Blogbeitrag5. Juni 2023

Der Bund wird es nicht richten

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Abstract

100-Milliardenfonds und Bildungsgipfel: Die Initiatoren von "Bildungswende JETZT" planen für den geforderten Neuanfang des Bildungssystems die Bundesregierung in einer tragenden Rolle ein. Warum das eine Fehleinschätzung sein dürfte.








Ausschnitt aus dem Appell "Bildungswende JETZT".






VIELES VON DEM, was die schon am Donnerstag über 90 Bildungsorganisationen, Gewerkschaften, Vertretungen und Initiativen in ihrem Appell "Bildungswende JETZT" geschrieben haben, kann man nur
unterstützen. Geschickt am Weltkindertag platziert, hat er die mediale Aufmerksamkeit erhalten, die ihm zusteht. Dabei kann man durchaus geteilter Meinung sein, ob Formulierungen wie "eine der
schwersten Bildungskrisen seit Gründung der Bundesrepublik" erstens historisch zutreffen und zweitens die zuständigen Politiker eher zum Handeln als in eine Abwehrhaltung hinein treiben.



 



Die Aufzählung der Problemlagen in dem dreiseitigen Aufruf aber beschreibt in jedem Fall die Realität: von den hunderttausenden fehlenden Kitaplätzen, Erziehern und Lehrkräften über den
wachsenden Teil von Schülern, die nur schlecht lesen, schreiben und rechnen können, bis hin zu 50.000, die jedes Jahr die Schulen ohne Abschluss verlassen. Auch die Kennzeichnung unseres
Bildungssystems als veraltet, segregiert und sozial ungerecht trifft – leider – vielerorts den Kern. Wie, fragen die Unterzeichner zu Recht, soll ein solches System die jungen Generationen auf
die Umwälzungen und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts vorbereiten?



 



Wo sich bei mir ernsthafte Zweifel meldeten, waren indes diejenigen Passagen des Bildungsappells, in denen die Unterzeichner dem Bund eine wichtige Rolle bei der Krisenrettung
zugestehen.



 



Ja, es ist populär derzeit, auf den Bund zu setzen. Etwa durch das in Forderung 1 enthaltene Plädoyer für ein Sondervermögen für Bildung in Höhe von 100 Milliarden Euro für Kitas und Schulen, das
schließlich auch die Bundeswehr erhalten hat. Da die Länder sich gar nicht so verschulden könnten, müsste das ja vom Bund kommen. Träumen von vielen Extra-Bundesbildungsmilliarden sollte man
sogar, auch ich habe es zu Ostern getan. 



 



Aber dann muss man sich wieder den Realitäten stellen, zu denen gehört, dass sich die Ampel schon für eine einzige zusätzliche Bildungsmilliarde jährlich rühmt, deren Auszahlung noch nicht einmal
geplant wurde bislang. Wem in Hinblick auf die nötige Bildungswende insofern als erstes ein bundespolitischer Finanz-Großakt einfällt, leistet zwar einen ansehnlichen Beitrag zur Debattengalerie
– könnte aber beim Warten auf den Bund die Chance zum Aufbruch verpassen.



 



Das Gleiche gilt für die Forderung 4 nach einem "echten Bildungsgipfel", einberufen vom Bundeskanzler "in Absprache mit den Regierungschef*innen der Länder" und unter Einbeziehung von
"Zivilgesellschaft und Bildungspraxis" (interessanterweise wird die im Papier für ihre "dysfunktionalen Vorschläge" gescholtene Bildungsforschung hier ausgespart). Abgesehen davon, dass an
anderer Stelle zu Recht darauf hingewiesen wird, dass ein wesentliches Ziel des letzten echten (Dresdner) Bildungsgipfels von 2008 noch immer nicht erreicht wurde, kann man eine auch nur
teilweise konzeptionelle Neusortierung des Bildungssystems von einem solchen Format nicht erwarten. So, wie der Bund die 100 Milliarden nicht springen lassen wird, werden die Länder sich nicht
per Gipfel und unter Zutun des Bundes ihre Macht in der Kultuspolitik einhegen lassen. Weil sie hieraus ganz wesentlich ihre Daseinsberechtigung herleiten.



