren derart zu ihren Gunsten gewandelt hat, dass sie als Gemeinschaft (nicht zwangsläufig jedes Land einzeln)
haushaltspolitisch besser dastehen als der Bund.
Woraus folgt: Die Bundesregierung kann und soll Akzente und Impulse für neue Entwicklungen in der Bildung setzen (Beispiel: Startchancen-Programm, um
vom Gießkannen-Prinzip in der Schulfinanzierung wegzukommen), aber das Bildungssystem als Ganzes entwickeln können nur die Länder. Weil sie die Zuständigkeit und auch das Geld haben. Am Ende
lautet sogar die Frage, ob der – durch den Ampel-Koalitionsvertrag genährte und auch von uns Journalisten oft ausgeübte – Erwartungsdruck dem Bund gegenüber nicht sogar kontraproduktiv wirkt,
weil er die Länder aus dem Scheinwerferlicht entfernt.
Die Unfähigkeit der Kultusministerkonferenz
ist kein Naturgesetz
Die Länder können und müssen es richten, und das geht nur über die Reform ihrer Zusammenarbeit in der Kultusministerkonferenz. Anstatt deren Unfähigkeit implizit zum Naturgesetz zu erklären,
indem man nach dem Bund ruft, sollte die ganze Bildungsrepublik Anteil an den laufenden KMK-Reformdebatten nehmen. Ja, die gibt es, sie sind fragil und doch im günstigen Fall so
umfassend wie lange nicht (um nicht zu sagen: wie selten seit Gründung der Bundesrepublik).
Kann ihre gemeinsame Verwaltung, das KMK-Sekretariat, neu und schlagkräftig aufgestellt werden? Können die Länder ihre übergreifenden Entscheidungsprozesse zu Bildungsreformen beschleunigen und
dabei den Konsens durch im Einzelfall unbequeme Mehrheitsentscheidungen ersetzen? Schafft es die KMK, in der Öffentlichkeit die Rolle als föderale Bildungsagentur einzunehmen? Derzeit ist es doch
so, dass auch die meisten Journalisten im Zweifel im Bundesbildungsministerium anrufen, weil die Macht in unserem Bildungssystem zwar bei den Ländern liegen mag, sie aber gleichzeitig so
irritierend undurchsichtig funktioniert.
Das Dramatische ist, dass es diese vor vielen verborgenen Reformbemühungen sind, die über die "Bildungswende" entscheiden werden. Weshalb ein wirklich wirksamer Appell den direkten
Erwartungsdruck in Hinblick auf die Selbst-Reform der KMK maximal erhöhen sollte – und es Aufgabe des Journalismus wäre, neben plakativen Essays über 10- oder 100-Milliarden-Bildungsfonds
Transparenz in dieses verschachtelt-verborgene Gezerre um die Zukunft des Bildungsföderalismus zu bringen.
Tatsächlich jedoch erwähnt "Bildungswende JETZT" die Kultusminister als allerletzte ihrer vier Adressatengruppen – und den Bund vor den Ländern. Als erwarte der Appell von ihnen am
allerwenigsten.
Mit einer Verve, die allen
Klischees zu widersprechen schien
Dass dies womöglich eine Fehlwahrnehmung des Faktischen ist, zeigt nicht zuletzt der Blick auf die Corona-Zeit. Solange der Bund über Einschränkungen des Präsenzunterrichts mitentschied, wurden
die Bildungsinteressen der Kinder meist dem gesellschaftlichen Gesamtwohl untergeordnet, was die soziale Schieflage beim Lernerfolg nur noch verschärft hat. Es waren die Länder und die
Kultusminister übrigens noch deutlich stärker als die Ministerpräsidenten, die sich überwiegend für offene Schulen eingesetzt haben. Und das mit einer Verve, einer Geschlossenheit und
gelegentlich auch mit einer Trotzigkeit, die allen landläufigen Klischees zu widersprechen schien.
Böse Zungen behaupten, sie hätten das nur getan, weil sie wussten, wie schlecht sie ihre Schulen auf die Ausnahmesituation vorbereitet hatten. Doch bei allem vermuteten oder tatsächlichen Mangel
an Kompetenz und Weitsichtigkeit: Vielleicht identifizierten sich viele Kultusminister einfach mit der von ihnen übernommenen Aufgabe, für Bildung zu sorgen? Vielleicht ist das Einzige, worauf es
wirklich ankommt, das Ende ihrer immer wiederkehrenden Selbstblockaden in der KMK?
Wie wäre es dann, wenn wir für einen Moment, wirklich nur für einen Moment annähmen, dass die Lösung der Krise des Bildungsföderalismus bei denjenigen liegt, die im Föderalismus für die Bildung
zuständig sind? Und dass wir die Energie, die wir bislang für die so formschönen wie realitätsfremden Träume von einer Rettung durch den Bund aufgewendet haben, in Debatten über deren
strukturelle Ertüchtigung steckten? Womöglich wären wir der "Bildungswende jetzt" dann ein Stück näher.
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Sustainable Energy, free from fossil fuels, has recently emerged as environmentfriendly and climate-friendly solution. Naturally, it has become the primary motto of European environmental policy and the energy industry. Pertaining developments are tremendous and have resulted in the advent of modern methods, technological advancements and better environmental protection schemes. Amongst all, biomass power generation schemes have received wide attention and popularity and are employed together with other sustainable energy options such as wind energy, solar energy, geothermal energy and hydro energy to secure a safe, stable and affordable energy supply. A biomass based power generation plant applying gasification mainly consists of gasifier for the generation of producer gas, several apparatus such as filter, scrubber, cooler, Electrostatic Precipitator (ESP), etc. for reliable gas cleaning, and the subsequent utilization unit (gas engine, generator set, etc.) that converts the gas energy into green electrical energy. Such multi-stage arrangements are necessary to ensure the cleanliness of producer gas for its unrestricted conversion into clean electric power and to maintain a clean environment. Despite their importance and popularity, certain aspects of the downstream equipment used for the removal of mixtures of organic compounds (collectively known as tar), such as protection, cleaning, maintenance, etc., are not dealt with adequate care and attention. In particular, the maintenance strategies of the tar ESP units have been the same for several decades without any significant improvement. The conditions on the ceramic insulators, which can severely restrict the ESP performance, are totally ignored until their permanent failure. An attempt to monitor their condition will help in improving the operating condition of an ESP unit, thereby ensuring the cleanliness of producer gas before its energetic utilization, henceforth reaching the goal of clean power generation. To achieve this, it is necessary to understand, at-least in macroscopic scale, the possible constituents in producer gas, their electrical characteristics and their influence on the dielectric integrity of the ceramic insulator and on the operating condition of an ESP unit. This forms the subject matter of this thesis. It is certain that the dielectric condition of ceramic insulators of an ESP unit has decisive influence on its performance and cleaning efficiency. Naturally, exercising one or more condition based monitoring methods on pertinent insulators might help to initiate preventive measures at an early stage. The currently practiced maintenance procedures on ESP units are not paying much attention in ensuring the dielectric integrity of the ceramic insulators. In most cases, the ESP unit is operated until the failure of its insulator, after which the complete arrangement (ceramic feed-through insulator and the suspended discharge electrode) is replaced. The main reason for the dielectric failure is identified as the deposition of tar on the exposed surface of the insulator. These condensable compounds that are present in the producer gas have to be removed reliably since their presence impairs the dielectric condition of the insulator, thereby limiting the performance of the ESP unit and compromising the operation of power conversion equipment. Early detection of such tar depositions would clearly provide an opportunity to prevent premature failure of the insulator. The respective cleaning measures could be simplified and the severity of the threat level (to human being and to the environment) arising due to the handling and disposal of hazardous waste materials could be minimized. In this context, preliminary information regarding electric discharges on outdoor insulators and quantification of their pollution level are already available. At the same time, the electrical behavior of condensable hydrocarbon and hetero-cyclic compounds (a few of these species are di-polar in nature) and their influence on dielectric quality of ceramic insulator, a synonym for insulation condition, remains unclear. It forms the primary aim of this thesis to explore these factors. It is believed that such an investigation provides an opportunity to prevent premature failure and to help in gaining knowledge about the electrical characteristics of tar. Summarizing all, the present thesis investigates the following objectives: • Determining the influence of tar on the dielectric integrity of the ceramic insulator and the pertinent impact of tar that is deposited on the insulator surface on the operating condition and performance of a wet ESP unit. • Gaining a macroscopical insight in the collective dielectric behavior of a complex mixture of tar that is deposited on the surface of the ceramic insulator. More details regarding the test objects, analytical equipment, experimental setup, inferences and conclusions drawn are provided in the respective chapters of the thesis. ; Nachhaltige Energie, frei von fossilen Brennstoffen, hat sich in jüngster Zeit zu der idealen umwelt- und klimafreundlichen Technologie entwickelt. Dabei ist Nachhaltigkeit zu einer der wichtigsten Konzepte der europäischen Umweltpolitik und Energiewirtschaft geworden. Die nachhaltigen Entwicklungen bieten immenses Potential und haben zu moderneren und nachhaltigeren Methoden, technologischen Weiterentwicklungen und verbesserten Umweltschutzmaßnahmen geführt. Konzepte zur Stromerzeugung aus Biomasse haben große Aufmerksamkeit und Beliebtheit erhalten und werden zusammen mit anderen nachhaltigen Optionen der Energiegewinnung (nämlich Windenergie, Solarenergie, Erdwärme und Wasserkraft) eingesetzt, um eine sichere, stabile und bezahlbare Energieversorgung zu gewährleisten. Biomassekraftwerke, basierend auf der Vergasungstechnik, bestehen im Wesentlichen aus dem Vergasungsreaktor zur Produktgaserzeugung, mehreren Gasbehandlungsschritten wie Filter, Wäscher, Kühler, Elektrofilter usw., die das Produktgas reinigen, während die nachgeschalteten Aggregate (Gasmotor und Generator) das niederkalorische Produktgas in CO2 neutrale elektrische Energie verstromen. Die mehrstufigen Abscheidetechniken zur Produktgasreinigung sind erforderlich, um die uneingeschränkte Wandlung des Produktgases in Energie zu gewährleisten und um eine saubere Umwelt aufrechtzuerhalten. Trotz der Bedeutung und Beliebtheit der Biomassekraftwerke werden bestimmte Aspekte der Kraftwerkskomponenten, wie Schutz-, Reinigungs- und Wartungsstrategien, die zur Abscheidung der kondensierbaren Kohlenwasserstoffverbindungen (allgemein unter dem Begriff "Teer" zusammengefasst) eingesetzt werden, nicht mit der erforderlichen Sorgfalt und nicht mit dem erforderlichen Interesse behandelt. Insbesondere die Instandhaltungsstrategien von Elektrofilteranlagen sind seit mehreren Jahrzehnten ohne nennenswerte Verbesserungen unverändert. Dem Zustand der keramischen Isolatoren der im erheblichen Maße die Elektrofilterleistung beeinträchtigt wird kaum Beachtung geschenkt, die Isolatoren werden hingegen zumeist bis zum dauerhaften Versagen betrieben. Das Bestreben, den Zustand der Isolatoren zu überwachen, wird helfen, den Betriebszustand von Elektrofiltern zu verbessern, um dadurch die Reinheit der Produktgase vor deren energetischen Nutzung sicherzustellen und somit das Ziel einer sauberen Energieerzeugung zu erreichen. Um dies zu erreichen, ist es zumindest auf makroskopischer Ebene erforderlich, die möglichen Bestandteile im Produktgas von Biomassevergasern, deren elektrische Eigenschaften und deren Einfluss auf die dielektrische Integrität von keramischen Hochspannungsisolatoren sowie auf den Betriebszustand von Elektrofilteranlagen zu verstehen. Dies ist das Ziel der vorliegenden Arbeit. Zweifelsfrei hat der dielektrische Zustand keramischer Stütz- und Durchführungsisolatoren von Elektrofilteranlagen einen maßgebenden Einfluss auf deren Leistung und die Reinigungswirkung. Daher ist es selbstverständlich zu erwarten, dass eine zustandsorientierte Überwachungsmethode, oder mehrere zustandsorientierte Überwachungsmethoden, auf die entsprechenden Isolatoren angewendet werden, wodurch Präventivmaßnahmen bereits in einem frühen Stadium eingeleitet werden können. Derzeitig praktizierte Instandhaltungsverfahren an Elektrofilteranlagen schenken der Gewährleistung der dielektrischen Unversehrtheit von keramischen Isolatoren keine große Aufmerksamkeit. In den meisten Fällen wird ein Elektrofilter bis zum Ausfall eines Isolators betrieben, wonach der betreffende Isolator ausgetauscht werden muss. Die Hauptursache für das dielektrische Versagen sind Ablagerungen einer Vielzahl kondensierbarer Kohlenwasserstoffe auf der gasberührten Oberfläche der Isolatoren. Diese Kohlenwasserstoffe, die im Vergaser-Poduktgas vorhanden sind, müssen vor der energetischen Verwertung aus dem Gas entfernt werden, da deren Anwesenheit den dielektrischen Zustand der Isolatoren, die Leistung der Elektrofilteranlage und den Betrieb der Energie-Wandlungseinrichtungen beeinträchtigt. Die frühzeitige Erkennung von solchen Verschmutzungen bietet eine Möglichkeit, vorzeitiges Versagen der Isolatoren zu verhindern. Die erforderlichen Reinigungsmaßnahmen könnten somit vereinfacht werden und das Ausmaß von Gefahrstoffeinwirkungen (auf Mensch und Umwelt), bedingt durch Umgang mit gefährlichen Abfällen und Entsorgung dieser Abfälle, könnte minimiert werden. Für Freiluftisolatoren, die gewöhnlichen Umwelteinflüssen ausgesetzt sind, existieren verschiedene Verfahren zur Erfassung von elektrischen Entladungen und verschiedene Modelle für die Bewertung ihres Verschmutzungsgrades. Zugleich ist das elektrische Verhalten von kondensierbaren Kohlenwasserstoffen und ihrem Einfluss auf die dielektrische Qualität der Keramikisolatoren weitestgehend unklar. Das primäre Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, diese Faktoren zu untersuchen. Es wird davon ausgegangen, dass diese Untersuchung Möglichkeiten zum Verhindern von vorzeitigen Fehlern und Anlagenausfällen bereitstellen kann und hilft, Erkenntnisse über die elektrischen Eigenschaften von kondensierbaren Kohlenwasserstoffen zu erlangen. Die vorliegende Arbeit untersucht zusammengefasst die folgenden Aspekte: • Ermittlung des Einflusses von Teer auf den dielektrischen Zustand und die Qualität von keramischen Isolatoren und die damit verbundenen Auswirkungen auf den Betriebszustand und die Leistung von Elektrofilteranlagen. • Erkenntnisse über das makroskopische, kollektive dielektrische Verhalten von kondensierten überwiegend aromatischen und heterozyklischen Kohlenwasserstoffverbindungen, die auf der Oberfläche von keramischen Isolatoren abgelagert sind. Weitere Details hinsichtlich der Prüfanordnungen, Versuchsdurchführungen, Ergebnisse und Rückschlüsse sind in den entsprechenden Kapiteln dieser Arbeit enthalten.
