This dissertation contributes to the empirical analysis of economic development. The continuing poverty in many Sub-Saharan-African countries as well as the declining trend in growth in the advanced economies that was initiated around the turn of the millennium raises a number of new questions which have received little attention in recent empirical studies. Is culture a decisive factor for economic development? Do larger financial markets trigger positive stimuli with regard to incomes, or is the recent increase in their size in advanced economies detrimental to economic growth? What causes secular stagnation, i.e. the reduction in growth rates of the advanced economies observable over the past 20 years? What is the role of inequality in the growth process, and how do governmental attempts to equalize the income distribution affect economic development? And finally: Is the process of democratization accompanied by an increase in living standards? These are the central questions of this doctoral thesis. To facilitate the empirical analysis of the determinants of economic growth, this dissertation introduces a new method to compute classifications in the field of social sciences. The approach is based on mathematical algorithms of machine learning and pattern recognition. Whereas the construction of indices typically relies on arbitrary assumptions regarding the aggregation strategy of the underlying attributes, utilization of Support Vector Machines transfers the question of how to aggregate the individual components into a non-linear optimization problem. Following a brief overview of the theoretical models of economic growth provided in the first chapter, the second chapter illustrates the importance of culture in explaining the differences in incomes across the globe. In particular, if inhabitants have a lower average degree of risk-aversion, the implementation of new technology proceeds much faster compared with countries with a lower tendency towards risk. However, this effect depends on the legal and political framework of the countries, their average level of education, and their stage of development. The initial wealth of individuals is often not sufficient to cover the cost of investments in both education and new technologies. By providing loans, a developed financial sector may help to overcome this shortage. However, the investigations in the third chapter show that this mechanism is dependent on the development levels of the economies. In poor countries, growth of the financial sector leads to better education and higher investment levels. This effect diminishes along the development process, as intermediary activity is increasingly replaced by speculative transactions. Particularly in times of low technological innovation, an increasing financial sector has a negative impact on economic development. In fact, the world economy is currently in a phase of this kind. Since the turn of the millennium, growth rates in the advanced economies have experienced a multi-national decline, leading to an intense debate about "secular stagnation" initiated at the beginning of 2015. The fourth chapter deals with this phenomenon and shows that the growth potentials of new technologies have been gradually declining since the beginning of the 2000s. If incomes are unequally distributed, some individuals can invest less in education and technological innovations, which is why the fifth chapter identifies an overall negative effect of inequality on growth. This influence, however, depends on the development level of countries. While the negative effect is strongly pronounced in poor economies with a low degree of equality of opportunity, this influence disappears during the development process. Accordingly, redistributive polices of governments exert a growth-promoting effect in developing countries, while in advanced economies, the fostering of equal opportunities is much more decisive. The sixth chapter analyzes the growth effect of the political environment and shows that the ambiguity of earlier studies is mainly due to unsophisticated measurement of the degree of democratization. To solve this problem, the chapter introduces a new method based on mathematical algorithms of machine learning and pattern recognition. While the approach can be used for various classification problems in the field of social sciences, in this dissertation it is applied for the problem of democracy measurement. Based on different country examples, the chapter shows that the resulting SVMDI is superior to other indices in modeling the level of democracy. The subsequent empirical analysis emphasizes a significantly positive growth effect of democracy measured via SVMDI. ; Die Dissertation beschäftigt sich mit der statistischen und empirischen Analyse der Determinanten langfristiger Wachstumsprozesse. Die anhaltende Armut vieler Staaten in Subsahara-Afrika sowie die rückläufigen Wachstumsraten der reichen Volkswirtschaften seit Beginn des neuen Jahrtausends werfen eine Reihe neuer Fragen auf, die bislang wenig empirisch erforscht sind. Ist die Kultur eines Landes entscheidend für die Entwicklung der Wohlfahrt? Kann ein entwickelter Finanzsektor Wohlstandssteigerungen auslösen, oder ist der starke Zuwachs der Finanzmärkte, der in den Industrienationen beobachtet werden kann, schädlich für die Entwicklung? Warum wachsen reiche Volkswirtschaften heute so viel langsamer als noch vor 20 Jahren? Welchen Einfluss nimmt die zunehmende Einkommensungleichheit auf die wirtschaftliche Entwicklung und welchen Effekt haben staatliche Umverteilungsmaßnahmen? Und schließlich: Führen stärkere politische Rechte und mehr Demokratie zu einer Zunahme der Lebensstandards? Dies sind die zentralen Fragestellungen, denen sich die Kapitel dieser Doktorarbeit widmen. Um die Analyse der empirischen Ursachen der wirtschaftlichen Entwicklung zu erleichtern, leitet die Dissertation überdies ein neues Verfahren zur Lösung von Klassifikationsproblemen in den Sozialwissenschaften ab. Das Verfahren beruht auf mathematischen Algorithmen zur Mustererkennung und des maschinellen Lernens. Dies bietet neue Möglichkeiten für das Konstruieren von Indizes, die zumeist auf arbiträre Annahmen über die zugrundeliegende Aggregationsfunktion zurückgreifen. Das vorgestellte Verfahren löst dieses Problem, in dem die Aggregation durch Support Vector Machines in ein nicht-lineares Optimierungsproblem überführt wird. Nach einem kurzen Überblick über die theoretischen Erklärungsansätze der wirtschaftlichen Entwicklung im ersten Kapitel zeigt das zweite Kapitel, dass kulturelle Unterschieden einen Einfluss auf die ökonomische Entwicklung ausüben. Die Ergebnisse implizieren, dass Länder mit einer geringeren Aversion gegen Risiken höhere Wachstumsraten aufweisen, da in diesen Ländern die Implementierung neuer Technologien schneller voranschreitet. Der Effekt ist allerdings abhängig von den rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen der Länder, vom durchschnittlichen Bildungsniveau sowie vom Entwicklungsstand. In vielen Fällen reichen die Vermögen der Individuen nicht aus, um Investitionen in Bildung, Kapital und neue Technologien zu stemmen. Durch die Bereitstellung von Krediten kann ein entwickelter Finanzsektor diesen Engpass überwinden. Die Untersuchungen des dritten Kapitels zeigen allerdings, dass dieser Mechanismus abhängig ist von den Entwicklungsniveaus der Volkswirtschaften. In armen Ländern führt ein Anstieg des Finanzsektors zu besserer Bildung und höheren Investitionen. Dieser Effekt nimmt jedoch über den Entwicklungsprozess ab, da die Intermediationstätigkeit zunehmend durch spekulative Geschäfte ersetzt wird. Insbesondere in Zeiten mit geringen technologischen Neuerungen wirkt ein wachsender Finanzsektor negativ auf die ökonomische Entwicklung. Aktuell befindet sich die Weltökonomie in einer solchen Phase, was verbunden mit einem multinationalen Rückgang der Wachstumsraten seit Anfang 2015 als "säkulare Stagnation" diskutiert wird. Das vierte Kapitel befasst sich intensiv mit diesem Phänomen und zeigt, dass die gegenwärtigen Wachstumspotenziale neuer Technologien seit Beginn der 2000er Jahre zunehmend auslaufen. Sind die Einkommen ungleich verteilt, so können einige Individuen weniger Investitionen in Bildung und technologische Neuerungen durchführen. Tatsächlich weist das fünfte Kapitel auf einen insgesamt negativen Effekt der Ungleichheit auf das Wachstum hin. Dieser Einfluss ist allerdings abhängig vom Entwicklungsstand der Länder. Während der negative Effekt in armen Volkswirtschaften mit einem geringen Maß an Chancengleichheit stark ausgeprägt ist, verschwindet dieser Einfluss mit zunehmendem Entwicklungsniveau. Entsprechend wirkt direkte staatliche Umverteilung vor allem in unterentwickelten Ländern wachstumsfördernd. In entwickelten Nationen ist hingegen die Schaffung von Chancengleichheit entscheidend. Das sechste Kapitel analysiert den Wachstumseffekt des politischen Umfelds und zeigt, dass die Ambivalenz früherer Studien auf die mangelhafte Abbildung des Demokratiegrades zurückzuführen ist. Zur Lösung dieses Problems wird ein neues Verfahren vorgeschlagen, das auf mathematischen Algorithmen des maschinellen Lernens basiert. Das Verfahren kann in verschiedenen Bereichen der Sozialwissenschaften eingesetzt werden und wird in der Arbeit zur Klassifikation des Demokratiegrades angewandt. Auf Basis verschiedener Länderbeispiele wird deutlich, dass der resultierende SVMDI anderen Indizes in der Modellierung des Demokratiegrades überlegen ist. Die anschließende empirische Analyse betont einen signifikant positiven Effekt des SVMDI auf das Wirtschaftswachstum. ; Why are some nations rich and others poor? What are the sources of long-run economic development and growth? How can living standards be increased? In this book, Klaus Gründler empirically analyses these central economic questions and puts a particular emphasis on the role of technology, inequality, and political institutions. To substantiate his empirical studies, he introduces a new method to compute composite measures and indices that is based on mathematical algorithms from the field of machine learning.
Inhaltsangabe: Das Regime in Nordkorea fällt in der heutigen Zeit besonders durch ein Merkmal auf: Es ist neben Kuba das letzte totalitäre System sozialistischer Prägung. Unwillkürlich fragt man sich, warum sich das Regime in Pjöngjang bis zum heutigen Tag an der Macht halten konnte, zumal große Teile der unterdrückten Bevölkerung unter extrem schlechten Lebensbedingungen ums Überleben kämpfen. Es verwundert, dass die Armut und die anwachsende Unzufriedenheit in der nordkoreanischen Bevölkerung bisher zu keinem politischen Umsturz geführt haben. Diese Tatsache weckt das Interesse dafür, sich eingehender mit dem politischen System Nordkoreas auseinander zu setzen. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit dem politischen System Nordkoreas als einem besonderen politischen Herrschaftssystem. Hans-Joachim Lauth betont, dass der Beschäftigung mit politischen Herrschaftsformen in der Politikwissenschaft ein hoher Stellenwert zukomme. Es liege ihr doch mit dem Topos der Herrschaft eine zentrale Kategorie des Politischen zugrunde. Die Darstellung eines politischen Systems hat nach Wolfgang Rudzio mehr zu umfassen als nur die staatlichen Institutionen, aber weniger als die Gesamtheit der Gesellschaft. Entscheidend ist, dass die Akteure und Rollenzusammenhänge offen gelegt werden, die den politischen Prozess zur Findung der gesamtgesellschaftlich verbindlichen Entscheidung maßgeblich beeinflussen oder gar legitim herbeiführen. Bezüglich einer präsidentiellen Demokratie würde man fragen, welche politischen Kräfte Einfluss auf wichtige Entscheidungen, wie z.B. die Einführung einer neuen Steuer nehmen. Neben den verfassungsmäßig fest verankerten Instanzen wie Präsident und Parlament haben oftmals auch bestimmte Interessenverbände wie Gewerkschaften und/oder Arbeitnehmerverbände einen Einfluss auf wirtschaftspolitische Entscheidungen. Die Besonderheit des politischen Systems Nordkoreas liegt nun in dem Umstand begründet, dass es als ein totalitäres System betrachtet wird. In der Vergleichenden Regierungslehre gilt das System als ein "kommunistisches Einparteiensystem". Da der erste Diktator der Demokratischen Volksrepublik Korea (DVRK), Kim Il-sung, ab 1945 ein totalitäres Regime errichtete, das stalinistisch geprägt ist, bezeichnet Hans Maretzki das politische System der DVRK demonstrativ auch als "kimistisches System". Das Herrschaftssystem von Kim Il-sung wird im Folgenden als das politische System der DVRK betrachtet. Der Hauptteil der Arbeit besteht darin klar aufzuzeigen, wie sich dieses System von seinen Anfängen bis zu seiner heutigen Form entwickelte. Welche prägenden Ereignisse sind im Rückblick bedeutsam für die Entwicklung Nordkoreas hin zu dem totalitären System, als das es heute erscheint? Ist dieses System nach den beiden Totalitarismusforschern Carl Joachim Friedrich und Zbigniew Brzezinski ein wahres totalitäres System? Problemstellung: Das Kapitel 2 dient dazu, in die Thematik des Totalitarismus einzuführen. In den verschiedenen Abschnitten des Kapitels wird ein Totalitarismusbegriff systematisch entwickelt. Als Grundlage wurde dazu das Modell der beiden einschlägig bekannten Totalitarismusforscher Carl Joachim Friedrich und Zbigniew Brzezinski gewählt. Beide gehören zu den meist rezipierten Theoretikern des Totalitarismus. Zu Beginn des 2. Kapitels werden die wichtigsten Fakten hinsichtlich der Geschichte des Begriffs "Totalitarismus" ausgebreitet (s. Abschnitt 2.1). Hiernach werden die elementarsten Thesen der beiden erwähnten Totalitarismustheoretiker über die Thematik "Totalitarismus" systematisch erläutert (s. Abschnitt 2.2). In jeweils eigenen Unterabschnitten werden zentrale Behauptungen über die folgenden Schlüsselaspekte "Ideologie", "Rolle der Partei", "Staatsterror und Monopol der Massenkommunikationsmittel", "Totale Kontrolle über das Militär" und "Zentrale Lenkung der Wirtschaft" dargelegt. Die Thesen zu diesen insgesamt sechs Gesichtspunkten bilden nämlich das Totalitarismuskonzept Friedrichs und Brzezinskis. In Kapitel 3 soll dem Leser besonderes Hintergrundwissen bezüglich der Geschichte und der Kultur (Nord)Koreas vermittelt werden. Zuerst werden besondere geschichtliche Aspekte des Landes aufgegriffen und thematisiert (s. Abschnitt 3.1). Neben wichtigen Passagen der Entstehungsgeschichte Koreas wird ganz besonders auch die Zeit, in der Korea durch Japan besetzt war (Kolonialzeit 1910-1945), angesprochen. Die kollektive Verarbeitung der Erfahrungen der Besatzungszeit prägte die nationale Identität der (Nord)Koreaner nachhaltig und belebte den Patriotismus. Durch ein auf diese Weise gestärktes Nationalgefühl konnte in der DVRK später die stark nationalistische Chuch'e-Philosophie problemloser als Staatsideologie etabliert werden. Die Etablierung dieser Ideologie spielte bei der Entwicklung des politischen Systems eine besondere Rolle. Sie gilt heute als eine wichtige Stütze der Stabilität des gesamten Systems. Nach dem kurzen Blick auf die Geschichte folgt im direkten Anschluss ein Blick auf die Kultur (Nord)Koreas (s. Abschnitt 3.2). Die Ausführungen in diesem Abschnitt sollen auf die traditionellen Werthaltungen der Nordkoreaner beschränkt bleiben. Es wird in diesem Zusammenhang besonders der aus China stammende Neokonfuzianismus zur Erwähnung kommen. Der Einfluss neokonfuzianischer Werte in der (nord)koreanischen Gesellschaft führte u.a. zu einem ausgeprägten Hierarchiedenken in den Köpfen der Menschen. Davon blieb auch die politische Kultur des Landes nicht unberührt. Bei Rüdiger Frank heißt es, dass das politische Bewusstsein der Nordkoreaner "Untertanen-Elemente" aufweise. Darunter versteht man eine bedingungslose Ergebenheit gegenüber den staatlichen Institutionen. Das in der DVRK vorherrschende neokonfuzianische Denken förderte die öffentliche Akzeptanz für den kimistischen Führerstaat und für sein System. Für die Darstellung der Entwicklung des politischen Systems soll später auf einige Erkenntnisse dieses Abschnitts zurückgegriffen werden. Im Kapitel 4 folgt der Hauptteil der Arbeit. Es geht darum, die Entwicklung des politischen Systems der DVRK zu erläutern. Um eine Entwicklung darstellen zu können, muss das System zuvor mit seinen heutigen typischen Erscheinungsmerkmalen inklusive seiner Verfassung und seinem Staatsaufbau vorgestellt werden (s. Abschnitte 4.1.1 und 4.1.2). Nachdem die typischen Erscheinungsmerkmale aufgezeigt wurden, erfolgt die Rekonstruktion der Entwicklung des politischen Systems. Sie ist in zwei Entwicklungsstufen unterteilt. Zum einen wird die Rekonstruktion auf die Gründungszeit der DVRK (1948-1958) bezogen, und zum anderen auf die Zeit (1955-1982) der Etablierung der heutigen Staatsideologie Nordkoreas – die sogenannte Chuch'e-Philosophie. Beide Entwicklungsstufen überschneiden sich zeitlich gesehen um einige Jahre. Hierdurch soll nicht der Eindruck entstehen, die zweite Entwicklungsstufe ginge nicht aus der ersten hervor. Es soll lediglich gezeigt werden, dass es schwierig ist, beide Stufen zeitlich klar voneinander abzugrenzen. Zur ersten Stufe (1948-1958) In der ersten Stufe der Entwicklung soll der politische Aufstieg Kim Il-ungs thematisiert werden. Diese Stufe umfasst den Zeitraum von dem Jahr 1945 an, als Kim vom sowjetischen Militär mit ins Land gebracht wurde, bis zum Jahr 1958, als sich abzeichnete, dass er die alleinige Kontrolle über das Land gewonnen hatte. Der thematische Schwerpunkt des Abschnitts bildet die Person Kim Il-sungs. Seine extrem rücksichtslosen Methoden der Machtaneignung haben dem politischen System Nordkoreas schon bis zum Jahr 1958 einen deutlichen Stempel aufgedrückt. Gegen Ende der ersten Entwicklungsstufe glich das politische System bereits einer autokratischen Alleinherrschaft. Die Darstellung seiner Entwicklung soll daher zu einem beträchtlichen Teil mit dem Prozess der Machtergreifung Kim Il-sungs verknüpft werden (s. Abschnitt 4.2). Hierbei soll auch deutlich zur Erwähnung kommen, dass Kim sich, um in den Genuss der politischen Unterstützung der sowjetischen Besatzer kommen zu können, verpflichten musste, Elemente stalinistischer Herrschaftsmethoden zu übernehmen. Dieser Umstand hatte für die Realisierung von Kims Visionen eines kommunistischen Nordkoreas (und somit auch für die Entwicklung des politischen Systems) klare Konsequenzen. Zur Erläuterung des politischen Aufstiegs Kims sollen deskriptive und analytische Elemente miteinander verknüpft werden. Der Abschnitt soll mit einer Zusammenfassung abgeschlossen werden. Hierin wird besprochen, welche Bedeutung der im Abschnitt 4.2 zur Erwähnung kommende Aufstieg Kim Il-sungs für die Entwicklung des politischen Systems der DVRK bis 1958 hatte. Zur zweiten Stufe (1955-1982) Als zweite Stufe der Entwicklung des politischen Systems soll hier die Phase der Etablierung der Chuch'e-Ideologie als Staatsideologie genauer erläutert werden. Wie bereits erwähnt, wird das heutige politische System Nordkoreas als ein totalitäres System betrachtet. Zur Etablierung einer totalitären Herrschaft spielt bei Friedrich und Brzezinski vor allem die Ideologie eine wichtige Rolle. Das Propagieren und Verbreiten der Staatsideologie gilt als ein typisches Merkmal totalitärer Staaten. Der totalitäre Charakter eines Staates wird besonders daran deutlich, dass die Befolgung der Werte und Normen, welche die Ideologie vorgibt, für alle Bereiche der Gesellschaft beansprucht wird. Bezogen auf Nordkorea lässt sich als Staatsideologie die sogenannte "Chuch'e-Idee" nennen. Sie gilt als eine nordkoreanische Auslegung des Marxismus/Leninismus. Aus dieser Ideologie lassen sich gesicherte Erkenntnisse über die politischen Grundüberzeugungen und Leitideen der politisch Herrschenden gewinnen. Ferner weist sie deutlich darauf hin, wie die "totale" Herrschaft im Lande organisiert und ausgeübt wird. Hervorzuheben ist z.B. der stark ausgeprägte monistische Charakter der Herrschaftsstruktur, was bedeutet, dass keine gegenseitige Kontrolle der einzelnen politisch relevanten Gruppen und Institutionen (Gewaltenteilung) zugelassen ist. Auch auf der Ebene des Individuums hat die auf der Grundlage der Chuch'e-Ideologie ausgeübte Herrschaft massive Auswirkungen. Die Menschen werden meist in ein kollektivistisches System gezwängt. Die für den westlichen Betrachter essentiellen Grundrechte wie Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, freie Entfaltung der Persönlichkeit oder Pressefreiheit werden in Nordkorea gänzlich ignoriert. Um die Entwicklung des politischen Systems in Nordkorea in vollem Umfang erläutern zu können, soll nun besonders ausführlich auf die Zeit der Etablierung der Chuch'e-Philosophie als die zweite Entwicklungsstufe des politischen Systems als Staatsideologie eingegangen werden (s. Abschnitt 4.3). Erst als die Ideologie zu einem Teil der realen Machtgrundlage des Herrschaftssystems geworden war, konnte man das politische System als ein totalitäres betrachten. Bis zum Jahr 1982 entwickelte sich Chuch'e zur Norm und Grundlage der gesamten Gesellschaft. Der Abschnitt 4.3 beginnt mit einem historischen Rückblick auf die Zeit zwischen 1955 und 1965. Die weltpolitischen Ereignisse dieser Jahre führten zu einer ideologischen Abnabelung Nordkoreas von seinen großen sozialistischen "Brüdern", der Sowjetunion und der VR China (s. Abschnitt 4.3.1). Die politischen Eliten der DVRK verfolgten von nun an das Ziel, einen eigenen ideologischen Weg zu beschreiten. Das Bedürfnis nach einer speziell nordkoreanischen ideologischen Ausrichtung der Politik eröffnete für Kim Il-sung die Möglichkeit mit Chuch'e, seine eigene Variante des Marxismus/Leninismus vorzustellen und zu etablieren. Nach diesen kurzen geschichtlichen Ausführungen soll auf die Ideologie selbst eingegangen werden (s. Abschnitt 4.3.2). Hier erfolgt die Darstellung der wichtigsten Kernpunkte der Ideologie. Zudem soll geklärt werden, welche konkreten politischen Forderungen sich von ihr ableiten lassen. Im darauf folgenden Abschnitt geht es um die nationalpolitische Bedeutung der Chuch'e-Ideologie in Nordkorea (s. Abschnitt 4.3.3). Es folgen hier Antworten auf die Frage, warum sich das nordkoreanische Volk verhältnismäßig schnell zu der eigenwillig erscheinenden Idee Kim Il-sungs mit ihren zentralen Forderungen nach nationaler Autarkie und Souveränität bekannte. Auf welche Erwartungen oder Sehnsüchte der Nordkoreaner bezieht sich die Ideologie/Philosophie? Diese Frage soll vor dem Hintergrund bestimmter geschichtlicher Zusammenhänge beantwortet werden. Nachdem die nationalpolitische Bedeutung der Ideologie geklärt wurde, soll erläutert werden, welche Konsequenzen das Regieren auf der Grundlage der Chuch'e-Idee für das Volk hat (s. Abschnitt 4.3.4). Im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen hier die gesellschaftlichen Auswirkungen des vom Staat forcierten Chuch'e-Glaubens. Dem Leser sollen die Hintergründe für typische Erscheinungsmerkmale wie die starke Militarisierung der Gesellschaft oder das stark ausgeprägte kollektive Denken der Menschen näher verdeutlicht werden. Der gesamte Abschnitt 4.3 endet mit einer Zusammenfassung, in der die wichtigsten Aspekte nochmals kurz wiedergegeben werden. Darüber hinaus soll dargelegt werden, welche totalitären Systemmerkmale das politische System der DVRK während der Zeit der zweiten Entwicklungsstufe konkret herausbildete. Nachdem in der Zusammenfassung des 4. Kapitels die wichtigsten totalitären Merkmale des politischen Systems aufgezeigt wurden, sollen diese in Kapitel 5 nochmals genauer reflektiert werden. Die Reflektion in den einzelnen Abschnitten des Kapitels wird von der Frage geleitet, ob das politische System Nordkoreas auch im Sinne Carl Joachim Friedrichs und Zbigniew Brzezinskis als totalitär gelten kann. Das Kapitel dient so gesehen dazu, die in Kapitel 2 über den Totalitarismus aufgestellten Thesen Friedrichs und Brzezinskis auf das politische System Nordkoreas zu beziehen.
1. Einleitung Das Besondere an Wilhelm Heitmeyer ist, dass er uns empirisch erklärt, was wir vorher nur vermutet oder gesagt bekommen haben. Der Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer, Jahrgang 1945, forscht seit Jahrzehnten zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Rechtsextremismus (Universität Bielefeld, o.J.). Bekannt geworden ist er als Gründungsdirektor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld 1996, wo er bis zu seiner altersbedingten Emeritierung als Direktor fungierte. Seine Langzeitstudie "Deutsche Zustände" zu rechtsextremen Einstellungen in der Gesellschaft und zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit machen ihn zu einem der "wichtigsten Rechtsextremismus-Forscher der Bundesrepublik" (Laudenbach, 2023).Im folgenden Beitrag soll es um ausgewählte Arbeiten von Heitmeyer gehen. In seinen jüngeren Veröffentlichungen nimmt er die Mechanismen von Krisen und daraus resultierenden Kontrollverlusten als Treiber von autoritären Versuchungen in den Fokus. In Bezug darauf wird in der vorliegenden Arbeit genauer auf Heitmeyers Beitrag zur Erklärung des Erstarkens des "autoritären Nationalradikalismus" eingegangen. Hierunter fällt die Partei "Alternative für Deutschland (AfD)", die den Kern dieses Politiktypus in Deutschland ausmacht.Heitmeyer stellte um die Jahrtausendwende die These auf, der globalisierte Kapitalismus bringe vielfältige Schieflagen mit sich in Form von Desintegration, Abstiegsängsten und Kontrollverlusten. Damals ahnte er noch nichts von den Krisen, die in den folgenden "entsicherten Jahrzehnten" auf uns zukommen und uns vor erhebliche Herausforderungen stellen würden (Heitmeyer, 2018, S. 89).Die aufgestellte These rund um soziale, politische und ökonomische Strukturentwicklungen wurde mit individuellen und kollektiven Verarbeitungsmustern gekoppelt und 2022 um Krisen der "Post-9/11"-Ära und Kontrollverluste als Krisenfolgen erweitert. Diese wiederum bilden einen Nährboden für autoritäre Versuchungen, für sogenannte rechte Bedrohungsallianzen als politische Folgen autoritärer Entwicklungen.Die Ergebnisse der Langzeitstudie eignen sich, um das Aufkommen und Erstarken einer autoritär nationalradikalen Partei wie der Alternative für Deutschland zu beleuchten. Heitmeyer ist es, der durch seine Sozialstrukturanalyse das vielzitierte Fünftel (19,6%) der Bevölkerung empirisch nachweisen konnte, das der rechtspopulistisch eingestellten Gruppe in der Bevölkerung mit Einstellungen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit zugeordnet werden kann (Schaefer, Mansel & Heitmeyer, 2002, S. 125 f.).Wahlpolitisch blieben diese Teile der Bevölkerung lange unbedeutend. Die Wähler:innen waren meist keiner Partei zugehörig, sie "vagabundierten" zwischen den Parteien von Wahl zu Wahl oder wählten gar nicht; viele harrten in einer "wutgetränkten Apathie". Bis zu dem Jahr, als die AfD auf die politische Oberfläche trat und ab 2015 eine radikale Entwicklung nahm; ein "politisches Ortsangebot" für diese Teile der Bevölkerung ist gefunden (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 113 ff.).Im folgenden wird zuerst eine begriffliche Rahmung des Politiktypus des "autoritären Nationalradikalismus" vorgenommen. Zentrale Schemata der Arbeiten von Wilhelm Heitmeyer sollen beleuchtet werden. Nach diesen Ausführungen wird der Blick auf Krisen und Kontrollverluste und ihre Funktion als Treiber autoritärer Entwicklungen gerichtet. Im letzten Schritt geht es um die Ausprägung des autoritären Nationalradikalismus in Form der AfD.2. Der autoritäre NationalradikalismusUm über Heitmeyers Arbeiten zu schreiben, bedarf es einer Konturierung der von ihm verwendeten Begriffe. Im Folgenden werden die Begriffe des Autoritarismus und der dichotomischen Welt- und Gesellschaftsbilder erklärt, um anschließend den politischen Typus des autoritären Nationalradikalismus von Rechtspopulismus und Rechtsextremismus abzugrenzen und entsprechend zu erläutern. 2.1 AutoritarismusDas Legitimations- und Strukturmuster politischer Macht des Autoritarismus gründet auf einer Beziehung zwischen "Machthaber:innen" in Regierungen, Parteien und anderen Organisationen und "Machtunterworfenen". Unter Machthaber:innen versteht man Amts-, Funktions- und Handlungsträger:innen, während Machtunterworfene Mitglieder, Gefolgsleute oder Anhänger:innen sind (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 31). Abhängig ist diese Beziehung in der sozialen Praxis von der Autorität der Machthabenden und der Reaktion der Unterworfenen.Autorität kann aus Bewunderung, begeisterter Unterstützung, Respekt, Ehrfurcht oder gleichmütiger Duldung aus freien Stücken zugeschrieben werden und gründet in Anerkennung. Jedoch wird Autorität dann autoritär, "[...] wenn Willfährigkeit aufgenötigt, Unterwerfung durch Täuschung bewirkt, Gehorsam durch Drohung oder handgreifliche Gewalt erzwungen wird" (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 32).Eine dominante Rolle spielen Grunderzählungen in der Entwicklung des Autoritären. Hierzu zählen die Bedrohung von Ordnung, die Auflösung von Identitäten, das Zerstören von Hierarchien und Dominanzen, Fantasien vom Untergang des (deutschen) Volkes sowie der Opferstatus aufgrund des Agierens feindlicher Mächte sowohl aus dem Inneren wie von außen (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 35). Diese Kennzeichen der Bedrohung, Auflösung, Zerstörung, des Untergangs etc. haben die Funktion, kollektive Ängste zu schüren. Zugleich sollen so Mobilisierungen in Gang gesetzt und autoritäre Bewegungen und Bestrebungen angetrieben werden (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 35).Frankenberg & Heitmeyer beschreiben die politische Rhetorik des Autoritären als Diskurslogik, die sich vor allem in Wahlpropaganda und programmatischen Erklärungen zeigt. Diese konstruieren manichäische Weltbilder, weisen eine dichotomische Struktur auf und manifestieren sich auf drei Ebenen, wie die folgende Abbildung zeigt. Häufig anzutreffen sind die Gegensätze von Volk vs. Elite, geschlossene vs. offene Gesellschaft, wir vs. die oder Ungleichwertigkeit vs. Gleichwertigkeit. Abbildung 1: Dichotomische Welt- und Gesellschaftsbilder (Quelle: eigene Darstellung nach Heitmeyer, 2018, S. 248)2.2 Dichotomische Welt- und GesellschaftsbilderDiese Gegensätze laufen auf "Entweder-Oder"-Konflikte hinaus, die sich immer aufs "Ganze" beziehen, da es um "Alles" geht (Heitmeyer, 2022 b, S. 275). Der Streitgegenstand wird der Verhandlung oder dem Kompromiss entzogen, ein "Mehr-oder-Weniger" ist nicht möglich. Die von autoritären Bewegungen, Organisationen und Regimen geführten Konflikte zielen demnach nicht auf Verständigung oder Verhandlungen ab. Es geht um "[...] Entscheidungen zugunsten einer rigiden Machtdurchsetzung und Machtsicherung mit möglichst umfassender Verhaltenskontrolle in allen Lebensbereichen der Gesellschaft und den Institutionen des politischen Systems" (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 37).Gesellschaftliche Entwicklungen sind von immer höherer Komplexität und Ambivalenz geprägt. Ebenso nimmt ihre Unübersichtlichkeit zu und sie verändern sich mit zunehmender Geschwindigkeit. In diesem Zuge stehen politische Akteur:innen vor der Herausforderung, ihre Ambitionen und Machtansprüche für die jeweilige Wähler:innenschaft passend aufzubereiten. Hierzu gehört das Anbieten von Welt- und Gesellschaftsbildern, die Unübersichtlichkeit strukturieren, Entschleunigung versprechen und Komplexität reduzieren. Aus diesen Gründen werden von gemäßigten und extremen rechten Bewegungen und Parteien solche Dichotomien verwendet, die das Ordnen der eigenen Gefühlslagen, Erfahrungen und der eigenen Weltsichten erleichtern. 2.3 Populismus und RechtspopulismusPopulismus sieht Heitmeyer als Stil der Mobilisierung, der übergehen kann in eine "machiavellistische Strategie zur Erlangung oder Verteidigung der Macht" und auf marginalisierte Gruppen abzielt. Hinzu kommt häufig eine populistisch etikettierte Rhetorik und schlichte, aber einflussreiche Weltdeutungen, die dazu dienen, Ressentiments zu aktivieren, um eine imaginäre, kollektive Identität zu beschwören. Dies ganz im Sinne eines authentischen Volkes oder "der Nation" gegen Elit:innen, gegen "das System", Minderheiten oder die "Lügenpresse" (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 24).Nach Heitmeyer hat sich eine allgemein akzeptierte Definition von Populismus etabliert, wonach eine Bewegung dann als populistisch charakterisiert werden kann, "[...] wenn ihr die Unterscheidung zwischen dem "wahren" Volk einerseits und den ausbeuterischen, dekadenten, volksverräterischen Eliten andererseits zugrunde liegt" (Heitmeyer, 2018, S. 231). Heitmeyer verwendet mittlerweile meist den Begriff autoritär anstelle von populistisch, im Folgenden wird ebenfalls diese Bezeichnung verwendet.Beim Rechtspopulismus prangert Heitmeyer eine "inflationäre Verwendung" ohne wirkliche Trennschärfe an, der keine einheitliche Definition hat, oftmals jedoch als Form des Autoritarismus mit "dünner Ideologie" und als Vergangenheitsorientierung beschrieben wird (Heitmeyer, 2018, S. 231). Im Allgemeinen bezeichnet er den Rechtspopulismus als eine Ergänzung des populistischen Grundprinzips "Volk gegen Elite" um eine nationalistische Rhetorik (Heitmeyer, 2018, S. 232).Zur These der "dünnen Ideologie" führt Heitmeyer an, dass sich populistische bzw. autoritäre Bestrebungen nicht nur durch ihren Politikstil und einer auf Machterwerb zielenden Strategie auszeichnen, sondern durch ein "Set von Ideen" und einem spezifischen Politik- und Demokratieverständnis, also ein Muster zur Deutung der gesellschaftlichen Wirklichkeit anbieten, das sich nicht nur auf Kritik an Elit:innen und demokratischer Repräsentation beschränkt."Mit der ideologischen Kombination und politischen Handlungsagenda von Antielitismus und Antipluralismus, einer Kultur der unmittelbaren Kommunikation, einem xenophoben Nationalismus und dem Phantasma imaginärer Gemeinschaftlichkeit entfernt sich die Beschreibung des Populismus weit von demokratischen grass roots und nimmt die Deutungsangebote aus dem Lager des Autoritarismus an" (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 25). 