 



Den Bildungsföderalismus als unkaputtbar anerkennen
und trotzdem an den Wandel glauben



 



Wer will, kann dem Autor dieser Zeilen angesichts solcher Einwände Ambitions- oder Fantasielosigkeit vorwerfen. Ich behaupte, es ist genau umgekehrt: Anzuerkennen, dass der Bildungsföderalismus
in all seiner täglich erlebten Unzulänglichkeit realpolitisch gesehen unkaputtbar ist. Und trotzdem an den Wandel zu glauben, wie er in den Appell-Forderungen 2 ("Ausbildungsoffensive für
Lehrer*innen und Erzieher*innen") und 3 ("Schule zukunftsfähig und inklusiv machen") ausbuchstabiert wird, das ist gedanklich anspruchsvoll. Das erfordert Mut, weil eine solche Argumentation das
Heil in den Ländern und damit zwangsläufig ausgerechnet in jener Kultusministerkonferenz (KMK) sehen muss, die vielen oft als so heillos erscheint. 



 



Mir selbst ja auch – wie oft habe ich meine gelegentlich an einen Föderalismus-Abgesang grenzenden Zweifel auch hier im Blog formuliert. So scheint denn auch in dem unter
anderem von Lehrergewerkschaften unterstützten Aufruf vor allem eine tiefe Enttäuschung mit den Kultusministern durch – etwa an deren Entscheidung, mancherorts mit Mehrarbeit (wie von der
Ständigen Wissenschaftlichen Kommission empfohlen) begegnen zu wollen. In dessen rigoroser Ablehnung durch die Unterzeichner könnte man übrigens, das nur nebenbei gesagt, einen
logischen Bruch zu ihrer Warnung vor einer der schwersten Bildungskrisen in der Geschichte vermuten – die dann ja wohl angesichts der dramatischen Lehrkräfte-Not auch für alle Beteiligten
unbequeme Maßnahmen rechtfertigen sollte.  



 



Egal, ich bin jedenfalls davon überzeugt: Nur die Länder müssen und nur die Länder können es richten, angefangen mit den Finanzen. Sie sind für zwei Drittel der staatlichen Bildungs- und
Wissenschaftsausgaben verantwortlich. Womit der Hebel für mehr – etwa dauerhaft zehn Prozent der Wirtschaftsleistung für Bildung und Forschung, siehe Forderung 1 – ebenfalls vor allem bei ihnen
liegt. Umso stärker, da sich die Verteilung des Steueraufkommens in den vergangenen Jahren derart zu ihren Gunsten gewandelt hat, dass sie als Gemeinschaft (nicht zwangsläufig jedes Land einzeln)
haushaltspolitisch besser dastehen als der Bund. 



 



Woraus folgt: Die Bundesregierung kann und soll Akzente und Impulse für neue Entwicklungen in der Bildung setzen (Beispiel: Startchancen-Programm, um
vom Gießkannen-Prinzip in der Schulfinanzierung wegzukommen), aber das Bildungssystem als Ganzes entwickeln können nur die Länder. Weil sie die Zuständigkeit und auch das Geld haben. Am Ende
lautet sogar die Frage, ob der – durch den Ampel-Koalitionsvertrag genährte und auch von uns Journalisten oft ausgeübte – Erwartungsdruck dem Bund gegenüber nicht sogar kontraproduktiv wirkt,
weil er die Länder aus dem Scheinwerferlicht entfernt.