BASE
Thesen I. Allgemeine Thesen 1. Ausgangsthese: Das historische kirchliche Asylrecht und die heutige Gewährung von Kirchenasyl sind strikt zu unterscheiden. 2. Zwei unterschiedliche Betrachtensweisen sind angebracht. Zum einen ist es eine asylrechtliche Fragestellung, ob das heutige Kirchenasyl an das überkommene Rechtsinstitut des kirchlichen Asylrechts anknüpft bzw. als solches in unserer Rechtsordnung noch denkbar ist. Zum anderen könnte das Kirchenasyl aber auch als neuere Erscheinungsform sui generis angesehen werden. 3. Das Asyl ist religiösen Ursprungs. Dies belegen Untersuchungen über das Asylrecht der Israeliten, der Ägypter, der Griechen und der Römer. Im Laufe der Zeit entwickelte es sich jedoch zu einem Institut des weltlichen Rechts. II. Kirchliches Asylrecht 1. Das kirchliche Asylrecht entstand gewohnheitsrechtlich. 2. Das Asylrecht der Kirche ist als internes örtliches Asyl einzuordnen. Es bot zwar jeweils einem einzelnen Schutz, war aber nicht als subjektives Recht des Asylsuchenden selbst ausgestaltet, sondern als Recht der Kirche. 3. Das kirchliche Asylrecht beruhte vor allem auf der Ehrfurcht vor dem heiligen Ort (reverentia loci) sowie dem Dazwischentreten und der Vermittlung durch Vertreter der Kirche (intercessio). 4. Im Verlaufe des Mittelalters schränkten wechselseitig weltliche und kirchliche Macht den sachlichen und persönlichen Geltungsbereich des kirchlichen Asylrechts immer mehr ein. Infolge der Herausbildung der modernen Staaten, der Entwicklung des Völkerrechts und der Betonung der Rolle des Individuums versagten die weltlichen Machthaber dem kirchlichen Asylrecht ab dem 16. Jahrhundert nach und nach die Anerkennung. 5. Heute gibt es kein kirchliches Asylrecht mehr. Weder staatliches Recht und Staatskirchenrecht noch katholisches und evangelisches Kirchenrecht sehen ein solches Rechtsinstitut vor. Die heutige Praxis der Gewährung von Kirchenasyl basiert also nicht auf der Inanspruchnahme bzw. Gewährung kirchlichen Asylrechts, auch wenn es auf manchen - nicht allen - Faktoren (wie z.B. intercessio, Gedanke der Humanität und Milde) des kirchlichen Asylrechts beruht. 6. Entgegen Henssler ist heute ein kirchliches Asylrecht als internes Asyl denkbar - vorausgesetzt, der Staat trifft mit der Kirche bzw. den Kirchen eine diesbezügliche einvernehmliche Regelung. 7. Kirchliches Asylrecht besteht heute nicht aufgrund Gewohnheitsrechts. 8. Kirchliches Asylrecht ist als Form des internen Asyls demjenigen des diplomatischen Asyls vergleichbar. Diplomatisches Asyl dient dem Menschenrechtsschutz. Dasselbe gilt auch für das Kirchenasyl. Für eine Analogie zum diplomatischen Asyl fehlt es jedoch an einer planwidrigen Gesetzeslücke, jedenfalls aber an der Vergleichbarkeit der Sachverhalte. 9. Kirchenasyl könnte heute - wenn auch unter veränderten Rahmenbedingungen - als kirchliches Asylrecht verankert werden. 10. Ein zu schaffendes kirchliches Asylrecht für Nichtdeutsche wäre mit den staatlichen und staatskirchenrechtlichen Normen vereinbar. 11. Es besteht heute ein staatliches Asylmonopol. Die Verfassungen und Gesetze erwähnen lediglich die Asylgewährung durch den Staat; das staatliche Asylrecht ist in Art. 16 a GG als Menschenrecht verankert. Dies schließt aber nicht aus, daß der Staat der Kirche das Recht auf temporäre Asylgewährung einräumt. 12. Dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip liefe die kirchliche Asylgewährung nur dann nicht zuwider, wenn der Staat der Kirche das Recht auf zeitweise Asylgewährung einräumen würde. 13. Das Asylwesen gehört nicht zu den eigenen Angelegenheiten der Kirchen nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV. Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht ist folglich nicht tangiert. 14. Die Verankerung eines kirchlichen Asylrechts für Nichtdeutsche lediglich in innerkirchlichem Recht ist im Hinblick auf das Asylmonopol des Staates sowie das Staatskirchenrecht heute kein gangbarer Weg mehr. 15. Ein kirchliches Asylrecht für Nichtdeutsche könnte allerdings in Konkordaten und Staatskirchenverträgen niedergelegt werden. 16. Ein derartiges kirchliches Asylrecht für Nichtdeutsche bedeutete allerdings nicht die dauerhafte Gewährung von Asyl nach eigenen kirchlichen Kriterien und Verfahren. Zwar könnte sich die Kirche eigenständig entscheiden, welche Ausländer sie bei sich beherbergen will und für wen sie sich einsetzen will. Die Aufnahme diente jedoch lediglich dem Ziel, einen temporären Schutz zu gewähren, um die Behörden von eventuell bestehenden Abschiebehindernissen zu überzeugen. Die Entscheidung über das weitere Bleiberecht bzw. Möglichkeiten des weiteren Aufenthalts träfen dann nach wie vor die zuständigen staatlichen Behörden, allerdings unter Berücksichtigung der von der Kirche zugunsten des Flüchtlings vorgebrachten Argumente. 17. Bezüglich der Kostentragung könnte eine Lösung so aussehen, daß - wenn die staatlichen Organe ein Bleiberecht bzw. eine Aufenthaltsmöglichkeit gewähren - die staatlichen Behörden auch die Kosten tragen müßten, d.h. daß der Kirchengemeinde die aufgewendeten Kosten erstattet werden müßten. Sollte die nochmalige Überprüfung des Falles keine anderslautende, für den Ausländer positive Entscheidung bewirken und der Ausländer Deutschland verlassen müssen, müßte die Kirchengemeinde die bisher angefallenen Kosten tragen. Eine derartige Kostenregelung müßte jedoch in einem Konkordat bzw. Kirchenvertrag festgelegt werden. 18. Auch die Kontingentlösung ist mit dem Staats(kirchen)recht vereinbar. Allerdings kann sie aufgrund des Asylmonopols des Staates lediglich dazu führen, daß die Kirche(n) und evtl. die Wohlfahrtsverbände Kontingente erhalten, um Menschen in Deutschland ein Bleiberecht zu verschaffen, die der Staat nicht aufzunehmen verpflichtet ist. Dies bedeutet, daß diejenigen, denen der Staat z.B. politisches Asyl gewähren muß oder die aufgrund eines Abschiebehindernisses nicht abgeschoben werden dürfen, für ein Kirchenkontingent nicht in Frage kommen. Gerade für die Kirchenasylfälle bietet der Kontingentvorschlag folglich in der Regel keine Lösung. III. Kirchenasyl 1. Die heutige Gewährung von Kirchenasyl ist eine faktische Erscheinung, die auf keinem Rechtsinstitut basiert. Sie bedeutet keine Inanspruchnahme eines etwaigen kirchlichen Asylrechts. 2. Im Gegensatz zum kirchlichen Asylrecht wird nicht der Schutz durch die Kirchenräume selbst proklamiert und in Anspruch genommen. Die Polizei ist bei Vorliegen der für eine rechtmäßige Durchsuchung erforderlichen Voraussetzungen nicht gehindert, in kirchliche Räume einzudringen. Das Kirchenasyl ist kein vor polizeilichem Zugriff geschützter Raum. Kirchliche Räumlichkeiten sind als "Wohnung" i.S.v. Art. 13 GG zu qualifizieren. Nach Art. 30 Abs. 1 S. 2 BayVwZVG obliegt die Abschiebung von Ausländern der Polizei; sie ist nach den Vorschriften des PAG zu vollziehen. Die Analyse zeigt, daß Durchsuchung sowie Abschiebung unter dem Gesichtspunkt der polizeirechtlichen Vorschriften des PAG grundsätzlich rechtmäßig sind. 3. Die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen relativieren jedoch dieses Zwischenergebnis. Zwar bedeutet die Gewährung von Kirchenasyl nicht die Ausübung eines Widerstandsrechts i.S.v. Art. 20 Abs. 4 GG. Auch fällt das Gewähren von Kirchenasyl zwar - anders als das kirchliche Asylrecht - unter das Selbstbestimmungsrecht der Kirche gem. Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV; dieses steht jedoch unter dem Vorbehalt der allgemeinen Gesetze. Das Kirchenasyl ist aber als Ausübung des Grundrechts der Glaubens- bzw. Gewissensfreiheit nach Art. 4 GG verfassungsrechtlich verankert. 4. Die Durchsuchung zum Zwecke der Abschiebung und die Abschiebung selbst stellen Eingriffe in das Grundrecht des Art. 4 GG dar. Die Schutzwirkung des Art. 4 GG im Zusammenhang mit dem Kirchenasyl ergibt sich erst aus den im Rahmen der praktischen Konkordanz zu treffenden Abwägungen mit anderen Grundrechten oder verfassungsrechtlichen Grundsätzen. 5. Die Zahl der Kirchenasylfälle nahm mit Inkrafttreten der Asylrechtsreform des Jahres 1993 signifikant zu. Da jedoch Kirchenasyl keine Gewährung eines Asylrechts ist, liegt keine Verletzung des staatlichen Asylmonopols vor. Das in Art. 4 GG wurzelnde Kirchenasyl stellt ein verfassungsunmittelbares Abschiebungshindernis dar. Hierbei ist dann abzuwägen, ob das Interesse an sofortiger Abschiebung vor einem zeitlichen Aufschub überwiegt. Kirchenasyl will im Zusammenhang mit der Menschenwürde insbesondere dann die Abschiebung verhindern, wenn aus der Sicht der Kirchenasyl Gewährenden Gefahren für Leib und Leben der Flüchtlinge drohen. Es zielt darauf ab, Zeit zu gewinnen, um neue Beweise herbeibringen zu können. Zum Teil liegen solche bereits vor, wurden allerdings im Asylverfahren nicht berücksichtigt. Diese moderne Interzession ist in Art. 4 GG verbürgt. Die Abwägung ergibt, daß aufgrund des Art. 4 GG die Behörden und Gerichte zu einer nochmaligen Überprüfung des Falles verpflichtet sind (Asylfolgeverfahren; Art. 4 GG als Grund für die Wiederaufnahme des Verfahrens), bei der dann die von kirchlicher Seite vorgelegten Beweise berücksichtigt werden müssen. Allerdings ist das Bundesamt keineswegs verpflichtet, die vorgelegten Beweise unbesehen zu übernehmen; es kann diese auch zurückweisen. Im Falle einer ablehnenden Entscheidung, in der auch kein Abschiebungsschutz gewährt wird, muß das Ergebnis dieser nochmaligen Prüfung akzeptiert werden. Diese Lösung ist mit dem Asylmonopol vereinbar, da sich nicht "die" Kirche oder Kirchengemeinde an die Stelle des Bundesamtes setzt, sondern letzteres frei entscheidet. Wie beim kirchlichen Asylrecht kann demnach durch die Gewährung von Kirchenasyl eine nochmalige Überprüfung des Falles erreicht werden. Während dies aber beim kirchlichen Asylrecht Folge gerade des Asylrechts der Kirche ist, stellt es im Rahmen der Gewährung von Kirchenasyl einen Ausfluß der Glaubens- und Gewissensfreiheit der Kirchenasyl Gewährenden dar. 6. Die Gewährung von Kirchenasyl stellt nicht das staatliche Gewaltmonopol und die Letztentscheidungsbefugnis des Staates in Frage. Ebensowenig liegt im Hinblick darauf, daß der Rechtsweg bereits erschöpft war, ein Verstoß gegen die Unabhängigkeit der Gerichte vor. Die Entscheidung der Kirchengemeinde soll nicht an die Stelle der staatlichen Entscheidung treten. Vielmehr zielt Kirchenasylgewährung darauf ab, die staatlichen Behörden und Gerichte zu einer nochmaligen bzw. genaueren Überprüfung zu bewegen. Ein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip liegt darin nicht. 