2.4 Autoritärer NationalradikalismusDer Einheitsbegriff des Rechtspopulismus als "catch-all-term" wird nach Heitmeyer der sperrigen Realität nicht gerecht und hat viele alternative Benennungen verkümmern lassen. Zudem werden mit Nutzen dieses Begriffes durch Wissenschaft, Politik und Medien Vernebelungstaktiken der politischen Akteur:innen und Bewegungen bedient, da nicht die genauen ideologischen Komponenten ihrer jeweiligen Programme benannt werden. Das Abbilden der vielfältigen Realität muss auch begrifflich differenziert abgebildet werden, was notwendig ist, um "Gegengifte" zu entwickeln. Daher müssen die Begriffe "sperrig und unpoliert" sein (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 105).Der autoritäre Nationalradikalismus bewegt sich zwischen dem Rechtspopulismus und dem gewalttätigen Rechtsextremismus bzw. Neonazismus. Anzumerken ist, dass es sich nicht um eine faschistische Gesinnung handelt, da der italienische Faschismus nicht mit dem Nationalsozialismus identisch ist, in dem der Antisemitismus zentral ist (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 106). Der gewalttätige Rechtsextremismus schreckt viele Wähler:innen oder Sympathisant:innen ab, da er in öffentlichen Räumen situativen Schrecken verbreiten will.Im Gegensatz dazu weist der Rechtspopulismus eine "flache" Ideologie auf und ist mit der dramatisierten Konfliktlinie Volk vs. Elite auf kurzzeitige Erregungszustände ausgerichtet, die über klassische Massenmedien und die sozialen Medien verbreitet werden sollen, wie Abbildung 2 anschaulich darstellt (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 106). Der autoritäre Nationalradikalismus hingegen zielt auf die destabilisierende Veränderung gesellschaftlicher und politischer Institutionen. Zudem bedient er sich dichotomischer Welt- und Gesellschaftsbilder, um destabilisierende Veränderungen erreichen zu können. Abbildung 2: Die Erfolgsspur des autoritären Nationalradikalismus (Quelle: eigene Darstellung nach Heitmeyer, 2018, S. 236; Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 107)Drei markante Charakteristika des autoritären Nationalradikalismus werden in der Sozialforschung hervorgehoben. Diese werden im folgenden erklärt und in Kapitel 6 auf die AfD bezogen:Das Autoritäre zeigt sich in der Betonung einer hierarchischen sozialen Ordnung, in Forderungen nach rigider Führung politischer Institutionen und in einem fundamentalistischen Verständnis des Agierens und Opponierens auf politischer Ebene ohne Kompromisse. Politik und Gesellschaft sollen also entsprechend einem Kontrollparadigma organisiert werden. Dichotomische Gesellschaftsbilder sind maßgebend und operieren als Grundlage für kämpferisch initiierte "Entweder-oder-Konflikte" (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 105).Die Betonung der besonderen Stellung des deutschen Volkes bildet das Nationale des autoritären Nationalradikalismus. Formulierungen und Parolen wie "Deutschland den Deutschen" oder "Deutschland zuerst" unterstreichen eine Überlegenheit gegenüber anderen Völkern, Nationen, ethnischen und religiösen Gruppen und eine neue, "deutsche" Vergangenheitsdeutung wird reklamiert (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 105 f.).Das Radikale, vom ursprünglichen Wortsinn aus dem Lateinischen (radix = Wurzel) her bestimmt, richtet sich gegen die offene Gesellschaft und die liberale Demokratie, die trotz zahlreicher kritikwürdiger Defekte erst durch jahrzehntelange Entwicklungen und Freiheitskämpfe ermöglicht wurden. Ein rabiater und emotionalisierter Mobilisierungsstil wird dazu angewendet, der sich vor allem durch menschenfeindliche Grenzüberschreitungen auszeichnet (vgl. Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 106).Weiterhin ist auf acht Elemente hinzuweisen, die zum Instrumentarium des organisierten autoritären Nationalradikalismus zählen:""Deutsch-Sein" als Schlüsselkategorie und sicherheitsspendender Identitätsanker;Propagandierung dichotomer Weltbilder;Kontrollparadigma als Versprechen einer autoritären sozialen Ordnung;Emotionalisierung gesellschaftlicher Probleme als Kontrollverluste;eskalativer Mobilisierungsstil zur Wiederherstellung von Kontrolle;Forcierung sozialer Vergleichsprozesse zwecks Radikalisierung;Ausnutzen der "Gewaltmembran", um mit bestimmten Begriffen andernorts Gewalt freizusetzen und Legitimationen zu liefern;Konstruktion einer "Opferrolle", um Sympathisanten an sich zu binden und ein Recht auf "Notwehr" zu etablieren" (Heitmeyer, 2018, S. 213-276; Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 111).Diese Elemente sind deshalb wichtig zu nennen, da sie als Grundlage für drei wichtige Ziele dienen, die autoritär nationalradikale Parteien verfolgen:Das Besetzen vakanter politischer Themenräume, die von etablierten Parteien in der Vergangenheit übersehen wurden,das Verschieben des Sagbaren, wobei Heitmeyer auf die Theorie des "Overton-Windows" hinweist, sowie drittensdie Normalisierung von Positionen und dadurch die Schaffung neuer Normalitätsstandards (vgl. Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 111 f.).Der autoritäre Nationalradikalismus wird ab Kapitel 5 ausführlich in Bezug auf die Partei "Alternative für Deutschland" dargestellt, die den Kern des autoritären Nationalradikalismus in Deutschland bildet. 2.5 Rechtsautoritär und rechtsextremDen Bezug von Autoritärem zu Rechtsautoritärem und Rechtsextremem begründen Frankenberg & Heitmeyer damit, dass "für die Übersetzung des Autoritären in die aktuellen gesellschaftlichen und politischen Zustände und Entwicklung [...] eine Fokussierung auf das rechtsautoritäre und rechtsextreme Spektrum angebracht" ist (2022, S. 40).In Ermangelung einer umfassenden Definition von Rechtsextremismus, die die Dimension der Gewalt beinhaltet, hat Heitmeyer ein eigenes Konzept vorgelegt (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 40). Dieses akzentuiert die "Kernverbindung" von Ideologie der Ungleichheit und Gewaltakzeptanz. Die Ideologie der Ungleichheit enthält zwei zentrale Dimensionen, wobei die erste gruppenbezogen auf Ungleichwertigkeit ausgerichtet ist und sich später als "gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" ausgeprägt hat:"Sie zeigt sich in Facetten wie nationalistische bzw. völkische Selbstübersteigerung; rassistische Einordnung; soziobiologische Behauptung von natürlichen Hierarchien; sozialdarwinistische Betonung des Rechts des Stärkeren; totalitäre Normverständnisse im Hinblick auf Abwertung des "Anders-Sein" und die Betonung von kultureller Homogenität gegen Heterogenität" (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 40 f.).Diese erste Dimension lässt sich als Vorlage für die späteren Studien "Deutsche Zustände" von Wilhelm Heitmeyer verstehen. Die zweite Dimension der Ideologie der Ungleichheit hat sich als lebenslagenbezogen erwiesen und verweist auf Ausgrenzungsforderungen in Form von kultureller, politischer, rechtlicher, ökonomischer sowie sozialer Ungleichbehandlung von Fremden bzw. "Anderen".Die Gewaltakzeptanz haben Frankenberg & Heitmeyer in vier ansteigend eskalierende "Varianten der Überzeugung unabänderlicher Existenz von Gewalt" kategorisiert, hinter denen die Grundannahme steht, dass Gewalt als "normale Aktionsform zur Regelung von Konflikten" und demnach als legitim angesehen würde (2022, S. 41). Insofern überrascht die Tatsache nicht, dass etwa rationale Diskurse oder demokratische Regelungsformen von sozialen und politischen Konflikten abgelehnt und autoritäre oder gar militaristische Umgangsformen und Stile betont werden (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 41).Die politikwissenschaftliche Forschung zum Rechtsextremismus sieht Heitmeyer fixiert auf politische Symbole, historisch-politische Bezugnahmen, Parteiprogramme und Wahlerfolge. Jedoch reicht dieser Fokus nicht aus, um den Aufschwung rechter und rechtsextremer Kräfte in der Gesellschaft zu erklären – weshalb der "[..] Blick auf die Zusammenhänge zwischen ökonomischen, sozialen und politischen Strukturentwicklungen, den individuellen und kollektiven Verarbeitungen und den politischen Handlungskonsequenzen, wenn ein entsprechendes Handlungsangebot vorhanden ist", geweitet werden muss (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 41).Dies beschreibt das "Analyseschema" (siehe Abbildung 5) im folgenden Kapitel. Fürderhin sollen nicht einzelne Aspekte oder Ereignisse parzelliert betrachtet werden, sondern mittels des "konzentrischen Eskalationskontinuums" die "rechten Bedrohungsallianzen", die bis in die Mitte der Gesellschaft hineinreichen, sichtbar werden. Hierzu hat Heitmeyer 2018 ein weiteres Untersuchungsmodell entwickelt (siehe Abbildung 3). Die beiden Schemata werden folgend beschrieben. Vorangestellt finden sich die zentralen Ausgangspunkte und Thesen von Wilhelm Heitmeyer, auf denen die Schemata beruhen. 3. Heitmeyers Arbeiten: Zentrale Thesen und SchemataWilhelm Heitmeyers Studien knüpften ursprünglich an die mittlerweile vielzitierte Prognose Ralf Dahrendorfs aus 1997 an, dass wir uns "an der Schwelle zum autoritären Jahrhundert" befinden würden, da vieles auf solch eine Entwicklung hindeuten würde (Dahrendorf, 1997; Heitmeyer, 2022 b, S. 256). Dahrendorf wies vor über 25 Jahren auf das verhängnisvolle Zusammenwirken von Ökonomie, politischer Partizipation und sozialer Integration bzw. Desintegration hin und deutete dieses Spannungsverhältnis als eine "Quadratur des Kreises". Heitmeyer fragt in diesem Zusammenhang, "zu wessen Lasten diese Spannungen gehen würden" und "[...] wie sich unter dem Druck der kapitalistischen Kontrollgewinne die individuellen, kollektiven und institutionellen Kontrollverluste auswirken würden" (Heitmeyer, 2022 b, S. 256).Insbesondere die Langzeitstudie "Deutsche Zustände" zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit hat ergiebiges Daten- und Analysematerial erbracht, welches Heitmeyer in seinen Arbeiten verwendet (Heitmeyer, 2018, S. 28). Das Projekt mit seinen jährlichen repräsentativen Bevölkerungsbefragungen dient dazu, Langzeitverläufe sichtbar zu machen und eignet sich, um das Aufkommen und Erstarken der autoritär nationalradikalen AfD zu beleuchten.Heitmeyer konnte mit Hilfe der Resultate empirisch Zusammenhänge in zwei Richtungen nachweisen: "für die Unterstützung autoritärer Bewegungen sowie Parteien und gegen verschiedene Gruppen in der Gesellschaft (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 55). Je deutlicher man autoritäre Überzeugungen vertritt, desto eher stimme man fremdenfeindlichen und rassistischen Äußerungen zu, abgeschwächt auch Äußerungen zu Antisemitismus, Heterophobie und klassischem Sexismus sowie der These von Etabliertenvorrechten, also sozialer Dominanz in einem Hierarchiengefüge.So kam Heitmeyer auf das oben erwähnte und seither vielzitierte Fünftel der Bevölkerung (19,6%), das Einstellungen zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit hegt und als "Machtmaterial" für autoritäre Bewegungen, Parteien und Regime zur Etablierung und Sicherung von autoritären gesellschaftlichen und politischen Machtstrukturen dienen kann (Schaefer, Mansel & Heitmeyer, 2002, S. 125 f.; Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 56). 2001 formulierte Wilhelm Heitmeyer seinen Ausgangspunkt wie folgt:"Die zu verfolgende These geht davon aus, daß [sic] sich ein autoritärer Kapitalismus herausbildet, der vielfältige Kontrollverluste erzeugt, die auch zu Demokratieentleerungen beitragen, so daß neue autoritäre Versuchungen durch staatliche Kontroll- und Repressionspolitik wie auch rabiater Rechtspopulismus befördert werden" (Heitmeyer, 2001, S. 500).Der sogenannte "autoritäre Kapitalismus" entstand durch eine neoliberale Politik rund um die Jahrtausendwende. Weitreichende ökonomische Kontrollgewinne in einerseits gesellschaftlichen Lebensbereichen über soziale Standards von Verdiensten und soziale Absicherung sowie andererseits über Standortentscheidungen waren zu verzeichnen, ergo übergriffig eindringende Prozesse, sodass nun mehr ökonomische Dominanz als Quelle für Kontrolllosigkeit sowie für Anomie gilt.Diese weitreichenden Kontrollgewinne des Kapitals wurden begleitet von ebenso weitreichenden politischen Kontrollverlusten nationalstaatlicher Politik, verbunden mit sozialen Desintegrationsprozessen von Teilen der Bevölkerung. Diese Auswirkungen blieben auf politischer Ebene allerdings solange wahlpolitisch folgenlos, bis ein entsprechendes politisches Angebot auf den Plan trat. In Deutschland erschien dieses Angebot in Form des autoritären Nationalradikalismus der AfD, besonders anschaulich im Jahr 2015 durch die politisch-kulturelle Krise der Flüchtlingsbewegungen und die Spaltung der AfD auf Bundesebene (Heitmeyer, 2022 a, S. 301; Heitmeyer, 2022 b, S. 261).2018 schreibt Heitmeyer, dass sich dies tatsächlich so ereignet hat und sich empirisch nachweisen lässt: "Ein zunehmend autoritärer Kapitalismus verstärkt soziale Desintegrationsprozesse in westlichen Gesellschaften, erzeugt zerstörerischen Druck auf liberale Demokratien und befördert autoritäre Bewegungen, Parteien und Regime" (Heitmeyer, 2018, S. 23). Nachfolgend werden das Modell des konzentrischen Eskalationskontinuums und das Untersuchungsschema beschrieben. 3.1 Konzentrisches EskalationskontinuumMit dem Schema des konzentrischen Eskalationskontinuums soll dargestellt werden, wie autoritäre Eliten auf Legitimation und Partizipation – unter anderem durch die Bürger:innen - angewiesen sind, zumindest so lange, wie sie ein "formales Demokratiesystem westlicher Prägung" aufrecht erhalten wollen oder auch durch soziale, politische und ökonomische Gegenkräfte dazu genötigt werden.Heitmeyer rückt somit die "[...] Entstehung von Eskalationsdynamiken ins Blickfeld, mit denen die zustimmende oder schweigend duldende Beteiligung von erheblichen Teilen der Bevölkerung zu erfassen ist" (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 43). Das konzentrische Eskalationskontinuum dient dazu, die Wucht rechter Bedrohungsallianzen herauszukristallisieren und soll helfen, Gewalt, Gewaltstadien und deren Ursachen besser verstehen zu können.Betrachtet werden Einstellungen und Verhaltensweisen einzelner unverbunden nebeneinander lebender Personen sowie formelle Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Vereinigungen. Dem Eskalationsmodell zugrunde liegt das Milieukonzept. Heute sind nicht mehr zwingend physische Kontakte notwendig, da Milieubildung auch im virtuellen Raum stattfindet. Heitmeyer weist darauf hin, dass in diesem Zusammenhang durch ein entstehendes "Wir"-Gefühl gleichzeitig eine abwertende, diskriminierende und ausgrenzende "Die"-Kategorie mitgeliefert wird.Das Schema stellt im "Zwiebelmodell" fünf Stufen dar, die als Einstellungsmuster der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in Teilen der Bevölkerung zu verstehen sind, die wiederum autoritären Versuchungen nachgeben und somit den Autoritären Nationalradikalismus der AfD in Deutschland, aber auch Fidesz in Ungarn oder der FPÖ in Österreich begünstigen (Heitmeyer, 2022, S. 43). Die jeweiligen eskalierenden Akteur:innengruppen in den Schalen des Modells werden kleiner, während die Gewaltorientierung im Inneren des Modells zunimmt.Als Kernmechanismus und verbindendes Element der Schalen zueinander werden die verschiedenen Legitimationsbrücken genannt. Fürderhin darf nicht unerwähnt bleiben, dass die Ideologie der Ungleichwertigkeit der kleinste gemeinsame Nenner aller Schichten des Eskalationskontinuums ist. Sie dient als Legitimationsfundus für personen- wie gruppenbezogene Diskriminierung, Ausgrenzung und Gewalt (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 20). Abbildung 3: Konzentrisches Eskalationskontinuum (Quelle: eigene Darstellung nach Heitmeyer, 2018, S. 356; Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 59) Nachfolgend werden die Schichten im Spektrum von rechtem Denken bis zum terroristischen Handeln kurz erläutert: Die äußerste Schicht repräsentiert die gesamte Bevölkerung, in der in unterschiedlichem Ausmaß Einstellungen vertreten werden, je nach gesellschaftlicher Debatte, die der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit zugeordnet werden können. Diese Einstellungen in der Bevölkerung stellen individuelle Positionierungen dar, die parteipolitisch gebunden, "freischwebend" sein oder auch zwischen Parteien "vagabundieren" können. Diejenigen Teile der Bevölkerung mit menschenfeindlichen Einstellungen sympathisieren zwar maßgeblich mit der AfD, sind an sie jedoch nicht zwangsläufig gebunden und können auch andere Parteien präferieren und wählen (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 60).Das Milieu des autoritären Nationalradikalismus, insbesondere der AfD, das an diese erste Schicht anschließt, präsentiert und propagiert entsprechende Ausgrenzungsstrategien und konstruierte Feindbilder. Die AfD "saugt" die jeweiligen individuellen Einstellungen in der Bevölkerung auf und verdichtet sie zu kollektiven Aussagen, die sie dann wiederum auf die politische Agenda setzt. Sie konzentriert also potenzielle menschenfeindliche Einstellungen in der Bevölkerung, die bereits im Vorfeld durch andere Bewegungen, wie beispielsweise Pegida, verdichtet wurden und bildet für sie den parlamentarischen Arm.Ein weiteres Kennzeichen dieses Milieus ist eine gewisse ideologische Heterogenität, da die Einstellungen von "[...] rechtskonservativen bis hin zu "Übergangspositionen" in das systemfeindliche Milieu des völkischen "Flügels" der AfD" reichen" (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 62). Zudem bemüht sich die AfD um den Anstrich einer "bürgerlichen" Partei, um anschlussfähig an die Mitte der Gesellschaft zu sein.Im systemfeindlichen Milieu ist man parteipolitisch eindeutig im rechtsextremen Milieu verortet, Bezug genommen wird etwa auf die NPD, was auch für die extremistisch-modernistische Identitäre Bewegung gilt. Gemeint sind also rechtsextremistische Bewegungen und neonazistische Kameradschaften, die sich an einschlägigen historischen Vorbildern orientieren. Die gemeinsame Grundlage stellt die Ideologie der Ungleichwertigkeit dar. In diesem Milieu sind bereits Gewaltattitüden verbreitet, Gewalt wird akzeptiert und zur Ausübung ist man situativ bereit (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 62). Jedoch lässt man sich in Form von Parteien durchaus darauf ein, vorübergehend am demokratischen System teilzunehmen.An staatliche Vorgaben passt man sich nur aus strategischen Überlegungen an, indem beispielsweise Demonstrationen angemeldet werden; zugleich ist "Systemüberwindung" das zentrale Ziel: "In der "Parteifantasie" arbeitet man auf den "Volksaufstand" hin, mit dem die Vergangenheit wiederhergestellt werden soll. Es ist ein offener und weitgehend öffentlicher Kampf gegen das verhasste System" (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 64).Diese wenn auch nur vorübergehende Teilnahme am demokratischen System gilt als wesentlicher Unterschied zur vorletzten Schicht, dem klandestinen terroristischen Planungs- und Unterstützungsmilieu. Es schließt jegliche Teilnahme am demokratischen System aus und fasst jede partielle und temporäre Teilnahme als Verrat an der Bewegung auf (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 64). Dieses Milieu gilt als noch radikaler und agiert im Geheimen, oft mit eindeutiger Gewaltoption oder Gewalttätigkeit. Ziel ist der "Umsturz", wenn nötig mit Waffengewalt, weshalb dieser verdeckte Kampf auch aus dem Untergrund unterstützt wird – hier weist Heitmeyer auf die hohe Zahl untergetauchter rechtsextremistischer Straftäter:innen als aufschlussreiches Indiz hin (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 64).Den Kern der "Zwiebel" stellen terroristische Zellen oder Einzeltäter:innen dar. Den Unterschied zur vorherigen Eskalationsstufe stellt das alleinige Merkmal des "Grad(s) der Klandestinität und Vernichtungsrealisierung" dar: "Die einen führen zum Schein noch ein "normales" Alltagsleben, die anderen eine Existenz im Untergrund. Sie beschaffen Waffen, erstellen Todeslisten und bereiten sich auf den Tag X vor. Die einen planen die Vernichtungstaten, die anderen setzen sie um" (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 64).Die fünf Schichten des konzentrischen Eskalationskontinuums werden durch sogenannte "Legitimationsbrücken" zusammengehalten. Diese können dann entstehen, wenn es für gesellschaftliche Entwicklungen keine Lösungen zu geben scheint. Die Entwicklungen werden als Bedrohungen empfunden, für die die "Anderen", beispielsweise Geflüchtete oder Menschen mit anderen Lebensstilen, oder "die da oben", ergo der Staat als Ganzes, demokratische Institutionen oder demokratisch gewählte Entscheidungsträger:innen, verantwortlich gemacht werden. Diese kollektiven Schuldzuweisungen aus Teilen der Bevölkerung können sich dann in gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit übersetzen.Zum anderen können sich die Legitimationen aus Verschwörungsideologien, aus Anleihen bei gesellschaftlichen Ordnungen oder historischen ideologischen Konzepten, wie dem Regime des Nationalsozialismus, dessen Ordnung wiederhergestellt werden soll, ergeben. Diese beispielhaft aufgezeigten Legitimationsquellen werden dann im Eskalationskontinuum von den äußeren Schichten weiter nach innen "transportiert (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 65). Heitmeyer hat vier solcher Legitimationsbrücken jeweils zwischen den Stufen bestimmt, wie die folgende Abbildung zeigt:Abbildung 4: Legitimationsbrücken im Eskalationskontinuum (Quelle: eigene Darstellung nach Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 67)1. Das Einstellungsmuster gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in Teilen der Bevölkerung stellt den Ausgangspunkt dar. Es dient dem autoritären Nationalradikalismus der AfD als Legitimation, entsprechende Feindbilder aufzubauen und zuzuspitzen. Wichtig anzumerken ist, dass auch Menschen mit diesen Einstellungen, die nicht die AfD wählen oder mit ihr sympathisieren, zu diesem Legitimationsfundus beitragen. Sie bestimmen das gesellschaftliche Klima mit, aus dem die AfD ihre politische Legitimation "saugt" (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 66 f.).2. Führende Vertreter:innen des autoritären Nationalradikalismus der AfD machen von einer "Gewaltmembran" Gebrauch, was bedeutet, dass eine aggressive Rhetorik die trennende Membran zur nächsten Stufe in gewissen Fällen durchdringen kann und den Weg freilegt für autoritär nationalradikale Bewegungen mit weiteren Aufheizungen – psychische Gewaltandrohungen können von gewalttätigen Akteur:innen in physische Gewalt umgesetzt werden, "[...] ohne dass diese Gewalt den sprachlichen Urhebern und Legitimationsbeschaffern direkt zuzurechnen wäre" (Heitmeyer, 2018, S. 271). Durch diese Gewaltmembran werden dem systemfeindlichen Milieu Motive für entsprechende Gewalt geliefert. Zur aggressiven Rhetorik zählen beispielsweise Erzählungen von einem "Bevölkerungsaustausch", Parolen wie "Corona-Diktatur" oder das Beschwören von Untergangsszenarien von Führungskräften der AfD. Auch das Propagieren einer Reinterpretation der deutschen Geschichte insbesondere seitens des völkischen "Flügels" der AfD durch Begriffe wie "Umvolkung" bringt die Gewaltmembran zum Schwingen. Diese Rhetoriken und Untergangsfantasien erzeugen Handlungsdruck (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 67 f.).3. Das systemfeindliche Milieu ist geprägt von verschiedenen Akteur:innen, die sich auf der Schwelle zur Legitimation offener Gewalt gegen Vertreter:innen des Staates und gegen Minderheiten bewegen. Heitmeyer führt als Beispiel die Partei "Die Rechte" an, die den klandestinen terroristischen Planungsmilieus Motivation und Legitimation liefert (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 68).4. Im letzten Schritt stehen die klandestinen Planungsmilieus. Diese errichten im Gegensatz zu den vorherigen Eskalationsstufen keine zusätzlichen ideologischen Legitimationsbrücken. Ihr Ziel sind die "Brücken zur Tat" und das Abschirmen terroristischer Akteur:innen gegen staatliche Verfolgung (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 68).Hieraus resultiert die Schlussfolgerung, dass über verschiedene, eskalierende Stufen jene Teile der Bevölkerung, die explizite autoritäre Einstellungen oder Einstellungen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit aufweisen, an politischer Gewalt beteiligt sind; nicht zwangsläufig als Täter:innen im juristischen Sinne, aber als Gehilf:innen und Legitimationshelfer:innen, wie das konzentrische Eskalationskontinuum anschaulich darstellt (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 43). Das Modell des konzentrischen Eskalationskontinuums wird in Kapitel 6 in Bezug auf das Auftreten der AfD näher erläutert und an Beispielen untersucht.3.2 Analyseschema2018 hat Heitmeyer ein weiteres Analyseschema eingeführt. Ausgangspunkt für dieses soziologische Analysekonzept ist die Thematik, dass allein das Vorhandensein von autoritären Versuchungen in Teilen der Bevölkerung nicht ausreicht, um die entsprechenden Inhalte dann auch umgesetzt zu sehen. Hierzu ist es notwendig, dass diese Einstellungen in der Bevölkerung zusammen mit autoritären politischen Angeboten wirken. Insofern, formuliert Heitmeyer, "[...] wäre es zu kurz gegriffen, die Entstehung von autoritären Versuchungen nur aus Fehlentwicklungen des politischen Systems erklären zu wollen" (2018, S. 21).Die erste Ebene des Analyseschemas bildet Interdependenzen zwischen dem ökonomischen, sozialen und politischen Bereich ab. Diese sind als strukturelle Entwicklungen gekennzeichnet. Die unter "individuelle Verarbeitung" genannten Punkte sind von großer Bedeutung. Zentral ist hier, wie diese Erfahrungen bzw. Wahrnehmungen der ersten Ebene seitens der Bevölkerung subjektiv und individuell verarbeitet werden. Die individuellen Verarbeitungsmechanismen werden nach der Konzeption von Heitmeyer durch die "gesellschaftliche Integrations- und Desintegrationsdynamik" geprägt. Hierfür sind die folgenden Faktoren und Fragen von besonderer Bedeutung:"Sicherheit oder Unsicherheit der materiellen Reproduktion, der Anerkennung, des Statusaufstiegs, der Statussicherung bzw. des Statusabstieges, und ein Gefühl der Kontrolle über die eigene Biografie.Wird die eigene Stimme bzw. die Stimme der sozialen, ethnischen oder religiösen Gruppe, der Personen sich zugehörig fühlen, von den Regierenden wahrgenommen oder vielmehr ignoriert?Verlässlichkeit oder Erosion sozialer Beziehungen und Anerkennung der eigenen Identität bzw. der Identität der eigenen Gruppe durch Dritte, um emotionale Zugehörigkeit zu sichern" (Heitmeyer, 2018, S. 22).Zentral in Heitmeyers Analyse sind der Kontrollverluste und die Defizite in der Wahrnehmung sowie der subjektive Begriff der Anerkennung. Diese Verarbeitungen haben Auswirkungen auf die Integrations- und Desintegrationsprozesse bzw. auf Anerkennungsverhältnisse, aus welchen im letzten Schritt politische Konsequenzen, also politische Handlungsfolgen, resultieren.Essenziell ist an dieser Stelle die Tatsache, dass die individuellen Verarbeitungen auch als Grund dafür angeführt werden können, weshalb nicht alle Teile der Bevölkerung, die unter einer Art von Desintegrationsdynamik leiden, zwangsläufig für autoritäre Versuchungen anfällig sind und sich wahlpolitisch entsprechend verhalten. Von einer Krisenfolge betroffen zu sein, hat also nicht zwangsläufig das Annehmen eines autoritär nationalradikalen Angebots zur Folge (Heitmeyer, 2022 b, S. 269).Auch die autoritären Bewegungen, Parteien und Regime weisen autoritäre Versuchungen auf, die zu entsprechenden Einstellungen und Entscheidungen führen, die das gesellschaftliche Zusammenleben beeinflussen, da sie Bezug auf die ökonomischen, sozialen und politischen Systeme nehmen (Heitmeyer, 2018, S. 21 f.). Dieses Schema wurde von Heitmeyer mit diversen theoretischen Ansätzen angelegt und ausgefüllt mit empirischen Daten (Heitmeyer, 2022 b, S. 252).Das Theoriegeflecht aus mehreren sich ergänzenden disziplinären Zugängen besteht aus der Theorie Sozialer Desintegration von Anhut & Heitmeyer, der Konflikttheorie von Hirschman, der Theorie kapitalistischer Landnahme von Dörre, der Anomietheorie von Thome und dem kontrolltheoretischen Ansatz aus der Sozialpsychologie von Frey & Jonas. Die für das Analysekonzept wichtigsten Charakteristiken dieser Theorien werden in Heitmeyer 2018 und 2022 b ausführlich erklärt. Die genauere Betrachtung dieser Theorien würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen, weshalb darauf an dieser Stelle verzichtet wird.Abbildung 5: Analyseschema (Quelle: eigene Darstellung nach Heitmeyer, 2018, S. 21)Erfolge rechter Parteien und Bewegungen wären demnach nicht möglich gewesen ohne bestimmte Entwicklungen im sozialen System der Gesellschaft, im politischen System der Demokratie und im ökonomischen System des globalisierten Kapitalismus (Heitmeyer, 2018, S. 16). Durch das vorliegende Analyseschema soll verdeutlicht werden, wie autoritärer Kapitalismus in Zusammenwirken mit sozialen Desintegrationsprozessen und politischer Demokratieentleerung als "Ursachenmuster für die Realisierung autoritärer Sehnsüchte" fungiert (Heitmeyer, 2018, S. 16 f.).Demokratieentleerung meint, dass ein Teil der Bevölkerung das Gefühl hat, nicht mehr wahrgenommen zu werden und gleichzeitig das Vertrauen schwindet, dass die herrschende Politik bzw. die Regierung willens und fähig ist, soziale Ungleichheit zu bekämpfen. Dies mündet bei Teilen der Bevölkerung in ein Gefühl, Bürger:innen zweiter Klasse zu sein (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 48). Heitmeyer hat 2022 das Analyseschema ergänzt; die Komponenten Krisen und Kontrollverluste wurden entsprechend ausdifferenziert (siehe Abbildung 6). Im Folgenden werden Krisen und Kontrollverluste als besondere Treiber autoritärer Entwicklungen und die dahingehende Erweiterung des Analyseschemas beleuchtet.4. Krisen und Kontrollverluste als Treiber autoritärer EntwicklungenEine Krise wird von Frankenberg & Heitmeyer durch drei Charakteristika definiert. Die bisherigen sozialen, ökonomischen und politischen Routinen zur Bewältigung von Ereignissen greifen nicht mehr und die bis dato vorhandenen Wissensbestände zur Problemlösung reichen nicht aus. Zusätzlich sind die Zustände, wie sie vor diesen Ereignissen herrschten, nicht wieder herstellbar. Darüber hinaus konkurrieren in solch krisenhaften Situationen verschiedene Möglichkeiten zu ihrer Bewältigung, was wiederum anomische Verhaltensunsicherheiten erzeugt (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 45).Die Kombination der drei Kriterien legt nahe, dass "Situationen mit notstandsähnlichem Zuschnitt" mit der Erfahrung von Kontrollverlusten verflochten sind (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 45; Heitmeyer, 2023, S. 253). Insofern verwundert die Tatsache nicht, wenn die These vertreten wird, dass krisenhaft zugespitzte Entwicklungen und Ereignisse nicht allein, jedoch in besonderem Maße als Treiber und Pfade des Autoritären sowie rechtsextremer Aktivitäten zählen (Heitmeyer, 2022 b, S. 251).Von autoritären Regimen wird in Krisen oder notstandsähnlichen Situationen erwartet, dass sie Sicherheit und die Wiedergewinnung der Kontrolle gewährleisten können (2022, S. 44 f.). Zudem werden die Ereignisse von der Bevölkerung individuell je nach Betroffenheit und auch Resilienz unterschiedlich bearbeitet. Diese Verarbeitung wiederum wird unterschiedlich intensiv und nachhaltig in individuelle Befürchtungen sowie kollektive Ängste übertragen. Somit dienen sie dazu, Vorstellungen von Entsicherungen und Kontrollverlusten zu erzeugen, die sich identifizieren lassen als Treiber autoritärer Bestrebungen (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 45 f.).Eine weitere wichtige Unterscheidung in der Konzeption von Krise ist die Unterteilung in zwei Typen von Krise. Der erste Typus, sektorale Krisen, erfasst unterschiedliche Lebensbereiche und Funktionssysteme einer Gesellschaft schlagartig und mit massiven "Funktionsstörungen". Dazu gehören ein zeitlich entzerrtes Auftreten sowie die Lokalisierung in unterschiedlichen Teilbereichen der Gesellschaft. Zudem gab es verschiedene Instrumente, um diese Funktionsstörungen einzudämmen und gravierendere Auswirkungen zu verhindern.In der "Post-9/11"-Ära, in den sogenannten "entsicherten Jahrzehnten" seit Beginn des 21. Jahrhunderts, werden nach Heitmeyer vor allem drei – mit 9/11 als religiös-politische Krise vier - verschärfte Gefahrenlagen als sektorale Krisen identifiziert. Dazu zählt ab 2005 die Einführung von Hartz IV als eine sektorale, soziale Krise für gewisse Teile der Bevölkerung, die mit Statusängsten oder auch mit sozialem Abstieg konfrontiert waren. Weiter ist ab 2008/2009 die weltweite Banken- und Finanzkrise zu nennen, die die "systemrelevante" Finanzökonomie ins Wanken brachte mit Ausstrahlungseffekten auf das Gesamtsystem als ökonomisch-politische Krise. Fürderhin wird die sogenannte "Flüchtlingskrise" 2015/2016 als sozial-kulturelle bzw. kulturell-politische Krise angesehen, die das politisch-administrative System prägte (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 46; Heitmeyer, 2022 b, S. 255).Der zweite Typus bezieht sich auf systemische Krisen. Sie erfassen das gesamte Gesellschaftssystem in sich zuspitzenden Gefahrenlagen. Als langsame bzw. schleichende systemische Krise kann die Klimakrise angesehen werden, als "schnelle" systemische Krise die COVID-19 Pandemie. Hier werden die Potenziale für autoritäre Entwicklungen besonders offen sichtbar, da zahlreiche "Einhegungsinstrumente" nicht greifen, wodurch politische, individuell-biografische und kollektive Kontrollverluste auftreten, die politisch instrumentalisiert und mit Verschwörungstheorien und Wahnvorstellungen verbunden werden können (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 46 f.). Krisen lösen je nach Gefahrenlage individuelle und kollektive Befürchtungen aus, die sich in der Vorstellung einer "kollektiven Hilflosigkeit" verdichten können.In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach Krisenängsten, ob und wie sie zu Treibern autoritärer Entwicklungen werden können. Ängste, unabhängig davon, ob eingebildet oder realistisch, ob auf Wissen oder Unwissen beruhend, lassen sich schwerlich von einer politischen Klasse, von Unternehmen oder dem freien Markt abfangen. Je mehr sich Gefahrenlagen häufen und sich Wahrnehmungen von Kontrollverlusten sowie Unsicherheiten ausbreiten, fallen auch Rechtsprechung und Verfassung als Orientierungsmedien aus und auch Wissenschaften können diese nicht mit der Lieferung von Begleitgewissheit neutralisieren.In solchen Situationen "[...] mutieren selbst Realängste, die vor greifbaren, konkreten Gefahren warnen, zu frei flottierenden, allfälligen Befürchtungen, die jede Risikoeinschätzung verhindern und irrationale Rettungsbedürfnisse wecken" (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 53). Diese Situationen können dann von autoritären Bewegungen, Organisationen und Regimen ausgebeutet werden, indem zunächst Ängste geschürt und im zweiten Schritt die Anhänger:innen mit wahnhaften Rettungsphantasien "versorgt" werden. Alexander Gaulands Aussage, "Wir werden uns unser Land und unser Volk zurückholen", liefert ein entsprechendes prominentes Beispiel für das Versprechen, die Kontrolle wieder herzustellen (Reuters Staff, 2017; Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 53; Nickschas, 2023).Eine Annahme von Heitmeyer & Heyder lautet hier, dass die Faktoren der Standortlosigkeit und Kontrollverluste Autoritarismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit bestärken. Eine Variante zur Wiederherstellung von Stabilität stellt die Demonstration von Überlegenheit dar, die durch autoritäre Aggression ausgeübt werden kann. Um wirklich Überlegenheit demonstrieren zu können, muss diese möglichst risikoarm sein; dies ist dann gegeben, wenn besonders schwache, machtlose Gruppen als Gegner:innen ausgewählt werden (Heitmeyer & Heyder, 2002, S. 62). Empirisch stehen Abstiegsängste in einem signifikanten Zusammenhang mit einerseits Kontrollverlust-Situationen und andererseits der Abwertung schwacher Gruppen:"Wenn jemandem das eigene Leben außer Kontrolle gerät (oder zu geraten scheint), kann das Panik erzeugen. Zur Panikbekämpfung erfolgt dann eine Selbstaufwertung, die gleichzeitig die Abwertung von ungleichwertig markierten Gruppen bedeutet (Flüchtlinge, Migranten, Langzeitarbeitslose etc.)" (Heitmeyer, 2018, S. 109).Die individuellen Verarbeitungsmuster von Krisen und (gefühlten) Kontrollverlusten lassen sich durch entsprechende autoritäre Angebote von "rechtspopulistischen Mobilisierungsexperten" – mittels scharf konturierter Feindbilder und Kontrollversprechen - politisch aufladen und bedienen zur vermeintlichen "Wiederherstellung von Ordnung" (Heitmeyer, 2018, S. 106).2022 stützt Heitmeyer also die oben erwähnte These von Krisen als besondere Treiber autoritärer Entwicklungen und rechtsextremer Aktivitäten, indem er formuliert, dass der Blick auf Veränderungen in Richtung autoritärer Entwicklungen in gesellschaftlichen und