 



Die Unfähigkeit der Kultusministerkonferenz
ist kein Naturgesetz



 



Die Länder können und müssen es richten, und das geht nur über die Reform ihrer Zusammenarbeit in der Kultusministerkonferenz. Anstatt deren Unfähigkeit implizit zum Naturgesetz zu erklären,
indem man nach dem Bund ruft, sollte die ganze Bildungsrepublik Anteil an den laufenden KMK-Reformdebatten nehmen. Ja, die gibt es, sie sind fragil und doch im günstigen Fall so
umfassend wie lange nicht (um nicht zu sagen: wie selten seit Gründung der Bundesrepublik). 



 



Kann ihre gemeinsame Verwaltung, das KMK-Sekretariat, neu und schlagkräftig aufgestellt werden? Können die Länder ihre übergreifenden Entscheidungsprozesse zu Bildungsreformen beschleunigen und
dabei den Konsens durch im Einzelfall unbequeme Mehrheitsentscheidungen ersetzen? Schafft es die KMK, in der Öffentlichkeit die Rolle als föderale Bildungsagentur einzunehmen? Derzeit ist es doch
so, dass auch die meisten Journalisten im Zweifel im Bundesbildungsministerium anrufen, weil die Macht in unserem Bildungssystem zwar bei den Ländern liegen mag, sie aber gleichzeitig so
irritierend undurchsichtig funktioniert. 



 



Das Dramatische ist, dass es diese vor vielen verborgenen Reformbemühungen sind, die über die "Bildungswende" entscheiden werden. Weshalb ein wirklich wirksamer Appell den direkten
Erwartungsdruck in Hinblick auf die Selbst-Reform der KMK maximal erhöhen sollte – und es Aufgabe des Journalismus wäre, neben plakativen Essays über 10- oder 100-Milliarden-Bildungsfonds
Transparenz in dieses verschachtelt-verborgene Gezerre um die Zukunft des Bildungsföderalismus zu bringen. 



 



Tatsächlich jedoch erwähnt "Bildungswende JETZT" die Kultusminister als allerletzte ihrer vier Adressatengruppen – und den Bund vor den Ländern. Als erwarte der Appell von ihnen am
allerwenigsten. 



 



Mit einer Verve, die allen
Klischees zu widersprechen schien



 



Dass dies womöglich eine Fehlwahrnehmung des Faktischen ist, zeigt nicht zuletzt der Blick auf die Corona-Zeit. Solange der Bund über Einschränkungen des Präsenzunterrichts mitentschied, wurden
die Bildungsinteressen der Kinder meist dem gesellschaftlichen Gesamtwohl untergeordnet, was die soziale Schieflage beim Lernerfolg nur noch verschärft hat. Es waren die Länder und die
Kultusminister übrigens noch deutlich stärker als die Ministerpräsidenten, die sich überwiegend für offene Schulen eingesetzt haben. Und das mit einer Verve, einer Geschlossenheit und
gelegentlich auch mit einer Trotzigkeit, die allen landläufigen Klischees zu widersprechen schien. 



 



Böse Zungen behaupten, sie hätten das nur getan, weil sie wussten, wie schlecht sie ihre Schulen auf die Ausnahmesituation vorbereitet hatten. Doch bei allem vermuteten oder tatsächlichen Mangel
an Kompetenz und Weitsichtigkeit: Vielleicht identifizierten sich viele Kultusminister einfach mit der von ihnen übernommenen Aufgabe, für Bildung zu sorgen? Vielleicht ist das Einzige, worauf es
wirklich ankommt, das Ende ihrer immer wiederkehrenden Selbstblockaden in der KMK?



 



Wie wäre es dann, wenn wir für einen Moment, wirklich nur für einen Moment annähmen, dass die Lösung der Krise des Bildungsföderalismus bei denjenigen liegt, die im Föderalismus für die Bildung
zuständig sind? Und dass wir die Energie, die wir bislang für die so formschönen wie realitätsfremden Träume von einer Rettung durch den Bund aufgewendet haben, in Debatten über deren
strukturelle Ertüchtigung steckten? Womöglich wären wir der "Bildungswende jetzt" dann ein Stück näher.




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