7. Das Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG steht der Kirchenasylgewährung ebenfalls nicht entgegen. Mit dem Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG ist die dargelegte Lösung vereinbar. Zwar liegen in der Tat Ungleichbehandlungen von abzuschiebenden Ausländern vor, wenn manche Personen, die sich im Kirchenasyl befinden, allein aufgrund dieser Tatsache ein Asylfolgeverfahren durchlaufen können. Der Staat hat aber keine Schutzpflicht, diese Ungleichbehandlungen zu verhindern. Denn die Schutzwirkung des Art. 4 GG rechtfertigt diese Ungleichbehandlung. 8. Schließlich ist das gewonnene Ergebnis auch mit dem Petitionsrecht (Art. 17 GG) vereinbar. Das Petitionsrecht erübrigt die Interzessionswirkung des Art. 4 GG nicht. 9. Die Strafbarkeit der Kirchenasylgewährung entfällt regelmäßig aufgrund der Ausstrahlungswirkung des Art. 4 GG. Wenn das Handeln der Kirchenasyl Gewährenden tatsächlich von der Glaubens- und/oder Gewissensfreiheit umfaßt ist, kommt eine Bestrafung in der Regel nicht in Betracht. Denn dann fehlt es an der persönlichen Schuld. 10. Differenziert muß die Frage beurteilt werden, ob den Kirchenasyl Gewährenden eine Klagemöglichkeit im Falle des "Bruchs" des Kirchenasyls zusteht. Im Hinblick auf die Durchsuchungsanordnung muß dies nach Beendigung der Durchsuchung verneint werden. Bezüglich der Durchsuchung und Abschiebung kann in zulässiger Weise eine Fortsetzungsfeststellungsklage erhoben werden. 11. Die Schutzrichtung des modernen Kirchenasyls ist eine andere als beim historischen kirchlichen Asylrecht. Durch das kirchliche Asylrecht wollte man vor der weltlichen Macht oder dem Rächer schützen. Das Kirchenasyl dagegen bezweckt letztlich nicht den Schutz vor den Handlungen des Zufluchtsstaats (Abschiebung), sondern den Schutz vor Verfolgung durch einen anderen Staat/den Herkunftsstaat bzw. v.a. vor dort drohenden Gefahren für Leib und Leben. 12. Die Betrachtungsweise ist bei kirchlichem Asylrecht und beim Kirchenasyl jeweils unterschiedlich. Kirchliches Asylrecht beinhaltet in erster Linie eine kollektive Sichtweise, d.h. es wird ein Recht der Kirche als Institution statuiert. Demgegenüber vereint das Kirchenasyl kollektive (also die Sicht der Kirche als Institution; Entscheidungen von Kirchengremien) und individuelle Sichtweise (Gewissensentscheidung der einzelnen Mitglieder der Kirchengemeinde), wobei auf letzterer ein stärkeres Gewicht liegt. 13. Auf der Grundlage einer bundesgesetzlich zu schaffenden Härtefallregelung könnten Härtefallkommissionen auf Länderebene eine wichtige Rolle spielen, um in einzelnen Fällen Härten vermeiden zu können. Eine Härtefallregelung auf Bundesebene (im AuslG) und Härtefallkommissionen auf Länderebene erscheinen dabei geeignet, das Kirchenasyl abzulösen und auch aus der Sicht der Kirchenasyl Gewährenden entbehrlich zu machen. Unabhängige, entscheidungsberechtigte Härtefallkommissionen könnten auch nach rechtskräftiger Ablehnung des Asylbegehrens humane Einzelfall-Lösungen entwickeln. Dies ist um so mehr von Bedeutung, als auf diesem Wege inhumane Entscheidungen eines schematisierten Verfahrens korrigiert werden können. Eine Härtefallregelung mit institutionalisierten Härtefallkommissionen wäre also ein wichtiges Korrektiv für Härtefälle. Denkbar wäre auch, die Gründe für Wiederaufnahme des Verfahrens (§ 51 VwVfG) im Hinblick auf Kirchenasyl zu erweitern.
BASE
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Lambert T. Koch reagiert auf die Vorwürfe einer zu großen Nähe des Hochschulverbands zum "Netzwerk Wissenschaftsfreiheit". Im Interview sagt der DHV-Präsident, wo er die Berufsvertretung wissenschaftspolitisch verortet sieht, wie er um nichtprofessorale Mitglieder wirbt – und welche Rolle für ihn Gender Studies und die Postkoloniale Theorie spielen.
Lambert T. Koch, 58, ist Wirtschaftswissenschaftler und war von 2008 bis 2022 Rektor der Bergischen Universität Wuppertal. Viermal wurde er
von DHV-Mitgliedern zum "Rektor des Jahres" gekürt. 2023 trat Koch die Nachfolge von Bernhard Kempen als Präsident des Deutschen Hochschulverbandes an. Foto:
Deutscher Hochschulverband/BeAStarProductions.
Herr Koch, der Deutsche Hochschulverband (DHV) bezeichnet sich selbst als "Berufsvertretung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Deutschland". Wäre es nicht fairer zu sagen,
dass er lange vor allem eine Vertretung arrivierter Professoren und ihre Interessen war? Und ist er es immer noch?
Wie es der Begriff "Berufsvertretung" nahelegt, versteht sich der DHV schwerpunktmäßig als ein Interessenverbund von Menschen, die hauptberuflich und dauerhaft in der Wissenschaft tätig sind oder
sich für eine solche Tätigkeit qualifizieren. Natürlich passt er sich dabei an veränderte Karrierewege an. So hat er sich schon vor Jahren nicht nur für Habilitierende und Juniorprofessorinnen
und -professoren, sondern generell auch für Postdocs geöffnet. Die Serviceangebote des DHV wollen Mitglieder in jedem beruflichen Stadium ansprechen – von der Phase der Qualifizierung bis in die
Zeit nach der Emeritierung. Was Studierende und Promovierende anbetrifft, strebt rein statistisch am Ende nur ein geringer Prozentsatz eine wissenschaftliche Karriere an. Dennoch sind uns auch
berechtigte Interessen dieser Gruppen nicht gleichgültig.
Rund 70 Prozent der DHV-Mitglieder sind unbefristet beschäftigte Professorinnen und Professoren. Was tun Sie, um den Anteil von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu erhöhen, die
keine Professur, aber eine Dauerstelle haben? Und wie wollen Sie mehr junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Karrierephase als Mitglieder gewinnen? Zuletzt gab es in zwei
Protestwellen sogar zahlreiche Austritte.
Zu den zentralen wissenschaftspolitischen Zielen des DHV gehört es, über alle Personalkategorien hinweg Wissenschaft als Beruf attraktiv zu halten. Deshalb legen wir regelmäßig dort den Finger in
die Wunde, wo sich Rahmenbedingungen verbessern müssen. Wir nehmen natürlich Rücksicht darauf, dass die Interessen unserer Mitglieder divergieren. So haben beispielsweise junge
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein mehr als verständliches Interesse daran, dass für sie verlässliche Perspektiven im Wissenschaftssystem gegeben sind. Dies nimmt der Verband genauso
auf, wie er unermüdlich auf eine auskömmliche Budgetierung von Hochschulen drängt, damit junge Menschen überhaupt eine wissenschaftliche Karriere anstreben können. Vielerorts werden zusätzliche
Dauerstellen im Mittelbau benötigt, auch im Rahmen neuer Personalkategorien unterhalb der Professur. Das mahnen wir an. Dass es trotz unserer Bemühungen, möglichst alle Gruppierungen mitzunehmen,
Austritte gegeben hat, bedauere ich. Der DHV konnte diese Austritte bislang zwar immer durch Eintritte mehr als kompensieren. Doch unser Anspruch ist es, artikulierte Unzufriedenheit ernst zu
nehmen. Dass ansonsten die schon erwähnten Serviceangebote und persönlichen Beratungen insbesondere auch von jüngeren Mitgliedern immer wieder sehr gutes Feedback erhalten, ist dann doch
zumindest ein Indikator dafür, dass der DHV einiges richtig macht.
Ihr Vorgänger Bernhard Kempen hat den DHV sehr konservativ positioniert. An welcher Stelle und bei welchen Positionen unterscheiden Sie sich von ihm?
In der öffentlichen Debatte ist man für meinen Geschmack heute zu schnell dabei, Menschen und Institutionen Stempel aufzudrücken oder Bekenntnisse abzufordern: rechts oder links, konservativ oder
progressiv, für mich oder gegen mich. Wenn man dies bezüglich meiner Person versuchte, wäre ich darüber nicht glücklich. Gerade in einer Zeit, in der Politik an den Hochschulen wieder eine
größere Rolle spielt, müssen wir uns als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das leisten, was Wissenschaftsfreiheit ja Gott sei Dank ermöglicht: Wir sollten Sachverhalte differenzierter
betrachten und dabei auch unterschiedliche Sichtweisen respektieren – fair und ohne Polemik, mit der man nach meinem Eindruck heute allzu schnell bei der Hand ist. Der DHV vereinigt rund 33.500
fachlich, biografisch und von ihrer politischen Anschauung her höchst unterschiedliche Mitglieder. Diese Vielfalt bereichert den Verband. Was uns verbindet, ist das Interesse an freier Forschung
und Lehre sowie guten Arbeitsbedingungen. Darüber hinaus sind wir alle dem Streben nach Erkenntnis verpflichtet. Wir sind gewissermaßen immer auf dem Weg und offen für neue Positionen und
Perspektiven. Nur so bleiben wir auch als Verband glaubwürdig und interessant. Davon bin ich überzeugt.
"Der DHV arbeitet institutionell mit dem Netzwerk Wissenschaftsfreiheit nicht zusammen und hat keinen Einfluss auf dessen Entwicklung."
Wenn der DHV, wie geschehen, das "Netzwerk Wissenschaftsfreiheit" als "willkommenen Mitstreiter" bezeichnet, was sagt das über das Verhältnis zwischen DHV und Netzwerk?
Die Bezeichnung halte ich für missverständlich. Sie ist meines Wissens ein einziges Mal verwendet worden und bezog sich auf das wichtige Anliegen, die Freiheit der Wissenschaft gegen Übergriffe
zu verteidigen. Missverständlich deshalb, weil damit zu keinem Zeitpunkt eine pauschale Zustimmung zu sämtlichen Aktivitäten und Positionen des Netzwerks verbunden war, erst recht nicht zu
problematischen Personalia. Der DHV arbeitet institutionell mit dem Netzwerk nicht zusammen und hat keinen Einfluss auf dessen Entwicklung. Das Netzwerk hat gut 700 Mitglieder, die sich aus einer
gemeinsamen Problemwahrnehmung heraus zusammengefunden haben. Wir vertreten wie gesagt mehr als 33.000 Mitglieder und sprechen dabei für eine große Zahl von Kolleginnen und Kollegen, die
heterogene Perspektiven und voneinander abweichende Erwartungen pflegen. Was unterschiedliche wissenschaftliche Positionen angeht, kommt es uns nicht zu, eine Schiedsrichterrolle einzunehmen.
Und wissenschaftspolitisch? Anhand welcher Kriterien sollte sich eine Berufsvertretung da positionieren?