politischen Verläufen geweitet werden soll, die unter verstärktem Einfluss zeitlich verdichteter Krisen stattfinden (Heitmeyer, 2022 b, S. 251). Das soziologische Analysekonzept von 2018 wird entsprechend angepasst um die zwei zentralen Eskalationstreiber Krisen und Kontrollverluste bzw. "Kontrollverluste als Krisenfolgen" (siehe Abbildung 6).Dies geht aus der Abbildung insofern deutlich hervor, als in die Strukturentwicklungen der ökonomischen, sozialen und politischen Dimension "[...] verschiedene Krisen mit unterschiedlichen Auswirkungen "hineingewirkt" und Einfluss genommen haben auf die individuellen psychologischen und sozialen Verarbeitungen, die wiederum mit Kontrollverlusten durchsetzt waren – immer auch je nach Krisenbetroffenheit" (Heitmeyer, 2022 b, S. 252 f.). Hierdurch entstanden durch das generelle Bedürfnis nach Realitätskontrolle Handlungsoptionen, die mehrfach variieren und auch autoritäre Versuchungen bzw. Gefahren beinhalten können.Abbildung 6: Analyseschema, erweitert und angepasst (Quelle: eigene Darstellung nach Heitmeyer, 2018, S. 21; Heitmeyer, 2022 b, S. 254)Fürderhin ist anzufügen, dass sich Kontrollverluste in Krisen verschiedenartig ausdrücken und sich Verhaltensmöglichkeiten zur Realitätskontrolle, also zur Lösung von Problemen, massiv verengen, insbesondere in systemischen Krisen. Individuelle Suchbewegungen setzen ein, um das grundlegende Bedürfnis nach Realitätskontrolle zu befriedigen. Diese Suchbewegungen schließen politische Suchbewegungen nach autoritären Akteur:innen mit ein, die die Wiederherstellung von Kontrolle durch Reduktion der Krisenkomplexität versprechen (Heitmeyer, 2022 b, S. 256).Krisen und Kontrollverluste treten daher als Treiber autoritärer politischer sowie gesellschaftlicher Entwicklungspfade in Erscheinung, da indes eine kritische Masse entstanden ist, die nicht mehr in der Lage ist, ihr zentrale Bedürfnis nach Realitätskontrolle im "bisher gewohnten Maße" zu realisieren. Genau das bieten autoritäre Akteur:innen im Gegensatz zur abnehmenden Kapazität liberaler Demokratien, geeignete Lösungen schnell zu finden und die Kontrolle wiederherzustellen (Heitmeyer, 2022 b, S. 257). Zudem ist diese versprochene Wiederherstellung keine Wiederherstellung des vorhergehenden Prä-Krisenzustandes, "[...] sondern eine autoritäre Veränderung von Kontrolle und damit auch veränderte ökonomische, soziale, kulturelle und politische Verhältnisse" (Heitmeyer, 2022 b, S. 257).Als Indiz sieht Heitmeyer zwei Mechanismen, die besonders hervorstechen: Einerseits die Ambivalenz, dass zahllose Widersprüche zunehmen, und andererseits die Ambiguität, dass zunehmende Komplexität von modernen Gesellschaften gepaart sind mit uneindeutigen Situationen und Zukünften. Ambivalenz- und Ambiguitätstoleranz kristallisieren sich also als unabdingbar heraus, um autoritären Versuchungen nicht nachzugeben."Denn wenn Sitationen [sic] oder auch die Anwesenheit von fremden Menschen als unberechenbar oder unkontrollierbar wahrgenommen werden, dann reagieren Personen, deren Ambiguitätstoleranz niedrig ist, mit vereinfachten Weltsichten oder Stereotypen, um wieder Ordnung, Struktur und Kontrolle zu erreichen" (Heitmeyer, 2018, S. 80).Hinzu tritt das Verschwimmen von gesellschaftlichen Koordinaten, die eigentlich als Vergewisserungen der jeweils eigenen Position in der Gesellschaft dienen, welches die Suchbewegungen nach politischen Akteur:innen aktiviert, die vorgeben, Widersprüche zu lösen, Unklarheiten in Klarheiten verwandeln und Kontrolle wiederherzustellen versprechen (Heitmeyer, 2018, S. 109 ff.; Heitmeyer, 2022 b, S. 258 f.).Hieraus könnte die Folgerung gezogen werden, dass das Potenzial von autoritären Versuchungen in der Moderne angelegt sei: "Ambivalenzen und Ambiguitäten als Grundparadigma der Moderne entfalten unter dem Druck von Krisen und damit verbundenen Kontrollverlusten eine neue Wucht, die ins Autoritäre drängt" (Heitmeyer, 2022 b, S. 259). Beispielsweise ist die erwähnte "Entweder-Oder" Logik im Vergleich zu "Mehr-oder-weniger" darauf angelegt, Ambivalenzen und Ambiguitäten zu beseitigen. "Das Autoritäre dient dann als Strategie zur Reduzierung von ökonomischer, sozialer und politischer Komplexität – und gleichzeitig von Freiheitsräumen" (Heitmeyer, 2022 b, S. 259).Heitmeyers Analysen zeigen, dass die Fähigkeiten zum Aushalten von Ambiguitäten und zum Umgang mit Ambivalenzen über zukünftige soziale, politische und ökonomische Entwicklungspfade in Teilen der Bevölkerung abnehmen. Dies ist passgenau für das Angebot vonseiten der autoritär-nationalradikalen Akteur:innen mit ihren dichotomischen Welt- und Gesellschaftsbildern (siehe Kapitel 2.2); das Angebot eignet sich hervorragend für mobilisierende Ideologien und rhetorische Eskalation (Heitmeyer, 2018, S. 246 f.).Erfolge rechter Parteien und Bewegungen wären demnach also nicht möglich gewesen ohne bestimmte Entwicklungen im sozialen System der Gesellschaft, im politischen System der Demokratie und im ökonomischen System des globalisierten Kapitalismus (Heitmeyer, 2018, S. 16). Konkreter ist es das Zusammenwirken eines autoritären Kapitalismus, sozialer Desintegrationsprozesse und politischer Demokratieentleerung als Ursachenmuster für die "Realisierung autoritärer Sehnsüchte" (Heitmeyer, 2018, S. 17).5. Die Partei "Alternative für Deutschland"Mit der inhaltlichen Neuausrichtung der vormals liberal-konservativen, eurokritischen Partei ab 2015 sowie mit dem immer weiter um sich greifenden Einfluss von rechtsextremistischen Akteur:innen innerhalb der AfD hält Heitmeyer es nicht mehr für angemessen, die AfD als rechtspopulistisch zu "verharmlosen", noch die Partei als vollständig rechtsextrem oder neonazistisch zu bezeichnen (Heitmeyer, 2022 a, S. 302; Heitmeyer, 2022 b, S. 265 f.; Heitmeyer & Piorkowski, 2023). Mit der herkömmlichen Typologie sei die AfD, als Typ einer neuen Partei, nicht zu beschreiben. Ebenso reichen die bisherigen Begriffe und Kategorien nicht aus, um "analytische Klarheit" über Zustand und Entwicklung der AfD zu gewinnen (Heitmeyer, 2018, S. 233).Seit dieser Neuausrichtung zieht die AfD Teile der Bevölkerung an, die unter den oben beschriebenen Krisen Kontrollverluste wahrnehmen oder empfinden und eine Wiedererlangung der Kontrolle forcieren. Das Autoritäre ist dann ein Weg zur Realitätskontrolle. Insofern lässt sich deutlich machen, dass die AfD nicht der Grund für die Entstehung von autoritären Versuchungen in der Bevölkerung ist. Diese autoritären Einstellungsmuster "schlummern" in Teilen der Bevölkerung bereits über einen längeren Zeitraum als Gefahrenpotenzial für die offene Gesellschaft (Heitmeyer, 2018, S. 113):"Ein Zwischenfazit zum Zusammenwirken von strukturellen Entsicherungen und individuellen Verunsicherungen zeigt, dass aufgrund der Krisen und ihrer Verarbeitungen, aufgrund von veränderten Lebensumständen und von Verschiebungen der gesellschaftlichen Koordinaten in entsicherten Zeiten bei Teilen der Bevölkerung ein erheblicher "Vorrat" an gruppenbezogen-menschenfeindlichen Einstellungen existiert, an die autoritäre politische Akteure bloß noch anzuknüpfen brauchten" (Heitmeyer, 2018, S. 117).Dies bedeutet, dass die Erfolgsvoraussetzungen des autoritären Nationalradikalismus der AfD eine längere Vorgeschichte haben, die in den letzten Jahrzehnten geformt und vorangetrieben wurden durch neue Entwicklungen des kapitalistischen Systems. Die Wähler:innen der AfD waren zuvor Wechselwähler:innen oder wählten gar nicht (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 115). Sie verharrten dann in "wutgetränkter Apathie", was folgenlos blieb für die Politik, da diese Teile der Bevölkerung keinen wahlpolitischen Ausdruck fanden.Dieser in der Bevölkerung existierende Autoritarismus, der laut Heitmeyer "[...] vagabundierte, mal auf diese, mal auf jene im Bundestag vertretene Partei setzte oder aber gar nicht offen zutage trat, sondern in der politischen Apathie verharrte [...]" (2018, S. 237), hat durch das Aufkommen der Partei "Alternative für Deutschland" und ihren autoritären Nationalradikalismus ein neues politisches "Ortsangebot" bekommen. Hinsichtlich des oben beschriebenen Zwischenfazits lässt sich konstatieren, dass es der AfD offensichtlich gelungen ist, "[...] Personen aus ihrer individuellen Ohnmacht herauszuholen und mit kollektiven Machtfantasien auszustatten. Dazu gehört es auch, gruppenbezogen-menschenfeindliche Einstellungen zu kanalisieren und gegen schwache Gruppen zu richten" (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 116).In diesen Prozessen ist die Ideologie der Ungleichwertig eingelagert und wird genutzt, um sich selbst aufzuwerten durch Abwertung und Ausgrenzung der vermeintlich "Anderen". Für die sogenannte "rohe Bürgerlichkeit" entstehen neue Anschlussmöglichkeiten. Unter diesem Begriff verbirgt sich keine soziale Klassenzugehörigkeit, sondern es handelt sich um eine verachtende Haltung gegenüber Schwächeren, geäußert in einer rabiaten Rhetorik und gepaart mit einer Ideologie, in der bestimmte Gruppen als ungleichwertig angesehen werden, während sich die eigentlichen autoritären Haltungen hinter einer dünnen Schicht zivilisiert-vornehmen, also bürgerlichen äußeren Umgangsformen, verbergen (Heitmeyer, 2018, S. 310; Heitmeyer, 2022 b, S. 273).6. Der autoritäre Nationalradikalismus der AfDSo folgert Heitmeyer, dass die AfD vorrangig für jenes Publikum attraktiv ist, "[...] das sich einerseits von den flachen Sprüchen rechtspopulistischer Akteure, die nur auf schnelle Erregungszustände fixiert sind, nichts verspricht, und sich andererseits von der Brutalität des Rechtsextremismus distanziert, um seine Bürgerlichkeit zu unterstreichen" (Heitmeyer, 2018, S. 235). Er weist zurecht auf ihre "bürgerliche Patina" hin, die die AfD für viele gesellschaftliche Gruppen wählbar macht (Heitmeyer & Piorkowski, 2023).Vor diesem Hintergrund überrascht der empirische Befund nicht, dass die bereits benannten 19,6 % der Bevölkerung mit Einstellungen zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sich selbst in der "politischen Mitte" einordnet, weshalb sich die "bürgerliche Patina" für die AfD als unentbehrlich erweist (Schaefer, Mansel & Heitmeyer, 2002, S. 132 f.).Die neue begriffliche Rahmung dient dazu, unterschiedliche inhaltliche und formale Ebenen zusammenzufassen, wie prägende Einstellungsmuster, der Mobilisierungsstil sowie zentrale programmatische Aussagen zu "bewegenden Themen" (Heitmeyer, 2018, S. 234). Daher ordnet Heitmeyer die AfD als autoritäre nationalradikale Partei ein, die gleichzeitig als Kern des autoritären Nationalradikalismus in Deutschland fungiert. Im Folgenden wird das Agieren der Partei als Protagonistin des autoritären Nationalradikalismus anhand der in Kapitel 2.4 erklärten Charakteristika erläutert:Als autoritär wird sie charakterisiert, da das Kontrollparadigma grundsätzlich ihre Vorstellungen von Politik sowie Gesellschaft durchzieht. Beispiele sind Forderungen nach einer streng hierarchisch organisierten sozialen Ordnung sowie nach rigider Führung in politischen Institutionen. Auch beruht das Verständnis von Politik und Gesellschaft wesentlich auf den Kategorien "Kampf und Konflikt", womit dichotomische Gesellschaftsbilder und strenge Freund-Feind-Schemata einhergehen (Heitmeyer, 2018, S. 234).Als national wird sie aufgrund der "[...] Betonung der außerordentlichen Stellung des deutschen Volkes" bezeichnet (Heitmeyer, 2018, S. 234). Hinzu kommt auch die Beanspruchung einer "neuen deutschen" Vergangenheitsdeutung sowie eines Überlegenheitsanspruchs gegenüber anderen Nationen oder ethnischen und religiösen Gruppen (Heitmeyer, 2018, S. 235).Das radikale Moment liegt in der Bekämpfung der offenen Gesellschaft und dem Ziel, die liberale Demokratie grundlegend umzubauen. Somit positioniert sich die Partei gegen zwei zentrale politisch-gesellschaftliche Errungenschaften. Hierzu dient ein rabiater und emotionalisierter Mobilisierungsstil der AfD, der mit menschenfeindlichen Grenzüberschreitungen arbeitet (Heitmeyer, 2018, S. 235).Die AfD hat die Destabilisierung gesellschaftlicher und politischer Institutionen zum Ziel, was entscheidend für die Erfolgsgeschichte der Partei ist, es geht um Militär, Polizei, Gerichte, Gewerkschaften, Rundfunkräte, politische Bildung, Theater oder auch Feuerwehrverbände (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 107). Hierin besteht nach Heitmeyer die eigentliche Gefahr. Das Fiasko rund um die Wahl des Ministerpräsidenten in Thüringen 2020 zeigt, dass mittlerweile auch das parlamentarische System von der forcierten Destabilisierung betroffen ist (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 107). Der autoritäre Nationalradikalismus der AfD und das Agieren der Partei soll im folgenden exemplarisch an zwei Krisen der vergangenen Jahre behandelt werden.Die Fluchtbewegungen ab 2015 bezeichnete Alexander Gauland als "Geschenk" für seine Partei, die AfD (Decker, 2022). In der Tat diente sie AfD und PEGIDA, um Personen, die vorrangig unter Anerkennungsdefiziten litten, mittels dichotomischer Weltbilder und der Emotionalisierung sozial-kultureller Probleme zu instrumentalisieren. Der anhaltende Erfolgsmechanismus von Parteien und Bewegungen wie AfD und PEGIDA besteht demnach darin, Anerkennungsprobleme zu bearbeiten und so Selbstwirksamkeit erfahren zu lassen. Als (potenzielle) Wähler:in würde man wahrgenommen werden und dies ließ Handlungsbereitschaften entstehen, die einerseits autoritäre Ausrichtungen entwickelten und andererseits themengebunden immer wieder neu aktiviert werden können (Heitmeyer, 2022 b, S. 275). Dies ist bei dem bereits genannten "Entweder-Oder"-Mechanismus der Fall, da es um "Alles" geht und Kompromisse von vornherein ausschließt.Weiter führt Heitmeyer aus, dass die Verbindungen von einem systemischen Krisentypus, wie beispielsweise der COVID-19-Pandemie, mit einer "Entweder-Oder"-Konfliktstruktur gesellschaftliche Entwicklungen begünstigen, die zwar nicht die Gesellschaft spalten, jedoch asymmetrisch polarisieren zwischen einer Bevölkerungsmehrheit und einer Minderheit (Beispiel: Geimpfte vs. Impfgegner:innen). In solchen Konstellationen enthüllt sich das Zusammenwirken und gemeinsame Auftreten der aufgeführten Mechanismen als äußerst gewaltanfällig (Heitmeyer, 2022 b, S. 275 f.).Im Jahr 2015 war der "Kampf um die Opferrolle" ein zentraler Mechanismus der AfD, um die Mobilisierung gegenüber Geflüchteten und staatlicher sowie gesellschaftlicher Integrationspolitik voranzubringen. Entsprechend entstanden Kampfbegriffe wie "Umvolkung" oder das Propagieren des "Untergangs der deutschen Kultur". Die Opferrolle kann nach Heitmeyer als Schlüsselkategorie interpretiert werden, "[...] denn wer [sich] in der öffentlichen Wahrnehmung glaubhaft als Opfer darstellen kann, schafft damit eine zentrale "moralgetränkte" Kategorie, um Widerstand als Notwehrrecht einschließlich Gewalt zu legitimieren" (Heitmeyer, 2022 b, S. 266). Insofern gilt der Opferstatus als eines der wichtigsten Instrumente, um Anhänger:innen an sich zu binden.Im Verlauf der COVID-19-Pandemie verkehren sich die Verhältnisse in den digitalen Medien, auf radikalisierten Demonstrationen und in der öffentlichen Debatte, was auch darauf zurückzuführen ist, dass der Mechanismus einer veränderten "Täter-Opfer"-Konstruktion sich ausbreitet. Neue Gelegenheitsstrukturen und Mobilisierungsaktivitäten werden in Figuren von "Freiheitskämpfern" ausgebaut und radikalisiert.Während der sogenannten "Flüchtlingskrise" waren es vor allem männliche Geflüchtete, die in der öffentlichen Wahrnehmung als bedrohliche Täter, die Verbrechen wie Vergewaltigungen und Tötungen begehen, dargestellt wurden. Staatliche Institutionen ließen sie "gewähren" im Sinne einer bevorstehenden "Umvolkung" (Heitmeyer, 2022 b, S. 266). In der COVID-19-Krise trat der Staat als Haupttäter auf: Die Bevölkerung wurde in den Lockdown getrieben, massiven Freiheitsbeschränkungen unterworfen und Ungeimpfte – ob Gegner:in oder nur Zweifelnde – wurden durch eine "Corona-Diktatur" in die Knie gezwungen.In diesem Strukturwandel wirken Verschwörungstheorien passgenau auf ideologische Konzeptionen ein, die an Krisen sowie an Kontrollverluste andockt. Verschwörungstheorien bilden hier als quasi-religiöses, glaubensbasiertes Kampfinstrument eine Art Ersatzlösung für die in der Moderne verloren gegangenen Gewissheiten und markieren gleichzeitig Feindgruppen für autoritäre politische "Lösungen", meist auch antisemitisch aufgeladen.Im Sinne des angeführten konzentrischen Eskalationskontinuums sind es unter anderem solche Parolen und Kampfbegriffe, die als begrifflich "notwehrrelevante" Legitimationsbrücken dienen. So wurden während der COVID-19-Pandemie von parlamentarisch einflussreichen Positionen weitere eskalationsorientierte Handlungsweisen beflügelt (Heitmeyer, 2022 b, S. 267). Die bisher aufgeführten Mechanismen und Strukturen fungieren demnach also als Bestandteile von Radikalisierungsprozessen. Diese wiederum bilden die Voraussetzungen für das Aufkommen von physischer Gewalt, von Körperverletzungen bis hin zu rechtsterroristischen Vernichtungstaten. Um diese Wirkung aufzuzeigen, soll folgend das Agieren der AfD anhand des oben beschriebenen Eskalationskontinuums verdeutlicht werden.In den "Schalen" des "Zwiebelmusters" wird, wie oben erläutert, die Gewaltorientierung größer, während die eskalierenden Akteur:innengruppen kleiner werden. Als Kernmechanismus werden die verschiedenen Legitimationsbrücken angeführt. In der äußersten, der größten Schale, finden sich feindbildliche autoritäre Einstellungsmuster in Teilen der Bevölkerung gegenüber dem Staat als Ganzes und generell demokratischer Politik. Diese liefern die entsprechenden Legitimationen für das Auftreten und Agieren des autoritären Nationalradikalismus der AfD.Zu Beginn der Pandemie forderte die AfD zunächst besonders harte Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung, sie blieb bei ihrem Stil der Emotionalisierung politischer und sozialer Probleme inklusive dem autoritären Kontrollparadigma. Da hiermit keine Zustimmungserweiterungen von potenziellen Wähler:innen gewonnen werden konnten, wurde eine radikale Richtungsänderung ins Gegenteil vollzogen. Dies führt Heitmeyer an, um zu verdeutlichen, "[...] dass es der Partei nicht um sachbegründete Prinzipien, sondern um opportunistische Nutzenkalküle zur Ausbreitung von Zustimmungen bzw. Verfestigungen der Wählerschaft geht – und um die Straße" (Heitmeyer, 2022 b, S. 276). Insofern mussten Parolen geprägt werden, wie der Begriff der "Corona-Diktatur", dem Selbststilisieren als "Freiheitskämpfer:innen" oder dem Verbreiten von Verschwörungsideologien wie des "Great Resets" (Siggelkow, 2023).So trat die AfD im Herbst und Winter 2021/2022 als wesentlicher Treiber der Corona-Proteste auf und baute gleichzeitig mit diesen Parolen, wie bereits ab 2015 in Zusammenhang mit der Krise um die Flüchtlingsbewegungen, gezielt Legitimationsbrücken für ohnehin schon mit Gewalt operierende rechtsextremistische Gruppen (Heitmeyer, 2022 b, S. 277). Diese Gruppierungen können sich durch diese Parolen auf eine Art gewaltlegitimierendes "Notwehrrecht" berufen, um gegen eine "Diktatur" zu agieren, verbunden mit "Umsturzfantasien".Heitmeyer führt weiter aus, dass diese Gruppen sich öffentlich in Demonstrationen bewegen und gleichzeitig klandestine rechtsterroristische Kleingruppen bedienen, "[...] die unter anderem aus Misserfolgen gegen die staatlichen Ordnungsmächte dann Legitimationen zum Umsturz des Systems ziehen" (Heitmeyer, 2022 b, S. 277). Aus diesem Mechanismus eröffnet sich, was Heitmeyer durch das konzentrische Eskalationskontinuum eindrucksvoll darstellen kann, dass schlussendlich Teile der Bevölkerung durch die verschiedenen "Schalen" hindurch zu den Legitimationslieferant:innen zählen, auf die sich Gewaltakteur:innen berufen, wenn sie sich auf "das Volk" beziehen (Heitmeyer, 2022 b, S. 277).Die Mechanismen verweisen insgesamt auf Bedrohungen der liberalen Demokratie und der offenen Gesellschaft. Weiter führt Heitmeyer an, dass staatliche Kontrollapparate sowie die Politik samt Appellen oder Ankündigungen der "wehrhaften Demokratie" nicht in der Lage sind, mehrere dieser Mechanismen in ihren Wirkungen "in den Griff zu bekommen". Die aufgezeigten Mechanismen, die bereits während der Krise der Flüchtlingsbewegungen und der Corona-Pandemie gewirkt haben, sind etabliert und werden auch weiterhin wirken.Die so genannte "3K-Trias" - Krisen, Konfliktstruktur und Kontrollverluste - gilt mittlerweile als etabliert und wirkt als wirkungsvoller Zusammenhang für autoritäre Entwicklungen. Die zukünftigen Krisenthemen werden wechseln, jedoch bleiben die gesellschafts- und demokratiezerstörerischen Mechanismen bestehen und können durch autoritär-nationalradikale Akteur:innen immer wieder neu themenbezogen aktiviert und emotional aufgeladen werden (Heitmeyer, 2022 b, S. 277).7. Fazit & AusblickHeitmeyers Arbeiten bilden einen Meilenstein in der empirischen Forschung zu Einstellungen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und zu rechten Einstellungen in der Bevölkerung. Er wies bereits zu Beginn seiner Studien im Jahr 2001 darauf hin, dass ein globalisierter Kapitalismus zu politischen und sozialen Kontrollverlusten führen könne, die mit Demokratieentleerung und einem Erstarken des rabiaten Rechtspopulismus einhergehen.Anhand der Ergebnisse seiner langjährigen Forschung, unter anderem der Langzeitstudie zu den "deutschen Zuständen", konnte er empirisch nachweisen, dass knapp 20 % der Bevölkerung autoritäre Einstellungen haben (Schaefer, Mansel & Heitmeyer, 2002, S. 125 f.). Diese Einstellungen "schlummerten" in diesen Bevölkerungsteilen und fanden politisch bis zum Aufkommen der AfD keine sonderliche Beachtung. Sie "vagabundierten" zwischen den Parteien - meist zwischen den Volksparteien CDU/CSU und der SPD - oder verharrten in einer "wutgetränkten Apathie" und machten von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch (Schaefer, Mansel & Heitmeyer, 2002, S. 127 f.).Die strukturellen Ursachen des autoritären Kapitalismus, also Transformationsprozesse in ökonomischen Strukturen samt den Krisen in der "Post-9/11"-Ära führen zu Veränderungen im sozialen Bereich, wie individuelle Verarbeitungsprozesse der Krisenfolgen in Form von Abstiegsängsten oder Anerkennungsverlusten, also soziale Desintegrationserfahrungen bzw. Desintegrationsgefährdungen. In Kombination mit den damit einhergehenden Kontrollverlusten sehnen sich Teile der Bevölkerung nach einem krisensicheren, kollektiven kulturell-politischen Identitätsanker und nach der "Wiederherstellung der Ordnung" (Heitmeyer, 2022 a, S. 325). Dies schafft günstige Gelegenheitsstrukturen für die AfD, die sich 2015 inhaltlich radikal neu ausrichtete und als autoritär nationalradikales Angebot wahlpolitisch von diesen Entwicklungen profitierte. Durch ihre Fokussierung auf die kulturelle Dimension hat die Partei die Möglichkeit erhalten, "[...] soziale Kontrollverluste in Versprechungen zur Wiederherstellung von politischer Kontrolle zu übersetzen" (Heitmeyer, 2022 a, S. 325).Die Frage nach dem weiteren Verlauf liegt auf der Hand. Hier spricht Heitmeyer von "Zukünften" in einer Zeit, in der viele Menschen auf tiefgreifende Verunsicherungen seit 2001 mit einer Sehnsucht nach Ordnung, Kontrolle und Sicherheit reagiert haben, die von dem autoritären Nationalradikalismus der AfD bedient wird (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 281). Zu den Entsicherungen der sozialen Zustände der letzten Jahrzehnte gesellt sich nun eine "Unübersichtlichkeit möglicher Zukünfte". Klar ist, dass die Routinen zur Bewältigung politischer, ökonomischer und sozialer Probleme und Krisen nicht länger funktionieren und es kein Zurück zu den Zuständen davor geben wird.Nach Heitmeyer muss die Frage nach der Resilienz demokratischer Einstellungen und Gegenevidenzen zum grassierenden Autoritarismus auf der Ebene der Akteur:innen angesetzt werden, bei der Bürger:innenschaft. Jedoch beschreibt er sie, die in Krisen sonst durchaus wehrhaft und spontan auf Herausforderungen reagierten und heute mehr denn je gefragt seien, als erschöpft, auch wenn in der Mehrheit der europäischen Staaten bisher nur eine Minderheit der autoritären Versuchung vollends nachgibt (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 282; Heitmeyer, 2022 b, S. 277).Dennoch haben sich quer durch die Altersgruppen und unabhängig von der sozialen Lage unterschiedliche Teile der Bevölkerung "[...] statistisch signifikant und im Erscheinungsbild deutlich autoritären Versuchungen nachgegeben [...]" (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 74). Ebenso erschöpft seien auch die politischen Eliten, die eigentlich Visionen und Ideen für individuelle und gesellschaftliche Zukünfte, die Freiheit spenden und Sicherheit verheißen, entwickeln sollten. Es benötigt also mehr visionäre und zukunftssichernde Gesellschafts- und Politikvorstellungen gepaart mit neuen Beteiligungsformen, die von den Bürger:innen wahrgenommen werden (Heitmeyer, 2022 b, S. 278).Aktuelle empirische Befunde zu weiteren demokratischen Fortschritten geben wenig Anlass zu Optimismus (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 73 f.). Insofern folgert Heitmeyer, dass sich der Höhenflug autoritärer Politikangebote weiter fortsetzen wird, insofern sich der autoritäre Nationalradikalismus nicht selbst (von innen) zerlegt und es kein massives politisches Umsteuern mit gravierenden wirtschaftspolitischen Reformen gibt, wofür derzeit keine Anzeichen bestehen (Heitmeyer, 2018, S. 368). Nach Heitmeyer müssten aus den folgenden Punkten ökonomische, soziale und politische Konsequenzen gezogen werden:"Der finanzialisierte Kapitalismus verfolgt weiter ungehindert seine globale Landnahme, ohne Rücksicht auf die gesellschaftliche Integration.Die nationalstaatliche Politik ist angesichts der ökonomischen Abhängigkeit nicht willens oder in der Lage, soziale Ungleichheit konsequent zu verringern.Ein Fortschreiten der sozialen Desintegration ist angesichts von Prozessen wie der Digitalisierung sehr wahrscheinlich.Kulturelle Konflikte entlang konfessioneller und religiöser Grenzen werden nicht dauerhaft befriedet; vielmehr ist davon auszugehen, dass sie – auch im Zusammenhang mit Migrationsbewegungen – immer wieder angefacht werden.Sozialgeografische Entwicklungen wie Abwanderung und das ökonomische Abdriften ganzer Regionen gehen ungebremst weiter" (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 283 f.).Die aufkommenden Probleme dieser auf Dauer gestellten Faktoren können von autoritär nationalradikalen Parteien und Bewegungen als "Signalereignisse" für sich ausgebeutet werden. Sie stellen also "stabile" günstige Voraussetzungen für ein weiteres Erstarken des autoritären Nationalradikalismus der AfD dar (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 284). Es ist mittelfristig nicht abzusehen, dass die Themen, die die AfD mit ihrer eskalativen Rhetorik bearbeitet, in absehbarer Zukunft von der Bildfläche verschwinden werden.Zudem weisen die Strukturen der AfD und des sie unterstützenden Milieus mittlerweile einen hohen Organisations- und Institutionalisierungsgrad auf. Insofern ist davon auszugehen, dass die autoritär nationalradikalen Parteien und Bewegungen öffentliche Debatten weiterhin maßgeblich prägen und so das soziale Klima innerhalb der Gesellschaft dauerhaft in Richtung von mehr Aggressivität verschieben werden.Die Bedrohungen für die liberale Demokratie und die offene Gesellschaft durch den globalisierten Kapitalismus, durch Desintegrationsprozesse und dem autoritären Nationalradikalismus sind offensichtlich. Es hängt also viel von der Kraft konfliktbereiter und widerspruchstrainierter Gegenbewegungen ab, die für die offene Gesellschaft eintreten und sich nicht mit den Normalitätsverschiebungen, die aktuell bereits ablaufen, abfinden wollen (Heitmeyer, 2018, S. 372).LiteraturverzeichnisDahrendorf, R. (14. 11 1997). Die Globalisierung und ihre sozialen Folgen werden zur nächsten Herausforderung einer Politik der Freiheit. Von zeit.de: https://www.zeit.de/1997/47/thema.txt.19971114.xml/komplettansicht abgerufen am 21.10. 2023.Decker, F. (02. 12 2022). Etappen der Parteigeschichte der AfD. Von bpb.de: https://www.bpb.de/themen/parteien/parteien-in-deutschland/afd/273130/etappen-der-parteigeschichte-der-afd/ abgerufen am 21.10. 2023.Frankenberg, G., & Heitmeyer, W. (2022). Autoritäre Entwicklungen. Bedrohungen pluralistischer Gesellschaften und moderner Demokratien in Zeiten der Krisen. In G. Frankenberg, & W. Heitmeyer (Hg.), Treiber des Autoritären: Pfade von Entwicklungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts (S. 15-86). Frankfurt a. M.: Campus Verlag GmbH.Heitmeyer, W. (2001). Autoritärer Kapitalismus, Demokratieentleerung und Rechtspopulismus. Eine Analyse von Entwicklungstendenzen. In D. Loch, & W. Heitmeyer (Hg.), Schattenseiten der Globalisierung (S. 497-534). Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1. Auflage.Heitmeyer, W. (2018). Autoritäre Versuchungen. Berlin: Suhrkamp Verlag.Heitmeyer, W. (2022 a). Autoritärer Nationalradikalismus (2018). In K. Möller (Hg.), Populismus. Ein Reader (S. 300-328). Berlin: Suhrkamp Verlag, 1. Auflage.Heitmeyer, W. (2022 b). Krisen und Kontrollverluste - Gelegenheitsstrukturen für Treiber autoritärer gesellschaftlicher Entwicklungspfade. In G. Frankenberg, & W. Heitmeyer (Hg.), Treiber des Autoritären: Pfade von Entwicklungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts (S. 251-280). Frankfurt a. M.: Campus Verlag GmbH.Heitmeyer, W., & Heyder, A. (2002). Autoritäre Haltungen. Rabiate Forderungen in unsicheren Zeiten. In W. Heitmeyer (Hg.), Deutsche Zustände. Folge 1 (S. 59-70). Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1. Auflage.Heitmeyer, W., & Piorkowski, C. (09. 10 2023). "Autoritärer Nationalradikalismus". Von bpb.de: https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/522277/autoritaerer-nationalradikalismus/ abgerufen am 21.10. 2023.Heitmeyer, W., Freiheit, M., & Sitzer, P. (2021). Rechte Bedrohungsallianzen. Bonn: Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung.Laudenbach, P. (09. 07 2023). Die Gründe des Aufstiegs der AfD: Soziologe Wilhelm Heitmeyer im Interview. Von sueddeutsche.de: https://www.sueddeutsche.de/kultur/wilhelm-heitmeyer-afd-analyse-1.6012038?reduced=true abgerufen am 21.10. 2023.Nickschas, J.-B. (06. 02 2023). Zehn Jahre AfD: Zunehmend radikal. Von tagesschau.de: https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/afd-zehn-jahre-103.html abgerufen am 21.10. 2023.Reuters Staff. (24. 09 2017). Gauland kündigt an - "Wir werden Regierung jagen". Von reuters.com: https://www.reuters.com/article/deutschland-wahl-afd1-idDEKCN1BZ0QJ abgerufen am 21.10. 2023.Schaefer, D., Mansel, J., & Heitmeyer, W. (2002). Rechtspopulistisches Potential. Die "saubere Mitte" als Problem. In W. Heitmeyer (Hg.), Deutsche Zustände. Folge 1 (S. 123-135). Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1. Auflage.Siggelkow, P. (16. 01 2023). Verschwörungsmythen: Klaus Schwab, das WEF und der "Great Reset". Von tagesschau.de: https://www.tagesschau.de/faktenfinder/wef-schwab-101.html abgerufen am 21.10. 2023.Universität Bielefeld. (o.J.). Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer. Von ekvv.uni-bielefeld.de: https://ekvv.uni-bielefeld.de/pers_publ/publ/PersonDetail.jsp?personId=21765 abgerufen am 21.10. 2023.
Spätestens, wenn die vermeintlich einwandfreie fristlose Kündigung eines Mitarbeiters vom Arbeitsgericht nicht anerkannt wird, zeigt sich: Grundkenntnisse im Arbeitsrecht sind ein absolutes Muss für jeden, der Führungsverantwortung im Unternehmen zu tragen hat. Gerade junge Führungskräfte sind in vielen Fragen unsicher: o Was ist bei einer Stellenausschreibung zu beachten? o Was muss, was darf ins Arbeitszeugnis? o In welche Prozesse und Entscheidungen muss ich den Betriebsrat einbeziehen? Übersichtlich und informativ zeigen Jan Schultze-Melling und Volker Bartelt, worauf es aus juristischer Sicht bei der Personalführung ankommt.
Access options:
The following links lead to the full text from the respective local libraries:
Wie steht es um die Freiheit des Wortes in der Wissenschaft? Wo liegen die Grenzen? Ihr Umgang mit dieser Frage hat zwei Uni-Präsidentinnen in den USA den Job gekostet. Doch die Folgen und Implikationen reichen tiefer und bis nach Deutschland.
Campus der Harvard University in Cambridge, USA. Foto: giggel, CC BY 3.0 / Wikimedia Commons.
EINEN TAG nachdem Claudine Gay Anfang Januar von ihrem Amt als Harvard-Präsidentin zurückgetreten war, veröffentlichte sie in der "New York Times" einen Meinungsbeitrag. Ja, sie habe Fehler gemacht, schrieb sie. Doch in der Kampagne gegen sie sei es in Wirklichkeit um mehr gegangen als eine Universität oder eine Unipräsidentin. "Nur ein Scharmützel in einem größeren Krieg" sei das gewesen, "der zum Ziel hat, das öffentliche Vertrauen in tragende Säulen der amerikanischen Gesellschaft zu zerstören."
Sie hoffe, mit ihrem Rücktritt hindere sie Demagogen daran, ihre Präsidentschaft weiter als Waffe einzusetzen in ihrer Kampagne, die Ideale zu unterminieren, die Harvard seit seiner Gründung ausmache: "Exzellenz, Offenheit, Unabhängigkeit, Wahrheit."
Waren das mehr als Schutzbehauptungen? Sind die Universitäten in den USA tatsächlich Geisel eines Kulturkampfes von rechts? Und zeichnen sich in Deutschland vielleicht längst ähnliche Entwicklungen ab?
Die fast unbedingte Freiheit des Wortes
Alles hatte damit begonnen, dass Gay und zwei weitere Präsidentinnen von US-Eliteuniversitäten im Dezember auf Initiative der Republikaner vor dem Bildungsausschuss des Repräsentantenhauses Stellung nehmen sollten zu sich häufenden antisemitischen Vorfällen auf dem Campus.
Befragt von der Ex-Präsident Trump nahestehenden republikanischen Abgeordneten Elise Stefanik, ob der Aufruf zum Völkermord an den Juden gegen universitäre Richtlinien zu Mobbing und Belästigung verstoße, antwortete Gay zweimal, das sei möglich, hänge aber vom Kontext ab. Die Präsidentin des Massachusetts Institute of Technology (MIT), Sally Kornbluth, stimmte Gay zu, ebenso ihre Kollegin von der University of Pennsylvania, Liz Magill: "Wenn das Reden in ein Verhalten übergeht, kann es sich um Belästigung handeln."
Die öffentliche Empörung war gewaltig. Magill trat schon wenige Tage später zurück, nachdem mit Verweis auf ihre Äußerungen unter anderem ein Geldgeber eine 100-Millionen-Spende an die University of Pennsylvania zurückgezogen hatte. Gay hielt sich zunächst im Amt, doch gingen kurz nach ihrem Auftritt im US-Kongress mehrere Plagiatsvorwürfe online. Eine unabhängige Prüfung bescheinigte Gay unzureichend kenntlich gemachte Zitate, aber kein wissenschaftliches Fehlverhalten. Den Bildungsausschuss des Repräsentantenhauses hinderte dies nicht daran, mit republikanischer Mehrheit eine eigene Untersuchung einzuleiten.
Als Gay schließlich ihren Rücktritt bekannt gab, postete Elise Stefanik auf "X": "Two Down. One to Go." Und die Wall-Street-Größe Bill Ackmann, Harvard-Absolvent und Großspender, kündigte an, die wissenschaftlichen Arbeiten aller MIT-Angehörigen, inklusive Präsidentin Kornbluth, per KI auf Plagiate zu untersuchen.
"Natürlich ist das ein Angriff von rechts", sagt der deutsche Ökonom Rüdiger Bachmann von der University of Notre Dame im US-Bundestaat Indiana. "Schon Elise Stefanik hatte es darauf angelegt in ihrer Befragung."
Gay, erst seit vergangenem Sommer im Amt, war die erste afroamerikanische Harvard-Präsidentin. Sie stand als Sinnbild für die Bestrebungen führender US-Universitäten, sich auch in ihren Führungsstrukturen diverser aufzustellen. Das gehe auf Kosten der akademischen Exzellenz, kam umgehend als Vorwurf von rechts.