Eine Berufsvertretung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern muss für die Freiheit von Forschung und Lehre eintreten. Das ist ihr klarer wissenschaftspolitischer Auftrag. Welche konkreten
Positionen und Forderungen daraus erwachsen, muss von Fall zu Fall entschieden werden. Bewertungsrundlage ist aber stets die freiheitlich demokratische Grundordnung. Das
heißt beispielsweise, dass auch unliebsame, den eigenen Überzeugungen zuwiderlaufen Ansichten im wissenschaftlichen Diskurs zuzulassen sind. Sollte bestimmten wissenschaftlichen Positionen
oder Fachrichtungen die Daseinsberechtigung abgesprochen werden, muss der DHV die Stimme erheben. Er würde aber sein Mandat überziehen, wenn er sich beispielsweise in politischen Diskussionen
dazu einmischte, welche Fachrichtungen auf Kosten anderer besonders gefördert werden sollten. Dies ergibt sich schon aus der Vielzahl von Fächern, die in unseren eigenen Reihen vertreten sind.
Wie stehen Sie zu der per Offenen Brief geäußerten Kritik des "Netzwerks Wissenschaftsfreiheit", die Postkoloniale Theorie habe "erheblichen Anteil an der Diskreditierung und Erosion
fundamentaler Prinzipien der Wissenschaftlichkeit und der Wissenschaftsfreiheit"?
Ich halte diese Position für zu pauschal. Die mir bekannten postkolonialen Theorieangebote weisen eine hohe Heterogenität und Differenziertheit auf. Sie gehen auch unterschiedlich weit, was ihre
implizite oder explizite Normativität betrifft. Hier besteht vor allem auf fachlich-inhaltlicher Ebene viel Diskursbedarf. Zum Teil wurde in der Kritik an dem von Ihnen erwähnten Offenen Brief ja
behauptet, dass das Netzwerk die Politik dazu auffordere, postkoloniale Studien an Universitäten zu unterbinden. Tatsächlich heißt es aber in dem Schreiben: "Wir wenden uns selbstverständlich
nicht dagegen, dass postkoloniales und anderes postmodernes Gedankengut an unseren Universitäten vertreten wird. Es muss aber jederzeit kritisch diskutiert werden können." Da halte ich es schon
für wichtig, bei aller Erregung, korrekt zu bleiben. Ich persönlich mag den polemischen Stil auf beiden Seiten nicht und glaube auch nicht, dass wir uns als Wissenschaft mit Blick auf die
interessierte Öffentlichkeit damit einen Gefallen tun. Das Thema ist wichtig. In der Sache sollte daher gerne auch hart diskutiert werden. Dabei sollten die Beteiligten aber gelassener bleiben
und nicht immer wieder unter die Gürtellinie zielen.
"Viele, die selbst eine wissenschaftliche Laufbahn durchschritten haben, werden mir zustimmen, dass es in frühen Karrierephasen riskanter ist, sich gegen den
Mainstream des eigenen Fachs zu positionieren."
Besteht die eigentliche Gefahr einer mangelnden Meinungs- und Perspektivenvielfalt in der deutschen Wissenschaft nicht in der mangelnden Vielfalt in den wissenschaftlichen
Führungspositionen?
Ich halte Perspektivenvielfalt in einer offenen und innovativen Wissenschaft für wesentlich und unverzichtbar. Das deutsche Wissenschaftssystem verträgt fraglos mehr biografische Heterogenität.
Vielfalt darf dann aber auch unterschiedliche politische Positionen nicht ausschließen. Außerdem darf nicht aus dem Blick geraten, dass Wissenschaft vor allem einem Wahrheitsanspruch verpflichtet
ist. Ihre Positionen entwickeln sich methodengeleitet und dürfen nicht leichthin auf schlichte Meinungen reduziert werden. Dies kommt mir bisweilen in der aufgeheizten Debatte um Vielfalt zu
kurz. Wir müssen genauer fragen, wo mehr Vielfalt benötigt wird und was wir davon erwarten. Es gibt viele gute Gründe dafür, Chancengleichheit zu fordern und Benachteiligungen auf dem Karriereweg
zu bekämpfen. Doch das allein führt nicht notwendigerweise zu besserer Erkenntnis. Im Übrigen ist es eine Stärke des DHV, dass so viele unterschiedliche Fächer vertreten sind, die mit dem Thema
Vielfalt je eigene Perspektiven verbinden. Diese gilt es zusammenzubringen, um zu differenzierten Antworten zu gelangen. Darin liegt zugleich ein großer Vorzug, der Wissenschaft gegenüber Politik
auszeichnet.
Wessen Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit ist stärker gefährdet: die verbeamteter Professor:innen oder wissenschaftlicher Mitarbeiter:innen in frühen Karrierephasen?
Es gibt nur eine Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit für alle, unabhängig vom Beschäftigungsstatus. Aber viele, die selbst eine wissenschaftliche Laufbahn durchschritten haben, werden mir
zustimmen, dass es in frühen Karrierephasen riskanter ist, sich gegen den Mainstream des eigenen Fachs zu positionieren. Grundsätzlich sollten die Organisationsstrukturen in der Wissenschaft für
alle so sein, dass die Bereitschaft, Überkommenes infrage zu stellen und innovative Pfade zu beschreiten, unterstützt und geschützt wird, ohne die Verantwortung für Qualitätssicherung zu
vernachlässigen. Das heißt etwa auch, Professorinnen und Professoren müssen ebenso selbstverständlich mit dem begründeten Widerspruch von wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
leben wie umgekehrt.
Wie soll das gehen angesichts des Machtgefälles, das vielerorts immer noch herrscht?
Ich bin optimistisch, dass sich Varianten der alten Idee einer so gearteten Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden in einem transparenten, offenen Wissenschaftsbetrieb auch heute realisieren
lassen.
Inwiefern braucht es für eine Steigerung der Exzellenz und für eine größere Perspektivenvielfalt in der deutschen Wissenschaft auch mehr Vielfalt und Diversität unter den Professor:innen,
und wie wollen Sie sich als DHV konkret für Veränderungen einsetzen?
Der DHV setzt sich in vielerlei Hinsicht für ein offenes und faires Wissenschaftssystem in Deutschland ein. Dieser Einsatz betrifft die grenzüberschreitende Offenheit für Menschen unabhängig von
Hautfarbe, Geschlecht, sexueller Orientierung, Nationalität, Sprache, Religion oder sozialem Status. Unter Berücksichtigung des Prinzips der Bestenauslese können zusätzliche Perspektiven die
Ergebnisse von Wissenschaft bereichern. Ansatzpunkte, in diese Richtung zu wirken, ergeben sich bei jeder Beteiligung an Hochschulgesetzesnovellen, bei der Auditierung von Hochschulen für
transparente und faire Berufungsverhandlungen oder auch mit Blick auf viele Serviceangebote, gerade für neue Mitglieder.
"Als wenig redlich empfinde ich es, wenn der Eindruck erweckt wird, als wäre es an der Tagesordnung, dass der DHV gegen Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftler
namentlich Stellung bezieht."
Könnten hier auch die Gender Studies willkommene Mitstreiter des DHV sein? Welche Bedeutung haben diese grundsätzlich an deutschen Universitäten?
Jede Disziplin, die mit wissenschaftlichen Methoden nach rationaler Erkenntnis sucht und dafür Wissenschaftsfreiheit einfordert, ist eine willkommene Mitstreiterin des DHV. Ich sehe keinerlei
Grund, warum dies für Gender Studies nicht gelten sollte, sofern sie, wie jedes andere Fach auch, danach trachten, methodengeleitet einen Teilausschnitt der Welt besser zu verstehen. Worauf es
hier für Universitäten ankommt, hat beispielsweise der Wissenschaftsrat in seiner jüngsten Bestandaufnahme zur Geschlechterforschung
hervorgehoben.
War es klug, dass der DHV in einer Debatte über die Wissenschaftsfreiheit eine einzelne kritische Wissenschaftlerin per Tweet namentlich angegangen ist?
Ich persönlich mag den rauen oder teils sogar sehr derben Stil, der in Debatten auf Plattformen wie "X" zuweilen vorherrscht, nicht. Das kam ja schon raus. Ihre Frage, ob es im konkreten Fall,
den ich natürlich kenne, klug war, eine einzelne Wissenschaftlerin per Tweet namentlich zu nennen, lässt sich nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten. Am besten macht sich jeder selbst ein
Bild. Ich weiß, dass der Fall in einem Blog-Beitrag harsch kritisiert wurde. Als wenig redlich empfinde ich es allerdings, wenn der Eindruck erweckt wird, als wäre es an der Tagesordnung, dass
der DHV gegen Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftler namentlich Stellung bezieht. Richtig ist, dass ein großer Berufsverband sicherlich mehr aushalten kann und muss als eine Einzelperson,
selbst wenn diese gelegentlich im Verbund mit meinungsstarken Netzwerken und Akteuren agiert. Die konkrete Namensnennung erfolgte im Tweet zu einem FAZ-Artikel. In diesem wird die
Wissenschaftlerin zwar nicht namentlich erwähnt, jedoch unter offensichtlicher Bezugnahme auf zuvor öffentlich im Blog getätigte Äußerungen kritisiert. Dass die Weiterleitung des Artikels und der
Tweet die Gemüter derart erhitzen, hat mich überrascht. Aber natürlich nehme ich den Unmut zur Kenntnis.
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Die Lehrerbildung befindet sich inmitten des größten Umbruchs seit vielen Jahren. Aber schaffen es die Kultusminister, ihren Reformen eine stimmige und gemeinsame Richtung zu geben? Die Ständige Wissenschaftliche Kommission der KMK präsentiert dazu ihr lange erwartetes Gutachten.
Foto: Katerina Holmes, Pexels.
LANGE GEPLANT kommt das Gutachten jetzt mit einer Aktualität, die man sich gar nicht hat wünschen können: Drei Tage nach Bekanntgabe der historisch schlechten deutschen PISA-Ergebnisse veröffentlichte das wichtigste wissenschaftliche
Beratungsgremium der Kultusministerkonferenz (KMK) am Freitagmittag seine Empfehlungen "zur Lehrkräftegewinnung und Lehrkräftebildung für einen hochwertigen Unterricht". Zuvor hatten die 16
Experten der Ständigen Wissenschaftlichen hin Kommission (SWK) ihr Gutachten in vertraulicher Runde den Kultusministern vorgestellt.
Die Vorschläge der SWK kommen auf den ersten Blick teilweise wenig radikal daher, doch würde ihre Umsetzung die Schulen in Deutschland nachhaltig verändern – und die KMK gleich mit.
Insgesamt elf Empfehlungen umfasst das Gutachten, sortiert nach vier Kapiteln. Mit die wichtigste Forderung: Es muss endlich eine vernünftige Datenbasis her. Denn bislang ist die KMK noch
jedesmal von der Entwicklung der bundesweiten Schülerzahlen überrascht worden, auch hat sie die Änderungen der bildungspolitischen Rahmenbedingungen (etwa den Ausbau von Inklusion oder
Ganztagsschule) nie ausreichend in ihren Modellierungen abgebildet. Im Gegensatz etwa zu den Prognosen, die der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung erstellt
hat und die fast immer näher an den tatsächlichen Lehrerbedarf herankamen.
"Sonst kommen wir nie zu
einer verlässlichen Prognose"
Warum? Lange hatte die KMK ihrer Modellrechnungen zu selten aktualisiert, das immerhin hat sie inzwischen abgestellt und sammelt die Rückmeldungen der Bundesländer in jährlichem Abstand
(allerdings ist aktuelle Veröffentlichung weit überfällig). Doch ändert dies laut Olaf Köller, dem Ko-Vorsitzenden der SWK, nichts daran, dass die Grundlage der KMK-Berechnungen, die
Länderzumeldungen, nicht so recht zusammenpassen. "Es fehlt die Transparenz über in die Annahmen, die die Länder jeweils ihren Prognosen zugrundelegen", sagt Köller, im Hauptberuf Direktor des
IPN Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und der Mathematik. "Darum müssen die Daten künftig systematisch und vergleichbar in allen Ländern erhoben werden, unter
Berücksichtigung des tatsächlichen Bedarfs, und alle Länder müssen etwaige Datenlücken schließen, sonst kommen wir nie zu einer verlässlichen Prognose."
Eine solche Systematik würde freilich eine andere KMK voraussetzen: eine, die in der Lage ist, die für eine Vergleichbarkeit nötigen Datendefinitionen herzustellen und, in Form ihrer
Verwaltung, des KMK-Sekretariats, dann selbstbewusst von den Ländern die nötige Datenqualität einzufordern. Was, nebenbei gesagt, nur beschleunigen würde, was die Kultusminister
bei ihrem Treffen in Berlin ohnehin, je nach Bundesland und Perspektive mehr oder weniger begeistert, diskutiert haben: die überfällige grundlegende Reform der KMK, ihrer Prozesse und Verfasstheit.
Zweites großes Thema des SWK-Gutachtens: den Ausbildungserfolg der Lehramtsstudierenden erhöhen. Auch hier, das zeigte zuletzt eine Analyse des
Stifterverbandes eindrucksvoll, handelt es sich zu einem guten Teil um ein Datenproblem. Viele lehrerbildende Universitäten können nämlich gar nicht sagen, wie viele ihrer
Lehramt-Studienanfänger bis zum Abschluss kommen – geschweige denn, warum sie zu welchem Zeitpunkt entscheiden, doch nicht Lehrer zu werden. Von einer "großen Forschungs- und Datenlücke", die es
zu füllen gelte, sprach im Sommer der Stifterverband, "denn nur auf Basis belastbarer Befunde können bildungspolitische Maßnahmen ergriffen werden, die letztendlich einen Bildungsnotstand
verhindern."
Genau diese Datenlücke will die SWK schließen und fordert, die Studierbarkeit der Lehramtsstudiengänge müsse "datengestützt" verbessert werden, zudem müsse die soziale und akademische Integration
in die Hochschulen gestärkt werden. Das entscheidende Mittel für beides: ein funktionierendes Qualitätsmanagement und verlässliche Abstimmungsstrukturen, die auch die erste Phase der
Lehrerbildung, das Studium, mit der zweiten, dem Vorbereitungsdienst, verbinden. Beide Phasen laufen bislang oft nebeneinander, umso mehr gilt das für die dritte, die Fort- und Weiterbildung der
bereits berufstätigen Lehrer.
Hoffnung
Ein-Fach-Lehrer
Womit die SWK beim Kern ihrer Empfehlungen angekommen ist, der künftigen Gestaltung der Studiengänge, man könnte auch sagen: ihrer zumindest teilweisen Neugestaltung. Denn die Experten empfehlen,
neben dem klassischen grundständigen Studium einen "wissenschaftsbasierten, qualifizierten zweiten Weg in den Lehrkraftberuf" zu eröffnen. Oder weniger verklausuliert formuliert: den seit einer
Weile viel diskutierten Ein-Fach-Lehrer einzuführen. Genaus das hatte der Wissenschaftsrat im Sommer bereits im Sommer
vorgeschlagen, allerdings nur bezogen aufs Mathematikstudium.
Das Modell der SWK ist schnell erklärt: Bewerber haben einen fachlichen Bachelor oder Master, beispielsweise in Germanistik. Dann starten sie in einen viersemestrigen Master of Education,
der ihnen das gesamte pädagogische Rüstzeug mitgibt, um Lehrer zu werden: die Fachdidaktik, die Bildungswissenschaften, dazu die Praktika und einen Spezialisierungsbereich wie Digitalisierung,
Inklusion, Sprachbildung oder Berufsorientierung. Nach diesem Master folgt der Übergang in ein reguläres Referendariat und anschließend die volle Lehrbefähigung – allerdings nur für ein Fach.
Berufsbegleitend soll es dann die Option geben, ein zweites Fach hinzuzustudieren – aber nicht verpflichtend. "Hier setzen wir auf die Motivation der Lehrkräfte", sagt die
Berliner Professorin für Schulpädagogik, Felicitas Thiel, neben Köller Vorsitzende der SWK. Hier dürfte das Gutachten der Kommission größere Diskussionen auslösen: Andere
Erziehungswissenschaftler warnen nämlich davor, dass Ein-Fach-Lehrer in den Schulen zu einseitig belastet würden, den Unterrichtsbedarf nicht ausreichend abbilden und die Stundenplanorganisation
verkomplizieren könnten. Weshalb ihre Ausbildung, wenn man sie zulasse, mit der Verpflichtung einhergehen müsse, ein zweites Fach nachzuholen. Doch schon der Wissenschaftsrat hatte diese Gründe
nicht als plausibel genug für eine verpflichtende Zweit-Fach-Weiterbildung erachtet.
In jedem Fall aber ist diese SWK-Empfehlung für die Schulwirklichkeit wohl die weitreichendste. Denn auch wenn es hier und da bereits gut funktionierende wissenschaftliche Aufbau-Masterprogramme
gibt: Vielerorts besteht derzeit nur die Wahl zwischen dem traditionellen Lehramtsstudium und aus der Not geborenen Seiteneinsteiger-Programmen, die zwar flexibel sind, denen jedoch vielfach, wie
nicht nur die SWK klagt, die Wissenschaftsbasierung fehlt. Würde es der KMK gelingen, einen Ein-Fach-Lehramt nach einheitlichen Maßstäben zu etablieren, wäre der Zugang zum Lehramtsstudium
dauerhaft flexibler – auch über den aktuellen dramatischen Lehrkräfte-Mangel hinaus.
Absage an ein
duales Lehramtsstudium
Für die Debatten unter den Kultusministern schon bei der Vorstellung des SWK-Gutachtens dürfte unterdessen gesorgt haben, dass die Experten einem anderen bei Bildungspolitik und lehrerbildenden
Hochschulen in Mode gekommenen Reformvorhaben eine Absage erteilen: dem dualen Lehramtsstudium. "Wir können nicht verstehen, wo da eigentlich die Euphorie herkommt", sagt Felicitas Thiel.
Schon außerhalb des Lehramts gelinge in dualen Studiengängen die Verschränkung von Theorie und Praxis nicht wirklich gut, hinzu komme: "Wer soll, wenn wir an manchen Schule nur noch zehn Prozent
grundständig ausgebildete Lehrkräfte haben, noch nebenbei die aufwändige Begleitung dual Studierender übernehmen?"
Anders sieht das unter anderem der Wissenschaftsrat, der, schwer kritisiert unter anderem vom Deutschen Philologenverband, im Sommer seine Empfehlungen zur Zukunft des Matheunterrichts vorgelegt
hatte, inklusive einem Plädoyer zur Entwicklung des dualen Studiums.
Ebenfalls keine Unterstützung von der SWK erhalten Überlegungen, komplette Lehramtsstudiengänge zumindest für die beruflichen Schulen auch an Hochschulen für angewandte Wissenschaften laufen
zu lassen. "Es gibt bereits 34 Universitätsstandorte, die in der Lehrerbildung mit HAWs kooperieren", sagt SWK-Mitglied Isabell van Ackeren, Professorin für Bildungssystem- und
Schulentwicklungsforschung an der Universität Duisburg-Essen, die an der Ausarbeitung des Gutachtens maßgeblich beteiligt war. Um ausreichend wissenschaftsbasiert und berufsfeldbezogen zu sein,
sagt sie, würde die Abwicklung eines kompletten Lehramtsstudiums aber erhebliche zusätzliche personelle Ressourcen und organisationale Strukturen an den HAWs erfordern. "Das halten wir nicht für
zielführend, weitere Kooperationen hingegen schon."
Wofür die SWK sich indes ausspricht: die Einführung sogenannter Assistenz-Lehrkräfte, die auf der Grundlage eines Bachelorabschlusses und einer Weiterqualifizierung an die Schulen kommen könnten.
Ohne Berechtigung zum eigenständigen Unterricht, aber in Anbindung und zur Unterstützung an eine voll qualifizierte Lehrkraft. Eine Idee, die so ähnlich schon vor zwei Jahrzehnten mit der
Einführung der Bologna-Studiengänge im Lehramt diskutiert wurde, sich aber nie hat durchsetzen können.
Zweite Chance für die
Assistenz-Lehrkraft?
"Anders als damals gibt es jetzt aber ein funktionierendes Vorbild aus der Medizin, den Physician Assistent als zusätzliche Karriereoption für Pflegekräfte", sagte Felicitas Thiel. "Das hat macht
uns optimistisch, dass wir es jetzt auch in der Lehrerbildung schaffen, in einem vielfältigeren System von Karrierewegen zu denken, mit unterschiedlichen Verantwortlichkeiten in der Schule, aber
immer auf Augenhöhe." Eine Debatte darüber, so Thiel, sei überfällig – auch um klare Kriterien und Kompetenzen festzulegen.
Apropos klare Kriterien: Länder wie Brandenburg etablieren bereits neue, stark umtstrittene Lehrer-Laufbahnen auf Bachelorebene – allerdings dann mit vollständiger Lehrbefähigung. "Genau das
wollen wir nicht", betont Thiel – wohl ahnend, dass die SWK-Vorschläge genau mit solchen Modellen in einen Topf geworfen werden könnten, etwa von den Lehrergewerkschaften.
Und sonst? Schlagen die SWK-Experten vor, den Vorbereitungsdienst einheitlich auf zwölf Monate zu verkürzen, allerdings nur unter Voraussetzung eines Gesamtkonzepts, das wie gefordert erste und
zweite Phase und Berufseinstieg sowie Theorie und Praxis besser verknüpft, vor allem in Form eines über die Phasen hinweg kohärenten Curriculums, das außerdem Mentoren und Fachseminarleiter
wissenschaftsbasiert qualifiziert und die Unterrichtsverpflichtung während Referendariat und Berufseinstieg möglichst gering hält.
Außerdem fordert die Kommission einen ländergemeinsamen Qualitätsrahmen für ein in sich stimmiges, qualitätsgesichertes Forbildungssystem, von dem die SWK das Bildungssystem trotz einer
(theoretischen) Fortbildungsverpflichtung in allen Ländern weit entfernt sieht. Stichworte sind hier zertifizierte Module der wissenschaftlichen Weiterbildung etwa für ein weiteres
Unterrichtsfach in Mangelfächern, für andere Unterrichtsbereiche, für eine sonderpädagogische Fachrichtung oder zur Nachqualifizierung für eine andere Schulform, außerdem der Ausbau von
Master- und Promotionsstudiengänge etwa für Leitungspositionen und Koordinationsfunktionen.
Dicke Bretter,
klare Ansagen
Dicke Bretter und klare Ansagen – in dem, was die SWK gut heißt, genauso aber, wovon sie abrät. Jetzt ist es an der Bildungspolitik. Im März wollen die Kultusminister ihren eigenen Aufschlag zur
Zukunft der Lehrerbildung beschließen, auf der Grundlage des SWK-Gutachtens und weiteren Papieren wie den Empfehlungen des Wissenschaftsrats zum Mathestudium. Auch der
Stifterverband hatte vor wenigen Wochen einen ambitionierten Reformkatalog vorgelegt.
Vieles von dem Vorgeschlagenen, werden die Kultusminister argumentieren, gebe es schon. Stimmt. Allerdings, und das ist der entscheidende Punkt der SWK-Experten, fehlt derzeit zweierlei in der
deutschen Lehreraus- und weiterbildung: Stimmigkeit und Systematik. Beides will das neue Gutachten erreichen. Ob die KMK ihm folgen kann, selbst wenn die Kultusminister es wollten? So, wie sie im
Augenblick ist, an vielen Stellen vermutlich nicht. Ein Grund mehr, sie zu reformieren.
Nachtrag am 08. Dezember, 12.45 Uhr:
Was die Kultusminister zum SWK-Gutachten sagen
Von einer "klaren Positionierung für hohe Qualitätsstandards in der Lehrkräftebildung", sprach KMK-Präsidentin Katharina Günther-Wünsch (CDU), im Hauptberuf Berliner
Bildungssenatorin. "Die Kultusministerkonferenz wird sich eingehend mit den vorgeschlagenen Empfehlungen auseinandersetzen und entsprechende Maßnahmen formulieren." Zur Absage der SWK an ein
duales Lehramtsstudium sagte Günther-Wünsch, der Begriff der Dualität sei ungünstig gewählt. Nichts desto trotz gebe es Debatten in den Bundesländern über die Verkürzung der Studiendauer und
Verknüpfung der Praxisanteile, und man werde darüber nun mit der SWK weiterdiskutieren, vielleicht dann unter einer anderen Überschrift als "duales Studium".
Hamburgs Schulsenator Ties Rabe, der die SPD-Bildungspolitik in den Ländern koordiniert, sagte: "Die Idee, neben dem klassischen Lehramtsstudium einen zweiten Weg mit einem neuen
Studiengang in den Lehrberuf zu eröffnen, erschließt ganz neue Chancen für Studierende." Die Verkürzung des Referendariats durch eine bessere Verzahnung von Studium und Praxis sollte sorgfältig
geprüft werden.
Rabes Gegenüber auf CDU-Seite, Hessens Kultusminister Alexander Lorz, sagte, er begrüße insbesondere die Ansätze, "neue Personengruppen für den Beruf als Lehrkraft zu
erschließen, ohne dabei den Qualitätsanspruch aus dem Blick zu verlieren". Die etablierte und qualitätsgesicherte grundständige Ausbildung unserer zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer durch
alternative Formen zu gefährden, lehnt die SWK ab. "Dem schließe ich mich an."
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Braucht Deutschlands Wissenschaft eine neue zentrale Einrichtung für Forschungssicherheit? DAAD-Präsident Joybrato Mukherjee über die laufenden Debatten zwischen den Forschungsorganisationen, das Risiko internationaler Kooperationen – und was ihm als Lösung vorschwebt.
Joybrato Mukherjee, Jahrgang 1973, ist seit Januar 2020 Präsident des Deutschen Akademischen Austauschdiensts (DAAD). Seit 2023 ist er zudem Rektor
der Universität zu Köln, davor war er von 2009 bis 2023 Präsident der Justus-Liebig-Universität Gießen. Foto: DAAD/redphoto.
Herr Mukherjee, Sie kommen gerade aus China zurück. Die Volksrepublik gilt als die aufsteigende Wissenschaftsmacht schlechthin, nicht mit ihr zusammenzuarbeiten, wäre töricht. Aber was
kostet uns die Kooperation?