Der Freiheitsindex
Umgekehrt, sagt Bachmann, führten solche Attacken angesichts der Machtverhältnisse an den linksliberalen US-Universitäten nur dann zu Rücktritten, wenn die tatsächlichen Verfehlungen tatsächlich schwerwiegend genug seien. "Diese Mischung aus Hilflosigkeit, Unprofessionalität, fehlendem Vorbereitetsein und Arroganz, die alle drei Präsidentinnen bei der Anhörung zeigten, war schon dramatisch." Die an sich nicht so gravierenden Plagiatsvorwürfe seien bei Gay noch dazugekommen.
Die Politologin Katrin Kinzelbach von der Universität Erlangen-Nürnberg war im Oktober, kurz nach dem Hamas-Angriff, in Harvard. Mit Wissenschaftlerkollegen erstellt die Politologin jährlich einen aktualisierten "Academic Freedom Index" (AFI). Dieser soll den Grad der Wissenschaftsfreiheit weltweit beziffern. Zur Wissenschaftsfreiheit diskutierte Kinzelbach auch in Harvard. Sie sei erschrocken gewesen, "mit welcher Nonchalance bestimmte Gruppen israelfeindliche Inhalte vertraten, ohne jede Verurteilung der Hamas-Verbrechen", und wie umgekehrt öffentliche Namenslisten kursierten, die Studierende als Antisemiten brandmarkten. Man müsse aber bedenken, dass "das Verständnis von Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit in den USA ein unbedingteres" sei als "bei uns". Es gebe hier "fast keine Grenzen". Die Überzeugung auch der meisten Wissenschaftler laute: "Absolute Redefreiheit ist die Voraussetzung von Demokratie."
So habe der Supreme Court schon 1969 mit Berufung auf den ersten Verfassungszusatzartikel festgehalten: "Jede Meinungsäußerung ist erlaubt, nur die Anstachelung zur unmittelbaren Gewalt nicht." Genau vor diesem Hintergrund müsse man dann auch die "Kontext"-Aussagen der Uni-Präsidentinnen vor dem Bildungsausschuss sehen. "Sie sind ein Skandal, aber die Präsidentinnen wollten sich offenbar nicht Vorwürfen aussetzen, sie würden die freie Rede beschränken."
An der Stelle, sagt Bachmann, seien die Präsidentinnen allerdings einem Irrtum aufgesessen: "Ausschlaggebend ist an privaten Hochschulen nicht der Erste Zusatzartikel der Verfassung, sondern der sogenannte Civil Rights Act." Der besage: Wenn eine Hochschule von der Regierung Fördergelder beziehe, "hat sie die Verpflichtung, gegen belästigende Hassreden auf dem Campus vorzugehen".
Trumpistische Aneignung
So oder so ist es vielleicht das größte Paradoxon der Causa Gay: Normalerweise sind es in den USA Republikaner und Trumpisten, die zwar selbst etwa die Evolutionstheorie aus Schulbüchern tilgen, "alternative Fakten" propagieren oder Gendertheorien in Uni-Pflichtkursen verbieten, gleichzeitig aber mit großem medialen Erfolg linksliberalen Akademikern eine Verengung des Meinungsspektrums vorwerfen. Schlagworte: "Politische Korrektheit" oder "Wokeness", Motto: Ideologie statt Exzellenz.
Doch diesmal erregten sie sich über das genaue Gegenteil: über die fehlende Positionierung führender Hochschulrepräsentantinnen. Sie taten es in diesem Falle sogar mit Recht, aber eben doch auch mit klarer politischer Agenda.
Was bedeutet all das für die Wissenschaftsfreiheit in den USA? Der "Academic Freedom Index" sei für die USA in den vergangenen zehn Jahren "signifikant abgerutscht", sagt Kinzelbach, "bewegt sich aber immer noch auf hohem Niveau". Der Konsens, dass sich der Staat nicht einmischen dürfe in akademische Belange, sei dort weiter sehr stark. Private Geldgeber aber hätten einen großen, teilweise problematischen Einfluss. Bachmann sagt: Gerade weil die meisten US-Spitzenunis privat seien, hätten Politiker keine direkte Durchgriffsmöglichkeit, "selbst dann nicht, wenn Trump ein protofaschistisches Regime etablieren würde, zumal die staatlichen Universitäten alle in der Hand der Bundesstaaten sind".
Tribalismus? Polarisierung?
Die wirkliche Gefahr, sagt Bachmann, sei der zunehmende Tribalismus, "wenn sich jetzt auch Leute aus dem linksliberalen Spektrum plötzlich eines Orwell’schen Neusprechs (der Begriff stammt aus George Orwells Roman '1984', in dem politisch umgestaltete Sprache zum Ausdruck gleichgeschalteten Denkens wird) bedienen, um Gay im Amt zu halten, obwohl sie nicht im Amt zu halten war".
Wenn etwa, wie das Magazin The Atlantic kritisierte, Unterstützer Gays fehlende Zitatkennzeichnungen als "technical attribution issues" redefinierten oder als "repeating banal phrases". Wobei die Klimaaktivistin Genevieve Guenther, von der letztere Aussage stammte, "The Atlantic" prompt vorwarf, sie absichtlich verfälscht wiedergegeben zu haben.
So oder so, fügt Bachmann hinzu, habe der Polarisierer Trump angesichts einer solchen Debatte schon gewonnen, "selbst wenn er am Ende nicht erneut Präsident würde, sondern ins Gefängnis müsste".
Lektionen für Deutschland
Der Amerikanist Martin Klepper von der Berliner Humboldt-Universität sagt, er würde eher von Polarisierung als von Tribalismus sprechen, aber auch er meint: "Wenn selbst in der Wissenschaft inzwischen manche finden, sie müssten eine Seite wählen und deren Angehörige um jeden Preis in Schutz nehmen, ist ganz viel verloren."
Und in Deutschland? Auch wenn der Fall Gay zuerst von den persönlichen Umständen zu beurteilen sei: "Es ist gut, wenn wir in Deutschland genau hinschauen, was da in den USA gerade passiert, und, wo möglich, daraus lernen", sagt Lambert Koch, Präsident des Deutschen Hochschulverbandes (DHV). Es gebe Entwicklungen, die "hier wie dort" in eine gefährliche Richtung wiesen.
Die größte Gefahr sei, dass die Hochschulen einer immer stärkeren Politisierung ausgesetzt würden. "Wissenschaft lebt von dem Mut und der Unverstelltheit eines lebendigen Diskurses um des Findens neuer Erkenntnisse und Wahrheiten willen." Dazu brauche es wissenschaftlich unangreifbares Führungspersonal und einen Vorschuss an Vertrauen. Und man müsse "einander auf der Grundlage wissenschaftlicher Methoden korrigieren können, ohne dass dies zu Aggressionen oder politischen Zerwürfnissen führt".
Stimmenfang mit Anti-Gendern
Martin Klepper sagt, in Deutschland sei die Wissenschaft im guten wie im schlechten Sinne noch abgeschotteter als in den USA. "Sie ist stärker auf sich selbst bezogen, sie bestimmt nicht in vergleichbarem Maße öffentliche Diskurse mit." Das bringe sie "natürlich auch seltener ins politische Fadenkreuz". Allerdings ändere sich dies allmählich. Ein Beispiel seien die Gender Studies, deren Gegner ebenfalls mit persönlichen Diffamierungen arbeiteten. "Und die Politik geht mit politisch fragwürdigen Verboten von Gendersternchen auf Stimmenfang." Mehr als rechte Kampagnen sorge ihn allerdings derzeit, dass die Politik in die Universitäten hineinregulieren könnte, etwa in Form einer Bekenntnisklausel gegen Antisemitismus, wie sie bereits in der Berliner Kulturszene etabliert worden sei.
Insgesamt aber, sagt Katrin Kinzelbach, belegten alle seriösen Daten, dass in Deutschland ein sehr hohes Maß an Wissenschaftsfreiheit herrsche. "Diesen Befund kann man natürlich angreifen, etwa mit dem Narrativ, man könne sich an den Hochschulen zu bestimmten Themen nicht mehr frei äußern." Das sei zwar "selbst in den USA absurd". Doch wenn man solch ein Narrativ oft genug wiederhole, werde es irgendwann zu einer "erlebten Wahrheit".
In der Corona-Zeit mussten Wissenschaftler in Deutschland bereits teilweise massive persönliche Anfeindungen und Angriffe aushalten, besonders aus rechtspopulistischen Kreisen, sagt Bachmann. Manche Fachleute hätten sich nach solchen Erfahrungen weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Der deutschen Wissenschaft stehe die echte Bewährungsprobe vielleicht erst noch bevor, "wenn die AfD die prognostizierten großen Wahlerfolge feiert".
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) jedenfalls hat die "Freiheit" zum Thema des Wissenschaftsjahres 2024 gemacht. Das Grundgesetz gewährt den Menschen seit fast 75 Jahren umfassende Freiheitsrechte. Doch diese Freiheit stehe unter Druck. "Das Wissenschaftsjahr 2024 richtet daher ein ganzes Jahr lang seinen Fokus in unterschiedlichen Formaten der Wissenschaftskommunikation auf die Freiheit", heißt es beim BMBF. Man wolle den Dialog über Freiheit fördern, hieß es schon in der Projektausschreibung, "sowohl innerhalb als auch zwischen Gesellschaft und Wissenschaft".
Dieser Artikel erschien zuerst im Tagesspiegel.
Kostenfreien Newsletter abonnieren
Brandbriefe aus Jerusalem
Israels Hochschulleitungen fordern Solidarität von ihren Kollegen aus aller Welt – und kritisieren ausgerechnet die US-Eliteunis Harvard und Stanford scharf. (17. Oktober 2023)
Die richtigen Worte finden
Wie gehen Deutschlands Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen mit dem Nahostkonflikt um? Wie mit Antisemitismus und einer extrem aufgeheizten politischen Stimmungslage? Eine Analyse. (07. Dezember 2023)
In eigener Sache: Blog-Finanzierung
Welche guten Nachrichten ich in Sachen Blogfinanzierung habe, warum ich weiter dringend Ihre Unterstützung brauche – und welche Artikel im Dezember am meisten gelesen wurden.
Bund und Länder haben sich mit drei Wochen Verspätung auf die Fortführung des HAW-Forschungsprogramms geeinigt. Eine gute Nachricht für die Hochschulen – und für die Wissenschaftspolitik insgesamt.
DIE WICHTIGSTE NACHRICHT des Tages für die Hochschulen für angewandte Wissenschaften (HAW): Die Verlängerung ihres Forschungsprogramms steht. Natürlich unter dem derzeit nicht ganz unerheblichen Vorbehalt, dass der Bundeshaushalt 2024 demnächst beschlossen wird, und zwar inklusive der im Entwurf enthaltenen Millionen für die HAW. Mit der am Montagnachmittag verkündeten Einigung von Bund und Ländern in der Sondersitzung der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (GWK) endet somit die Hängepartie der vergangenen Wochen – zumindest, siehe Haushaltskrise, der Teil, auf den die Wissenschaftsminister von Bund und Länder Einfluss nehmen können.
Der GWK-Vorsitzende, Bayerns Wissenschaftsminister Markus Blume (CSU) hatte insofern Recht, als er in der begleitenden Pressekonferenz von einem "wichtigen Signal in diesen herausfordernden Zeiten" sprach, dass Bund und Länder in schwierigen Zeiten gemeinsam handlungsfähig seien. Ob allerdings Blumes gleichzeitige Formulierungen von einem "echten Paukenschlag für die deutsche Forschungslandschaft" und einem "echten Mehr" doch etwas groß geraten sind, kann man angesichts der Eckwerte der Einigung durchaus fragen.
Insgesamt 528 Millionen Euro stecken Bund und Länder gemeinsam in den Fortsetzung des Programms, davon sind sind bis zu 493 Millionen für die direkte Forschungsförderung vorgesehen. Macht auf die mit sieben Jahren erfreulich lange Laufzeit bis 2030 rechnerisch 70,4 Millionen pro Jahr. Eine Steigerung um gut zehn Millionen im Vergleich zum bisherigen Jahresvolumen für die Jahre 2019 bis 2023. Wobei zur Vollständigkeit gehört: Rechnet man die Geldentwertung der vergangenen vier Jahre ein, bleibt real nicht viel Zuwachs übrig.
Vielleicht ist das aber dann doch etwas kleinkariert angesichts des Umstandes, dass die Vereinbarung bis vor kurzem noch ganz auf der Kippe stand. Hatten sich Bund und Länder doch in kaum vereinbar erscheinende Verhandlungspositionen hineinmanövriert: Das BMBF bestand lange auf der Umsetzung des Ampel-Kabinettsbeschlusses, dass der Finanzierungsanteil des Bundes bei neuen Maßnahmen, bei denen der Bund die Länder unterstütze, nur noch maximal 50 Prozent betragen dürfe. Und die Landesfinanzminister hatten bei ihrer Sitzung in Brüssel erst kürzlich darauf beharrt: Auf keinen Fall dürften in der neuen Vereinbarung zum HAW-Programm, und sei es nur für ein einziges Jahr der Laufzeit, die 50 Prozent stehen, um keinen Präzedenzfall für andere Vereinbarungen zu schaffen.
Alles eine Frage der Kommunikation
In der Pressekonferenz nach dem Ampel-Kabinettsbeschluss gefragt, antwortete Bundesforschungsministerin (und GWK-Kovorsitzende) Bettina Stark-Watzinger (FDP) ausweichend, Bund und Länder hätten gemeinsam mehr für die HAW erreicht, beide Seiten hätten sich aufeinander zubewegt. Und sie betonte darüber hinaus: "Dass wir eine Einigung zur Weiterentwicklung und Fortsetzung erzielen konnten, zeigt, welche herausgehobene Bedeutung das Programm und damit die angewandte Forschung für uns hat."
Ganz ähnlich hörte sich das bei Markus Blume an: Es sei am Ende nicht mehr um Prozentanteile gegangen, die Länder brächten in jedem Fall künftig einen "signifikanten Anteil" der 528 Millionen auf. Konkret: knapp 83 Millionen Euro. Was rund 15,7 Prozent entspricht und in der Tat ein großen Unterschied zur bisherigen Kostenverteilung (Bund: 100 Prozent, Länder 0 Prozent) bedeutet – und auch mehr als die zehn Prozent, die die Landesfinanzminister ihrerseits lange zu geben bereit waren. In Wirklichkeit ist die Kostenverteilung freilich noch viel komplizierter, weil altes und neues Programm in der finanziellen Abwicklung ineinanderlaufen.
Jedenfalls hatte man offenbar miteinander vereinbart, sich öffentlich keinen kommunikativen Schlagabtausch über die Frage zu liefern, wer denn nun am Ende seine Maximalposition hat räumen müssen. Eine kluge Entscheidung. Freilich wäre es noch klüger gewesen, wenn die Finanzseite die Wissenschaftspolitik gar nicht erst in solch eine Bredouille hineingebracht hätte.
Auf nochmalige Nachfrage ergänzte Stark-Watzinger, Bund und Länder hätten sich auf ein Stufenmodell geeinigt, bei dem sich die Anteile der Länder über die Jahre hinweg erhöhten. Aber wie genau? Die Bund-Länder-Vereinbarung, auf die Blume und Stark-Watzinger in der Pressekonferenz für die Details verwiesen, war zunächst auf der GWK-Website noch nicht abrufbar.
Hamburgs Finanzsenator: Kein Präjudiz für andere Förderverfahren
Klar ist indes: Der Bund ist über die sieben Jahre hinweg mit durchschnittlich 63 Millionen Euro pro Jahr dabei, er hält damit seine bisherige Finanzierungshöhe in der Summe über die Gesamtlaufzeit wie versprochen stabil. Die 2024er-Finanzierung übernimmt er sogar noch allein, weil für das Jahr in den Landeshaushalten noch kein Geld vorgesehen ist – und weil 2024 noch viel Geld für bis Ende 2023 im Vorgängerprogramm beantragte Projekte fließt. In den Jahren 2025 bis 2030 werden die Länder wegen des Stufenplans gegen Ende der Laufzeit stark steigende Summen drauflegen. Bis zu 50 Prozent im Jahr 2030?
Auf Seiten der Landesfinanzminister, die gleichberechtigte Mitglieder in der GWK sind, hatte Hamburgs Finanzsenator Andreas Dressel (SPD) die Verhandlungen koordiniert. "Wir haben im Interesse der Sache intensiv um eine pragmatische Lösung gerungen", sagte er am Nachmittag. Letztlich sei es gelungen, "in finanzpolitisch extrem herausfordernden Zeiten die wissenschaftspolitisch bedeutsame Förderung der Profilbildung von Hochschulen für Angewandte Wissenschaften in der Forschung fortzuführen". Und dann kam doch die Bemerkung zu der 50-Prozent-Agenda der Ampel: "Ohne Präjudiz für andere Förderverfahren haben wir dazu heute nach Abstimmung mit den Finanzministerien der Länder für dieses Programm grünes Licht gegeben."
Hamburgs Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank (Grüne) sagte, "gerade in diesen Zeiten" seien Investitionen in Wissenschaft und Forschung "wichtiger denn je, um die Innovationsfähigkeit unseres Landes zu erhalten – das sollten auch alle bedenken, die jetzt in Berlin über die Haushalte beraten".
Zu den inhaltlichen Neuerungen am HAW-Programm zählt laut BMBF-Chefin Stark-Watzinger, dass es ein regelmäßiges Monitoring zum Erreichen der Programmziele geben soll. Im BMBF-Haushalt wurde die HAW-Forschungsförderung bereits 2023 in die Titelgruppe der geplanten Deutschen Agentur für Transfer und Innovation (DATI) überführt. Was diese Einbindung praktisch für die Programmabwicklung bedeuten wird, dazu äußerte sich Stark-Watzinger zunächst noch nicht. Geplant ist in der neuen Programmphase aber ein Nebeneinander themenoffener Forschungsförderung und der Möglichkeit, zu aktuellen Bedarfen kurzfristig Förderlinien mit thematischen Schwerpunkten aufzusetzen.
Die Hochschulen für angewandte Wissenschaften begrüßten den GWK-Beschluss. Auch freuten sie sich, dass Blume und Stark-Watzinger sich in der Pressekonferenz deutlich zur hohen Bedeutung der angewandten Forschung und des Transfers an HAWs geäußert hätten, hieß es in einer Stellungnahme des Sprecherkreises der HAW in der Hochschulrektorenkonferenz.
Gleichwohl bleibe das Gesamtvolumen deutlich hinter den von den HAWs geforderten 150 Millionen Euro jährlich zurück und "versetzt sie nicht in die Lage, ihr enormes Potenzial in der anwendungsorientierten Forschung zur Lösung der großen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen deutlich stärker als bisher auszuschöpfen". Die Hochschulen setzten ihre Hoffnung für die Zukunft auf die sich gegenseitig verstärkende Wirkung von angewandter Forschung durch die HAW-Forschungsprogramm und die separate Transferförderung die DATI, "die insbesondere den Bedarfen der HAWs gerecht werden soll".
GWK beschließt Aktionsplan gegen Antisemitismus
In ihrer GWK-Sitzung verurteilten die Minister zugleich mit Entschiedenheit "alle antisemitischen Vorfälle an wissenschaftlichen Einrichtungen in Folge des barbarischen Terrorangriffs der Hamas gegen Israel". Bund und Länder seien sich einig, dass Hochschulen und Forschungseinrichtungen sichere Orte für Bildung und Forschung sein müssten, "in denen Antisemitismus, Hassreden und Rassismus nicht geduldet werden und gegen Rechtsverstöße entschieden vorgegangen wird". Die GWK beschloss, gemeinsam einen Aktionsplan zu erarbeiten, der im Rahmen der nächsten Sitzung der Kultusministerkonferenz beraten werden soll. Diese findet schon in zehn Tagen statt.
"Wir sind uns einig: Jüdinnen und Juden in Deutschland müssen sich sicher fühlen können – auch und gerade an unseren Hochschulen", sagte Markus Blume. Die Hochschulen seien Orte gelebter Demokratie, der Toleranz und der Vielfalt sowie Lernorte für Zivilcourage. "Wir lassen deshalb nicht zu, dass unter dem Deckmantel der Wissenschaftsfreiheit Antisemitismus verbreitet wird." Bettina Stark-Watzinger sagte, durch den "Zivilisationsbruch" des Hamas-Terrorangriffs sei "ein schamloser Antisemitismus auch an Hochschulen in Deutschland sichtbar geworden. Das ist unerträglich und wir müssen uns dem klar entgegenstellen."
Nachtrag am 28. November:
So sieht der Stufenplan aus
Wie Bund und Länder den 50-Prozent-Konflikt lösten – und warum im Jahr 2030 nur noch 60 Millionen in die Projektförderung gehen
Jetzt ist die am Montag in der GWK abgeschlossene neue Bund-Länder-Vereinbarung online. Unter Paragraph 5 findet sich denn auch das, worüber weder Blume noch Stark-Watzinger in der Pressekonferenz im Detail sprechen wollten: die Ausbuchstabierung des Stufenplans. Und tatsächlich: Der Länderanteil an den neu zur Verfügung gestellten Fördermitteln steigt von 0 Prozent (2024) über 2,2 Prozent (2025), 6,8 Prozent (2026), 13,7 Prozent (2027), 20 Prozent (2028) und 25 Prozent (2029) auf 50 Prozent im letzten Jahr der Laufzeit, 2030, an.
Allerdings stehen die Prozentwerte, wohl ganz bewusst, nicht in der Vereinbarung, sondern nur die absoluten Zahlen. Klar wird aber auch so, weshalb Hamburgs Finanzsenator Dressel das mit dem "Kein Präjudiz" am Montag so hervorgehoben hatte.
Ganz echt sind die 50 Prozent Länderanteil im letzten Jahr allerdings nicht, denn die Kosten für das Programmmanagement und das in der Form neue programmbegleitende Monitoring trägt der Bund laut Vereinbarung allein. Dieser Ausgabenposten ist über die gesamte Laufzeit mit 35 Millionen berechnet, beträgt also rechnerisch sieben Millionen pro Jahr. Was, auf die Gesamtausgaben fürs Jahr 2030 bezogen, den Bundesanteil wiederum auf gut 55 Prozent erhöhen würde.
Eigentlich der perfekte Kompromiss, weil so beide Seiten intern sagen können, sie hätten ihr Ziel erreicht. Was allerdings aus Sicht der HAWs bitter ist: Der Bund fährt seine Beteiligung parallel zum stark steigenden Länderanteil von 2029 an drastisch zurück. 2030 gibt er so nur noch 30 Millionen in die Projektförderung, das Programmvolumen insgesamt sinkt dann auf 60 Millionen Euro (plus Abwicklungskosten) ab. Die höchste Jahrestranche wird 2028 mit 81,25 Millionen Euro erreicht.
Kostenfreien Newsletter abonnieren
In eigener Sache: Bitte unterstützen Sie meine Arbeit
Die Finanzierung des Blogs bleibt eine Herausforderung – bitte unterstützen Sie meine Arbeit!
Informationskommunikation (Mediennutzung) generell. Restriktionen Informationskommunikation generell. Soziopolitische Einstellungen. Kommunikationsmotive. Online-Zugang. Restriktionen Interpersonale und Partizipationskommunikation. Qualitätsbewertungen. Bundestagswahl 2002. Informationskommunikation am 11. September 2001. Irak. Anti-Amerikanismus. Hartz IV. Landtagswahl. Klimawandel. Krisen. Bürgerinitiativen.
Themen: 1. Folgende Themen wurden zu jedem Erhebungszeitpunkt wiederholt identisch gefragt: Informationskommunikation (Mediennutzung) generell: Fernsehgerät im Haushalt; Rezeptionshäufigkeit von Nachrichtensendungen im Fernsehen; am häufigsten gesehene Nachrichtensendung; Rezeptionshäufigkeit politischer TV-Magazine; Anzahl der Tage pro Woche mit Tageszeitungsnutzung; Interesse an den Themen Politik, Wirtschaft, Lokales; Lesen von Nachrichtenmagazinen oder Wochenzeitungen; Abfrage der gelesenen Nachrichtenmagazine oder Wochenzeitungen (Spiegel, Focus, Die Zeit); Beurteilung der wirtschaftlichen Lage im Land; Politikinteresse; Online-Zugang: genereller Online-Zugang; Online-Zugang zu Hause; meistgenutzter Online-Zugang; Zeitpunkt der ersten Internetnutzung; Nutzungsdauer pro Woche; Mitgliedschaften (Gewerkschaft, Partei und Name der Partei, Bürgerinitiative, Umweltorganisation oder Tierschutzorganisation, sonstige Organisationen, Name sonstiger Organisationen); aktive oder passive Mitgliedschaft; Internetaktivitäten im Zusammenhang mit der aktiven Mitarbeit; politische Partizipation: Teilnahme an einer Demonstration und an einer öffentlichen Versammlung und Teilnahmehäufigkeit im letzten Jahr; Häufigkeit eigener Wortmeldungen bei einer öffentlichen Versammlung; Kontakte mit Politikern (online, persönlich, telefonisch oder per Post) und Kontakthäufigkeit; Online-Leserbriefe im letzten Jahr und Häufigkeit von Online-Leserbriefen; herkömmliche Leserbriefe im letzten Jahr und Häufigkeit herkömmlicher Leserbriefe zu politischen Themen; Teilnahme an einer Online Unterschriftensammlung und Teilnahmehäufigkeit; Teilnahme an herkömmlichen Unterschriftenaktionen und Teilnahmehäufigkeit; politische Spenden.
2. Mindestens in einer oder in mehreren Wellen wurde gefragt: Dauer der täglichen Fernsehnutzung in Minuten; gelesene Tageszeitungen; Interesse an den Themen Kultur, Sport und Anzeigen; Nutzung der Wochenzeitung Die Woche; Anerkennung im Freundeskreis für persönliches Informieren über Politik; politische Informationen aus der Zeitung ermöglichen Teilhabe und den Einsatz für Andere (Altruismus); Anerkennung im Freundeskreis für persönliches Informieren über Politik in den Medien sowie persönlicher Nutzen; Restriktionen Information herkömmlich (Verzicht auf Zeitung aus Kostengründen und Zeitmangel, politische Berichte in der Zeitung sind schwer verständlich (Politikkompetenz), zu großer Aufwand); Beurteilung der persönlichen wirtschaftlichen Lage; generelles Personenvertrauen; Institutionenvertrauen (Bundestag, Behörden, Bundesregierung, Gerichte, Polizei, Parteien); Meinung zur Medienberichterstattung (häufige Berichte über politische Skandale, Negativismus im Hinblick auf Parteien und Politiker, Demokratieunterstützung); Demokratiezufriedenheit (Schulnoten); Wertorientierung (persönliche Freiheit versus Sicherheit, persönliche Freiheit versus Gleichheit, Sicherheit versus Gleichheit); Wertorientierung (Skala: Gesetz und Ordnung respektieren, Meinungen anderer anerkennen, tun was andere tun, Umweltbewusstsein, Christliche Normen und Werte, Vergnügen, Erfolg, technisch auf dem neusten Stand, Sparsamkeit, Schönes leisten, eigene Kinder); psychologische Selbstcharakterisierung anhand von Gegensatzpaaren (Big 5); Selbsteinstufung Links-rechts (Split: Rechts-links); Medieneinfluss: Beurteilung des politischen Einflusses der Medien und dessen Entwicklung; Medien versus Bürger haben mehr Einfluss auf die Politik; politische Einstellung (geringe Responsivität von Politikern, geringe politische Einflussüberzeugung als Bürger); Restriktion Politikaufwand und Politikkompetenz; Wichtigkeit ausgewählter Kommunikationsmotive: persönlicher Nutzen, Politik muss sich auszahlen, Altruismus: persönliches Engagement für andere und gesellschaftliches Engagement, Anerkennung: Mitreden bei politischen Diskussionen, politischer Sachverstand wird geschätzt, Teilhabe: Wissen, was im Land und am Wohnort passiert, von politischen Entwicklungen nicht überrascht werden); Online-Zugang am Arbeitsplatz, in der Schule, Universität oder einem anderen Ort; meistgenutzter Online-Zugang; Internetnutzung in den letzten vier Wochen; Art des Online-Zugangs zu Hause; Internetznutzung am Vortag und Nutzungsdauer in Minuten; Restriktion der Internetnutzung (Kosten, schlecht entwickelte Internet-Technik, mangelnde Kompetenzen, Störungen während der Internetnutzung (sozialer Druck), Internet fasziniert, mehr Probleme mit Computern als andere, Zeitmangel); exklusive Nutzung des Internetzugangs zu Hause; Abrechnungsmodell des Internetzugangs (Flatrate oder nach Nutzung); mobiler Online-Zugang; Häufigkeit der Internetnutzung für: das Senden und Empfangen von E-Mails, Gesprächsforen bzw. Newsgroups oder Chatten, gezielte Informationssuche, Überspielen oder Herunterladen von Dateien, Surfen, Computerspiele, Homebanking, Online-Shopping: Bestellen von Büchern und CDs bzw. von anderen Waren, Behördengänge erledigen); persönliches Profil bei einem Online-Netzwerk und Nutzungshäufigkeit; Anzahl der Profile; Häufigkeit des Versendens von Links; Restriktionen Interpersonale und Partizipationskommunikation (Politik ist zu kompliziert um richtig darüber sprechen zu können (Kompetenz), im Bekanntenkreis spricht man nicht gerne über Politik (sozialer Druck), zu wenig Zeit für politische Gespräche; Meinung zur politischen Partizipation: Politik ist zu kompliziert, um selbst politisch aktiv zu werden (Politikkompetenz), im Bekanntenkreis ist politisches Engagement nicht üblich (sozialer Druck), zu wenig Zeit für politisches Engagement); Qualitätserwartungen an ein politisches Online-Angebot (Links und Hinweise auf andere politische Angebote, klare politische Linie, Vermittlung politischer Informationen auf neutrale Weise, Protestmöglichkeit, direkte Kontaktaufnahme mit Verantwortlichen, Veranstaltungstermine, Möglichkeit zum Austausch, Forum für unterschiedliche politische Positionen, Hintergründe und Details zum aktuellen politischen Geschehen, vernachlässigte Themen, eigene Meinung äußern, knappe Darstellung der wichtigsten politischen Ereignisse, ausführliche Erörterung der Hintergründe des aktuellen Geschehens, in anderen Medien vernachlässigte Probleme); Informationskommunikation generell: Anfordern politischer Broschüren (Online, telefonisch oder per Post) und Anforderungshäufigkeit im letzten Jahr; Internetrecherche für politische Informationen und Häufigkeit; politisches Thema der Internetrecherche; Nutzen politischer Online-Informationen für eigene politische Teilhabe am Wohnort oder im Land; Anerkennung im Freundeskreis für Suche nach politischen Online-Informationen; persönlicher Nutzen, Anerkennung durch andere und Nutzen für andere (Altruismus) durch politische Online-Informationen; Restriktionen Online-Information (zu großer Aufwand, schwer verständlich (Politikkompetenz); Internetseite eines Politikers besucht; Name dieses Politikers; präferiertes Online-Angebot zum tagesaktuellen politischen Geschehen und Nutzungshäufigkeit im letzten Jahr; Internetseite einer Partei besucht und Angabe der Partei; Rezeptionshäufigkeit von politischen Weblogs, politischen Artikeln bei Wikipedia, politischen Videos, Podcasts bzw. Videocasts; Häufigkeit der Weiterleitung von Links zu politischen Themen; Nutzungshäufigkeit von Online-Netzwerken für politische Aktivitäten und Beschreibung der Aktivität; Mitgliedschaft in einem Sportverein; aktive Online-Mitarbeit in eine Partei, Bürgerinitiative, Umweltorganisation oder Tierschutzorganisation oder sonstigen Organisation; Anteil der jeweiligen Internetaktivitäten an der aktiven Mitarbeit; persönlicher Nutzen und Nutzen für andere aus der Online-Mitarbeit in einer Organisation bzw. generell durch die Mitarbeit; Anerkennung im Freundeskreis für Online-Mitarbeit in einer Organisation bzw. für generelle Mitarbeit; Nutzen von Internetaktivitäten bzw. von aktiver Mitarbeit für eigene politische Teilhabe am Wohnort oder im Land; Ehrenamt und Bereich ehrenamtlicher Tätigkeit; Behördenkontakte online und herkömmlich für Beschwerden und Kontakthäufigkeit; persönlicher Nutzen und Anerkennung im Freundeskreis durch Kontaktaufnahme mit politisch Verantwortlichen; Thema des letzten Online-Leserbriefs sowie des letzten herkömmlichen Leserbriefs; Online-Kommentar zu einem journalistischen Beitrag verfasst; persönlicher Nutzen und Nutzen für andere durch Online-Leserbriefe und herkömmliche Leserbriefe; Online-Leserbriefe und herkömmliche Leserbriefe aus Pflichtgefühl; Anerkennung im Freundeskreis für Online-Leserbriefe und herkömmliche Leserbriefe; persönlicher Nutzen durch herkömmliche Leserbriefe; herkömmliche Leserbriefe aus Pflichtgefühl; Anerkennung im Freundeskreis für herkömmliche Leserbriefe; Restriktionen gegen Online-Leserbriefe und herkömmliche Leserbriefe (Aufwand und Politikkompetenz); persönlicher Nutzen durch die Teilnahme an einer Online-Unterschriftensammlung bzw. einer herkömmlichen Unterschriftensammlung; herkömmliche bzw. Online-Unterschrift als persönliches Engagement für andere (Altruismus) bzw. aus Pflichtgefühl; Anerkennung im Freundeskreis für die Teilnahme an herkömmlichen bzw. Online-Unterschriftenaktionen; private Homepage und Dauer des Bestehens; Nutzung der Homepage zur politischen Meinungsäußerung; eigenes Weblog und Nutzung zur politischen Meinungsäußerung; politische Online-Banner und Aufkleber; persönlicher Nutzen und Anerkennung im Freundeskreis durch diese politischen Online-Banner und Aufkleber; herkömmliche und Online-Anforderung politischer Broschüren und Häufigkeit; politische Spenden online; Angabe der Organisation bzw. des Spendenzwecks von Online-Spenden und herkömmlichen politischen Spenden; persönlicher Nutzen und Anerkennung im Freundeskreis für politische Spenden; politische Spenden aus Pflichtgefühl; politischer Bezug des eigenen Web 2.0-Angebots; Häufigkeit von Online-Gesprächen im Freundeskreis über politische Themen; Thema dieser Online-Gespräche; persönlicher Nutzen und Nutzen für andere durch politische Online-Gespräche sowie Anerkennung im Freundeskreis; politische Online-Gespräche ermöglichen politische Teilhabe; Restriktionen politische Online-Gespräche (Aufwand und Politikkompetenz); Häufigkeit politischer Gespräche am Arbeitsplatz oder im Freundeskreis und Thema dieser Gespräche; persönlicher Nutzen und Nutzen für andere durch politische Gespräche am Arbeitsplatz oder im Freundeskreis und Anerkennung im Freundeskreis für diese politischen Gespräche; politische Gespräche ermöglichen Teilhabe; Restriktionen politische Gespräche (Aufwand und Politikkompetenz); Anteil politischer Aktivitäten an der gesamten Online-Zeit; eigenes politisches Web 2.0-Angebot erstellt; Podcast erstellt; eigenes Video z.B. bei ´YouTube´; Qualitätsbewertung des selbst erstellten Angebotes; präferiertes Webseiten-Angebot für Online-Gespräche; Qualitätsbewertung dieses Angebots der interpersonalen Kommunikation; Qualitätsbewertung des präferierten Angebotes der Informationskommunikation; Nutzungshäufigkeit von Online-Angeboten im letzten Jahr (Spiegel Online, Focus Online, Süddeutsche Online, FAZ.net, regionale Tageszeitung, RTL.de, Online-Portale wie T-Online und von öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten); Qualitätsbewertungen dieser Angebote der Informationskommunikation; Wahlbeteiligung bei den Europawahlen 2009 und 2004 und Wahlentscheidung; Qualitätsbewertung ausgewählter Informationsquellen zur Europawahl.
Bundestagswahl 2002: Online bzw. herkömmlich Broschüren angefordert, Besuch von Wahlkampfversammlungen vor der Bundestagswahl, herkömmliche und Online-Kontakte mit Politikern im Wahlkampf, herkömmliche politische Gespräche über die Wahl 2002 und jeweilige Häufigkeit; politische Online-Gespräche über die Wahl (nur bei intensiver Online-Kommunikation) und Häufigkeit; Häufigkeit von Überzeugungsversuchen vor der Wahl; Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2002.
Informationskommunikation am 11. September 2001: Quelle für Erstinformation über Anschläge; Uhrzeit und Ort der Erstinformation; genutzte weitere Informationsquellen über 9/11; Informationssuche im Internet und konkrete Art der Internetrecherche (Besuch bekannter Webseiten, Suche über Suchmaschinen, interpersonale Suche im Netz); andere Personen informiert; genutzter Informationsweg (persönlich, Anruf, per SMS oder E-Mail); Meinung zu ausgewählten Aussagen zu 9/11 (Anschläge als nicht entschuldbares Verbrechen, Angriff gegen alle freiheitlichen Demokratien, friedliches Zusammenleben der Kulturen nur schwer möglich, Ereignisse als Folge der verfehlten Politik der USA, den USA geschehen Ereignisse recht); persönliche Meinung zu einer militärischen Beteiligung Deutschlands im Kampf gegen den Terror und antizipierte öffentliche Meinung; Beurteilung (Schulnoten) der Berichterstattung in den Medien zu 9/11 (Fernsehen, Radio, Tagezeitung, Zeitschriften und Internet); eigene Redebereitschaft zum Thema Bundeswehreinsatz im Kampf gegen den Terror.
Wichtigkeit ausgewählter politischer Problemfelder (Arbeitslosigkeit, Integration, internationaler Terrorismus, hohe Steuerbelastung, Konflikt mit dem Iran, offene Nennung weiterer wichtiger Problemfelder); individuelle Agenda: persönliche Nachteile durch Gesetz oder politische Entscheidung; dringend zu lösendes Problem; Wichtigkeit ausgewählter Problemfelder im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise (soziale Notlage, Macht von Banken und Konzernen, Belastung des Mittelstandes, Vernachlässigung des Umweltschutzes); kompetenteste Partei zur Lösung dieser Probleme.