Ich bin nach Beijing gereist, um bei zwei Jubiläumsfeiern dabei zu sein: 30 Jahre DAAD-Außenstelle und fünf Jahre gemeinsame Repräsentanz deutscher Universitäten in China. Zwei gute
Gelegenheiten, um nach der Pandemie unsere Kontakte wiederaufzufrischen, die traditionell intensiv sind. Deutschland hat einen sehr guten Ruf in China. Umgekehrt ist China in Deutschland der
Referenzfall schlechthin bei allen aktuellen Debatten über Forschungssicherheit, Datensicherheit und allgemein über die wissenschaftliche Kooperation mit Staaten, die ein anderes Regierungssystem
haben als wir.
Sie meinen: Staaten, die keine Demokratien sind, sondern Diktaturen?
Sie haben mit Ihrer ersten Frage nahegelegt, dass uns die Kooperation mit China etwas kostet, und dem stimme ich zu. Allerdings kostet uns eine Abschottungspolitik, ein Einfrieren oder Aussetzen
von Kooperationen – ein "De-Coupling" also, wie es heute so schön heißt – ja auch etwas. Im Kern geht es also darum, dass wir die Chancen und Risiken einer jeden Austauschbeziehung genau abwägen,
uns bei jedem Projekt und jeder Partnerschaft immer fragen sollten: Was kostet uns die Kooperation? Was kostet uns die Nicht-Kooperation? Was ist im Interesse unseres Landes der
verantwortungsvolle Weg einer Zusammenarbeit, wenn sie denn möglich und vertretbar ist?
Die Beantwortung dieser Fragen kann in den meisten Fällen nur vor Ort entschieden werden, von den beteiligten Forschern und von ihren Universitäten und Forschungseinrichtungen. Doch dabei
brauchen sie Unterstützung. Die National Science Foundation (NSF) in den USA finanziert für die kommenden fünf Jahre ein neues Zentrum für Forschungssicherheit, das SECURE Center. Katja Becker,
die Präsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), sagte neulich in Research.Table, auch Deutschland werde "um eine unabhängige, zentrale Einrichtung, die für alle Akteure des deutschen Wissenschaftssystems zur Verfügung steht, nicht
herumkommen".
Ich bin der DFG dankbar, dass sie zusammen mit der deutschen Botschaft in Washington die Initiative ergriffen und im August zu einem transatlantischen Austausch zum Thema Forschungssicherheit und
dem SECURE Center eingeladen hatte. DAAD-Vizepräsidentin Muriel Helbig war vor Ort und hat in dem Zusammenhang über unser Kompetenzzentrum Internationale Wissenschaftskooperationen, kurz KIWi,
berichtet, das wir 2019 auf Empfehlung des Wissenschaftsrats eingerichtet haben – in Abstimmung mit der Hochschulrektorenkonferenz und finanziert von der Bundesregierung. Das KIWi feiert aktuell sein fünfjähriges Bestehen und die gute Nachricht
lautet daher: Wir haben im deutschen Wissenschaftssystem bereits eine Einrichtung mit einem sehr nachgefragten Portfolio, auf das wir aufbauen können. Darum bin ich ausgesprochen dankbar, dass
das BMBF erst vor einigen Monaten entschieden hat, die Mittel für das KIWi deutlich aufzustocken.
"Ein unglücklicher Trend, für jede neue politische
Aufgabe eine neue Einrichtung zu schaffen"
DFG-Präsidentin Becker hat allerdings in dem Interview das KIWi mit keinem Wort erwähnt, dafür aber unter anderem den Gemeinsamen Ausschuss zum Umgang mit sicherheitsrelevanter Forschung,
den DFG und Leopoldina eingerichtet haben – als Vorbild für den Aufbau von etwas "Ähnlichem" für den Bereich der Forschungssicherheit.
Alle Kolleginnen und Kollegen in der Allianz wissen um die Aufgaben und Stärken des KIWi: die Beratung der deutschen Hochschulen im Bereich von Forschungssicherheit, Datensicherheit und der
Risikoabwägung bei internationalen Kooperationen. Wir fangen also nicht bei null an, und wir sollten meines Erachtens auch keine Doppelstrukturen schaffen. Gerade erst hat
der SPIEGEL darüber berichtet, dass es in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten den nicht sehr glücklichen Trend gegeben hat, oftmals für eine neue politische Aufgabe, die sich
stellte, eine neue Einrichtung zu schaffen. Mit den entsprechenden Folgen für den Bundeshaushalt, wenn jede neu geschaffene Institution dann nach einer eigenen dauerhaften institutionellen
Förderung verlangt. Wir sind uns, denke ich, einig, dass dies nicht der Trend für die Zukunft sein kann.
Was meinen Sie damit?
Die Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen benötigen zweifellos mehr Unterstützung als früher bei ihren Entscheidungen zu internationalen Kooperationen. Entscheidungen, die – Sie sagten es –
im Sinne von Wissenschaftsfreiheit und institutioneller Autonomie immer nur sie selbst und die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler treffen können. Ich freue mich daher auf die
Diskussion, wie wir das Portfolio des seit fünf Jahren bestehenden KIWi bedarfsorientiert erweitern können, so beispielsweise mit Blick auf die spezifischen Fragestellungen von
Forschungseinrichtungen außerhalb von Hochschulen. Dass alle großen Organisationen daneben ihre eigenen Projekte kompetent begleiten und beraten, so die DFG etwa die von ihr geförderten
internationalen Sonderforschungsbereiche und Graduiertenkollegs, ist ja klar. Es mag sein, dass wir uns bei so viel verteilter Kompetenz zwischen den Wissenschaftsorganisationen noch intensiver
austauschen und besser abstimmen könnten; dafür eine Instanz zu schaffen, die diesen Austausch moderiert – so habe ich Katja Beckers Vorschlag verstanden.
Besser abstimmen? Wenn die DFG-Präsidentin zum Thema Forschungssicherheit das KIWi nicht erwähnt und die Gründung einer neuen Institution ins Spiel bringt, spricht das für das genaue
Gegenteil von Abstimmung. Oder haben Sie als DAAD die Vorzüge des KIWi vielleicht nicht bekannt genug gemacht?
Wir befinden uns derzeit in einem engen Austausch innerhalb der Allianz der Wissenschaftsorganisationen und mit dem BMBF zum Thema Forschungssicherheit, und ich sehe eine große Wertschätzung all
meiner Kolleginnen und Kollegen für das KIWi. Die Nachfrage nach KIWi-Beratungsleistungen steigt über die letzten Jahre rapide an. Das BMBF hat daher entschieden, das Budget für das KIWi auf 2,2
Millionen Euro pro Jahr anzuheben. Das sind rechnerisch elf Millionen Euro auf fünf Jahre – durchaus eine Dimension, die sich auch im Vergleich zum geplanten SECURE Center in den USA nicht
verstecken muss. Das KIWi kann und sollte weiter modular ausgebaut werden, so dass es für alle Akteure im Wissenschaftssystem, die KIWi-Leistungen in Anspruch nehmen wollen, zur Verfügung
steht.
Mal ehrlich, lieber Herr Mukherjee: Der DAAD sieht sich doch selbst als eine Art Außenministerium der deutschen Hochschulen. Aber auch die DFG, die Max-Planck-Gesellschaft und andere
Organisationen äußerten sich in den vergangenen Monaten und Jahren zunehmend lautstark zu den internationalen Wissenschaftsbeziehungen. Gibt es Unstimmigkeiten in der Allianz, vielleicht sogar
eine Art Gerangel um die Frage, wer genau wofür zuständig ist?
Zunächst: Wir sind der DAAD, der vom Auswärtigen Amt institutionell gefördert wird, und unsere Rolle im Wissenschaftssystem ergibt sich aus unserer Satzung. Im arbeitsteiligen deutschen
Wissenschaftssystem sind viele weitere Einrichtungen international sehr präsent. Diese starke internationale Ausrichtung aller wesentlichen Akteure ist dabei eindeutig eine große Stärke des
Forschungs- und Hochschulstandorts Deutschland. Daran wollen wir anknüpfen, und zwar so, dass möglichst viele Institutionen im deutschen Wissenschaftssystem vom KIWi, seinem Beratungsangebot und
einem möglichen Ausbau profitieren. Das wäre die effizienteste Vorgehensweise.
"Der chinesische Vizebildungsminister
empfing mich mit gelber DAAD-Krawatte"
Also von Rivalitäten keine Spur?
Ich kann auch von meinem Besuch in der Volksrepublik China nur berichten, dass dort zwar viele deutsche Hochschulen und Organisationen vor Ort sind, aber eine Rivalität, die auf internationaler
Bühne ausgetragen würde, habe ich nicht wahrgenommen. Sehr wohl aber etwas Anderes: Wir Deutsche müssen für uns sehr genau die Frage klären, wie wir als Standort eine gemeinsame, in sich stimmige
Strategie im Umgang mit China entwickeln und gemeinsam umsetzen.
Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) sagte vor einem knappen Jahr im Interview mit der WELT: "Hinter jedem
chinesischen Forscher kann sich die kommunistische Partei verbergen, darüber müssen wir uns klar sein."
Wir können heute anders als vor 20 oder 30 Jahren nicht einfach mehr agieren, wie es uns beliebt: In diesem Fach, bei diesem Projekt und zu jenem Inhalt wollen wir mit China zusammenarbeiten und
bei diesem oder jenem nicht. So einfach ist die geopolitische Konstellation nicht mehr. Alle Experten wissen: In einigen Forschungsbereichen gehört China längst zur internationalen Spitze. Da
können wir uns als ein wichtiger Innovationsstandort, der wir sind und bleiben wollen, schlicht nicht abkoppeln, auch wenn wir sehr wohl die "Grand Strategy" erkennen, die China verfolgt: Das
Land tritt heute selbstbewusster auf und kann es aufgrund seiner enormen Entwicklung auch – und es will eine weltweite Führungsrolle in Forschung und Technologie bis 2049 erlangen. Entsprechend
müssen wir eine langfristige eigene Strategie entwickeln – ein erstes Gesamtkonzept ist mit der neuen Chinastrategie der Bundesregierung gelungen, die für alle Ressorts gilt und von allen
Ressorts getragen wird. Diese enthält gerade nicht ein Plädoyer für das Ausschalten von Risiken durch umfassende Nicht-Kooperation.
Bei allem Räsonieren über "De-Risking" & Co: Am Ende basiert jede erfolgreiche Kooperation auf einem Mindestmaß an Vertrauen. Sollten wir das: China vertrauen?
Hierzu eine kleine Anekdote: Der chinesische Vizebildungsminister empfing mich in der vergangenen Woche strahlend mit gelber DAAD-Krawatte, die er bei allen Terminen an diesem Tag trug. Er war
zuvor Präsident der Tongji-Universität, deren Vorläufer von Deutschen gegründet wurde und heute zu den chinesischen Top-Hochschulen zählt. Das heißt: Die Chinesen kennen uns und unser
Wissenschaftssystem sehr gut, sie wollen den Austausch mit uns und sind bereit, einiges dafür zu geben. Uns wiederum sind die Systemunterschiede und die Risiken der Zusammenarbeit heute bewusster
als früher. Dass wir einen exzellenten Ruf in China genießen, verschafft uns Deutschen erst einmal eine bessere Ausgangslage als vielen anderen Nationen. Die Frage lautet: Sehen wir unser
gewachsenes, enges Verhältnis als Risiko oder Chance? Wir glauben, es ist gerade dann eine Chance, wenn es in der Forschungszusammenarbeit zu Interessenskonflikten kommt. Deutsche Hochschulen
können auf dieser Grundlage sehr viel besser Lösungswege und Kompromisse, die für beide Seiten akzeptabel sind, aushandeln. Ja, am Ende hat es mit über viele Jahre gewachsenem Vertrauen zu tun –
dabei müssen wir aber stets unsere eigenen Interessen artikulieren, uns aller Risiken bewusst sein und unser Gegenüber kompetent einschätzen können. Dann kann auch mit chinesischen Partnern eine
gedeihliche Zusammenarbeit gelingen.
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Ein Viertel der Schüler lernt nicht richtig lesen. "Tutoring for All" will deshalb eine neue Methode der Leseförderung in Deutschland etablieren. Kann das funktionieren? Ein Interview mit dem Sozialunternehmer Ekkehard Thümler und der Erziehungswissenschaftlerin Ingrid Gogolin.
Ekkehard Thümler ist Senior Fellow am Centre for Social Investment (CSI) der Universität Heidelberg. Er
arbeitete in verschiedenen Funktionen unter anderem für Joachim-Herz-Stiftung und die Bertelsmann-Stiftung. 2020 gründete er das gemeinnützige Startup "Tutoring for All". Ingrid Gogolin war über viele Jahre Professorin am Arbeitsbereich "Interkulturell und International Vergleichende
Erziehungswissenschaft" der Universität Hamburg und forscht dort als Seniorprofessorin weiter. Fotos: Gerrit
Meier/Scholzfoto.
Herr Thümler, 26 Prozent der deutschen Neuntklässler können schriftliche Texte nicht sinnerfassend verstehen, hat die jüngste PISA-Studie
ergeben.
Ekkehard Thümler: Und das Problem fängt in der Grundschule an. Jedes vierte Kind lernt nur sehr schlecht lesen. Wenn wir das ändern wollen,
brauchen die Lehrkräfte Unterstützung und die Schulen neue Methoden.
Mit Mitstreitern haben Sie "Tutoring for All" gegründet, was ist das?
Thümler: Ein Sozialunternehmen, das die individuelle Förderung von Kindern in ganz kleinen Gruppen durch Tutorinnen und Tutoren fördern will. Außerhalb des regulären Unterrichts
und mit Hilfe einer digitalen Tutoring-Plattform.
Dahinter steht das sogenannte "High Impact Tutoring". Klingt nach Marketing.
Thümler: Das ist eine Methode aus den USA, die laut Forschung besonders hohe Effekte hat, vor allem bei der Stärkung sozial benachteiligter Kinder und deren Basiskompetenzen. In
den USA und Großbritannien wird Tutoring deshalb auch mit großen nationalen Programmen gefördert. In Deutschland nennen wir unser Angebot "Lesen mit dem Turbo-Team". Knackpunkt ist die hohe
Dosis. Tutoring mindestens dreimal die Woche, durchgeführt von geschulten Tutorinnen und Tutoren. Reale Menschen, die digitale Hilfsmittel einsetzen, auf der Grundlage eines wissenschaftlichen
Konzepts. Aber das Persönliche, die menschliche Beziehung zwischen Kind und Tutor, steht im Vordergrund. Das ist der Unterschied zu rein virtuellen Tools, die deutlich weniger bringen. Hinzu
kommt, dass es beim High Impact Tutoring ein Monitoring gibt, um zu prüfen, ob die gewünschten Effekte auch tatsächlich eintreten.
"Wir konzentrieren uns auf einen Ansatz,
der relativ leicht umzusetzen ist und relativ schnell einen hohen Wirkungsgrad erzielt."
Ihr Glaube an die Methode muss groß sein. Immerhin haben Sie dafür die sichere Welt einer Bildungsstiftung verlassen, um in die Selbstständigkeit zu gehen.
Thümler: Eigentlich hatten wir mehr vor. Wir wollten ein umfangreiches Schulentwicklungsprogramm nach Deutschland holen, "Success for All", bei dem das Tutoring nur ein
Ausschnitt gewesen wäre. Aber dann kam Corona. Und uns wurde klar, dass für so große Projekte mit jahrelangem Vorlauf jetzt weder die Zeit noch das Geld da ist. Darum konzentrieren wir uns auf
einen Ansatz, der relativ leicht umzusetzen ist und relativ schnell einen hohen Wirkungsgrad erzielt.
Was heißt "relativ schnell"?
Thümler: Mit dem Turbo-Team waren wir Ende 2023 an 22 Schulen bundesweit, im Januar kommen fünf weitere Standorte dazu. Das bedeutet, wir haben bislang etwa 1000 Kinder mit der
Förderung erreicht. Dafür arbeiten wir meistens mit Organisationen und Vereinen zusammen, die ohnehin schon an den Schulen sindund oft auch eigene Tutorinnen und Tutoren mitbringen. In selteneren
Fällen führen Schulen unser Programms auch eigenständig durch.
Frau Gogolin, Sie sind Senior-Professorin am Arbeitsbereich "Interkulturell und International Vergleichende Erziehungswissenschaft" der Universität Hamburg und begleiten "Tutoring for
All" wissenschaftlich. Warum?
Ingrid Gogolin: Ekkehard Thümler und ich kennen uns seit etlichen Jahren. Wir haben gemeinsam versucht, "Success for All" aus den USA nach Deutschland zu bringen, nach meiner
Überzeugung eines der besten Schulentwicklungskonzepte weltweit. Die wissenschaftliche Studienlage ist da sehr eindeutig: Konzepte, die verschiedene Akteure von innerhalb und außerhalb der Schule
unter einer gemeinsamen Strategie vereinen, auf dieser Grundlage systematisch Maßnahmen ergreifen und deren Wirkung regelmäßig messen, haben durchgehend positive Effekte auf die
Schülerleistungen. Und weil, wie Ekkehard eben erwähnte, nach Corona das ganz große Rad nicht mehr zu drehen war, haben wir gesagt: Fangen wir mit dem Tutoring an, also mit einem Element von
"Success for All". Dieses Tutoring findet in enger Abstimmung mit den Lehrkräften und dem allgemeinen Unterricht statt. Einen wichtigen Erfolgsaspekt möchte ich hinzufügen: Es handelt sich nicht
um allgemeine Leseförderung, sondern um das gezielte Arbeiten an individuellen Schwächen, die vorher bei einem Kind diagnostiziert worden sind. Wenn diese Schwächen beseitigt sind, endet auch die
Förderung. Dadurch ist es möglich, sehr genau die Effekte zu messen.
Das haben Sie getan.
Gogolin: Ja, in Form einer Pilotevaluation. Ich weiß, dass Ekkehard den Begriff nicht mag und
mich zu vorsichtig findet mit meinen Aussagen. Aber als Wissenschaftlerin muss ich genau sein. Es handelt sich immer noch um eine relativ kleine Anzahl von Kindern, und für die Kontrollgruppe
haben wir keine Zufallszuweisung der Kinder hinbekommen. Trotzdem, und das kann ich als Wissenschaftlerin wieder ohne Einschränkung sagen, sind wir von den Ergebnissen einigermaßen überrascht
gewesen.
Sie haben zu Beginn und nach Abschluss des Turbo-Tutorings bei den Kindern vier Kompetenzbereiche untersucht: ihre basale Lesefertigkeit, ihr Wortverständnis, ihr Satzverständnis und ihr
Textverständnis. Und Sie haben die Ergebnisse mit Schülern verglichen, die nicht an dem Programm teilgenommen haben.
Gogolin: Und damit man die Ergebnisse vergleichen kann, haben wir den Einfluss von Geschlecht, Klassenstufe, Erstsprache und sozioökonomischem Status der Familie statistisch
kontrolliert. Unabhängig von der Lesekompetenz vor Beginn der Förderung zeigte sich in allen vier Bereichen ein Vorteil für die Kinder, die beim Tutoring dabei waren. Beim Satzverständnis und
beim Textverständnis fiel der Unterschied so groß aus, dass er statistisch signifikant, also kein Zufallsergebnis ist.
"Auch andere Leseförderprogramme haben überzeugende Geschichten von sich zu erzählen. Doch stellen sich nur die wenigsten einer wissenschaftlichen
Evaluation."
Warum war das bei der basalen Lesefähigkeit und dem Wortverständnis anders?
Gogolin: Weil sich auch die Kinder der Kontrollgruppe in anderen an den Schulen bereits praktizierten Formen der Leseförderung befanden. Auch dies war also eine gute Förderung.
Der Turbo-Team-Ansatz bringt aber zusätzlich auf der Ebene der komplexeren Leseleistungen erstaunliche Effekte, also genau da, wo die Stolperstellen liegen, die das Tutoring gezielt bearbeitet.
Wichtig ist, dass dies in der Kombination eines digitalen Systems mit Tutorinnen und Tutoren passiert, die das Programm in ihrer Arbeit mit den Kindern zum Leben bringen. Darum bin ich
optimistisch, dass wir bei einer größer angelegten Evaluation zu vergleichbaren Ergebnissen kämen. Dann müssten wir die Kinder allerdings auch über einen längeren Zeitraum verfolgen, um
herauszufinden, ob der Lerneffekt von Dauer ist.
Ist Ihnen das zu pessimistisch Herr Thümler?
Thümler: Ich würde nie mit einer Wissenschaftlerin schimpfen, weil sie wissenschaftlich vorgeht. Und Ingrid hat ja Recht: Auch andere Leseförderprogramme haben überzeugende
Geschichten von sich zu erzählen. Doch stellen sich nur die wenigsten einer wissenschaftlichen Evaluation.
Gogolin: Ich kenne keinen einzigen anderen Anbieter einer onlinebasierten Leseförderung, der das schon im Prozess der Entwicklung getan hat.
Thümler: Das enthält ja auch ein immenses wirtschaftliches Risiko, wenn Sie gerade ein Unternehmen gegründet haben und als Person in Vorleistung gegangen sind. Was wäre passiert,
wenn die wissenschaftliche Untersuchung nun belegt hätte, dass die Methode nicht funktioniert?
Gogolin: Aber wir haben das Risiko offenen Auges auf uns genommen und sehen nun, dass die Richtung, in die das Programm geht, stimmt. Der Vorteil ist, dass die Ergebnisse unserer
Prüfung sofort wieder in die Weiterentwicklung der Plattform einfließen können.
Wie geht es jetzt weiter, Herr Thümler?
Thümler: Motiviert von der Evaluation wollen wir jetzt an weitere Schulen gehen und so viele Schülerinnen und Schüler erreichen, dass wir uns einer noch anspruchsvolleren
wissenschaftlichen Studie stellen können. Unsere Botschaft lautet: Wir bringen ein fertiges Produkt mit, verknüpft mit dem Angebot, die vorhandenen Tutoren und Lehrkräfte zu schulen. Wir wollen
es den Schulen so einfach wie möglich machen.
"Wirtschaftlich ist das eine Wette,
das ist klar."
Das klingt, als wären die meisten Schulen sehr vorsichtig und zurückhaltend. Was kostet denn die Teilnahme?
Thümler: 2.500 Euro pro Schule und Jahr, unabhängig von der Zahl der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler und Tutorinnen und Tutoren. Dafür können sie alle die digitale
Plattform nutzen, sie bekommen die Schulungen und alle Unterstützung, die sie brauchen, um das Programm durchzuführen. Künftig wollen wir noch einen Schritt weitergehen und das Angebot machen,
dass jemand von "Tutoring for All" vorbeikommt, wenn ein konkretes Anwendungsproblem zu lösen ist.
Gogolin: Was eine große Rolle spielt, wie unsere Evaluation gezeigt hat: Es braucht nicht nur die einmalige Schulung von Tutorinnen und Tutoren, sondern ihre dauerhafte
Begleitung.
Und der ganze Aufwand für 2.500 Euro, Herr Thümler – das geht auf?
Thümler: Die Kalkulation wird dann aufgehen, wenn wir eine ausreichend große Zahl von Schulen gewinnen können. Insofern ist es wirtschaftlich eine Wette, das ist klar.
Wo sind denn dann all die Schulen, die mitmachen wollen?
Thümler: Die meisten Schulen haben im Moment weder die Ressourcen noch die Kraft, sich erst auf einen jahrelangen Schulentwicklungsprozess einzulassen. Aber genau das ist das
"Turbo-Team" nicht, die Schulen müssen sich zu nichts committen. Hinzu kommt: Viele Schulen haben bislang gar nicht das Budget für solche Extra-Aktivitäten, wenn sie es nicht durch Stiftungen
oder andere Förderorganisationen finanziert bekommen. Das ändert sich hoffentlich durch das Startchancen-Programm von Bund und Ländern für Schulen in benachteiligten Lagen. "Lesen mit dem
Turbo-Team" wird von diesem Programm ausdrücklich als empfehlenswerte Maßnahme genannt, das könnte eine große Chance auch für unser Vorhaben sein.
Gogolin: Es gibt auch eine emotionale Schwelle, die es zu überwinden gilt. Sehr viel Leseunterstützung, die es heute gibt, kommt von Ehrenamtlichen, die sich mit den Kindern
unterhalten, ihnen etwas vorlesen. Das finde ich prima – aber: Jetzt kommen wir mit so einem systematischen Lernprozess, mit dialogischen, digital gestützten Verfahren und Monitoring-Tools. Das
ist vielen Ehrenamtlichen fremd. Aber wir können hoffentlich klarmachen, dass wir die Angebote, die es gibt, nicht ersetzen wollen. Dass sie aber bei allem Bemühen noch nicht reichen, um den
besonders gefährdeten Kindern ausreichend zu helfen. Wenn jetzt die Startchancen kommen und Ganztagsausbau an den Grundschulen voranschreitet, hoffen wir, dass diese systematische Perspektive
stärker als bislang aufgegriffen wird.
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Die Konstanzer Universitätsleitung ist stolz auf ihr neues Karrieremodell. Aber hält es auch, was es verspricht? Ein Interview mit Prorektor Malte Drescher über Abhängigkeitsverhältnisse, Drittmittelvorgriff, Stellenpools – und eine neue Währung im internationalen Wettbewerb um Talente.
Malte Drescher ist als Prorektor an der Universität Konstanz unter anderem für Forschung, Karriereentwicklung und Transfer zuständig. Im Dezember
2023 wurde er zum Präsidenten der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau (RPTU) gewählt und tritt sein Amt im Oktober an. Foto: Inka Reiter / Universität Konstanz.