Irak: Bewertung der Rolle ausgewählter Akteure im Irak-Konflikt (Deutschland, irakischen Bevölkerung, UNO, Internationaler Terrorismus, Saddam Hussein und USA); Besorgnis wegen Irak-Konflikt; persönliche Meinung und antizipierte öffentliche Meinung zu einer militärischen Beteiligung Deutschlands im Irak; eigene Redebereitschaft zum Thema Bundeswehreinsatz im Irak-Konflikt.
Anti-Amerikanismus: Auslandsreisen (USA, Frankreich, Russland, Türkei); Häufigkeit der Aufenthalte in den USA; Gesamtaufenthaltsdauer in den USA; persönliche Kontakte zu Amerikanern; eigene Sympathie für die USA, Frankreich, Russland und die Türkei; antizipierte Sympathie der Deutschen für die USA; Meinung zu ausgewählten Aussagen über die USA (stärkerer Fokus auf Geld, größere Freiheit des Einzelnen, oberflächlichere bzw. vielfältigere Kultur, rücksichtslose Außenpolitik, starke USA kann für internationale Sicherheit sorgen); Beurteilung der Politik von US-Präsident Bush.
Hartz IV: Bekanntheit und eigene Betroffenheit von Hartz IV; empfundenes Ausmaß der Veränderung durch Hartz IV; Nutznießer der Einführung von Hartz IV; Hauptverantwortliche für hohe Arbeitslosigkeit; Beurteilung von Hartz IV (erster Schritt, notwendig und richtig, geht zu weit); persönliche Meinung und antizipierte öffentliche Meinung zu Hartz IV; Redebereitschaft mit Befürwortern und Gegnern von Hartz IV; geeignete Maßnahmen zur Einflussnahme auf Reformen (Gespräche, Politikerkontakte und Leserbriefe (online und herkömmlich), Blockaden, Angriffe auf Internet-Server, Teilnahme an einer genehmigten Demonstration, Gewalt gegen öffentliches Eigentum, Teilnahme an einer Versammlung, einer Unterschriftensammlung (online und herkömmlich, eigene Website, Spende für Organisationen); Beurteilung der Medienberichterstattung über Hartz IV.
Landtagswahl: präferierte Informationsquelle für Informationen zur Landtagswahl; Online-Informationsquelle zur Landtagswahl (offene Nennung oder auf Nachfrage); Information über Landtagswahl online allgemein oder konkretes Angebot; Besuch von Internetseiten von Ministerien und Behörden, Umweltorganisationen, Industrie- und Wirtschaftsverbänden, großer etablierter Medienanbieter, private Homepages, Weblogs und Internetforen, Wikipedia).
Klimawandel: Einstellung zum globalen Klimawandel (Skala); eigene Bereitschaft Energie zu sparen (weniger Auto fahren, weniger heizen, Energiesparlampen, Bezug von Ökostrom, Kauf energiesparender Haushaltsgeräte, weniger Flugzeugreisen, Engagement für stärkere Gesetze gegen den Klimawandel); Einstellung zum Schlankheitswahn (Skala).
Krisen: Interesse an negativen Ereignissen am Wohnort und im Allgemeinen; eigenes Verhalten bei Krisen am Wohnort (Ursachensuche, Frage nach Verantwortlichen, gezielte Informationssuche, nicht darum kümmern); Wichtigkeit ausgewählter Informationsquellen bei negativen Ereignissen am Wohnort (Nachrichten in den Medien, Internetseite des betroffenen Unternehmens, Anruf oder E-Mail an das Unternehmen).
Bürgerinitiativen: Rolle von Bürgerinitiativen; Bereitschaft zur Gründung bzw. zur Mitgliedschaft in einer Bürgerinitiative; aktive Mitglieder von Bürgerinitiativen wurden zusätzlich gefragt: Anzahl der Mitgliedschaften in Bürgerinitiativen; thematische Beschäftigung; Dauer der Mitgliedschaft; Informationskanal für Erstinformation; Aktivitäten der Bürgerinitiative.
Demographie: Religionszugehörigkeit; Wichtigkeit von Religion für den Befragten; Gemeindegrößenklasse.
Sozialer und familiärer Hintergrund. Aspekte des Schülerdaseins.
Ausbildungs- und Berufswahl. Antizipationen zum neuen Lebensabschnitt, zu Ausbildung und Beruf und gesellschaftlicher Stellung (1. Welle) bzw. Erfahrungen und Verhalten im neuen sozialen Kontext (2. Welle).
Allgemeine Vorstellungen zu Universität und Studium. Vorstellungen zu Wissenschaft und Forschung Vorstellungen über Akademiker. Berufsorientierungen und Berufswerte. Vorstellungen zu Geschlechterrollen. Vorstellungen zu Gesellschaft und sozialer Ungleichheit. Politische Partizipation und Kultur. Allgemeine Werte, Ziele und Dispositionen. Aspekte des Selbst. Moralisches Urteil.
1. Welle: Themen: Direkter Übergang nach der Grundschule auf das Gymnasium; Übergang auf das Gymnasium selbstverständlich; Zeitpunkt des Wechsels auf die derzeitige Schule (seit der Unterstufe, Mittelstufe oder Oberstufe); Klasse wiederholt vor der Oberstufe bzw. in der Oberstufe; Abgang vom Gymnasium erwogen; Klassensprecher, Kurs- oder Schulsprecher; Mitarbeit an einer Schülerzeitung; Mitgliedschaft in kirchlich religiösen bzw. politischen Jugendgruppen oder Sportvereinen; Häufigkeit ausgewählter Aspekte des persönlichen Unterrichts- und Arbeitsverhaltens bei den Hausaufgaben (z.B. Bibliotheksnutzung, Aufschieben der Hausaufgaben, unkonzentriert, Beteiligung an Diskussionen, Einbringen von Vorschlägen usw.); Einstellung zu Schule (Skala: größere Chancen für Schüler aus besserem Elternhaus, Leistungsstreben einzelner Schüler zerstört die Klassengemeinschaft, Chancengleichheit, Leistung zum eigenen Vorteil, Ansehen bei den Mitschülern hängt von der Schulleistung ab, Wert eines Schülers ist unabhängig von seiner Schulleistung); Stellenwert allgemeiner Anforderungen der eigenen Schule in der Oberstufe (z.B. Faktenwissen, Gruppenarbeit, eigenen Standpunkt entwickeln); Schwierigkeiten bei ausgewählten Tätigkeiten (selbständiges Arbeiten, Aufgaben in Teilschritte zerlegen, eigenen Standpunkt entwickeln, Verstehen abstrakter Zusammenhänge, Referate, Wesentliches von Unwesentlichem unterscheiden, präzise Ausdrucksweise bei Diskussionen, Argumente überzeugend vorbringen); in der Oberstufe eingeübte Arbeitstechniken mit Nutzen für Studium oder Beruf; persönliche Erfahrungen in der Oberstufenzeit (Engagement in Arbeitsthemen, Vermeidung abstrakter Zusammenhänge, Einblick in die Verflechtung wissenschaftlicher Disziplinen, rationelles Arbeiten gelernt, lange Beschäftigung mit interessanten Dingen fällt schwer, eigene Lernschwerpunkte setzen, erhöhte Urteilsfähigkeit über gesellschaftliche Probleme, wissenschaftliche Methoden kennengelernt, Spaß bei Referaten, Verständnis für wissenschaftliches Denken, gute Vorbereitung auf das Studium, Förderung der persönlichen Entwicklung); persönliche Herangehensweise anhand von Gegensatzpaaren im Hinblick auf größere Anstrengung bei Nichtgelingen, Zuversicht bei neuen Aufgaben, Spaß und Spannung bei komplizierten Aufgaben, keine Sorgen bei Nichtkönnen, Prüfungsangst, Anpacken von Schwierigkeiten; Entwicklung der Schulleistungen in den letzten zwei Jahren; Durchschnittsnote in studienplatzrelevanten Fächern; Beurteilung des Abiturverlaufs; Bewertung der persönlichen Anstrengungen im Vergleich zu den Mitschülern; Anstrengung auf bestimmte Fächer oder gleichmäßig; Nachhilfe erhalten; Stundenzahl für schulische Dinge außerhalb des Unterrichts und empfundener Belastungsgrad; Lernanreize (z.B. Fach entsprach den Neigungen, neuer Stoff, Lernen ohne Druck usw.); Gründe für bessere und für schlechtere Schulnoten (Lehrer erklären gut versus nicht gut, Glück versus Pech, Begabung versus fehlende Begabung, geringe versus hohe Anforderungen, Anstrengung versus geringe Anstrengung); persönliche Lernmotivation und Leistungsmotivation anhand ausgewählter Aussagen; genügend Zeit für andere Dinge trotz Abitur; Kontakthäufigkeit in der schulfreien Zeit mit: Familie, Schülern, berufstätigen Jugendlichen, Studenten und Lehrern der eigenen Schule; Häufigkeit ausgewählter Freizeitbeschäftigungen; Werte und Lebenseinstellungen (angenehmes Leben, aufregendes Leben, Frieden, Schönheit, Gleichheit, Sicherheit für die Familie, Freiheit, Glück, innere Harmonie, Liebe, öffentliche Sicherheit, Vergnügen, Religiosität, Selbstachtung, soziale Anerkennung, Freundschaft, Weisheit).
Schulbildung der Eltern, Berufsausbildung der Eltern; jeweilige Fachrichtung von Vater und Mutter; Berufstätigkeit der Mutter in den Zeiträumen Kindheit, Volksschulzeit, erste Jahre der Gymnasialzeit und während der letzten drei Schuljahre; berufliche Stellung der Eltern; gesellschaftliche Stellung der Eltern auf einer Oben-Unten-Skala; zukünftige eigene gesellschaftliche Stellung im Vergleich zu den Eltern; Akademikerstatus des Großvaters; Geschwisterzahl; studierende Geschwister; Konfession; Wohnen im Elternhaus oder außerhalb z.B. in eigener Wohnung; Beurteilung des Verhältnisses zu Vater und Mutter; Anforderungen der Eltern (gute Schulleistungen, Rücksicht, eigene Standpunkte vertreten, kritisches Denken, Interessenvielfalt, ordentliches und pünktliches Arbeiten, Sachlichkeit, mit ungewohnten Situationen zurechtkommen, nach Elternwünschen richten); Grad der elterlichen Kontrolle; Anregung und Unterstützung durch die Eltern im Hinblick auf Weiterbildung, Auseinandersetzung mit politischen und sozialen Problemen sowie kulturelle Veranstaltungen; Häufigkeit von Familiengesprächen über: Schule und Lehrer, Theater, Konzerte, Berufspläne, berufliche Fragen an Familienmitglieder, Studium, Politik, Literatur, moralisches Verhalten und Wissenschaft; Erwartungen von Vater und Mutter an die Abiturnote; Reaktion von Vater und Mutter auf bessere und auf schlechte Schulleistungen; Charakterisierung des Erziehungsverhaltens der Eltern (liebevoll, aufgeschlossen, bestimmend, freizügig, nachgiebig, fordernd, inkonsequent, ängstlich; persönliche Übereinstimmung mit den Elternvorstellungen; Ambiguitätstoleranz (Tolerance of ambiguitiy); Abgang vom Gymnasium als großer Lebenseinschnitt; Erwartungen an den neuen Lebensabschnitt; erwartete Schwierigkeiten und Sorgen (z.B. Leistungsanforderungen, Finanzierung usw.); Zuversicht für den neuen Lebensabschnitt; Interesse für ausgewählte Fachgebiete; Beurteilung der eigenen Begabung in den Bereichen Mathematik, Naturwissenschaften, Sprachen, Kunst/Musik, Sport, Technik/Praktisches; Ausbildungswunsch nach Neigungen; Festlegung auf diesen Wunsch; Pläne nach dem Abitur; geplante spätere Ausbildung; voraussichtliche Ausbildung; Gründe für die Nicht-Verwirklichung des Ausbildungswunsches; Zeitpunkt und Sicherheit der Ausbildungspläne; Wichtigkeit ausgewählter Gründe für die Ausbildungsentscheidung; Schwierigkeitsgrad der Ausbildung; Einschätzung der Chancen auf einen guten Ausbildungsabschluss; Art der Ausbildungsfinanzierung; Befragte mit Studienwunsch wurden gefragt: Prüfungsordnung des geplanten Studienfaches gelesen; erwarteter Anschluss der Lehrinhalte an die Schule; geplante Gestaltung des ersten Semesters; geplanter Abschluss in der Mindeststudienzeit; voraussichtliche Studiendauer; Wunsch nach Hochschulwechsel während des Studiums; wieder alle: Wichtigkeit ausgewählter Kriterien bei der Wahl des Ausbildungsortes; Gründe für geplanten Auslandsaufenthalt und Land; Ferienaufenthalt im Ausland bzw. Schüleraustausch; persönliche Informiertheit über Auslandsstudium; eigene Finanzierung eines Auslandsstudiums oder Stipendium erforderlich; persönliche Vorteile und Nachteile eines Auslandsstudiums; Überwiegen von Vorteilen oder Nachteilen eines teilweisen Auslandsstudium.
Numerus Clausus: Informiertheit über Verfahren der Studienplatzvergabe; persönliche Folgen der Zulassungsbeschränkungen; mögliche Alternativen, falls das Wunschstudium durch den Numerus Clausus nicht möglich wäre; Meinung zum Numerus Clausus (Notendurchschnitt als Indikator für erfolgreiches Studium, Abiturnoten geben korrekt die Leistungen in einzelnen Fächern wieder, hält Unbegabte vom Studium ab, Verfahren schließt zu viele fähige Abiturienten vom Studium aus); bei guten Abiturnoten nur Fächer mit hohem Numerus Clausus wählen; geeignete Zulassungsverfahren solange Numerus Clausus besteht; Präferenz nach Berufschancen versus Interesse bei der Studienfachwahl.
Berufstätigkeit: Sicherheit des Berufswunsches und angestrebter Beruf; präferierter Bereich (öffentlicher Dienst, Privatwirtschaft, Organisationen, selbständig); Wichtigkeit ausgewählter Berufsaspekte; Informationsquellen für die eigene Ausbildungs- und Berufswahl und deren Entscheidungseinfluss; Einschätzung der Wahrscheinlichkeit auf eine Anstellung unmittelbar nach Ausbildungsende; Wahrscheinlichkeit von Arbeitszufriedenheit, Menschen helfen können, Ideen verwirklichen, wissenschaftlicher Tätigkeit, viel Geld verdienen, hohe Position im zukünftigen Beruf; Selbsteinschätzung der Schichtzugehörigkeit in 10 Jahren auf einer Oben-Unten-Skala; erwartete eigene Position in 10 Jahren im Vergleich zur gesamten Bevölkerung bezüglich Einkommen, Ansehen, Ausbildungsniveau, gesellschaftlichen Einfluss und Vermögen (Skalometer); Einschätzung des Durchschnittsverdienstes in ausgewählten Berufen (gruppiert); Einschätzung des monatlichen Bruttoeinkommens im angestrebten Beruf; bessere Eignung von Frauen oder Männern in ausgewählten Aufgabenbereichen; vermutete Gründe gegen die berufliche Gleichstellung der Frau; derzeitige Gleichstellung oder Benachteiligung der Frau in den Bereichen Ausbildung, Beruf, Politik, Führungspositionen und Familie.
Universität und Studenten: Informiertheit über Universität und Studium allgemein und ausgewählte Aspekte des Studiums; perzipierte Anforderungen der Universität an Studenten; Vergleich der Anforderungen der Oberstufe mit denen eines Universitätsstudiums im Hinblick auf Intelligenz, Leistung, Selbständigkeit, Selbstbewusstsein, Kooperationsfähigkeit, Zuverlässigkeit und abstraktes Denken; geschätzter wöchentlicher Zeitaufwand für ein Studium; Vergleich von Universitätsstudenten mit gleichaltrigen Nicht-Studierenden anhand ausgewählter Eigenschaften und Fähigkeiten; Rangfolge der wichtigsten Aufgaben der Universität; Wichtigkeit ausgewählter Ziele eines Hochschulstudiums für Männer und Frauen (Allgemeinbildung, Aufstiegschancen, Berufswissen, Ansehen, Persönlichkeitsentfaltung); bessere Eignung von Frauen oder Männern für ausgewählte Studiengänge; Nützliches für die Entwicklung eines Studenten (Hochschulwechsel, Beteiligung an einem Forschungsprojekt, Auslandsstudium, frühzeitige Spezialisierung im Fachgebiet, Besuch von fachfremden Vorlesungen, praktische Anwendung des Gelernten); besondere Verantwortung von Akademikern für die Allgemeinheit; Bereiche der besonderen Verantwortung; Erwartbarkeit und Art der besonderen Eigenschaften und Fähigkeiten von Akademikern; Beurteilung der Vorbereitung für ausgewählte Aufgaben von Akademikern im Vergleich zu Nicht-Akademikern (Formulieren gesellschaftlicher Ziele, kritische Beurteilung politischer Ereignisse, Ideenentwicklung, Führungspositionen in Politik, Verwaltung und Wirtschaft, unvorhergesehene Situationen im Beruf meistern, Aufklärung der Bevölkerung über soziale und politische Entwicklungen); allgemein höheres Einkommen, höheres Ansehen bzw. größerer politischer Einfluss von Akademikern im Vergleich zu Leuten ohne Studium; höheres Einkommen, höheres Ansehen bzw. politischer Einfluss von Akademikern sind gerechtfertigt; Akademiker haben bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt; Bewusstsein über persönliche Qualifikationen (z.B. Allgemeinbildung, logisches Denken, Verantwortungsbewusstsein u.a.); Wichtigkeit der Lebensbereiche Politik, Sport, Kunst, Freizeit, Schule, Wissenschaft, Lernen, Familie, Beruf und Geselligkeit; feste Vorstellungen oder Unsicherheiten im Hinblick auf: soziale Werte, Dringlichkeit sozialer Probleme, präferierte politische Ziele, eigene Fähigkeiten, worauf es im Leben ankommt, Bedingungen für gesellschaftlichen Erfolg, Ziele wissenschaftlichen Denkens, Bedeutung von Bildung.
Wissenschaft: Beschäftigung mit wissenschaftlichen Problemen in der Schule bzw. außerhalb; Häufigkeit der Rezeption von wissenschaftlichen Büchern, öffentlichen Vorträgen und Sendungen in Funk und Fernsehen, Teilnahme an wissenschaftlichen Diskussionen und Durchführen eigener wissenschaftlicher Experimente; Orientierung an ausgewählten Kriterien zur Beurteilung des wissenschaftlichen Werts einer Arbeit; Zweck wissenschaftlichen Arbeitens; Rangfolge der wichtigsten Aufgaben von Wissenschaft (technischer Fortschritt und Wohlstand, gegen Unterdrückung und Unfreiheit, für geistige Aufklärung und kulturelle Entwicklung); Einstellung zu Wissenschaft und Wissenschaftlern (Skala); Meinung zu ausgewählten Forderungen zu Wissenschaft und Forschung (Skala); präferiertes Verhalten eines Wissenschaftlers im Falle von Dilemmata (z.B. eigene Theorien selbst in Frage stellen versus Kollegen die Schwachstellen herausfinden lassen).
Gesellschaft: Allgemeine Bewertung der Größe der sozialen Unterschiede im Land und konkrete Bewertung der Einkommensunterschiede, der Unterschiede in Vermögen und Besitz, im sozialen Ansehen und im politischen Einfluss; empfundene Gerechtigkeit der sozialen Unterschiede im Land; Vorhandensein von Bevölkerungsgruppen mit mehr Besitz oder Einkommen als ihnen zusteht bzw. von Gruppen oder Organisationen mit mehr politischem Einfluss als ihnen zusteht; soziale Schichteinteilung der Bevölkerung im Land anhand von vier Skizzen; Beurteilung der Relevanz ausgewählter Aspekte für die gesellschaftliche Stellung (z.B. hoher oder niedriger Ausbildungsabschluss, politisch links oder rechts, hohes oder niedriges Einkommen usw.); gesellschaftlicher Aufstieg in die Oberschicht ohne Universitätsabschluss ist möglich; Höhe des verdienten Ansehens in der Gesellschaft bei ausgewählten Berufen; Beurteilung des politischen Einflusses ausgewählter Gruppen und Organisationen; Beurteilung des Einkommens von Lehrern, Arbeitern, Ärzten, Rentnern, Unternehmern, Krankenschwestern, Verwaltungsbeamten und Akademikern allgemein; Verringern der sozialen Unterschiede im Land ist möglich; Bewertung der Eignung ausgewählter Maßnahmen zur Verringerung der sozialen Unterschiede (Abschaffung von Erbschaften, Einführung der Arbeitnehmermitbestimmung, mehr Weiterbildungsmöglichkeiten für Berufstätige, Fördern der Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand, Volksentscheide, mehr Ausbildungsstipendien); Verringerung der sozialen Unterschiede ist begrüßenswert; Abschaffung der sozialen Unterschiede ist realistisch; Gründe, die der Abschaffung sozialer Unterschiede entgegenstehen; Machtverteilung im Land; Meinung zu ausgewählten Aussagen: Marktwirtschaft als bestes Wirtschaftssystem, abnehmende Bereitschaft zu Anstrengungen, Abbau sozialer Unterschiede führt zur Beschränkung der Freiheit des Einzelnen, Neid auf gesellschaftlich höher Stehende, Gleichheit vor dem Gesetz besteht nur auf dem Papier, soziale Unterschiede führen zu Spannungen zwischen Oben und Unten in der Gesellschaft, schlechtere Aufstiegschancen wegen fehlender Studienplätze und Ausbildungsmöglichkeiten, politische Richtung hängt von gesellschaftlicher Stellung ab, Sozialisierung von Verlusten und Privatisierung von Gewinnen als schlimmste Aspekte des Kapitalismus, benachteiligte Schichten sind nicht energisch genug, Verbesserung der sozialen Lage eher aus eigener Kraft möglich als gemeinsam auf einen Abbau sozialer Unterschiede hinzuarbeiten); erwartete Entwicklung der gesellschaftlichen Aufstiegschancen im Land; als gerecht empfundene Faktoren für gesellschaftlichen Aufstieg; Bedeutung ausgewählter Faktoren für gesellschaftlichen Aufstieg; Lebensorientierung (Tomkins Polarity Scale); Skala Machiavelismus (nach Cloetta); Charakterisierung der Gesellschaft der BRD, der Großbetriebe der Industrie und der Universität als human, fortschrittlich, autoritär, reformbedürftig, unbeweglich, leistungsfähig; Selbsteinschätzung der Kompetenz im Vergleich zur Gesamtbevölkerung in ausgewählten Bereichen (politische Ziele, Vor- und Nachteile von Marktwirtschaft und Planwirtschaft, Art gerechter Einkommensbestimmung, Lage der Dritten Welt und der Entwicklungsländer, Jugendkriminalität, Notwendigkeit und Grenzen der Meinungsfreiheit, Aufbau und Probleme des Gesundheitswesens, Reform des Bildungswesens, Rolle der Wissenschaften, Humanisierung der Arbeitswelt, Entwicklung von Kindern, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Möglichkeiten eigene politische Vorstellungen öffentlich zu vertreten); Selbstcharakterisierung anhand ausgewählter Eigenschaften; situationsspezifisches Verhalten in Abhängigkeit von diesen Eigenschaften; Übereinstimmung von Selbstbild und Fremdbild; unterschiedliche Begabungen von Jungen und Mädchen in den Bereichen Naturwissenschaft, Sprache, Musik, Logisches Denken und Intelligenz; Zuordnung verschiedener Eigenschaften eher zu Männern bzw. zu Frauen; Gründe für diese Unterschiede (angeboren, anerzogen); Einstellung zu einem Studium bei Frauen, die ihre Berufstätigkeit nach der Heirat aufgeben (Studium als gesellschaftliche Fehlinvestition, Rückfallposition im Notfall, Studienplatz weggenommen, Bildung kommt der Familie zugute, Studium unnötig, mehr Unabhängigkeit und Selbständigkeit durch das Studium, Skala); Bewertung des Studiums in diesem Fall als unnötig oder nützlich; Einstellung zu ausgewählten Aussagen zur Gleichberechtigung von Mann und Frau (Skala); Meinung zur Aufgabe der Berufstätigkeit durch Akademikerinnen nach der Geburt des ersten Kindes.
Politik: Politikinteresse; Einstellung zu ausgewählten politischen Zielen; Einstellung zur politischen Partizipation; eigene Formen der politischen Partizipation; Konzentration im Pressewesen unbedingt verhindern werden trotz erforderlicher hoher staatlicher Subventionen; Präferenz für Gestaltungsprinzipien der Demokratie; prozentualer Anteil der Gewinne von Großunternehmen, die jeweils an Eigentümer bzw. Aktionäre, Belegschaft und einen Fond mit Beteiligung der Bevölkerung verteilt werden sollten; gleich großer oder gestaffelter Betrag für die Belegschaft; Einstellung zu Leistung und Wettbewerb (Skala Leistungsideologie); politische Selbsteinschätzung links-rechts im Vergleich mit den meisten Leuten im Land, mit den Eltern sowie im Vergleich zu vor zwei Jahren; politische Einschätzung links-rechts von Studenten und Professoren; Zuordnung ausgewählter Kennzeichnungen zu politisch Linksstehenden oder Rechtsstehenden; gelungene Verwirklichung allgemeiner gesellschaftlicher Ziele in der BRD; Meinung zum Verhältnis der gesellschaftlichen Ziele materieller Wohlstand, individuelle Freiheit und soziale Gleichheit; Meinung zum Verhältnis von Freiheit und Gleichheit; Meinung zum Staat; Meinung zu ausgewählten Möglichkeiten staatlicher Aktivitäten; Parteipräferenz; Einstellung zu Reform und Revolution im politischen System; Einstellung zu interner und externer Kontrolle anhand von Aussage-Paaren; eigenes Leben ist selbstbestimmt; Wichtigkeit ausgewählter Erziehungsziele; moralisches Urteil anhand ausgewählter Argumente am Beispiel des Einbruchsverhalten von zwei Arbeitern in die Räume der Direktion um ein Abhören von Beschäftigten zu beweisen; Bewertung des Verhaltens der Arbeiter insgesamt als eher falsch oder richtig; moralisches Urteil am Beispiel eines Arzt, der dem Wunsch nach Sterbehilfe einer unheilbar krebskranken Patientin entsprach; Bewertung des Verhaltens des Arztes insgesamt als eher falsch oder richtig.
2. Welle: Derzeitige Situation: Art der derzeitigen Ausbildung bzw. Tätigkeit; Ausbildungsgang bzw. Studiengang; Institution; Studium bzw. andere Ausbildung geplant; Art der geplanten Ausbildung; Wichtigkeit ausgewählter Entscheidungsgründe für die Ausbildung; Ausbildung entspricht den persönlichen Interessen; präferierte andere Ausbildung; Abiturnote; Folgen des Numerus Clausus für den Befragten; Tätigkeiten in der Zeit nach dem Abitur; Gründe für andere Ausbildung bzw. Tätigkeit als vor dem Abitur geplant; richtige Entscheidung bezüglich Ausbildungswahl; geänderte Vorstellungen seit dem Abitur in Bezug auf Politik, Wissenschaft, eigene Zukunft, Gesellschaft, eigenes Selbst und Religion; Vergleich des derzeitigen Lebensabschnitts mit der Oberstufenzeit (z.B. freieres Leben, weniger Leistungsdruck, finanziell unabhängiger; Schwierigkeiten beim Übergang von der Schule zum Studium bzw. zum Beruf; Anforderungen der derzeitigen Ausbildung im Vergleich zur Oberstufe; Dauer bis zum Zurechtfinden im derzeitigen Tätigkeitsbereich; Diskussionshäufigkeit über fachliche Themen und über persönliche Themen mit Kollegen bzw. Kommilitonen und mit Vorgesetzten bzw. Dozenten; Vergleich der Kommilitonen bzw. Kollegen mit den Schülern (kritischer, politisch aktiver, konservativer, verantwortungsbewusster, sprachlich gewandter); Kontakthäufigkeit zu Eltern, Geschwistern, Freunden und Bekannten aus der Schulzeit, jungen Berufstätigen im Vergleich mit der Schulzeit; Wohnsituation; Ausbildung bzw. Studium macht mehr Spaß als Oberstufe; Auslandsstudium wünschenswert; Nachteile eines Auslandsstudiums.
Studenten wurden gefragt: Anforderungen im ersten Studiensemester; derzeitige Schwierigkeiten während des Studiums; wichtige Aspekte bei der Auswahl der Lehrveranstaltungen; Bereich der besuchten Lehrveranstaltungen; Beschreibung des eigenen Verhaltens im Studium; Vorgehen bei Nichtverstehen; Aspekte der Veranstaltungen im Hauptfach (Einbringen eigener Interessen, Pauken, Berücksichtigung interdisziplinärer Aspekte, Einflussnahme auf die Art der Leistungsnachweise, Streben nach guten Noten vorrangig, Thematisierung der gesellschaftlichen Folgen wissenschaftlicher Tätigkeit, Diskussionen über moralische und ethische Probleme von Wissenschaft, Ermutigung zur Kritik an der Lehrveranstaltung).
Wieder alle: Berufsentscheidung getroffen; Berufswunsch bzw. bereits ergriffener Beruf; persönliche Bedeutung ausgewählter Berufsaspekte; Beurteilung der Entwicklung gesellschaftlicher Aufstiegschancen; Einstellung zu Leistung und Wettbewerb (Skala); bessere Chancen für Akademiker auf dem Arbeitsmarkt; feste Vorstellungen oder Unsicherheiten im Hinblick auf: soziale Werte, Dringlichkeit sozialer Probleme, präferierte politische Ziele, eigene Fähigkeiten, worauf es im Leben ankommt, Bedingungen für gesellschaftlichen Erfolg, Ziele wissenschaftlichen Denkens, Bedeutung von Bildung); Bewertung der eigenen Kompetenz im Vergleich zur Gesamtbevölkerung bezüglich: parteipolitischer Ziele in der BRD; Vor- und Nachteile von Markt- und Planwirtschaft, Entwicklungsländer, Jugendkriminalität, Meinungsfreiheit in der Demokratie, wichtigste Reformen im Bildungswesen, Rolle der Wissenschaft, Humanisierung der Arbeitswelt, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Möglichkeiten eigene politische Vorstellungen öffentlich zu vertreten); Wichtigkeit ausgewählter Lebensbereiche; Wichtigkeit ausgewählter Erziehungsziele.
Wissenschaft: Einstellung zu Wissenschaft und Wissenschaftlern (Skala); Einstellung zu ausgewählten Forderungen zu Wissenschaft und Forschung; Zweck wissenschaftlichen Denkens und Arbeitens (Wissenschaft kann gesicherte Erkenntnisse hervorbringen versus vorläufige Erkenntnisse, Erkenntnis um ihrer selbst willen versus im Dienste der Lösung praktischer Probleme); wichtigste Aufgaben von Wissenschaft (Rangfolge); präferierte Entscheidung eines Wissenschaftlers in ausgewählten Zweifelsfällen (Dilemmata); wichtigste Aufgaben der Universität (Rangfolge); besondere Verantwortung von Akademikern für die Allgemeinheit; Erwartbarkeit und Art der besonderen Eigenschaften und Fähigkeiten von Akademikern; höheres Einkommen, höheres Ansehen bzw. politischer Einfluss von Akademikern sind gerechtfertigt; Zuordnung ausgewählter Eigenschaften im Verhalten von Männern und Frauen und Einschätzung von deren Veränderbarkeit; Einstellung zur Berufsrückkehr einer Akademikerin nach der Geburt des ersten Kindes; moralisches Urteil am Beispiel eines Arztes, der dem Wunsch einer unheilbar krebskranken Patientin nach Sterbehilfe entsprach; Bewertung des Verhaltens des Arztes insgesamt als eher falsch oder richtig; Art des dargestellten Problems (z.B. rechtlich, moralisch).
Gesellschaft: Allgemeine Bewertung der Größe der sozialen Unterschiede im Land; empfundene Gerechtigkeit der sozialen Unterschiede im Land; soziale Schichteinteilung der Bevölkerung im Land anhand von vier Skizzen; Verringerung der sozialen Unterschiede ist möglich bzw. die Abschaffung realistisch; Gründe gegen die Abschaffung der sozialen Unterschiede; Meinung zu ausgewählten Aussagen: Gleichheit vor dem Gesetz besteht nur auf dem Papier, soziale Unterschiede führen zu Spannungen zwischen Oben und Unten in der Gesellschaft, Verbesserung der sozialen Lage eher aus eigener Kraft möglich, politische Richtung hängt von gesellschaftlicher Stellung ab, benachteiligte Schichten sind nicht energisch genug; Bedeutung ausgewählter Faktoren für gesellschaftlichen Aufstieg; Charakterisierung der Gesellschaft der BRD und der Universität als human, fortschrittlich, autoritär, reformbedürftig, unbeweglich, leistungsfähig; Machtverteilung im Land; gelungene Verwirklichung allgemeiner gesellschaftlicher Ziele in der BRD; Meinung zum Verhältnis der gesellschaftlichen Ziele materieller Wohlstand, individuelle Freiheit und soziale Gleichheit; Meinung zum Verhältnis der gesellschaftlichen Ziele Freiheit und Gleichheit; Meinung zum Staat.
Politik: Politikinteresse; Möglichkeiten politischer Partizipation; eigene Formen politischer Partizipation; Einstellung zu ausgewählten politischen Zielen; politische Selbsteinschätzung links-rechts im Vergleich mit den Kollegen bzw. Kommilitonen sowie im Vergleich mit der Zeit vor einem Jahr; Erhöhung der Lebensqualität versus Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung als wichtigste Aufgabe der Regierung, Allgemeinheit verlangt Bestrafung von Gesetzesverstößen versus Strafen nicht immer vorteilhaft, generelle Gewährleistung der freien Meinungsäußerung versus nur so viel wie sich mit Recht und Ordnung vereinbaren lässt, die Wahrheit finden nur diejenigen, die sich voll und ganz mit dem identifizieren, was sie untersuchen versus die gegenüber dem, was sie untersuchen, objektiv und distanziert sind, Menschen stets mit Achtung behandeln versus nur dann, wenn sie es verdienen (Tomkins Polarity Scale); Einstellung zu ausgewählten Aussagen: jeder Mensch braucht etwas, woran er glaubt, Kriege auch weiterhin Realität, Besitzstreben gehört zur Natur des Menschen, Gesellschaft verhindert Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, Bedürfnis nach Unterordnung unter eine Autorität, Gewissen als Instanz für Gut und Böse, zu jemandem aufblicken gehört zum Wesen des Menschen, Kriege als Folge gesellschaftlicher und politischer Gegebenheiten; Einstellung zur Reform und Revolution im politischen System; Ambiguitätstoleranz; Wert eines Menschen nach Leistung versus Wert wird nicht erkannt trotz Bemühungen, Dinge geschehen einfach versus aktive Entscheidung, Verwirklichung eigener Pläne versus Abhängigkeit vom Zufall; Leben ist von eigenen Vorstellungen bestimmt; Bewusstsein über persönliche Qualifikationen (Allgemeinwissen, Kritikfähigkeit, Logisches Denken, Ordentlichkeit, Verantwortungsbewusstsein, Fähigkeit für leitende Position, Sachlichkeit und Unvoreingenommenheit); Selbstcharakterisierung anhand ausgewählter Eigenschaften; Ergebnisbericht gelesen; Bewertung des Ergebnisberichts.
Die Themen 'Alter', 'Bildung', 'Zivilgesellschaft' sind jeweils zentrale Themen des wissen-schaftlichen und politischen Diskurses. Dies trifft für die Altenbildung und für ihr Verhältnis zur Zivilgesellschaft nicht oder nur sehr bedingt zu. Entsprechend hat die Wissenschaft der Altersbildung, die Geragogik, sich noch nicht zu einer eigenen allgemein anerkannten Wis-senschaftsdisziplin etabliert. Allerdings setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass Bil-dung im Alter eine Investition ist, die positive psychische, soziale und ökonomische Effekte hat. Bildung ist darüber hinaus einer der wichtigsten Prädiktoren für zivilgesellschaftliches Engagement auch im Alter. Hinzu kommt, dass der Altersstrukturwandel zu ansteigenden (politischen) Aktivitäten von Senioren und zu einer Ausweitung des Berufsfeldes der Arbeit mit älteren Menschen führt. All diese sozialen Prozesse berühren Themen der Altenbildung. Allerdings findet dies kaum eine angemessene Entsprechung in Form der wissenschaftlich beglei-tenden Implementierung, Evaluation von Modellprojekten der Altenbildung, der beruflichen Fort- und Weiterbildung, der Entwicklung von Curricula etc. Aus diesem Grund ist die Gera-gogik wissenschaftshistorisch die adäquate Antwort auf den komplexer werdenden Alters-strukturwandel. So wie sich die soziale Gerontologie ebenfalls im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung des demographischen Wandels herausgebildet hat. Während die Altenbildung wenigstens in Ansätzen in unterschiedlichen Feldern vorhanden ist, so ist das Thema politische Weiterbildung mit älteren Gewerkschaftsmitgliedern ein Desi-derat. Bisherige Altenbildungsansätze bleiben oft auf die individuelle Bewältigung des Über-gangs vom Erwerbsleben zum 'Ruhestand' und der Erschließung individueller Aktivitäten begrenzt. In der vorliegenden Arbeit wird besonders die Frage untersucht, wie eine Altenbil-dung in Theorie und Praxis zu gestalten ist, damit sie sowohl die Identitätsentfaltung als auch gesellschaftspolitische Partizipationsprozesse fördert. Es existiert eine große Forschungslücke im Hinblick auf Bedingungen, Voraussetzungen und Chancen für eine gewerkschaftlich ausgerichtete Altenbildung, die emanzipatorische Po-tentiale im Alter freilegt. Daraus ergibt sich die zentrale Leithypothese dieser Arbeit: Syste-matisch organisierte lebensbe-gleitende Weiterbildung, die sich der Aufklärung verpflichtet fühlt, ist eine wesentliche Voraussetzung, im Alter ein mündiger Bürger zu sein und die Per-sönlichkeitsentfaltung zu stärken. Hieraus leiteten sich zunächst vier erkenntnisleitende Fragestellungen ab:1. Kann kritische Altenbildung einen Beitrag zur Demokratisierung der Gesellschaft leisten?2. Kann kritische Altenbildung einen Beitrag zur Stabilisierung der Per-sönlichkeit leisten?3. Welche praxeologischen Konklusionen ergeben sich aus der Analyse der empirischen Ergebnisse einer gewerkschaftlich orientierten Al-tenbildung am Beispiel der Bil-dungsstätte 'neues alter' in Hat-tingen? 4. Welche konzeptionellen Schlussfolgerungen sind für eine gewerkschaftlich orientierte kritische Altenbildung zu ziehen? Im Zuge des wissenschaftlichen Forschens stellte sich die dringliche Frage, wie Altenbil-dung und - umfassender - Geragogik nicht nur durch alterstheoretische Überlegungen fun-diert, sondern auch meta- bzw. wissenschaftstheoretisch begründet werden kann. Nach wie vor gibt es keine allgemeingültige Alterstheorie, denn Alter gilt als normativ und instrumen-tell unter-bestimmt. Von daher hat die Darlegung der wissenschaftstheoretischen Begründung und des eigenen theoretischen Standpunktes, von dem aus zusätzliche ergänzende Aspekte für eine moderne Alterstheorie entfaltet werden, einen größeren Stellenwert erhalten als ur-sprünglich geplant. Das Anliegen dieser Arbeit besteht dann auch darin, Geragogik stärker theoretisch aus kritischer Perspektive zu untermauern. Die Untersuchung gliedert sich in fünf Haupteile, sowie die Einleitung und den Schlussteil. Nach den einleitenden Ausführungen beschreibe ich im zweiten Teil auf der Phänomenebene die gesellschaftlichen Voraussetzungen einer kritischen Geragogik. Arbeiterbewegung und demographischer Wandel werden in den Kontext ge-sellschaftlicher Umbrüche gestellt, um von hieraus erste Konklusionen für eine kritische Ge-ragogik zu beschreiben.Zunächst verdeutliche ich die Schwierigkeiten der Soziologie bei der Suche nach den Struk-turmerkmalen einer Gesellschaft, die sich in einer epochalen Umbruchsituation befindet. Zwischen den Polen der Individualisierung und Globalisierung gelten alte Orientierungen nicht mehr, ohne dass sie aber bereits von neuen abgelöst wären. Nach neuen Antworten wird allerdings intensiv gesucht: Stichworte sind 'Risikogesellschaft', 'Erlebnisgesellschaft', 'Dienstleistungsgesellschaft', 'Bildungsgesellschaft' etc. Sicher ist, dass im Zuge des gesellschaftlichen Strukturwandels proletarische Milieus erodie-ren und damit weitreichende individuelle Unsicherheiten, aber auch Entfaltungspotentiale verbunden sind. Bildung wird dabei zentrale Ressource individueller und gesell-schaftlicher Entwicklung. In diesem Kontext wird auch über die Diffusion des gesellschaft-lichen Zusammenhalts diskutiert. Die 'Zivilgesellschaft' soll dem entgegenwirken. Eine An-nahme dabei ist, dass sich die Erwerbsarbeitsgesellschaft in die Tätigkeitsgesellschaft wan-delt. Relevant ist nicht mehr die Unterscheidung zwischen Arbeitszeit und Freizeit. Bedeut-sam ist eine neue Zeitstruktur. Danach befindet sich der Einzelne in den unterschiedlichen Zeitzonen der Erwerbszeit, Bildungszeit, Bürgerzeit, Familienzeit und Eigenzeit. Unabhängig von der Richtigkeit der dieser Vorstellung zugrunde liegenden Annahme, dass Vollbeschäfti-gung nicht mehr erreichbar ist, verbergen sich hinter der Debatte um die Bürgergesellschaft Ambivalenzen: Da sind zum einen durchaus Chancen im Sinne der Ausweitung demokra-tischer Beteiligung, der Wohlfahrtsökonomie und der Linderung von Arbeitslosigkeit. Zum anderen besteht aber die Gefahr des Missbrauchs, indem ehrenamtliches Engagement zum Auffangbecken für den Abbau sozialer Leistungen des Staates wird.Für die Arbeiterbewegung und ihre Organisationen sind mit diesem Wandel weitreichende Schwierigkeiten verbunden: Mit dem Wegbrechen der Montanindustrie verliert sie auch die industrielle Arbeiterschaft, die immer den Kern der Arbeiterbewegung bildete. Im Zuge der Individualisierung und der Technisierung der Arbeitswelt ändern sich kollektive Denk- und Handlungsmuster. Es steigen ebenso die Ansprüche an die eigene Organisationen im Hinblick auf Transparenz und Mitgestaltungs-möglichkeiten. Schließlich ist mit dem Scheitern der staatssozia-listischen Länder Osteuropas jede grundlegende Alternative zum Kapitalismus diskreditiert. Neoliberales Gedankengut, dass die betriebswirtschaftliche Sichtweise als Blau-pause für alle gesellschaftlichen Felder nutzen will, ist vorherrschend. Die Gewerkschaften befin-den sich in einer existentiellen Krise. Eine erneuerte Gewerkschaftsbewegung muss sich die Frage nach ihren unabgegoltenen emanzipatorischen Potentialen stellen. Dazu gehören Werte wie zum Beispiel die freie Entwicklung des Einzelnen als Voraussetzung für die Frei-heit aller, die Entfaltung der Demokratie und die allseitige Entwicklung der Persönlichkeit. Gleichzeitig erzeugt der Kapitalismus als einzig vorherrschendes Weltsystem seit der histo-rischen Wende aus sich heraus Widersprüche und Probleme, die die Forderung nach einer sozialeren und demokratischen Regulierung von Wirtschaftsprozessen immer wieder auf die Tagesordnung stellen. Die Gewerkschaften haben sich in ihrem Erneuerungsprozess an einem Paradigmen-wechsel von der Betriebsorientiertheit auf ein politisches Mandat zu orientieren und müssen als Beteili-gungsgewerkschaften eine eigene Vorstellung von gesellschaftspoli-tischer Vernunft ent-wickeln. Die Vorstellung der Dichotomie von Kapitalismus und Sozialis-mus ist nicht mehr aufrecht zu halten. In Zukunft wird es um eine Mischung des Verhältnis-ses zwischen Gesellschaft, Markt und Staat gehen. Zur Bewältigung gesellschaftlicher Um-brüche ist auch der demographische Wandel zu zählen, dem sich die Gewerkschaften eben-falls stel-len müssen.Zentrales Merkmal des Altersstrukturwandels ist nach Naegele und anderen die Differenz des Alters, die sich in der Singularisierung, Entberuflichung, Hochaltrigkeit, Feminisierung etc. ausdrückt. Hierauf sind entsprechend differenzierte sozialpolitikwissenschaftliche Antworten zu finden. In einer erwerbszentrierten Gesellschaft kann es bei dem Übertritt in den 'Ruhe-stand' zu individuellen Krisen kommen. Entscheidend für das Verhalten in der nachberuf-lichen Lebensphase ist die vorangegangene Lebensbiographie. Danach kommt es im 'Ruhestand' lediglich zu einer Ausweitung von Tätigkeiten, die bisher im bisherigen Le-ben in der Freizeit praktiziert wurden (Kontinuitätsthese). Gleichzeitig vollzieht sich ein para-digmatischer Wandel des Alterbildes von der Fürsorge zur Selbstinitiative. Dies kommt in der steigenden Anzahl von Selbsthilfegruppen im Alter und stärkerem politischen Engagement Älterer zum Ausdruck. Senioren sind allerdings eher nach wie vor eine 'latente' Altenmacht. Dazu trägt ihre Vielfältigkeit und Vielschichtigkeit bei, die die Entfaltung gemeinsamer Akti-vitäten erschwert. Außerdem ist im Alter eine deutliche Präferenz für konservative Ein-stellungen festzuhalten. Der medial oft beschworene 'Generationenkrieg' ist em-pirisch nicht nachweisbar. Eher kommt es zu einer 'Verflüssigung' des Generationenverhält-nisses. Das Verhältnis von Jung und Alt wird für den Zusammenhalt der Gesellschaft in der Zukunft zentrale Bedeutung erhalten. Von besonderem Interesse ist das 'ehrenamtliche' Engagement von Älteren. Vermutet man hier doch enorme - auch ökonomische - Potentiale für die Gesellschaft. Allerdings gilt hier die gleiche Ambivalenz, wie sie grundsätzlich für zivilgesellschaftliche Aktivitäten be-schrieben ist: Chancen und Risiken des Missbrauchs bis hin zu einer erneuten Verpflichtung von Älteren liegen hier dicht zusammen. Besonders bei den 'jungen Alten' werden große Ressourcen vor allem für personale Dienstleistungen vermutet.Die Gewerkschaften hat der demographische Wandel eingeholt, ohne dass sie hierauf zum Beispiel innergewerkschaftlich angemessen reagiert hätten. Die 1,5 Millionen 'Ruheständler' im DGB werden eher negativ im Sinne von 'Überalterung' diskutiert. Die Ressourcen bleiben ungenutzt. Es verdichtet sich die wissenschaftliche Erkenntnis, dass mit der 'Altersfrage' die Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften zukünftig berührt ist. Dieser erste Teil schließt mit der Erkenntnis, dass Geragogik ein Erfordernis ist, um die Transferprozesse des sich wechselseitig beeinflussenden Bedingungsgefüges von Gesell-schaft, Kultur und Individuum zu organisieren. Geragogik ist Teil eines neuen Lernzyklus, der sich aus den beschriebenen gesellschaftlichen Umbrüchen ergibt. Dabei sind die Chancen für eine kritische Altenbildung mit älteren Gewerkschaftsmitgliedern günstig, denn erstens sind sie oft politisch interessiert und zweitens durch ihr früheres Engagement eher bereit, weitere Aktivitäten zu entfalten. Bildungsarbeit könnte besonders für Personen in der Übergangsphase zur nachberuflichen Lebensphase bedeutsam sein, um zum Beispiel dem Verlust von Mitglie-dern vor-zubeugen. Gleichzeitig eröffnen sich für den Einzelnen Chancen der Identitäts-entfal-tung im Alter durch einen voranschreitenden tertiären Sozialisationsprozess, der zielge-richtet verläuft. Nach der Beschreibung der gesellschaftlichen Bedingungen einer kritischen Gerago-gik wende ich mich im Folgenden ihren theoretischen Voraussetzungen zu.Im dritten Teil lege ich in Abgrenzung zu gängigen soziologischen Modellen meinen eigenen Theorieansatz dar. Dies begründet die An-lage der gesamten Untersuchung und ist die Grundlage für den rationalen Diskurs. In der Metatheorie wird die Wissenschaft selbst zum Ge-genstand der Wissenschaft. Wissenschaftstheorie befasst sich mit dem wissenschaftlichen Erkenntnisprozess: Danach gilt ein Aussagesystem als wissenschaftlich, wenn es empirisch gestützt ist, soziale Prozesse erklärt und weitere Entwicklungen prognostiziert. In der Analyse des Theorie-Praxis-Verhältnisses wird herausgearbeitet, dass sich die Diesseitigkeit einer Theorie an ihrer praktischen und problemlösenden Kompetenz erweist. Des Weiteren wird Wissenschaft metatheoretisch als soziales System betrachtet. Sie hat die soziale Funktion, die Existenz und die Fortentwicklung der Gesellschaft zu gewährleisten. Damit ist Wissenschaft als Teil von Wissenschaftsgeschichte zu betrachten. Im Unterschied zur Kunst, in der große Werke nicht veralten, ist es das 'Schicksal' der Wissenschaft, dass ihre Erkenntnisse im Laufe der Zeit anachronistisch werden. Ausgenommen sind hiervon die Methoden der Wissenschaften. Diese Bezogenheit der Wissenschaft auf Gesellschaft und Geschichte führt zum Werturteils-streit in der Soziologie, der auf Weber zurückgeht, aber noch heute wiederzufinden ist. So vertritt zum Beispiel Habermas einen normativen Universalismus, wonach sich Aufklärung an der besseren Gesellschaft zu orientieren hat. Dagegen steht für Luhmann die Frage nach der Funktion von Gesellschaft angesichts der Vielfalt von Problemen im Vordergrund. Für ihn geht es um gesellschaftliche Selbstbeobachtung. Letztlich wird hier der Meinungsstreit über das Selbstverständnis der Soziologie ausgetragen: Sieht sie sich als Ordnungswissenschaft oder als kritische Gesellschaftstheorie mit der Anmaßung des Ganzen? Eine methodologische Schlussfolgerung besteht in dieser Untersuchung darin, dass Werturteile nicht in den unmit-telbaren Forschungsprozess einfließen dürfen: Es existiert eine Dichotomie zwischen Wert-urteilen und Erkenntnissen von Zusammenhängen. Allerdings kommt der Wissenschaftler angesichts der Vielzahl der Probleme ohne Wertbeziehungen nicht aus (Dezisionismus): Wertfragen des Forschers sind bei der Auswahl des Forschungsgegenstandes und der Inter-pretation von Daten bedeutsam. Nach diesen metatheoretischen Überlegungen gehe ich über zur Beschreibung soziologischer Sozialisationsforschung, da meiner Untersuchung die These von Veelken zu Grunde liegt, dass Entfaltungsmöglichkeiten im Alter im Rahmen von 'tertiären Sozialisationsprozessen' zu betrachten sind. Es werden grundsätzliche Überlegungen zur interdisziplinären Anlage der Sozialisationsforschung dargelegt. Deutlich wird: Leistungsfähige Sozialisationstheorien haben das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft als Prozess der Individuation und Vergesellschaftung zu betrachten. Der Sozialisationsforschung liegen wiederum unterschiedliche soziologische Theoriemodelle zu Grunde: In der Systemtheorie nach Parsons und fortentwickelt durch Luhmann interessiert die Frage, unter welchen Bedingungen Gesellschaft und soziale Pro-zesse zu einem gleichgewichtsregulierenden Wirkungszusammenhang kommen. Das Ganze besteht aus gleichrangig angeordneten Subsystemen, die sich im Prozess der Autopoiesis selbsterhalten. Sie bleiben autonom und müssen gleichzeitig ihre Anschlussfähigkeit zu ande-ren Systemen herstellen. Systemisches Denken bedeutet Reduktion von Komplexität ange-sichts einer zunehmend komplexer werdenden Gesellschaft. Subsysteme befinden sich in einem dauernden Austauschprozess. Dadurch wird die Dynamik des gesellschaftlichen Wan-dels erklärt. Ein Vorwurf an diesem Ansatz ist, dass das Individuum vernachlässigt wird. Hier hilft der handlungstheoretische Ansatz des 'symbolischen Interaktionismus' nach Mead weiter, der besonders die individuellen Handlungsoptionen betont. Allerdings besteht hier das Problem, dass der Realität keine eigene Seinsqualität mehr zukommt und nur noch qua sub-jektiver Interpretationen besteht. Im Ansatz der Gesellschaftstheorie, der sich auf den Theo-rietypus Marx bezieht, wird herausgearbeitet, dass 'Arbeit' als bewusste soziale Tätigkeit das Gattungswesen des Menschen ausmacht. Die Verknüpfung von Individuum und Gesellschaft erfolgt über die Tätigkeit, die durch historische Gesellschaftsformationen bestimmt ist. Der historische Prozess wird als voranschreitende Entwicklung der Vernunft begriffen. Im Abgleich der verschiedenen soziologischen Ansätze und ihrer Konsequenzen für die So-zialisationsforschung kritisiere ich, dass das Verhältnis Individuum und Gesellschaft zwischen den Polen der Nach- und Vorrangigkeit des Einzelnen betrachtet wird. Positiv ist hervorzuheben, dass eine sozialisationstheoretische Herangehensweise das Individuum in seinen Entfaltungsmöglichkeiten und seiner permanenten Lernfähigkeit sieht. Für den eigenen Theorieansatz versuche ich diese vorwärtsweisenden Aspekte der Sozialisationstheorie aufzu-nehmen und sie mit einem gesellschaftstheoretischen Gedankengebäude zu verknüpfen. Gesellschaftstheoretisch wird von folgenden Eckpunkten ausgegangen:· Wissenschaft durchdringt die Erscheinungsform eines Phänomens auf sein Wesen.· Die Dialektik ermöglicht die Analyse der Gesellschaft in ihrer Widersprüchlichkeit und Totalität. Das gesellschaftliche Ganze wird durch die Arbeit erzeugt. Somit sind ökonomische Prozesse und Interessen sowie ihre Auseinandersetzungen wesentlich für die Explikation sozialer Vorgänge. · Anthropologisch ist die teleologische, bewusste und soziale Tätigkeit das Gattungsmä-ßige des Menschen.· Geschichte ist ein Prozess menschlicher Selbstverwirklichung auf immer höheren Stu-fen. Mit Bourdieu begründe ich den emanzipatorischen Charakter meines Theorieansatzes. Für ihn ist Soziologie politisch und historisch und hat einen Beitrag zu mehr Demokratie zu leisten, damit sozial Ausgegrenzte zu politischen Akteuren ihrer Interessen werden. Er überwindet die Dichotomie zwischen Individuum und Gesellschaft durch ein relationales Denken. Das heißt: Gegenstand der Soziologie ist nicht der Einzelne oder die soziale Gruppe, sondern sind ihre Bezüge untereinander, ihre Relationen. Er fordert, dass kritische Intellektuelle gegen den vor-herrschenden Neoliberalismus 'wissenschaftliche Gegenautorität' erzeugen. Eine 'neutrale' Wissenschaft hält er für eine interessengeleitete Fiktion. Dazu will er einen 'Generalstand sozialer Bewegungen' formieren, der auch die zu erneuernden Gewerkschaften einschließt. Metatheoretisch versucht er die Antinomien in den Sozialwissenschaften zu überwinden. So geht er von einem praexeologischen Theorieverständnis aus, nach dem Theorie und Praxis sich wechselseitig durchdringen. Aus der Selbstreflexivität der Soziologie erschließt sich ihr emanzipatorischer Charakter: Der Soziologe gewinnt ein Teil Freiheit, indem er Gesetzmä-ßigkeiten sozialer Felder erkennt und sie als veränderbar begreift. Die Analyse sozialer Felder praktiziert er mit seinen theoretischen Werkzeugen 'Kapital', 'Habitus' und 'Feld'. In sozialen Feldern finden Kämpfe um Macht und Einfluss statt. Die Positionen der sozialen Akteure sind in diesem 'Spiel' durch ihre Verfügungsmacht über Kapital bestimmt. Zustimmung zu Herrschaftsstrukturen erklärt er durch den Habitus. Er ist ein inneres Regulativ, das soziale Feldbedingungen inkorporiert, soziale Vorgehen bewertet und interpretiert und soziale Praxis generiert. Der Habitus ist sozial bestimmt und begründet die Relation zwischen Lebensstil und sozialer Position. Die Unterscheidung zwischen sozi-alen Gruppen drücken sich in Distinktionsbeziehungen aus. Gesellschaft besteht aus der Summe sozialer Felder, die relativ autonom sind. Bourdieus politische Soziologie zielt auf eine universell intellektuelle Freiheit, die zu einer rationalen und humanen Veränderung der Gesellschaft führt.Meinen eigenen gesellschaftstheoretischen Ansatz wende ich im vierten Teil auf das Phäno-men 'Alter' an. Zunächst beschreibe ich verschiedene Alterstheorien und arbeite den Para-digmenwechsel von der Theorie des Disengagement zur Aktivitätstheorie heraus. Eine zen-trale Argumentationslinie ist dabei der Ansatz der tertiären Sozialisation. Er impliziert die Möglichkeit für den Einzelnen, seine Identität auch im Alter durch tätige Auseinandersetzung mit der Umwelt fortzuentwickeln. Gleichzeitig sind Ältere als eine sehr differenzierte Grup-pierung zu beschreiben. Die Theorien über das Alter haben sich allerdings noch nicht zu einer allgemein gültig anerkannten Alterstheorie verdichtet.Gemäß meines eigenen dialektischen Ansatzes versuche ich unter soziologischer Perspektive das Verhältnis von Alter und Gesellschaft in seiner Widersprüchlichkeit zu erfassen. Dies impliziert auch eine relationale Betrachtung, die Alter nur im gesellschaftlichen Kontext erfasst. Danach ist die negative Konnotation von Alter vor dem Hinter-grund des wachsenden Widerspruchs zwischen Alter und Gesellschaft zu betrachten, wie dies Backes erläutert. Grund hierfür ist ein Vergesellschaftungsmodell 'Alter', das mit seinen zwei Komponenten der materiellen Abgesichertheit und des 'Ruhestands' hinter den wachsenden Anforderungen Älterer an ihr Leben zurückbleibt. Gemäß des eigenen materialistischen Ansatzes erläutere ich die Zusammenhänge zwischen Alter und Ökonomie, sowie der im Kapitalismus spezifischen Interessen. Ich lege am Beispiel der Analyse der letzten Rentenreform dar, warum eine Politik des Neoliberalis-mus den Wi-derspruch zwischen Alter und Gesellschaft verschärft und hier eine tendenzielle Erosion des Generationenvertrages droht. Schließlich ordne ich die Ausweitung der berufsfreien Lebens-phase in der Jugend und im Alter historisch ein und zeige, dass aufgrund der fortschreitenden Pro-duktivkraftentwicklung in langfristiger Perspektive die Le-bensarbeitszeit potentiell weiter verkürzt werden kann. Hier eröffnen sich Chancen für eine 'Kulturgesellschaft' , in welcher der Einzelne jenseits der Erwerbsarbeit in zunehmender Weise seine Persönlichkeit all-seitig entwickeln kann. Damit wird das Phänomen 'Alter' in den historischen Kontext der wachsenden Selbstverwirklichung des Menschen gestellt.Mithilfe von Bourdieu gehe ich der Frage nach, wer die vordringliche Zielgruppe einer kri-tischen Geragogik sein kann. Hier wird die Verbindung zu den sozialen Bewegungen im all-gemei-nen und den sich zu erneuernden Gewerkschaften im besonderen hergestellt (Bourdieu 2001a). Durch den Bezug auf ältere Gewerkschaftsmitglieder wird auch der Problematik der sozialen Differenz im Alter für gemeinsame politische Aktivitäten Rechnung getragen. Da-durch wird natürlich nicht die Vielfältigkeit im Alter aufgehoben, aber durch den gemeinsa-men gewerkschaftlichen Bezug überdacht. Danach wende ich Bourdieus Kapital- und Habi-tustheorie auf das 'Alter' an, um zu zeigen, unter welchen Voraussetzungen, Senioren sich von einer latenten zu einer realen Macht entwickeln können. Bedeutsam ist hier die These der Herausbildung eines Altershabitus, der durch die Widersprüchlichkeit von Befreiungspoten-tialen und Ausgrenzungstendenzen gekennzeichnet ist und sozial bedingt ist.Zur Beantwortung der Frage, was denn das Sinnvolle im Alter ist, greife ich auf Koflers Tä-tigkeitskonzept zurück und begründe anthropologisch, dass Arbeit im umfassenden Sinn als zielbewusstes Tätigsein das Gattungsmä-ßige des Menschen ausmacht und sich im histo-rischen Prozess als wachsende Selbstverwirklichung realisiert. Daraus entwickle ich ein neues Vergesellschaftungsmodell, das die bisherigen Elemente der sozialen Absiche-rung und der Entpflichtung von Erwerbsarbeit in modifizierter Form enthält und um ein drittes Element zu er-gänzen ist: Dies besteht in der teleolo-gischen, sozialen und be-wussten Tätig-keit, die auch im Alter die Vermittlungsebene zwischen Indi-viduum und Gesellschaft gewährleistet. Diesen Teil beende ich mit Veelkens Ansatz der tertiären Sozialisation. Dieser schließt die Lücke der bisherigen Betrachtungen, die das Individuum eher vernachlässigen. Hiermit wird gezeigt, wie der Einzelne seine Identität im Dreiecksverhältnis zwischen Individuum, Kultur und Gesellschaft entfalten kann. Gleichzeitig eröffnet diese Be-trachtung des Alters den Weg zur Altenbildung. Im folgenden fünften Teil wird der Bogen von der Alterstheorie zur kri-tischen Geragogik gespannt. Dazu werden die sozialisations- und habitustheoretischen Überlegungen auf die Altenbildung übertragen. Altenbildung ist eine zentrale Voraussetzung, damit der Ältere über andere soziale Gruppen seine An-schlussfähigkeit an andere Subsysteme erhält. Kritische Altenbildung knüpft an einem Alters-habitus an, in dem sich lebensbiographische Prozesse mit Einstellungen aus sozialen Her-künften miteinander verbinden. Die Position im sozialen Feld 'Alter' bestimmt sich für den einzelnen Älteren über das Ausmaß der Verfügung über öko-nomisches, kulturelles, soziales und symbolisches Kapital. Entsprechend zielt kritische Gera-gogik darauf ab, die individuelle und gesellschaftliche Handlungskompetenz älterer Gewerk-schaftsmitglieder zu stärken, in-dem sie sich vor allem kulturelles Kapital aneignen. Dieser Aneignungsprozess von kultu-rellem Kapital zielt allerdings nicht auf die Anhäufung abstrak-ten Wissens, sondern ist als Erfahrungslernen zu organisieren. Mit der Reflexion der eigenen Lebensbiographie ist eine visionäre Lebensführung verbunden, die auch im Alter individuelle und gesellschaftliche Zu-kunftsentwürfe erlauben. Dabei kommt älteren Gewerkschaftsmit-gliedern eine besondere Be-deutung zu: Die Gewerkschaften haben aus ihrem Selbstverständ-nis und der Interessenslage ihrer Mitglieder heraus Potentiale für eine Politik gegen den Neoliberalismus. Zudem be-sitzen ältere Gewerkschaftsmitglieder wichtige Lebenserfahrun-gen, die es aufzuheben gilt. Ihre relativ stark ausgeprägten Interessen an politischen Vorgän-gen sind darüber hinaus gute Voraussetzungen für eine politische Weiterbildung im Alter. Anschließend erfolgt die Beschreibung der konkreten historischen Sozialisationserfahrungen der Jahrgänge von etwa 1920 bis ca. 1940. Da bei der vorliegenden Untersuchung Möglich-keiten einer kritischen und politischen Altenbildung ausgelotet werden, be-schreibe ich die kritische Dimension von Bildung und die Bedingungen von politischer und gewerkschaft-licher Weiterbildung im Alter. Daran schließt sich die Schilderung von Eckpunkten einer kri-tischen Geragogik an. Aus der wis-senschaftshistorischen Sicht wird die Herausbildung der Geragogik zu einer eige-nen Wissenschaftsdisziplin als Erfordernis einer zunehmenden Diffe-renzierung des Alters-strukturwandels, der im Kontext gesellschaft-licher Umbrüche zu sehen ist, gesehen. Gerago-gik wird nach Veelken definiert als die Umsetzung der Lehre vom Lebenslauf und Lebensziel in die Praxis des Lehrens und Lernens. Sie befasst sich mit Altenbildung, gerontologischer Aus-, Fort- und Weiterbildung und der Forschung in Theorie und Praxis. Im Zuge der Her-ausbildung der Zivilgesellschaft besteht eine ihre wichtigen Herausforderungen darin, Ältere zu Tätigkeiten zu befähigen, die selbstbestimmt und emanzipatorisch angelegt sind. Damit werden Anforderungen der tertiären Sozialisation mit dem neuen Vergesellschaftungsmodell verknüpft. Insofern ist Geragogik ein wesentliches Element zur Überwindung des Wi-der-spruchs von Alter und Gesellschaft. Weiter werden die Zusammenhänge zwischen Identitätsent-faltung und gesellschaftspolitischer Partizipation ex-pliziert, die zentraler Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sind. Ab-schließend werden in diesem Teil die methodisch-didak-tischen Besonder-heiten des Lernens im Alter herausgestellt. Schließlich werden Aussagen zu den Themen der politischen Altenbildung, zur Zielgruppe und zum Verhält-nis von Dozenten und Teilnehmern, die auch die Beziehung von Jung und Alt betrifft, getroffen. Im sechsten Teil werden anhand einer Sekundärbetrachtung empirischer Ergebnisse über ge-werkschaftlich orientierte Altenbildung am Beispiel der Arbeit in der Bildungsstätte 'neues alter' praxeologische Konklusionen ge-zogen, die sich aus dem Kontext des übergeordneten theoretischen Zusam-menhangs ergeben. Dazu werden zunächst die Sozialdaten der Teilneh-mer und ihre politischen Präferenzen erfasst. Die empirischen Daten beantwor-ten die Frage, ob es gelingen kann, bei bildungsungewohnten Personen (Stahlarbeiter), die in der Regel ge-werkschaftlich organisiert sind, über Weiterbildung im Alter die Identitätsentfaltung durch neue Tätigkeiten zu festigen und zu verbessern und zu einem stärkeren politischen En-gage-ment zu kommen. Anhand der Beschreibung unter anderem zweier Projekte zur Ge-schichte und zum Naturschutz werden Handlungsorientierungen für eine kritische Al-tenbildung darge-stellt. Darüber hinaus werden Voraussetzungen für eine erfolg-reiche Altenbildung skizziert. Es wird deut-lich, dass Lernen im Alter erfahrungsbezogen und handlungsorientiert anzulegen ist. Dies kann durchaus dazu beitragen, im Alter neue Hand-lungsfelder zu erschließen, die in der bisherigen Lebensbiographie unerschlossen geblieben sind. Die empirischen Ergebnisse verdeutlichen darüber hinaus, dass das Bildungsprogramm durch eine große Nähe zu den Teilnehmern, die die direkte Beteiligung an der Planung des Bildungsprogramms impliziert, eine starke Akzeptanz erfährt. Es wird der Lebenslagean-satz bestätigt und die Notwendigkeit einer großen Partizipation im Binnenverhältnis betont. Ebenso ist die Ganzheitlichkeit des Bildungsangebotes, das kognitives, emotionales und so-ziales Lernen beinhaltet, wichtig für die Akzeptanz des Bildungsprogramms. Der empirische Teil weist nach, dass praktische Al-tenbildung, wie sie theoretisch begründet ist, sowohl per-sönlichkeitsstabilisierend als auch demokratiefördernd wirksam sein kann. Im Schlussteil bündele ich die Erkenntnisse der Untersuchung, verknüpfe die Geragogik mit der Alterstheorie in nuce und beschreibe Bausteine für eine kritische gewerkschaftlich ausge-richtete Altenbildung. Wichtige davon sind:1. Alter in seiner neuen historischen Qualität ist Ergebnis eines Sozials
Exakt 20 Jahre nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 kündigte der derzeit amtierende US-Präsident Joe Biden den Abzug aller amerikanischen Truppen aus Afghanistan an. "Es ist Zeit, Amerikas längsten Krieg zu beenden" (Böhm 2021, 92). Bereits vor dem Einmarsch amerikanischer und britischer Truppen am 7. Oktober 2001, bekannt als die Operation "Enduring Freedom", hatte Amerika Stützpunkte der in Afghanistan ansässigen Terrorgruppe Al-Qaida attackiert. Der Grund hierfür waren die durch Mitglieder der Gruppe geplanten und durchgeführten Anschläge auf amerikanische Botschaften in Tansania und Kenia im Jahr 1998. "Aber die Schwelle der Kriegserklärung gegen Terroristen wurde nicht überschritten, auch um Letztere politisch nicht aufzuwerten" (Böhm 2021, 94).Als Wendepunkt gilt der 11. September 2001. Neunzehn Terroristen der Terrorgruppe Al Qaida entführten vier Passagierflugzeuge. Zwei dieser Flugzeuge wurden in die Twin Towers des World Trade Centers gesteuert. Ein weiteres zerstörte den westlichen Teil des Pentagons in Washington. Das vierte stürzte in einem Feld in New Jersey ab. Insgesamt starben durch diese vier Flugzeuge fast 3000 Menschen aus 80 verschiedenen Ländern (vgl. Hoffmann 2006, 47).Die Anschläge veränderten die Wahrnehmung der durch den Terrorismus bestehenden Bedrohung. Bereits wenige Tage nach den Anschlägen verkündete der damalige US-Präsident George W. Bush den "Global War on Terror" (Böhm 2021, 92), eine Kriegserklärung an den Terrorismus. Damit definierte er die Auseinandersetzung mit dem Terrorismus als Krieg.Neben dieser Auslegung gilt auch die Interpretation des Verhältnisses zwischen terroristischen Gruppierungen und Amerika feindlich gesinnten Staaten als entscheidend. Unmittelbar nach den Anschlägen wurde zunächst nur die Bekämpfung der Terrorgruppe Al-Qaida und des Taliban-Regimes in Afghanistan priorisiert. In den darauffolgenden Monaten wurden neben diesen auch den Terrorismus unterstützende, autoritäre Staaten und Staaten mit Zugang oder Beschaffungsmöglichkeiten von Massenvernichtungswaffen zu möglichen Zielen von Militäraktionen zur Bekämpfung des Terrorismus (vgl. Böhm 2021, 92; Kahl 2011, 19).Durch die Anschläge am 11. September 2001 wurde neben der "seit längerem bekannte Dimension der internationalen Kooperation von terroristischen Gruppen […] die neue Dimension der transnationalen Kooperation, Durchführung, Logistik und Finanzierung terroristischer Gewalt deutlich" (Behr 2017, 147).Im Rahmen dieses Beitrags wird der Terrorismus als eine Herausforderung für die Vereinten Nationen vor und nach den Anschlägen vom 11. September 2001 thematisiert. In diesem Zusammenhang wird der Frage nachgegangen, inwiefern diese die Sicherheitspolitik der Vereinten Nationen beeinflusst haben. In einem ersten Schritt wird eine Klärung des Begriffs Terrorismus vorgenommen. Im Anschluss daran wird auf die Strategien der Vereinten Nationen zur Bekämpfung des Terrorismus vor dem 11. September 2001 eingegangen. Darauf folgt eine Darstellung der direkten Reaktionen der internationalen Staatengemeinschaft auf die Anschläge. In einem letzten Schritt werden die daraus resultierenden Folgen für die internationale Sicherheitspolitik näher beleuchtet.BegriffsklärungIn einem ersten Schritt gilt es nun, den Begriff des Terrorismus näher zu definieren. Der Begriff leitet sich von dem lateinischen Wort terror ab, das als Schrecken oder Furcht übersetzt werden kann (vgl. Pfahl-Traughber 2016, 10). Nach dem Terrorismusexperten Bruce Hoffmann wird unter dem Begriff des Terrorismus die "bewusste Erzeugung und Ausbeutung von Angst durch Gewalt oder die Drohung mit Gewalt zum Zweck der Erreichung politischer Veränderung" (Hoffmann 2006, 80) verstanden.Dementsprechend ist eine terroristische Tat zunächst einmal gekennzeichnet durch die Androhung oder die Ausübung von Gewalt. Im Hinblick auf die Intensität der ausgeübten Gewalt wird deutlich, dass keine humanitären Konventionen respektiert werden und terroristische Anschläge sich oft durch "besondere Willkür, Unmenschlichkeit und Brutalität" (Waldmann 2005, 14) auszeichnen."Die Gewalttat hat primär einen symbolischen Stellenwert, ist Träger einer Botschaft, die in etwa lautet, ein ähnliches Schicksal kann jeden treffen, insbesondere diejenigen, die den Terroristen bei ihren Plänen im Wege stehen" (Waldmann 2005, 15). Basierend auf dieser Tatsache bezeichnet der Soziologe Peter Waldmann den Terrorismus "primär [als] eine Kommunikationsstrategie" (Waldmann 2005, 15).Auf der psychologischen Ebene verfolgt der Terrorismus das Ziel, über die unmittelbaren Ziele und Opfer hinaus bei einer bestimmten Gruppe Furcht hervorzurufen, um für deren Einschüchterung zu sorgen. Als Zielgruppe kommt neben Staaten, Regierungen und einzelnen religiösen oder ethnischen Gruppen auch die allgemeine öffentliche Meinung in Frage (vgl. Hoffmann 2006, 80).Davon ausgehend verfolgt der Terrorismus mit der Erzeugung von Furcht und Schrecken auf der politischen Ebene das Ziel, das Vertrauen in eine bestehende politische Ordnung zu erschüttern (vgl. Waldmann 2005, 16). Im Hinblick auf die politische Dimension des Terrorismus grenzt Waldmann diesen bewusst vom Staatsterrorismus ab. Nach Waldmann kennzeichnen terroristische Anschläge ihre planmäßige Vorbereitung und ihre Aktivität aus dem Untergrund heraus.Im Gegensatz dazu handelt es sich bei Staatsterrorismus um ein Terrorregime, errichtet durch staatliche Machteliten. Von Seiten des Staates kann zwar Terror gegenüber seinen Bürgern ausgeübt werden, er ist jedoch nicht in der Lage, die genannten Strategien gegen die eigene Bevölkerung einzusetzen (vgl. Pfahl-Traughber 2016, 17; Waldmann 2005, 12).Bei den Akteuren handelt es sich um einen Zusammenschluss von Handlungswilligen, die sich in annähernd bürokratischen Strukturen organisieren, wobei Hierarchien und informelle Abhängigkeiten entstehen. In den meisten Fällen verfügen diese Gruppierungen über eine "geringe quantitative Dimension […] handelt es sich doch überwiegend um kleinere Personenzusammenschlüsse von wenigen Aktivisten" (Pfahl Traughber 2016, 12).Diese agieren im Untergrund, da sie weder über den erforderlichen Rückhalt innerhalb einer Bevölkerung noch über die erforderliche Kampfstärke verfügen. Am Beispiel von Al-Qaida in Afghanistan wird deutlich, dass ein Hervortreten aus dem Untergrund, beispielsweise durch die Errichtung von Lagern, das Risiko impliziert "angegriffen und vernichtet zu werden" (Waldmann 2006, 13).Hinsichtlich der Bezeichnung werden im Sprachgebrauch zwei Arten von Terrorismus, der internationale und der transnationale Terrorismus, unterschieden. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob das Phänomen des Terrorismus eher als international oder transnational zu bezeichnen ist. Nach Steinberg zeigt sich aus historischer Sicht ein fließender Übergang von dem internationalen Terrorismus hin zum transnationalen Terrorismus.Der internationale Terrorismus zeichnet sich in erster Linie durch "zahlreiche grenzüberschreitende Aktionen [aus], bei denen häufig vollkommen unbeteiligte Bürgerinnen und Bürger fremder Staaten zu Schaden kamen." (Steinberg 2015). Ferner ist für den internationalen Terrorismus charakteristisch, dass die terroristischen Aktivitäten durch Staaten unterstützt werden. Zu den Unterstützerstaaten in der Vergangenheit zählten insbesondere Verbündete der ehemaligen Sowjetunion wie beispielsweise Syrien oder Libyen.Als historisches Beispiel für den internationalen Terrorismus gelten die Attentate auf israelische Sportler*innen während der Olympischen Spielen in München 1972 durch palästinensische Terroristen. Mit dem Fall der UdSSR verloren diese Staaten ihren Schutz vor Sanktionen westlicher Nationen. Damit endete nach und nach auch die Unterstützung terroristischer Gruppierungen. Es folgte ein fließender Übergang vom internationalen Terrorismus hin zum transnationalen Terrorismus.Der Unterschied besteht darin, dass die terroristischen Aktivitäten nicht mehr durch einen Staat unterstützt werden. Die Gruppierungen werden privat mit Geld und Waffen unterstützt oder bauen eigene, substaatliche Logistik- und Finanzierungsnetzwerke auf. Der Terrorismus gilt zudem als transnational, "weil sich die terroristischen Gruppen auf substaatlicher Ebene länderübergreifend miteinander vernetzen und sich dementsprechend aus den Angehörigen verschiedener Nationalitäten zusammensetzen" (Steinberg 2015).Basierend auf diesen Erkenntnissen ist ab den 1990er Jahren nicht mehr von internationalem Terrorismus, sondern vielmehr von transnationalem Terrorismus zu sprechen (vgl. Steinberg 2015). Dies hat auch Auswirkungen auf die Organisationsstrukturen terroristischer Gruppierungen. Sie zeichnen sich durch "Dezentralisierung, Entterritorialisierung und durch Überlagerung und Fragmentierung zwischen wechselnden, funktional orientierten Akteuren aus" (Behr 2017, 150).Ein Beispiel für den Übergang von einer internationalen Organisation hin zu einem transnationalen Netzwerk stellt die im Zusammenhang mit dem 11. September 2001 stehende Terrorgruppe Al-Qaida dar. Vor den Anschlägen galt sie als eine internationale Organisation, die über ein "recht einheitliches Gebilde" (Hoffmann 2006, 425) verfügt. In Folge der Reaktionen auf die Anschläge entwickelte sie sich als eine transnationale Bewegung "mit gleich gesinnten Vertretern an vielen Orten, die über ein ideologisches und motivierendes Zentrum locker miteinander verbunden sind, aber die Ziele dieses noch verbleibenden Zentrums gleichzeitig und unabhängig voneinander verfolgen" (Hoffmann 2006, 425).Nach Vasilache ist "der gebräuchliche Terminus des internationalen Terrorismus irreführend, da er keine gängige Strategie eines Staates gegen einen anderen, sondern ein transnationales Phänomen ist, das vor Staatsgrenzen nicht halt macht" (Vasilache 2006, 151). Als Begründung führt er an, dass terroristische Anschläge oftmals von einzelnen Gruppierungen ausgehen, wobei auf die unterschiedlichen Motive in einem nächsten Schritt eingegangen wird. Weiterhin begründet er seine Aussage mit der Tatsache, dass das Ziel von staatlich initiiertem Terrorismus nicht direkt ein anderer Staat ist, sondern vielmehr zivile Ziele verdeckt attackiert werden (vgl. Vasilache 2006, 151).Anders als Steinberg spricht Vasilache also nicht von einer historischen Veränderung vom internationalen Terrorismus hin zum transnationalen Terrorismus, sondern bezeichnet das Phänomen Terrorismus generell als transnational. Da beide in der Ansicht übereinstimmen, zum Zeitpunkt der Anschläge am 11. September 2001 handele es sich um die transnationale Form des Terrorismus, wird im weiteren Verlauf von transnationalem Terrorismus gesprochen.Im Hinblick auf die Motive terroristischer Gruppierungen können im Wesentlichen vier Motive benannt werden, die sich überschneiden oder einander angleichen können. In diesem Zusammenhang wird von der Tatsache ausgegangen, dass terroristische Gruppierungen mit ihren Zielen und ideologischen Rechtfertigungen nicht zufällig entstehen, "sondern einen bestimmten gesellschaftlich-historischen Hintergrund widerspiegelt, der seinerseits wieder durch ihr Vorgehen eine spezifische Aktivierung erfährt" (Waldmann 2005, 100).Der sozialrevolutionäre Terrorismus möchte die politischen und gesellschaftlichen Strukturen nach der Ideologie von Karl Marx verändern (vgl. Waldmann 2005, 99). Ein Beispiel hierfür stellt die Rote Armee Fraktion (kurz: RAF) dar, die in den 1970er Jahren in Deutschland terroristische Anschläge verübte.Wenn unterdrückte Völker oder Minderheiten das Ziel von mehr politischer Autonomie oder staatlicher Eigenständigkeit mit terroristischen Strategien verfolgen, handelt es sich um ethnisch-nationalistischen Terrorismus. Als Exempel hierfür kommt die baskische ETA infrage, die aus einer Studierendenorganisation heraus entstanden ist und sich in den 1960er Jahren zunehmend radikalisierte (vgl. Waldmann 2005, 103f.).Unter die dritte Form des Terrorismus, "der militante Rechtsradikalismus" (Waldmann 2005, 115), fallen unterschiedliche Gruppen wie beispielsweise die Ku-Klux-Klan-Bewegung in Amerika. Trotz der unterschiedlichen Ausprägungen können bei all diesen Gruppen im Wesentlichen zwei Merkmale ausgemacht werden: zunächst einmal kämpfen sie für den Erhalt bestehender Strukturen und wollen keine strukturellen Veränderungen hervorrufen. Zudem richtet sich diese Form des Terrorismus in erster Linie nicht gegen das politische System, sondern vielmehr gegen einzelne Gruppen der Gesellschaft (vgl. ebd., 115). Ferner kennzeichnet den rechtsradikalen Terrorismus auch eine andere Strategie und eine andere Erscheinungsform. Bei den Aktivisten handelt es sich um "Teilzeitterroristen" (ebd., 117), die typischerweise in ihrer Freizeit agieren. Ihre Aktivitäten sind nicht im Untergrund, sondern werden vielmehr offen durchgeführt. Hinzu kommt, dass die Anschläge teils geplant und teils spontan erfolgen, mit dem Ziel, die Opfer zum Verlassen des Ortes oder Landes zu bewegen (vgl. ebd., 117f.).Bei der vierten Form des Terrorismus handelt es sich um religiös motivierten Terrorismus. Beispiel hierfür ist die bereits mehrfach angesprochene Terrorgruppe Al-Qaida. Sie entstand als Reaktion auf den Angriff der Sowjetunion auf Afghanistan Ende der 1970er Jahre. Die Brutalität der Invasion sorgte für eine große Solidarität innerhalb der islamischen Welt und führte zu einem Zuzug von zahlreichen islamischen Glaubenskämpfer*innen aus anderen Ländern, darunter auch Osama Bin Laden. Dieser gewann im Laufe der 1980er Jahre immer mehr an Einfluss und gründete mit dem Abzug der Sowjets Ende des Jahrzehnts Al Qaida mit dem Ziel, an einer anderen Front weiterzukämpfen. Es erfolgte ein Strategiewechsel "des Djihads nach innen, gegen verräterische Herrscher in den islamischen Staaten, auf die Strategie eines Djihads nach außen, gegen den Westen" (ebd., 152).Ein definitorisches Problem von Terrorismus ergibt sich aus der Tatsache, dass auf der internationalen Ebene bislang keine einheitliche Definition gefunden wurde. Im Rahmen der Resolution 1566 aus dem Jahr 2004 definierte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen den Begriff Terrorismus wie folgt als "Straftaten […], die mit dem Ziel begangen werden, die ganze Bevölkerung, eine Gruppe von Personen oder einzelne Personen in Angst und Schrecken zu versetzten, eine Bevölkerung einzuschüchtern oder eine Regierung oder eine internationale Organisation zu einem Tun oder Unterlassen zu nötigen […]" (UN-Resolution1566 2004).Neben dieser existieren weitere nationale und internationale Definitionen, wie unter anderem die der Europäischen Union oder die Definitionen einzelner amerikanischer Behörden. Auf der politischen Ebene können die Schwierigkeiten hinsichtlich einer einheitlichen Definition anhand folgender Punkte näher beleuchtet werden: zunächst einmal werden Handlungen von unterschiedlichen Staaten unterschiedlich eingestuft. Für die einen handelt es sich um gewalttätige terroristische Angriffe; andere stufen die Aktivitäten als politisch legitimierte Handlungen in Ausübung des Selbstverteidigungsrechts während eines nationalen Befreiungskampfes ein.Ferner herrscht Uneinigkeit darüber, ob eine Definition auch den Staatsterrorismus umfassen sollte oder ob sie lediglich die motivationalen Hintergründe der Täter umfasst. Anhand der genannten Schwierigkeiten wird deutlich, dass die Einschätzung, ob es sich bei der Bedrohung um eine terroristische Bedrohung handelt und ob es sich bei der Organisation um eine terroristische Organisation handelt, dem nationalen Verständnis oder dem Verständnis der jeweiligen Institution unterliegt. Folglich könnte die Klassifizierung missbraucht werden, um ungewünschte innerstaatliche Gruppierungen oder andere mit dem Begriff zu stigmatisieren und deren Verfolgung zu rechtfertigen (vgl. Finke/Wandscher 2001, 168; Kaim 2011, 6).Abschließend gilt es noch zu klären, ob terroristische Aktivitäten als Kriegshandlungen bezeichnet werden können oder ob vielmehr eine Trennung der beiden Begriffe erforderlich ist. Als unmittelbare Reaktion auf die Anschläge des 11. Septembers bekundete Amerika immer wieder seinen Krieg gegen den Terror. Neben Präsident Bushs "global war on terror" sprach auch der amerikanische Verteidigungsminister Donald H. Rumsfeld im Zuge der Anschläge von einer neuen Kriegsart, "die sich vor allem neuer Technologien bedienen, asymetrisch verfahren und deswegen auch nicht leicht zu erkennen sein würde" (Czempiel 2003, 113).Diese Verwendung des Kriegsbegriffes in Verbindung mit terroristischen Anschlägen offenbart einen strategischen Zug der US-Regierung. "Dehnt man den Kriegsbegriff auf terroristische Akte aus, legitimiert dies den Angegriffenen auch zu Kriegshandlungen" (Geis 2006, 12). Der Regierung ist es infolgedessen möglich, über rechtsstaatliche Mittel hinaus Maßnahmen zu ergreifen und sie kann zudem von einer breiten Unterstützung innerhalb der eigenen Bevölkerung ausgehen (vgl. Geis 2006, 12). Bei der Frage, ob der transnationale Terrorismus als eine Form des Krieges bezeichnet werden kann, offenbart sich aus politikwissenschaftlicher Sicht eine erhebliche Kontroverse.Neben der Kategorisierung zwischen den alten und neuen Kriegen existiert auch die Unterscheidung zwischen großen und kleinen Kriegen. Diese "basiert auf der Art der Vergesellschaftungsform der Kriegführenden" (Geis 2006, 21). Im Fall des großen Krieges sind die Akteure in gleichem Maß vergesellschaftet, ein Staat kämpft gegen einen anderen Staat. Im Falle eines kleinen Krieges besteht eine "asymetrische Konfliktstruktur zwischen ungleich vergesellschaftlichen Akteuren: Staatliche Kombattanten treffen auf nichtstaatliche Kämpfer" (Geis 2006, 21).Ob unter die kleinen Kriege auch der Terrorismus zu subsumieren ist, ist jedoch umstritten. Zunächst einmal wird dagegen angeführt, dass der Preis auf normativer Ebene zu hoch sei. Eine Unterscheidung beider bedeutet einen Fortschritt des Völkerrechts, da die Trennung immer eine Unterscheidung zwischen politisch legitimierter Gewalt im Zuge einer Kriegshandlung und illegitimer Gewalt, ausgeübt im Zuge eines Verbrechens, ermöglicht.Hinzu kommen Bedenken "bezüglich der Folgen eines ungehegten Counterterrorismus der angegriffenen Staaten" (Geis 2006, 22). In einem permanenten Kriegszustand hätten demokratische Staaten die Möglichkeit, die Erweiterung des Sicherheitsapparates und Bürgerrechtseinschränkungen zu legitimieren (vgl. ebd., 21f.). Als weiteres Argument wird angeführt, dass eine Trennung beider Begriffe aus analytischer Sicht sinnvoll sei, da es sich beim Terrorismus primär um eine Kommunikationsstrategie handele. Dieser fehlen neben der territorialen Dimension auch die wechselseitig beständige Gewaltanwendung und das Charakteristikum eines Massenkonflikts (vgl. ebd., 23).Für eine Subsumierung des Terrorismus unter den Kriegsbegriff spricht insbesonders die Sichtweise der Vereinten Nationen, die im Zuge der Anschläge vom 11. September 2001 den Vereinigten Staaten von Amerika das Recht auf Selbstverteidigung gemäß Art. 51 UN-Charta zugesprochen hat (vgl. Resolution 1373 2001). Auf diese Tatsache wird zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal eingegangen. Anschließend wird der Sichtweise der Vereinten Nationen gefolgt und folglich der Terrorismus unter den Begriff des Krieges subsumiert.Reaktionen der Vereinten Nationen auf Terrorismus vor dem 11. September 2001In einem nächsten Schritt gilt es, auf die Reaktionen der Vereinten Nationen auf das Phänomen des Terrorismus vor dem 11. September 2001 einzugehen. Hierbei wird zunächst auf das unterschiedliche Verständnis in Bezug auf den Sicherheitsbegriff näher eingegangen. Seit den 1970er Jahren gilt nicht mehr nur die politische Souveränität und die territoriale Integrität der einzelnen Staaten als das zu schützende Objekt der Sicherheitspolitik.Neben der zu schützenden staatlichen Sicherheit geriet auch die Gesellschaft, definiert als ein "Zusammenschluss von Individuen" (Kaim 2011, 3), in den Mittelpunkt sicherheitspolitischen Handelns. In den 1990er Jahren erfolgte die Aufnahme einer weiteren Dimension in Gestalt der menschlichen Sicherheit in den Diskurs rund um den Sicherheitsbegriff und die damit verbundenen Aufgaben. Nach diesem Verständnis ist die Sicherheit, die Freiheit und der Wohlstand des Individuums zu schützen. Es zeigt sich jedoch, dass die Dimensionen in der politischen Praxis nicht getrennt voneinander betrachtet werden können. Der Schutz des Individuums umfasst ebenso die Gesellschaft, in der es lebt, und letzlich auch den Staat (vgl. Kaim 2011, 3f.).Aus sicherheitspolitischer Perspektive gilt der "Terrorismus als entterritorialisiertes Sicherheitsrisiko" (Behr 2017, 151), das zu drei Konsequenzen führt. Zunächst einmal sind terroristische Aktivitäten nicht voraussagbar. Es besteht das Risiko, dass sie sich zu jeder Zeit an jedem Ort ereignen können. Hinzu kommt, dass die Akteure anders als Staaten keine politische Einheit darstellen. Vielmehr ereignen sich einzelne, verstreut zusammenhängende Handlungen ohne einen genau ausmachbaren Anfang oder Ende. Folglich kann auf das sicherheitspolitische Risiko Terrorismus nur reagiert werden, wenn die Maßnahmen "Handlungs- und Organisationslogiken transnationaler Politik erfassen und übernehmen" (Behr 2017, 151).Die Problematik des transnationalen Terrorismus als Herausforderung für die Vereinten Nationen und ihrer Sonderorganisationen führte zu einer Reihe von Abkommen mit der Intention der Beseitigung und Bekämpfung der Problematik. In diesem Zusammenhang kristallisierte sich ein pragmatischer Ansatz heraus. "[B]esonders häufig auftretende terroristische Aktivitäten [wurden] zum Gegenstand spezifischer Konventionen gemacht" (Finke/Wandscher 2001, 169).Nahezu alle von der Generalversammlung und den Sonderorganisationen verabschiedeten Abkommen können aufgrund bestimmter Kernelemente als Antiterrorkonventionen bezeichnet werden. Zu den besagten Kernelementen gehört zunächst einmal die Verpflichtung der Vertragsstaaten, die in dem jeweiligen Abkommen genannte strafbare Handlung in das jeweilige innerstaatliche Recht aufzunehmen und angemessen zu bestrafen.Hinzu kommt, dass verdächtige Personen entweder durch den Staat selbst zu verfolgen sind oder an einen anderen, verfolgungswilligen Staat ausgeliefert werden müssen. Eine Auslieferung kann nur dann verweigert werden, wenn das Auslieferungsgesuch aufgrund religiöser, ethischer, nationaler, rassistischer oder politischer Gründe erfolgt ist. Ferner sind die Vertragsstaaten dazu verpflichtet, untereinander zu kooperieren und sich gegenseitig Rechtshilfe zu gewähren (vgl. Finke/Wandscher 2001, 169).Das erste derartige Übereinkommen stellt das Haager Abkommen von 1970 zur Bekämpfung der widerrechtlichen Inbesitznahme von Luftfahrzeugen dar. Darauf folgte das Montrealer Abkommen von 1971 zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit der Zivilluftfahrt (vgl. ebd., 169). Die besagten Abkommen ordnen bestimmten Aktivitäten zwar das Adjektiv terroristisch zu, stufen diese jedoch nicht als Bedrohung des Weltfriedens ein oder führen zu der Anordnung von Zwangsmaßnahmen gemäß Kapitel VII der UN-Charta durch den Sicherheitsrat.Dies änderte sich mit der Explosion einer Bombe an Bord des Pan-American-Flugs 103 über der schottischen Ortschaft Lockerbie im Jahr 1988. Hier wurden zwei Staatsangehörige Libyens für die Anschläge verantwortlich gemacht, und das Land von den Vereinigten Staaten und Großbritannien zu deren Auslieferung aufgefordert. Der libysche Staat verweigerte das. Als Reaktion darauf wurde der Terrorakt im Rahmen der Resolution 731 durch den Sicherheitsrat als Bedrohung des Weltfriedens gemäß Kapitel V Artikel 24 eingestuft.Durch Resolution 748, ebenfalls 1992 verabschiedet, wurde die Nichtauslieferung durch Libyen als "eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" (Finke/Wandscher 2001, 171) bezeichnet und Zwangsmaßnahmen gemäß Kapitel VII UN-Charta gegen das Land erlassen (vgl. Behr 2017, 147; Finke/Wandscher 2001, 170f.).Der Einsatz von Zwangsmaßnahmen gemäß Kapitel VII der UN-Charta erwies sich als wirksames Mittel der Terrorismusbekämpfung im Hinblick auf die Durchsetzung bestimmter Maßnahmen. Hierunter fallen insbesonders Maßnahmen, die zwar Gegenstand geltender Antiterrorkonventionen sind, diese durch die betreffenden Staaten jedoch nicht ratifiziert wurden oder die Konvention selbst noch nicht in Kraft getreten ist (vgl. Finke/Wandscher 2001, 171).Diese Strategie des Sicherheitsrates etablierte sich insbesonders hinsichtlich der Situation in Afghanistan. In Folge der Anschläge auf amerikanische Botschaften in Nairobi und Daressalam erließ der Sicherheitsrat mit der Resolution 1267 Individualsanktionen gegen die afghanischen Taliban. Der Grund hierfür war die Tatsache, dass diese den Verantwortlichen für die Anschläge, der Terrorgruppe Al-Qaida und ihrem Anführer Osama bin Laden, Unterstützung gewährte.Insbesonders durch das Einfrieren der finanziellen Mittel, aber auch durch ein Waffenembargo und ein Reiseverbot, sollten diese zur Auslieferung Bin Ladens gezwungen werden. Um die Umsetzung dieser Maßnahmen zu gewährleisten, setzte die Resolution zudem einen Unterausschuss des Sicherheitsrates ein (vgl. Kreuder-Sonnen 2017, 159).Direkte Reaktionen der Staatengemeinschaft auf den 11. September 2001Als erste Reaktion auf die Anschläge des 11. September 2001 wurde vom Sicherheitsrat bereits am Tag nach den Anschlägen die Resolution 1368 erlassen. In dieser wurde der Terrorismus einstimmig als "Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" (UN-Resolution 1368 2001) im Sinne von Art. 39 UN-Charta bezeichnet. Zugleich wurde auf das Recht zur individuellen und zur kollektiven Selbstverteidigung verwiesen (vgl. UN-Resolution 1368 2001).Noch im gleichen Monat, am 28 September 2001, wurde das Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung mit Resolution 1373 bekräftigt und die internationale Staatengemeinschaft aufgefordert, "durch terroristische Handlungen verursachte Bedrohungen […] mit allen Mitteln im Einklang mit der Charta zu bekämpfen" (Resolution 1373 2001).Neben dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen reagierte auch der Nordatlantikrat umgehend. Am 12. September erklärte der damalige Generalsekretär George Robertson die Anschläge zum kollektiven Verteidigungsfall, wodurch Artikel 5 des NATO-Vertrages in Kraft trat. Nach diesem ist jeder Mitgliedstaat verpflichtet, mit von ihm ausgewählten Mitteln zu helfen (vgl. Robertson 2001).Aus amerikanischer Sicht dienten die Anschläge nicht nur dem Zweck der Tötung von amerikanischen Zivilisten, "Bush sah darin die gesamte westliche Zivilisation herausgefordert" (Czempiel 2003, 114). In seiner Rede am 20. September 2001 warnte der amerikanische Präsident alle Staaten hinsichtlich der Unterstützung und der Beherbergung von Terroristen. Innerhalb der Regierung wurde hinsichtlich der Bekämpfungsstrategie "offen von Präemption gesprochen" (Czempiel 2003, 115).Als Adressaten der amerikanischen Drohung kamen insgesamt 60 Länder mit aktiven terroristischen Organisationen in Frage (vgl. ebd., 114). Auch wenn die meisten Attentäter der Anschläge ursprünglich aus Saudi-Arabien stammten, erhärtete sich zunehmend der Verdacht, dass ihre Aktivitäten von Afghanistan aus gelenkt wurden. Im Zuge dessen wurde das Land als "Prototyp" (ebd., 115) für die Terrorismusbekämpfung ausgewählt. Mit der Operation "Enduring Freedom" starteten amerikanische und britische Truppen am 7. Oktober 2001 Angriffe auf Talibanstützpunkte wie etwa auf Regierungsgebäude in Kandahar und Kabul (vgl. Bruha/ Bortfeld 2001, 162; Czempiel 2003, 115).Der Umstand, dass sich am Tag nach den Anschlägen der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit diesen befasste "ist ein erstaunlicher Beweis für die politische Klugheit der USA" (Tomuschat 2002, 20) hinsichtlich der Legitimation der Reaktion auf diese. In diesem Zusammenhang gilt es sich jedoch zu fragen, ob die genannten Resolutionen das Land tatsächlich zu einem Recht auf Selbstverteidigung gemäß Artikel 51 UN-Charta legitimieren.In Resolution 1368 findet sich in Bezug darauf ein entscheidender Widerspruch, welcher die rechtlich bedeutsamen Aussagen schwer greifbar macht. Dieser bekräftigt das Recht auf individuelle und kollektive Sicherheit im Sinne der Charta, bezeichnet die Angriffe jedoch lediglich als eine Bedrohung des globalen Friedens und der Sicherheit. Die bekundete Entschlossenheit, die Bedrohung "mit allen Mitteln zu bekämpfen" (UN 2001, 315), kann nicht als eine Ermächtigung für einzelne Staaten aufgefasst werden, sondern steht für die grundsätzliche Bereitschaft der internationalen Gemeinschaft.Anders als Resolution 1368 enthält Resolution 1373 mehr rechtlich eindeutige Aussagen. Bereits in der Präambel wird auf die Anwendung der Maßnahmen gemäß Kapitel VII UN-Charta verwiesen. Zudem bestätigt sie die Zulässigkeit des Einsatzes "aller Mittel" durch die Opfer von terroristischen Anschlägen (vgl. UN 2001, 316f.). Es zeigt sich also, dass eine Berechtigung zu der Ausübung des Selbstverteidigungsrechts gemäß Art. 51 UN-Charta durch die Vereinigten Staaten im Rahmen der genannten Resolution durchaus vorliegt (vgl. Tomuschat 2002, 20f.).Nun stellt sich die Frage, ob die Verbindungen zwischen den Anschlägen und dem Taliban-Regime derart offensichtlich waren, dass die militärischen Aktionen gegen die Taliban in Afghanistan unter die Ausübung des Selbstverteidigungsrechts fallen. In diesem Zusammenhang kann man sich nicht auf die genannten Resolutionen berufen, da diese nicht aufzeigen, "gegen wen Gegenwehr zulässig sein soll" (Tomuschat 2002, 21). Folglich gilt es, die Reaktionen des Sicherheitsrates und der Generalversammlung näher zu betrachten.Es zeigt sich, dass beide Institutionen die amerikanisch-britische Militärintervention nicht verurteilten. Vielmehr verabschiedete der Sicherheitsrat am 12. November 2001 einstimmig Resolution 1377. In dieser wurde der Terrorismus als "eine der schwerwiegendsten Bedrohungen des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit im 21. Jahrhundert" (UN-Resolution 1377 2001) bezeichnet. Mit dieser Qualifikation wurde implizit der Einsatz von äußersten Mitteln gestattet, da die Resolution keine "Grenzen und Schranken von Gegenmaßnahmen enthält" (Tomuschat 2002, 21). Letztendlich kann man also davon ausgehen, dass die Vereinten Nationen die Ausübung des Selbstverteidigungsrechts gemäß Art. 51 UN-Charta durch die USA als Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 zumindest implizit gebilligt haben (vgl. Tomuschat 2002, 21f.).Als Reaktion auf die Anschläge wurden die bislang geltenden Individualsanktionen gegen die afghanischen Taliban und das Terrornetzwerk Al-Qaida mithilfe der Resolution 1390 zu allgemeinen, dauerhaft geltenden Maßnahmen gegen den transnationalen Terrorismus umgewandelt. Damit wurde nicht nur der Adressatenkreis erweitert, es wurde zusätzlich auch die räumliche und die zeitliche Begrenzung aufgehoben.Jede Person, die von einem Staat als Terrorverdächtiger genannt wurde, bekam ab diesem Zeitpunkt die Sanktionen im Hinblick auf das Privatleben, das private Eigentum, auf den Sozialstatus und das Unterhalten von geschäftlichen Beziehungen zu spüren. Fundierte Beweise für eine Aufnahme in die sogenannte "Schwarze Liste" (Kreuder-Sonnen 2017, 160) durch die Staaten waren ebenso wenig notwendig wie eine Begründung gegenüber dem Individuum (vgl. Kreuder- Sonnen 2017, 160).Folgen für die SicherheitspolitikAngesichts der aufgezeigten Gegenmaßnahmen als direkte Reaktion auf die Anschlage des 11. Septembers 2001 wird deutlich, dass man "bezüglich der Reaktion auf den Terrorismus von einer neuen Ära" (Waldmann 2005, 229) ausgehen muss. Es zeigt sich, dass sowohl bei diesen Anschlägen als auch bei terroristischen Anschlägen in den Folgejahren "die durchschnittliche Zahl der Opfer pro Anschlag […] kontinuierlich ansteigt" (Waldmann 2005. 16).Infolgedessen spricht auch Waldmann im Kontext von terroristischen Anschlägen von Kriegshandlungen. Seiner Ansicht nach hat das zunehmende Ausmaß der Anschläge dazu geführt, dass diese nicht mehr als `low intensity´ war, sondern vielmehr als `high intensitiy´ war eingestuft werden müssen. Der Grund hierfür ist seiner Ansicht nach die Tatsache, dass der Begriff des low intensity war neben dem fehlenden Einsatz von konventionellem Kriegsgerät und größeren Truppenverbänden auch einen begrenzten Personen- und Sachschaden impliziert (vgl. Waldmann 2005, 16f.).Auf der internationalen Ebene spiegelten sich die Reaktionen auf das zunehmende Ausmaß der Anschläge vor allem in den zahlreich erlassenen Konventionen und Resolutionen wieder. Hinzu kommt die Tatsache, dass terroristische Anschläge erstmals zu militärischen Interventionen in Länder geführt haben, die sich in erheblicher Entfernung von dem betroffenen Land befinden. Zumindest im Fall von der militärischen Intervention in Afghanistan herrschte eine seltene Einigkeit zwischen den Großmächten im Sicherheitsrat.Ferner führten die Ereignisse zu einem erheblichen Medieninteresse (vgl. Waldmann 2005, 229). Anhand dessen lässt sich "[d]ie neue Einschätzung des gewaltigen, vor allem dem internationalen Terrorismus zugeschriebenen Drohpotentials" (ebd., 230) feststellen. Diese führte zu drei als signifikant zu bezeichnenden Veränderungen im Hinblick auf die Politik und die Einstellung in Bezug auf den Terrorismus (vgl. ebd., 230).Zunächst einmal bewirkte der transnationale Terrorismus in den westlichen Nationen nicht nur einen "politischen Rechtsruck" (ebd., 230) aller regierenden Parteien. Er wirkte sich auch auf alle Ebenen der Gesellschaft aus. Dieser Wandel auf der nationalen Ebene wirkte sich auch auf die Entscheidungen internationaler Gremien aus. Die bislang vorhandene Balance zwischen der individuellen und kollektiven Sicherheit auf der einen Seite und den Grund- und Freiheitsrechten auf der anderen Seite hat sich zunehmend zugunsten des Sicherheitsaspektes verschoben (vgl. ebd., 230).Insbesonders um den Informationsaustausch zwischen den Staaten gewährleisten zu können und damit ein gemeinsames Vorgehen gegen die Bedrohung zu ermöglichen, wurden internationale Instanzen zur Koordinierung geschaffen (vgl. Behr 2017, 151; Waldmann 2005, 231). Ferner erfolgte eine erhöhte Aufmerksamkeit und Ressourcenbereitstellung für national und international agierende Behörden hinsichtlich terroristischer Aktivitäten und damit verbunden eine Reihe neuer, zu diesem Zweck erlassener Gesetze.Neben dem Informationsaustausch wurden auch die Möglichkeiten der Polizei und anderer Instanzen erweitert, um Anschläge bereits im Planungs- und Vorbereitungsstadium erkennen und verhindern zu können. Hierzu gehören beispielsweise Einreiseverbote für Mitglieder islamistischer Gruppierungen. Neben den erweiterten präventiven Maßnahmen wurden auch Notfallszenarien entwickelt, die im Fall eines Anschlags in Kraft treten (vgl. Waldmann 2005, 232).Im Hinblick auf die dargestellten Veränderungen stellt sich in einem nächsten Schritt die Frage, inwiefern weitere Maßnahmen aus der Sicht der Vereinten Nationen erforderlich sein könnten. Nach dem Terrorismusexperten Peter Waldmann "wird keine Unterscheidung zwischen Maßnahmen auf der nationalen und der internationalen Ebene getroffen, weil beide längst immer enger ineinander greifen und in die gleiche Richtung zielen" (Waldmann 2005, 239).Als zentrale Handlungsmaxime benennt Waldmann in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass die Strategien gegenüber terroristischen Netzwerken beziehungsweise dem Terrorismus im Allgemeinen "klar, konsistent und glaubhaft" (Waldmann 2005, 239) sein sollen. Hinsichtlich des Umgangs mit dem islamistischen Terrorismus besteht die größte Problematik darin, dass westliche Nationen ihre Glaubhaftigkeit bezüglich ihrer Leitlinien teilweise verlieren. Insbesonders den Vereinigten Staaten von Amerika wird vorgeworfen, dass sie ihren Prinzipien der Demokratie, des Grundrechtsschutz und der Rechtsstaatlichkeit zugunsten von politischen und wirtschaftlichen Interessen teilweise nicht treu sind (vgl. ebd., 240)."Dass sie aus machtpolitischen Erwägungen jederzeit dazu bereit sind, mit Diktaturen Bündnisse zu schließen, und hinter ihrem quasi messianischen Diskurs, es gelte in der ganzen Welt demokratische Verhältnisse herzustellen, nun allzu deutlich das dringende Bestreben durchscheint, der eigenen Wirtschaft lukrative neue Erdölfelder zu erschließen." (Waldmann 2005, 240).Hinsichtlich der Maßnahmen auf der internationalen Ebene gilt es zunächst auf die Transnationalität näher einzugehen. Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei terroristischen Gruppen in den meisten Fällen nicht um eine Gruppe aus einem Land, sondern um Angehörige unterschiedlicher Länder, die sich länderübergreifend miteinander vernetzt haben. Um dem begegnen zu können, erscheint es unabdingbar, dass auch Staaten grenzübergreifend miteinander kooperieren. Dies würde eine erhebliche Bereitschaft der Teilnehmenden zu einem Teilverzicht auf ihre staatlichen Souveränitätsräume und ihrer Souveränitätsrechte bedeuten.Hinsichtlich der nationalen und internationalen Rechtsordnungen im Allgemeinen verlangen transnationale Rechtsverstöße auch eine entsprechende Weiterentwicklung des Rechts auf internationaler Ebene. Transnationale Verbrechen können nicht durch an nationale Grenzen gebundenes Recht bekämpft werden, da aufgrund der unterschiedlichen Verfassungen rechtsfreie Sphären auf globaler Ebene entstehen. Folglich ist eine Ausweitung des transnationalen Rechts erforderlich. Hierfür müsste das Völkerrecht, bislang mit dem Staat als Rechtsperson und einer rechtlichen Bindung auf dem staatlichen Territorium, entterritorialisiert werden (vgl. Behr 2017, 151; Schmalenbach 2004, 266).Neben der Kooperation von Staaten und der Erweiterung des internationalen Rechts spricht Ernst-Otto Czempiel von einer "dreigeteilte[n] Strategie" (Czempiel 2003, 57) hinsichtlich der Verhinderung weiterer terroristischer Anschläge. Kurzfristig ist es die Aufgabe der Staaten, weitere Anschläge zu verhindern. In diesem Zusammenhang offenbart sich jedoch eine in demokratischen Staaten schwierige Güterabwägung hinsichtlich des Schutzes der kollektiven Sicherheit und der individuellen Freiheitsrechte (vgl. Czempiel 2003, 57).Die bürgerliche Freiheit stellt in demokratischen Staaten ein hohes Gut dar. Auf der anderen Seite würde der fortschreitende Ausbau des staatlichen Sicherheitsapparates eine "allmähliche Aushöhlung der individuellen Grund- und Freiheitsrechte um des Schutzes angeblich höherwertiger Güter willen" (Waldmann 2005, 242) bedeuten. Die Folge wäre eine Entwicklung des Rechtsstaates hin zu einem "präventiven Sicherheitsstaat" (Waldmann 2005, 242) mit einer teilweisen Abkehr von demokratischen Grundsätzen (vgl. Hofmann 2006, 446; Waldmann 2005, 242).Infolgedessen gilt es mittelfristig, sich mit dem Hintergrund der Akteure auseinanderzusetzen. "Als besonders fruchtbare Brutstätte gelten die zahlreichen `failing states´, also die gescheiterten oder zerfallenen Staaten" (Czempiel 2003, 58). Am Beispiel Afghanistans wird deutlich, dass der Westen einen erheblichen Anteil an dem Scheitern des Landes und an der Entstehung der dort ansässigen Terrorgruppe hatte.Im Zuge des Konflikts mit der Sowjetunion hatte Amerika die Kämpfer unterstützt. Mit dem sowjetischen Abzug endete auch die amerikanische Unterstützung, und das zerstörte Land wurde ebenso wie die von Amerika ausgebildeten Kämpfer sich selbst überlassen. Es gründete sich die Terrorgruppe Al Qaida mit dem neuen Feind in Gestalt der USA. Die Entwicklungen in Afghanistan haben gezeigt, dass bei jeder Einmischung von außen neben den kurzfristigen auch die langfristigen Konsequenzen zu bedenken sind und dass "das Objekt der Einmischung auch politisch und wirtschaftlich davon profitiert" (Czempiel 2003, 58).Aus langfristiger Sicht gilt es, die "Quellen des Terrorismus auszutrocknen" (ebd., 58) und eine Veränderung des Kontextes zu erwirken. In diesem Zusammenhang ist die Stabilisierung der "failing states" von entscheidender Bedeutung. Czempiel spricht von einer Neuordnung der Welt, "die immer mehr als ein Quasi-Binnenraum begriffen und mit entsprechender Strategie bearbeitet werden muss" (ebd., 59). Neben der Verringerung der Dominanz des Westens ist eine Änderung der Werteverteilung und ein Lösen der großen Konflikte erforderlich (vgl. ebd., 59).FazitDie Anschläge in den Vereinigten Staaten von Amerika am 11. September 2001 wirkten sich nicht nur traumatisch auf das "Selbst- und Machtbewusstsein der USA" (Czempiel 2003, 40) aus, sie versetzten auch den Rest der Welt in "Angst und Schrecken" (Czempiel 2003, 40). Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erschien eine militärische Auseinandersetzung zwischen zwei Staaten unwahrscheinlich. Vielmehr stellte der Terrorismus als eine "neue Bedrohung von innen durch gesellschaftliche Akteure" (ebd., 57) das größte sicherheitspolitische Risiko insbesonders für westliche Industriestaaten dar. (vgl. ebd., 57). "Der Terror soll Angst und Schrecken verbreiten, ein Gefühl allgemeiner Unsicherheit erzeugen und offene Panik auslösen" (Hofmann 2006, 445). Hinzu kommt, dass mit dieser Form der psychologischen Kriegsführung das Vertrauen innerhalb der Gesellschaft in die politische Führung und in den Staat im Allgemeinen zerstört werden soll.Aus historischer Sicht existiert das Phänomen des Terrorismus seit mehr als 2000 Jahren. "Er hat überlebt, weil es ihm gelungen ist, sich immer wieder an die veränderten Bedingungen und Gegenmaßnahmen anzupassen und die verwundbaren Stellen seines Gegners ausfindig zu machen, um sie für seine Zwecke zu nutzen" (Hofmann 2006, 446). Entsprechend muss bei Gegenmaßnahmen "das gesamte Spektrum der verfügbaren Mitteln […], psychologische und physische, diplomatische und militärische, ökonomische und moralische" (ebd., 445) eingesetzt werden.Es gilt nun abschließend eine Antwort auf die Frage zu finden, inwiefern die Anschläge im Herbst 2001 die Sicherheitspolitik der Vereinten Nationen verändert haben. Kurzfristig führten diese zu einer seltenen Einigkeit der ständigen Mitglieder im UN-Sicherheitsrat, was sich in den zahlreichen erlassenen Resolutionen wiederspiegelt. Darunter fällt auch die Tatsache, dass die internationale Gemeinschaft die Militärintervention in Afghanistan nicht verurteilte, sondern vielmehr den Vereinigten Staaten ihr Recht auf Selbstverteidigung gemäß Art. 51 UN-Charta einstimmig zugestand.Es erwies sich jedoch hinsichtlich der internationalen Zusammenarbeit als problematisch, dass keine einheitliche Definition des Begriffs Terrorismus besteht. Das könnte dazu führen, dass wirtschaftliche Sanktionen oder militärische Aktionen zur Durchsetzung eigener Interessen fälschlicherweise als Terrorismusbekämpfung etikettiert werden.Generell zeigt sich, dass die Anschläge einen erheblichen innenpolitischen Rechtsruck bewirkten, der sich auch auf die Entscheidungen internationaler Gremien auswirkte. Das wurde durch erweiterte Befugnisse für die Polizei und andere Exekutivorgane in Fragen der nationalen und internationalen Sicherheit sichtbar.Mit der Resolution 70/291 stellte der amtierende UN-Generalsekretär Antonio Guterres am 22. Februar 2017 strategische Handlungsoptionen für die Terrorismusbekämpfung vor. Zunächst einmal soll die Effizienz der Vereinten Nationen im Bereich der Terrorbekämpfung allgemein gestärkt werden. Zudem soll die Qualität der Vereinten Nationen hinsichtlich der Unterstützung der Mitgliedsstaaten bei der Umsetzung der UN-Terrorismusbekämpfungsstrategien hinterfragt werden. Hinzu kommt der Anstoß zu einer Debatte hinsichtlich der regionalen und internationalen Zusammenarbeit von Staaten und UN-Sonderorganisationen.Außerdem wurde Wladimir Iwanowitsch Woronkow auf Vorschlag von Guterres zur Umsetzung und Koordinierung der Vorschläge am 21. Juni 2017 als Untergeneralsekretär eingesetzt. Diese strategische Neuausrichtung wird als eine strategische Aufwertung der Terrorismusbekämpfung im Rahmen der Vereinten Nationen verstanden (vgl. Behr 2017, 152).Zusammenfassend zeigt sich also, dass sich die internationale Gemeinschaft der Tatsache bewusst ist, dass eine gemeinsame Strategie zur Bekämpfung des transnationalen Phänomens erforderlich ist. "Wenn wir den Terrorismus erfolgreich bekämpfen wollen, müssen wir ebenso unermüdlich, innovativ und dynamisch vorgehen wie unsere Gegner" (Hoffmann 2006, 446).LiteraturBehr, H. (2017): Die Antiterrorismuspolitik der UN seit dem Jahr 2001. In: Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. [Hrsg.]: Terrorismusbekämpfung und die Vereinten Nationen. S. 147-151.Böhm, A. (2021): Die Gesetzte des Dschungels. In: ZEIT Geschichte 4/21. S 92-97.Czempiel, E.-O. (2003): Weltpolitik im Umbruch. Die Pax Americana, der Terrorismus und die Zukunft der internationalen Beziehungen. München: Verlag C.H.Beck oHG.Finke, J./ Wadscher, C. (2001): Terrorismusbekämpfung jenseits militärischer Gewalt. In: Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. [Hrsg.]: Terrorismusbekämpfung und die Vereinten Nationen. S. 168-173.Geis, A. (2006): Den Krieg überdenken. Kriegsbegriffe und Kriegstheorien in der Kontroverse. Zugriff am 09.03.2022 unter https://www.pw.ovgu.de/ipw_media/Downloads/Geis/Geis__Einleitung_Den_Krieg_berdenken_9_43-p-90.pdf.Hofmann, B. (2006): Terrorismus – der unerklärte Krieg. New York: Columbia University Press.Kahl, M. (2011):Die Militärstrategie der USA nach dem 11. September. In: Bundeszentrale für Politische Bildung [Hrsg.]: Aus Politik und Zeitgeschichte 27/2011. S. 19-24.Kaim, M. (2011): Internationale Sicherheitspolitik nach dem 11. September. In: Bundeszentrale für Politische Bildung [Hrsg.]: Aus Politik und Zeitgeschichte 27/2011. S. 3-9.Kreuder-Sonnen, C. (2017): Terrorismusbekämpfung und die Vereinten Nationen. In: Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. [Hrsg.]: Terrorismusbekämpfung und die Vereinten Nationen. S. 159-163.Pfahl-Traughber, A. (2016): Terrorismus – Merkmale, Formen und Abgrenzungsprobleme. In: Bundeszentrale für Politische Bildung [Hrsg]:Aus Politik und Zeitgeschichte 24-25/ 2016. S. 10-19.Nato Press Releases (2001): Statement by the North Atlantic Council. Zugriff am 09.03.2022 unter https://www.nato.int/docu/pr/2001/p01-124e.htmSchmalenbach, K. (2017): Völker- und unionsrechtliche Anstöße zur Entterritorialisierung des Rechts. In: Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer [Hrsg]: Grenzüberschreitungen. Berlin: DeGruyter. S. 245-272.Steinberg, G. (2015): Transnationaler Terrorismus. Zugriff am 06.03.2022 unter https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/209663/transnationaler-terrorismus/.Tomuschat, C. (2002): Der 11. September 2001 und seine rechtlichen Konsequenzen. Zugriff am 22.02.2022. unter https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/26104/ssoar-2002-tomuschat-der_11_september_2001_und.pdf;jsessionid=A9D1D4BAEDCA16B97394171E0769C782?sequence=1.United Nation publication:(2001): Resolution 1373. Zugriff am 02.03.2022 unter https://www.un.org/depts/german/sr/sr_01-02/sr1368.pdf(2001): Resolution 1377. Zugriff am 26.02.2022 unter https://www.un.org/depts/german/sr/sr_01-02/sr1373.pdf(2002): Resolution 1390. Zugriff am 28.02.2022 unter https://www.un.org/Depts/german/sr/sr_01-02/sr1390.pdf.(2004): Resolution 1566. Zugriff am 01.03.2022 unter https://www.un.org/depts/german/sr/sr_04-05/sr1566.pdf.Vasilache, A. (2006): Hobbes, der Terrorismus und die Angst in der Weltpolitik. Zugriff am 06.03.2022 unter https://publishup.uni-potsdam.de/opus4-ubp/frontdoor/deliver/index/docId/899/file/51_fb_vasilache.pdf.Waldmann, P. (2005): Terrorismus. Provokation der Macht. Hamburg: Murmann Verlag GmbH.