Herr Drescher, die Universität Konstanz hat ein Personalkonzept mit der wenig bescheidenen Überschrift "Attraktive und verlässliche Karrierewege für exzellente Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler". Was ist denn so mutig und anders an Ihrem Modell?
Wir kokettieren in Konstanz gern damit, als kleinste und damit agilste deutsche Exzellenzuniversität immer auch ein Reallabor zu sein. Wir probieren Dinge aus, und genau das wollten wir auch bei
diesem wahrscheinlich zurzeit wichtigsten hochschulpolitischen Thema. Zwei Jahre lang haben wir uns damit auseinandergesetzt, immer wieder, über alle Ebenen, Gremien, Statusgruppen und
Fachbereiche der Universität hinweg. Im Vordergrund stand für uns immer, dass wir die besten Köpfe für Konstanz rekrutieren wollen, und die Währung, mit der wir sie im internationalen Wettbewerb
heutzutage bekommen, ist die richtige Kombination von attraktiven Aufgaben und die nötige Perspektive bei der Karriereplanung. Entscheidend ist, dass unser Modell mehr ist als eine
Absichtserklärung. Daher haben wir unser Konzept bis in einzelne Maßnahmen, bis ins kleinste – um nicht zu sagen: manchmal nervigste – Detail ausbuchstabiert.
Verabschiedet haben Sie Ihr Konzept im vergangenen Sommer. Schon da steckte die Ampel-Koalition mit ihrer versprochenen Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG)
fest. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Wir wollten nicht warten, vor allem wollten wir zeigen, was alles unter den gegebenen gesetzlichen und finanziellen Rahmenbedingungen möglich ist. Und das ist viel. Uns war es besonders wichtig,
den notwendigen Kulturwandel an der Universität durch Maßnahmen zu unterstützen, die sowohl den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in den frühen Karrierephasen nutzen als auch den
etablierten PIs.
Dann bitte mal konkret.
In der Promotionsphase setzen wir in Konstanz bei Haushaltstellen auf Mindestvertragslaufzeiten von anfangs drei Jahren. Das ist nichts Besonderes mehr, das halten viele Universitäten inzwischen
genauso. Wir haben aber, und das nicht so selbstverständlich, die drei Jahre jetzt zusätzlich für die vielen Promovierenden eingeführt, die über Drittmittel finanziert werden. Dahinter verbirgt
sich ein Pfandsystem, das ich für innovativ halte. Eigentlich passt die Bezeichnung Drittmittelvorgriff-Modell besser, denn darum geht es: Unabhängig davon, wie lang ein Drittmittelprojekt noch
läuft, gehen wir als Universitätsleitung in Vorleistung und gewähren für Promotionen einen Dreijahresvertrag. Weil wir darauf vertrauen, dass unsere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in
der Lage sind, neue Mittel einzuwerben, zum Beispiel die Verlängerung eines Sonderforschungsbereichs.
Und wenn die Drittmittel doch ausbleiben?
Dann holen wir uns das Geld zurück über Mittel der PIs wie Berufungszusagen oder über die Nichtnachbesetzung der ihnen gewährten Haushaltsstellen, wenn die irgendwann freiwerden. Es soll ja nur
ein Pfand sein, ein Kredit. Die Wissenschaftler müssen den Anreiz zur erfolgreichen Drittmittelakquise behalten.
"Als Hochschulleitung sind
wir eine freundliche Bank."
Und das machen die mit?
Wie gesagt: Wir haben unser Konzept universitätsweit im Konsens beschlossen. Dazu gehört, dass die meisten Beteiligten verinnerlicht haben, dass sich etwas Grundsätzliches ändern muss. Im
Gegenzug haben die PIs deutlich attraktivere Arbeitsbedingungen für die Doktoranden zu bieten, die gerade vor der Tür stehen.
Eine Bank würde für so eine Risikoabsicherung Zinsen berechnen.
Als Hochschulleitung sind wir eine freundliche Bank und wollen natürlich keine Zinsen. Außerdem kostet uns die Regelung im Idealfall gar nichts, weil das Geld ja zurückkommt – solange die
Ausgaben für die Stellen nicht die Berufungszusagen übersteigen. Um die Vertragslaufzeiten drittmittelfinanzierter Doktoranden drückt sich übrigens auch der WissZeitVG-Referentenentwurf der Ampel
herum. Und obgleich wir unabhängig davon handeln: Es ist schon ärgerlich, wie lange das Gesetz auf sich warten lässt.
Und bei der Postdoc-Entfristung konnten die Fraktionen sich gar nicht erst mit dem BMBF auf eine Lösung einigen. Was ist da der Konstanzer Weg?
Wir sind davon überzeugt, dass die Postdoc-Phase kurz zu sein hat, weil sie als Orientierung und Weichenstellung dienen sollte – hin zu einer anschließenden Qualifizierung auf dem Weg zu einer
Professur. Oder auf eine andere wissenschaftliche Stelle mit verlässlicher Perspektive. Oder eben für eine Entscheidung für eine Karriere außerhalb der Wissenschaft.
Gut und schön. Aber was heißt kurz?
Das ist die Frage, die alle umtreibt. Unser Rektorat ist in die Diskussion eingestiegen mit dem Ziel, auf eine Höchstbefristungsdauer von zwei Jahren zu kommen. Wir haben uns dann aber überzeugen
lassen, dass das zu kurz ist und vier Jahre deutlich besser passen. Dies entspricht dem Fenster beispielsweise für den Zugang zum Emmy-Noether-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG),
außerdem müssten Sie sich bei zwei Jahren praktisch am ersten Postdoc-Tag auf eine Tenure-Track-Professur bewerben, weil die Berufungsverfahren so lange dauern. Das würde die Idee einer
Orientierungsphase obsolet machen.
Da hat Sie der Mut ganz schön verlassen, oder?
Unser höchster Anspruch ist nicht, mutig zu handeln, sondern klug. Jeder Postdoc hat im Gegenzug das Recht auf eine Karriereberatung unabhängig vom Professor, und zwar durch unser Academic Staff
Development. Im Übrigen bezweifle ich, dass dieser bundesweite Streit um zwei, drei oder vier Jahre tatsächlich zielführend ist. Dreh- und Angelpunkt für attraktive Karrierebedingungen ist, dass
alle Universitäten begreifen, wie wichtig dieses Thema für sie selbst, ihre Zukunft und Exzellenz ist. Das ist der entscheidende Kulturwandel.
Was heißt für Sie Exzellenz in dem Zusammenhang?
Exzellenz bedeutet Bestenauslese abhängig vom Potenzial junger Forschender in Forschung, Lehre und Transfer. Und der Kulturwandel besteht in der Art, wie wir die Besten für unsere Dauerstellen
auswählen. In einem ersten Schritt identifizieren wir als Institution strategisch, wo genau welcher Personalbedarf besteht. Dann besetzen wir die Stellen über vorher festgelegte, transparente
Verfahren und Kommissionen. Nur so kommen wir weg von bilateralen Abhängigkeitsverhältnissen, dass zum Beispiel Stellen freihändig geschaffen werden, um bestimmte Leute draufzusetzen, die sich
dann von Kettenvertrag zu Kettenvertrag hangeln. Übrigens sind wir überzeugt, dass nur solch ein Modell mit klaren Prozessen in der Lage sein wird, die Diversität zu erhöhen – und parallel die
Exzellenz der Stelleninhaber.
"Ich habe eingesehen, dass es viele Fachdisziplinen gibt,
in denen an der Habilitation kein Weg vorbeiführt."
Was Sie da beschreiben, erfordert ein völlig neues Verständnis von Stellenplanung. Und eine Entmachtung der einzelnen Professoren.
Das ist ein dickes Brett, ja. Die Fachbereiche haben anderthalb Jahre Zeit für die Entwicklung von Personalkonzepten, die wie gesagt unabhängig sein müssen von bestimmten Personen und
potenziellen Stelleninhabern. Welche Aufgaben sind Daueraufgaben? Welche Professuren sollten nachbesetzt, welche umgewidmet werden? Am Ende werden die Konzepte mit dem Rektorat abgestimmt und
ergeben eine Grundlage, die über die sonst in Baden-Württemberg übliche, alle fünf Jahre neu beschlossene Struktur- und Entwicklungsplanung für Universitäten weit hinausreicht. Mit einer
Entmachtung der Professor*innen hat das im Übrigen nichts zu tun. Es handelt sich um eine Optimierung der Stellenstruktur, an der die Professor*innen selbstverständlich ganz zentral beteiligt
sind.
Was wird in Ihrem System eigentlich aus der Habilitation?
Das ist noch ein Punkt, wo ich persönlich etwas gelernt habe. Zu Beginn unserer Diskussion habe ich den Standpunkt vertreten, dass wir in Konstanz dieses Modell aufgeben sollten. Ich habe aber
eingesehen, dass es viele Fachdisziplinen gibt, in denen an der Habilitation kein Weg vorbeiführt. Sie werden sie nicht aufgeben. Darum muss unser Ziel sein, die Habilitation ebenfalls mit einer
stärkeren Verlässlichkeit auszustatten. Bei uns in Konstanz erhält jeder Habilitand und jede Habilitandin daher jetzt eine verlässliche Vertragslaufzeit von sechs Jahren, und zwar in Form einer
Verbeamtung auf Zeit.
Lassen Sie mich nachrechnen. Das heißt: Wer in Konstanz habilitiert, kann künftig bis zu 16 Jahre befristet werden: sechs Jahre bis zur Promotion, vier Jahre in der
Postdoc-Orientierungsphase, und dann sechs Jahre als habilitierender Beamter auf Zeit.
Es kann in Promotion und Postdoc-Orientierungsphase auch schneller gehen, aber im Kern ist das richtig. Und es ist unsere Antwort darauf, dass wir die Habilitation als je nach Disziplin wichtigen
Qualifizierungspfad nicht zumachen wollten.
Und wo ist da die Verlässlichkeit, wenn die sechs Jahre Habil-Befristung ohne Anschlusszusage daherkommt?
Die Verlässlichkeit liegt in der gesicherten Zeit für die Habilitation selbst, sie ist ein Fortschritt gegenüber der Vergangenheit, die bei der Vertragsgestaltung von Abhängigkeitsverhältnissen
gekennzeichnet war.
"Manchmal finden wir auch kreative Lösungen,
wenn gesetzliche Vorgaben Hürden aufbauen."
Haben Sie nicht das Gefühl, auch hier in ihrem persönlichen Reformeifer eingebremst worden zu sein? Unkonventionell gestartet, konventionell gelandet?
Das mag mancher so sehen. Aber was nützt es uns, wenn wir uns am Reißbrett ein bestechendes Konzept überlegt haben, das dann vielleicht in der Physik gut funktioniert, in der
Literaturwissenschaft aber überhaupt nicht – oder umgekehrt? Ich glaube, das ist etwas, worauf auch die Wissenschaftspolitik achten sollte: die große Fächerbreite und die unterschiedlichen
Bedarfe nicht zu vergessen.
Sie haben am Anfang gesagt, Sie wollten mit Ihrem Konzept zeigen, was alles innerhalb der geltenden gesetzlichen und finanziellen Rahmenbedingungen möglich ist. Was hätten Sie trotzdem
gern anders gemacht, wenn die Gesetzeslage es zuließe?
Wichtig ist vor allem, dass die gesetzlichen Möglichkeiten sich nicht so ändern, dass sie unsere Wettbewerbslage verschlechtern. Das wäre etwa der Fall, wenn wir nach der WissZeitVG-Novelle im
Postdoc-Bereich nur noch zwei Jahre befristen dürften, während Hochschulen im Ausland attraktive Stellen mit einer Laufzeit von vier oder sechs Jahren anbieten, auf die junge
Wissenschaftler*innen dann wechseln. Und meine zweite Antwort: Manchmal finden wir auch kreative Lösungen, wenn gesetzliche Vorgaben Hürden aufbauen.
Bitte ein Beispiel.
Wir sind gesetzlich gezwungen, für jede Tenure-Track-Stelle nach sechs Jahren eine dauerhafte Professorenstelle vorzuhalten. Das beschränkt die Zahl der Tenure-Track-Ausschreibungen von
vornherein, obwohl am Ende gar nicht alle die Evaluation bestehen. Wir haben das Problem gelöst, indem wir einen W3-Stellenpool geschaffen haben, so dass unabhängig vom Freiwerden einzelner
Professuren ein Anschluss immer möglich ist – und wir mutiger Tenure-Track-Stellen ausschreiben können.
Noch ein Wort zu den finanziellen Rahmenbedingungen?
Wir können nicht auf die Politik warten. Aber wenn wir über neue Personalstrukturen und mehr Dauerstellen reden, braucht es dafür am Ende natürlich doch auch mehr Geld. Nicht in unendlichen
Mengen, aber so viel, dass Entfristungen nicht auf Kosten der Qualifizierungsstellen gehen. Hier würden wir uns neben der verbalen über jede tatkräftige Unterstützung freuen. Das klingt fast
banal, ist aber – wie immer – essenziell.
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