This dissertation tries to present a critical analysis of conflicts over contested forms of urban transformation and urban policies in the metropolitan area of Rome and Berlin (comparative analysis developed in co-tutoring research thesis). In particular it focuses on the reclaiming of the "right to the city" debate that is witnessing a renewed interest, among urban social movements and academics, due to what happened in the streets, among the urban social movements, in the "rebel cities" (Harvey, 2012), in the last decade. The conflicts selected for the two compared city contexts took place over contested "indeterminate territories" and "urban voids." As yet "indeterminate," these places allow unveiling the generative conflict on different meanings of the city. In these processes the "urban void" plays a key role because, according to Borret (2009), the "empty" can be seen as a productive element in the urban public space, as it is not tied to a single interpretation or intention. The bottom-up and grassroots practices proposed, experimented, developed over these spaces are intended as strategy of resistance/opposition to not-negotiated politics in a framework of economic crisis and urban austerity increasingly producing side effects including gentrification and social exclusion and the welfare state crisis. In response to this the movements of insurgent citizenship are organized in many forms: from tenants' organizations activists, who oppose gentrification and evictions in former working class neighbourhoods of Berlin (Holm, 2010) and calling for more public policies capable to combat speculation and address disinvestment in the subsidized housing sector; to movements of housing struggle in Rome claiming the access to more affordable places in the context of the strong housing crisis; to autonomous movements subtracting spaces from the capitalist logic of the market competitiveness and the speculation (in the case of Berlin and Rome) for living and for social, political, artistic and recreational activities (Membretti, 2003; Holm, Kuhn, 2011; Pruijt, 2012); to urban social movements trying to oppose the privatization of parts of the city considered a "common good", using various state-driven mechanisms to advance their causes against civic policies, projects, and regulatory measures, that are considered detrimental to the city's public space, such as the groups of citizens reclaiming co-/self-managed public spaces and services (e.g. Gualini, Majoor, 2007, for Amsterdam; Gualini, 2008, for Berlin; Pask, 2010 in the case of Vancouver; Teatro Valle, 2012, in the case of Rome; Vitale, 2007 and Gualini 2014 several cases). In summary, the limits of urbanism based on competitive growth and profit have been emphasized by numerous critical and theoretical practices that have developed theories capable of analysing the issue to a higher level of argumentations, including systemic and ideological aspects, from the point of view of all the actors involved. These intellectual resources, can be useful «for those institutions, movements and actors aiming [.] to promote alternative forms of urbanism, radically democratic, socially just and sustainable» (Brenner, Marcuse, Mayer, 2009). The interesting element is the capacity of these communities to propose, experiment and develop, through forms of social struggles and collective/cooperative action, alternatives to what are considered as unsustainable strategies of urban transformations (mostly based on the substitution/reduction of public resources), analysing power relationships, negotiation of conflicts and participation in institutional planning practice. Doing so, some of these forms of spatial contestation, such as the "transitional reappropriated spaces" (Growth and Corijn, 2005) –on which the research focus- have shown in recent years a programmatic capacity and a proactive potential in suggesting and implementing "Public Policies from the Bottom" (Paba, 2010): e.g. "banking and financial policies" through the activation of forms of microcredit; "training and educational policies" offering a wide range of free or very affordable courses; "policies of management and recycling of waste, housing policies, policies to support youth and women entrepreneurship, policies addressing the problems of immigration, cultural and sports policies"; "architectural heritage renewal policies", and others. These two European cities have faced so a renewed interest in the phenomenon of "reclaiming" of urban physical spaces that was carried on by social movements and wilfully appropriated by citizens using "appropriation" as a legitimate tactic of protest. Moreover, these radical participated practices have been a tool that enables experimentation and implementation of grassroots alternatives embodying a series of dynamics of "insurgent (re)appropriation" of urban space and self-production and provision of collective resources. Doing so, these informal actors and grassroots groups, organized in new forms of urban social movements, experimenting more progressive understanding of the mechanisms of space and social reproduction, started reclaiming the idea of "commons" and together with it the role that a third subject, a collective subject (different from a single private investor or the State and public institutions), could play in a direct management of what are intended to be collective properties/resources. In the two cities contexts analysed citizens have implemented a set of new strategies. Among them: new forms of self-help collective housing, self-/co-managed public spaces and the definition of urban commons. The research analyse some relevant cases of insurgent reappropriation/reclaiming of urban public spaces making a comparison between two cities historically characterized by organized forms of social struggle and grassroots transitional space reappropriations. Which is the value of such alternative experiences? Can these grass-root experiments of self-management and DIY renovation contribute to the production of new operative strategies for: public housing stock; heritage management; alternative forms of welfare; the development of more sustainable urban transformation practices and public space management? Analysing the evolution of the same pattern in forms of contestation, it permits to investigate how/if these practices have stand the chance to be facilitated, hampered, or co-opted, during the time and how each of these have had/can have an impact upon contemporary policymaking in political economy and if they have been/can be able to influence a change in the welfare policies and urban agenda. ; Diese Dissertation versucht, eine kritische Analyse von Konflikten unstrittener Erscheinungsformen städtischer Transformation und Politik im metropolitanem Raum von Rom und Berlin zu präsentieren (vergleichende Analyse entwickelt im gemeinsamen Tutoring der Forschungsthese). Der Fokus dieser Dissertation liegt insbesondere auf dem Zurückerobern (Reclaiming) der "Recht auf Stadt"-Debatte, die ein erneuertes Interesse unter städtischen sozialen Bewegungen und Akademiker*innen erweckt und beobachtet, basierend auf Protesten in den Strassen und der Entwicklung der sozialen Bewegungen der letzten Dekade in den "rebellischen Städten" (Harvey, 2012). Die analysierten Konflikten in den zwei vergleichenden Städten finden auf umstrittenen "ungeklärten/unbestimmten Territorien" und verlassenen, leer stehenden Räumen und Grundstücken statt. "Unbestimmte Territorien" offenbaren den generativen Konflikt unterschiedlicher Bedeutung und Interessen der Stadt. In diesen spielen die leer stehenden Gebäude und Orte eine besondere Rolle, weil, laut Borret (2009), das Leere als ein produktives Element im städtischen öffentlichen Raum gedeutet und gesehen werden kann, nicht gebunden und vordefiniert an eine einzige Interpretation oder Absicht. Die in diesen Räumen vorgeschlagenen, entwickelten, ausprobierten Praktiken der Basisbewegungen können als Strategie von Widerstand und Opposition gegen eine (nicht ausgehandelte) Politik im Rahmen der ökonomischen Krise und städtischen Austerität mit zunehmenden Auswirkungen wie Gentrifizierung, sozialer Exklusion und Krise des Sozialstaates, gesehen werden. Als Antwort darauf haben sich die rebellischen Bürger*innen Bewegungen (insurgent citizenship) auf vielfältige Weise organisiert: von Mieter*innen/Aktivist*innen Organisationen, die der Gentrifizierung und den (Zwangs)-Räumungen in den ehemaligen Arbeiter*innenvierteln Berlins widerstehen (Holm, 2010) und zu mehr öffentlicher Politik auffordern, die fähig sei, der Spekulation sowie der Desinvestition im subventionierten Wohnungsbausektor entgegen zutreten; bis hin zu Bewegungen der Wohnungskämpfe (housing struggle) in Rom, die Zugang zu mehr bezahlbarem Wohnraum im Kontext der Wohnungsmarktkrise fordern; autonomen Bewegungen, die Orte und Räume aus der kapitalistischen Logik der Marktwettbewerbfähigkeit und der Spekulation für Wohnraum (an den Beispielen von Berlin und Rom), soziale, politische, künstlerische und Erholungsaktivitäten herausbrechen (Membretti, 2003; Holm, Kuhn, 2011; Pruijt, 2012); und städtischen sozialen Bewegungen, die versuchen, der Privatisierung von Teilen der Stadt, was als Allgemeingut verstanden wird, zu widerstehen - in Form unterschiedlicher staatlich bedingter Mechanismen, um deren Anliegen, was als schädlich gegenüber dem öffentlichen städtischen Raum betrachtet wird, gegen staatliche Politik, Projekte und Regulatorien zu untermauern, wie die Gruppen von Bürger*innen, die co-/selbst-organisierte öffentliche Räume und Service zurückerobern (z.B. Gualini, Majoor, 2007, für Amsterdam; Gualini, 2008, für Berlin; Pask, 2010 für Vancouver; Teatro Valle, 2012, für Rom; Vitale, 2007 und Gualini 2014 in einigen Fällen). Zusammenfassend sind die Grenzen des Urbanismus, basierend auf konkurrierendem Wachstum und Profit, erkennbar und hervorgehoben von zahlreichen kritischen und theoretischen Praktiken, die Theorien entwickelten, fähig das Thema auf einem höheren Level der Argumentation, inklusive systemischer und ideologischer Aspekte, zu analysieren - und zwar aus den Persektiven aller Involvierten Akteur*innen. Diese intellektuellen Mittel können nützlich für "diese Institutionen, Bewegungen und Akteur*innen sein, welche alternative Formen des Urbanismus, radikaler Demokratie, sozial und nachhältig vorantreiben möchten" (Brenner, Marcuse, Mayer, 2009). Das interesante Element ist die Fähigkeit dieser Communities und Gemeinschaften, durch Formen sozialer Kämpfe , und kollektiven/kooperativen Aktivitäten, Alternativen zu nicht nachhaltiger städtischer Transformation vorzuschlagen, zu entwickeln und auszuprobieren sowie Machtstrukturen, die Aushandlung von Konflikten und die Partizipation in institutionalisierter Städteplanung und Praxis zu analysieren. Diese zwei europäischen Städte haben das Interesse des Phänomens Reclaiming, des Zurückeroberns städtischer physischer Räume erweckt, ausgeführt von sozialen Bewegungen und bewußt übernommen von der Bürger*innenschaft als Aneignung und legitime Form und Taktik von Protest. Zudem sind diese radikale partizipativen Praktiken ein Werkzeug, dass Experimentation und Umsetzung basisorganisierter Alternativen ermöglicht und demzufolge eine Serie von rebellischen aneignenden Dynamiken des städtischen Raumes sowie Eigenproduktion und Bereitstellung kollektiver Resourcen verkörpert. Diese informellen Akteur*innen und Basisgruppen, organisiert in neuen Formen städtischer sozialer Bewegungen, experimentierend in progressivem Verstehen der Mechanismen von Raum und sozialer Reproduktion, begannen die Idee von Commons zusammen mit der Rolle eines dritten Subjekts, eines kollektiven Subjekts, zurück zuerobern. Sie können eine direkte Verwaltung und Organisierung als kollektive Resource und kollektives Eigentum ausfüllen. In den Kontexten der beiden analysierten Städten haben die Bürger*innen eine Reihe neuer Strategien realisiert. Dazu zählen: Neue Formen der kollektiven Häuser und Wohnraum-Selbsthilfe, Selbstorganisierte öffentliche Räume und die Definition von städtischen Commons. Die Forschungsanalyse analysiert einige relevante Fälle rebellischer Wiederaneignung/Zurückeroberungen öffentlicher städtischer Räume und vergleicht zwei Städte, die historisch betrachtet von organisierten Formen sozialer Kämpfe und Basis-transitionaler Raumaneignung gekennzeichnet sind. Was ist der Wert, der Nutzen solcher alternativer Erfahrungen? Können diese grass-root-Experimente der Selbst-Organisierung und DIY Renovation zu der Produktion neuer operativer Strategien für den öffentlichen Wohnraum- und Häuser Bestand; des Bauerbe-Managements; der alternativen Formen von Wohlstand; der Entwicklung mehr nachhaltiger städtischer Transformations Praktiken und öffentlicher Raum Managements beitragen?
Unterrichtseinheit zum Thema Kinderrechte und deren Untersuchung und Umsetzung in der Schule (Grundschule, Klassenstufen 3/4, 3-4 (Doppel-)Stunden)
Die Kinderrechte als über die Menschenrechte hinausgehende Bestimmungen sind sowohl international anerkannt als auch Teil des baden-württembergischen Bildungsplans für die Grundschule. Darüber hinaus stellt die Kenntnis über die eigenen Rechte eine bedeutsame Ressource für Kinder dar.
Die Vorstellung einer Unterrichtseinheit zur Heranführung an die Kinderrechte und deren Untersuchung und Umsetzung im schulischen Kontext für die Klassenstufen 3/4 der Grundschule ist Inhalt des folgenden Blogbeitrags:Auf eine theoretische Einführung zum Hintergrund der Kinderrechte folgt die Begründung der Relevanz der Thematik. Daran schließen didaktische Überlegungen zu Zeitpunkt, Thema und Inhalten sowie Intentionen an. Der Teil Aufbau der Unterrichtseinheit beinhaltet eine Beschreibung der vier (Doppel-)Stunden, inklusive Vorschlägen zur Abwandlung und Anpassung an andere Klassenstufen sowie Informationen zu Alternativen, die erwogen wurden.Im Anhang findet man neben den Unterrichtsskizzen (Übersicht) Materialien und Formulierungsideen für die vorgestellte Unterrichtseinheit auch eine ausführliche Liste zu empfehlenden Unterrichtsmaterials anderer Websites und Organisationen sowie ein umfangreiches Literaturverzeichnis mit sowohl Online- als auch Printliteratur, um Möglichkeiten zur weiteren Vertiefung, beispielsweise im Hinblick auf die Partizipation von Kindern in der Schule oder bezüglich des Zusammenhangs zwischen Kinderrechten und Demokratie, zu geben.Die im Blogbeitrag angegebenen Literaturangaben finden sich entweder im Literaturverzeichnis oder in der Liste mit zu empfehlendem Unterrichtsmaterial. Ein Abkürzungsverzeichnis am Ende des Blogbeitrags ist ebenfalls vorhanden.Theoretische Einführung
Überblick
Die Kinderrechte sind in der Konvention über die Rechte des Kindes, auch 'Kinderrechtskonvention' (kurz: KRK, englisch: Convention on the Rights of the Child, kurz: CRC), festgeschrieben und damit völkerrechtlich verbindlich (vgl. BMZ 2023). Die KRK wurde 1989 durch die Vereinten Nationen (kurz: VN, englisch: United Nations, kurz: UN) angenommen und ist 1990 in Kraft getreten (vgl. Gareis/Varwick 2014, S. 192, ausführlicher siehe Historischer Verlauf). Sie ist einer der meistratifizierten Menschenrechtsverträge (vgl. DIMR 2023b), nachdem sie von allen Ländern mit Ausnahme der USA ratifiziert wurde (vgl. United Nations Human Rights Office of the High Commissioner 2023, ausführlicher siehe Ratifizierung). In Deutschland gilt die KRK seit 1992 (vgl. Auswärtiges Amt 2023, ausführlicher siehe Deutschland).
Die KRK umfasst 54 Rechte, die sich in mehrere Kategorien differenzieren lassen (ausführlicher siehe Inhalt und Aufbau). Außerdem existieren drei Zusatzprotokolle, die allerdings nicht in gleicher Zahl ratifiziert sind wie die KRK selbst (vgl. United Nations Human Rights Office of the High Commissioner 2023). Zentrales Prinzip ist es, im "besten Interesse des Kindes" zu handeln (vgl. BMZ 2023). Als Kind gilt dabei "jeder Mensch, der das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, soweit die Volljährigkeit nach dem auf das Kind anzuwendenden Recht nicht früher eintritt" (Artikel 1 der UN-KRK, UN-Generalversammlung 1989, S. 9).
Kinder benötigen "besonderen Schutz, besondere Förderung und besondere, kindgerechte Beteiligungsformen" (vgl. Maywald 2010), da sie "in vielerlei Hinsicht besonders verletzbar" (Auswärtiges Amt 2023) und von Erwachsenen abhängig sind. Durch die KRK werden Kinder erstmals als eigenständige (Recht-)Subjekte anerkannt (vgl. DIMR2023a, ausführlicher siehe Historischer Verlauf).
Das sich im Anhang befindliche Literaturverzeichnis beinhaltet unter 'Primärliteratur' Angaben zu fünf online frei zugänglichen Versionen der KRK: deutsch, deutsch mit Zusatzprotokollen, deutsch kinderfreundliche Version, verschiedene Sprachen kinderfreundliche Version, englisch.
Historischer Verlauf
Lange Zeit wurden Kinder als den Erwachsenen unterlegen betrachtet und waren "rechtlich und faktisch nicht gleichgestellt" (Maywald 2010). Erst 1924 wurde vom Völkerbund, dem Vorläufer der VN, eine Kindercharta, die Genfer Erklärung über die Rechte des Kindes (englisch: 'Geneva Declaration'), verabschiedet. Sie war allerdings nicht rechtsverbindlich (vgl. bpb 2019). Ihre Überarbeitung durch die VN mündete 1959 in die Erklärung der Rechte des Kindes, die das Kind erstmals auf internationaler Ebene als Rechtsträger anerkannte und den Begriff des Kindeswohls definierte (vgl. Maywald 2010). Anlässlich des 'Jahres des Kindes' 1978 schlug die polnische Regierung vor, die Erklärung der Rechte des Kindes von 1959 in einen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag umzuwandeln. Nach mehrjähriger Tätigkeit einer entsprechenden Arbeitsgruppe wurde am 20. November 1989 die heute gültige Kinderrechtskonvention einstimmig von der Generalversammlung der VN verabschiedet (vgl. bpb 2019). Dieses Datum gilt seither als der Tag der Kinderrechte (vgl. bpb 2017).
Die Links zur Genfer Erklärung über die Rechte des Kindes von 1924 und zur Erklärung der Rechte des Kindes von 1959 finden sich auch im angehängten Literaturverzeichnis unter 'Primärliteratur, Weitere Konventionen'.
Ratifizierung
Folgende Tabelle zeigt den Status der KRK und ihrer Zusatzprotokolle (Stand 2023). Die Daten entstammen einer interaktiven Karte des United Nations Human Rights Office of the High Commissioner.
"State Party" (ratifiziert)
"Signatory" (unterzeichnet)
"No Action" (nichts)
UN-Kinderrechtskonvention
196
1 (USA)
0
1. Zusatzprotokoll (Schutz vor Kinderhandel)
178
7
12
2. Zusatzprotokoll (Schutz in bewaffneten Konflikten)
173
7
17
3. Zusatzprotokoll (Individualbeschwerden)
50
16
132
Durch die freiwillige Handlung der Ratifizierung gehen die Staaten eine rechtlich bindende Verpflichtung ein (vgl. Würth/Simon 2012).
Stellenwert
Laut Maywald (2010) ist die KRK "insofern einmalig, als es die bisher größte Bandbreite fundamentaler Menschenrechte – ökonomische, soziale, kulturelle, zivile und politische – in einem einzigen Vertragswerk zusammenbindet." Die Relation zu den Menschenrechten ist dabei unzureichend bestimmt (vgl. Busen/Weiß 2023). Durch weitere Konventionen einen vergleichbaren Schutz erfahren Frauen, Wanderarbeiter*innen, Menschen mit Behinderungen sowie Gefolterte und Verschwundene (vgl. ebd.).
Inhalt und Aufbau
Die 54 Artikel der KRK lassen sich in drei Kategorien unterteilen: Schutzrechte, Förderrechte und Beteiligungsrechte (vgl. BMFSFJ 2023, BMZ 2023, DIMR2023a, Maywald 2010, Würth/Simon 2012).
Außerdem verfügt die KRK über vier Grundprinzipien: Nichtdiskriminierung, Kindeswohlvorrang, Recht auf Leben und Entwicklung sowie Beteiligung des Kindes und Berücksichtigung seiner Meinung (vgl. Auswärtiges Amt 2023, BMFSFJ 2023, BMZ 2023, Würth/Simon 2012). Sie sind in den Artikeln 2, 3, 6 und 12 festgehalten (vgl. DIMR 2023b), weswegen diese als die wichtigsten Artikel der KRK bezeichnet werden (vgl. Maywald 2010).
Schlussendlich umfasst die KRK vier Verfahrensregeln: die Verpflichtung der Staaten zur Bekanntmachung der Kinderrechte (Art. 42), die Einsetzung eines Ausschusses der VN für die Rechte des Kindes (Art. 43), die Berichtspflicht über die Maßnahmen zur Verwirklichung der Kinderrechte (Art. 44) sowie die Mitwirkungsmöglichkeiten von Nichtregierungsorganisationen (Art. 45) (vgl. Maywald 2010).
Die drei Zusatzprotokolle der KRK wurden im Anschluss an den 20. November 1989 verabschiedet.Fakultativprotokoll zur Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten: 12. Februar 2002Fakultativprotokoll über den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und Kinderpornografie: 18. Januar 2002Fakultativprotokoll: Individualbeschwerde-, Staatenbeschwerde- und Untersuchungsverfahren: 14. April 2014 (vgl. DIMR 2023b)
Umsetzung
Die KRK als völkerrechtliches Übereinkommen stellt "nicht Gesetzgebung im geläufigen Sinne, sondern Vertragsrecht" (Maywald 2010) dar, was lediglich Verpflichtungen der Vertragsstaaten begründet. Diese sogenannten Staatenpflichten sind bei menschenrechtlichen Verträgen die folgenden:Respektierungspflicht / duty to respect: "der Staat ist verpflichtet, Verletzungen der Rechte zu unterlassen"Schutzpflicht / duty to protect: "der Staat hat die Rechte vor Übergriffen von Seiten Dritter zu schützen"Gewährleistungspflicht / duty to fulfill: "der Staat hat für die volle Verwirklichung der Menschenrechte Sorge zu tragen" (Maywald 2010)
Darüber hinaus verpflichten sich die Vertragsstaaten zu internationaler Zusammenarbeit (vgl. Würth/Simon 2012).
Die konkrete Umsetzung der Kinderrechte wird durch die nationalen Gesetzgebungen der einzelnen Länder geregelt. Lediglich Artikel 2, 3, 6 und 12 (ausführlicher siehe Inhalt und Aufbau) als sogenannte unmittelbar anwendbare Rechte (englisch: self executing rights) sind davon ausgenommen (vgl. ebd).
In der Bundesrepublik Deutschland haben die Kinderrechte beispielsweise in Form des Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung und des Rechts aller Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr auf einen öffentlichen Betreuungsplatz Eingang in das Grundgesetz gefunden (vgl. bpb 2019).
Überprüfung
Die VN verfügen, wie in Artikel 43 der KRK gefordert (vgl. Maywald 2010), über einen 'Ausschuss für die Rechte des Kindes' (kurz: Kinderrechtsausschuss), der die Einhaltung der KRK überwacht und als Adressat für Individualbeschwerden dient (vgl. Auswärtiges Amt 2023).
In Deutschland erfolgt die Kontrolle der Umsetzung der Kinderrechte durch eine unabhängige Monitoring-Stelle, die beim Bundesfamilienministerium eingerichtet ist (vgl. bpb 2019).
Artikel 44 beschreibt weiterhin, dass die Vertragsstaaten regelmäßig über ihre Maßnahmen zur Verwirklichung der Kinderrechte zu berichten haben (vgl. Auswärtiges Amt 2023). Dies geschieht in Form von Staatenberichten, wodurch die KRK als "eher schwaches völkerrechtliches Instrument" (Gareis/Varwick 2010, S. 197) gilt. Der Fünfte und Sechste Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland wurde im April 2019 dem Kinderrechtsausschuss vorgelegt (vgl. Auswärtiges Amt 2023). Ein Link zum Download ist auch im Literaturverzeichnis dieses Blogbeitrags unter 'Primärliteratur' zu finden.
Deutschland
In Deutschland erlangte die KRK 1992 Gültigkeit (vgl. Auswärtiges Amt 2023) – zu Beginn allerdings mit Einschränkungen, nachdem nicht klar war, ob sie mit dem deutschen Ausländerrecht, konkret mit der Möglichkeit, minderjährige nicht-deutsche Staatsangehörige in ihre Herkunftsländer auszuweisen oder abzuschieben, kollidieren würde (vgl. bpb 2017). Die erklärten Vorbehalte wurden 2010 zurückgenommen (vgl. BMFSFJ 2023), wodurch die KRK verbindlich geltendes Recht wurde (vgl. DIMR 2023c).
Die KRK hat Auswirkungen auf die nationale Gesetzgebung der Bundesrepublik (ausführlicher siehe Umsetzung). Dennoch sind die Kinderrechte in Deutschland bisher kein eigener Teil des Grundgesetzes. Dies ist Gegenstand einer Debatte. Als Argumente für die Aufnahme werden genannt:die Stärkung des Bewusstseins für die Rechte von Kindern;die Verbesserung der Position von Kindern gegenüber dem Staat und im Konfliktfall gegenüber ihren Eltern;die Stärkung der elterlichen Verantwortung, die Rechte des Kindes zur Geltung bringen;die Förderung der Berücksichtigung von Kindesinteressen im politischen Raum sowie der damit einhergehende Ausdruck des hohen Rangs von Wohl und Rechten von Kindern (vgl. Maywald 2010).Außerdem können Kinder zum aktuellen Zeitpunkt, im Gegensatz zu anderen Grundrechtsträgern, ihre Rechte an vielen Stellen nicht selbst einfordern, da sie weiterhin als Objekte betrachtet werden (vgl. bpb 2017). Das Deutsche Institut für Menschenrechte spricht darüber hinaus davon, dass die Kinderrechte in Deutschland grundlegend "noch nicht ernst genommen und oftmals leichtfertig übergangen" werden (DIMR 2023a).Gegenstimmen einer Aufnahme der Kinderrechte in das Grundgesetz berufen sich darauf, dass dies nicht dazu führen würde, dass Kinder mehr Rechte erhielten (vgl. bpb 2023a). Eine Rechtsangleichung wird vom UN-Kinderrechtsausschuss empfohlen und entspricht einer Vorgabe der Grundrechte-Charta der EU (vgl. Maywald 2010).
In Bezug auf die Umsetzung der Kinderrechte in Deutschland werden von unterschiedlichen Seiten Forderungen gestellt. Sie beziehen sich unter anderem auf die Schaffung von Bildungsgerechtigkeit (vgl. Maywald 2010). Weiterhin verlangt wird die Erhebung von mehr kinderrechtsbasierten Daten zur Untersuchung der Wirkung politischer Maßnahmen, die gezielte Stärkung der Selbstorganisation von Kindern und Jugendlichen, insbesondere in öffentlichen Bildungseinrichtungen und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, sowie, nach Vorbild anderer Vertragsstaaten, die Errichtung leicht zugänglicher Kinderrechtsinstitutionen und -stellen im direkten Lebensumfeld von Kindern (vgl. DIMR 2023a).Kinder selbst fordern laut der Bundeszentrale für politische Bildung ein Recht auf Taschengeld, das Recht zu wählen sowie ein Recht auf Arbeit, das sich auf die Aufwertung der sozialen Stellung von arbeitenden Kindern und so die Stärkung ihrer Verhandlungsmacht bezieht (vgl. bpb 2023a).Relevanz der Thematik
"Die Kinderrechte und die Geltung und grundlegende Einhaltung dieser Rechte in Deutschland sind eine bemerkenswerte Errungenschaft, die vielen Kindern wahrscheinlich gar nicht bewusst ist" (Bohlen 2021). Dieses von der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlichte Zitat fasst hervorragend zusammen, weswegen die Behandlung der Kinderechte im Unterricht von Relevanz ist:Die Kinderrechte bieten, wie bereits in der theoretischen Einführung beschrieben, bis dato nie dagewesene rechtliche Möglichkeiten für Kinder. Deren Einforderung durch Kinder kann allerdings nur geschehen, wenn sie über ihre Rechte im Bilde sind. Schule im allgemeinen und der Politik- beziehungsweise in der Primarstufe der Sachunterricht im besonderen hat den Auftrag, die Mündigkeit der Schüler*innen zu fördern (vgl. Detjen 2007, S. 211). Demnach obliegt Schule auch die Aufgabe, über die Kinderrechte zu informieren. Dies entspricht darüber hinaus dem "pädagogischen Blickwinkel" nach Kahlert (2010, S. 267), der Sachunterrichtsplanung als "begründungspflichtige Anforderung an professionelles Lehrerhandeln" (ebd., S. 264) mit mehreren, zu begründenden Dimensionen beschreibt (vgl. ebd., S. 267), indem folgende Leitfrage beantwortet wird: "Warum ist dies [der Inhalt, Anm. LS] sinnvoll für die Persönlichkeitsentwicklung des einzelnen Kindes?" (ebd.).
Im Kontext von Sachunterricht wird durch die Thematisierung von Kinderrechten weiterhin die Umsetzung sowohl der ersten als auch der zweiten Dimension der Allgemeinbildung nach Klafki (2005) erreicht, da nicht nur Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit gefördert werden, sondern die Kinderrechte auch Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung haben (vgl. ebd.). Ferner wird der Behandlung der epochaltypischen Schlüsselprobleme der Ungleichheit innerhalb von Gesellschaften und der internationalen Ungleichheit nachgekommen (vgl. ebd.). Der "kulturelle Stellenwert" als zweite Komponente der begründungspflichtigen "bildungstheoretischen Dimension" nach Kahlert (2010, S. 267) und der Frage danach, "welche Bedeutung es für das Zusammenleben heute und in Zukunft hat, wenn Kinder in der Schule diesem Inhalt begegnen" (ebd.), wird somit ebenfalls Rechnung getragen.
Auch der baden-württembergische Bildungsplan von 2016 für das Fach Sachunterricht fordert die Auseinandersetzung mit dem Thema Kinderrechte explizit. Im Bereich der inhaltsbezogenen Kompetenzen für die Klassenstufen 3/4 wird unter '3.2.1 Demokratie und Gesellschaft 3.2.1.4 Politik und Zeitgeschehen' Folgendes genannt:"DenkanstößeWie wird die aktive Umsetzung von Grund- und Kinderrechten in der Klasse und Schule gestaltet?Wie reagiert die Schule auf Missachtung der Kinderrechte im Schulalltag? [...]TeilkompetenzenDie Schülerinnen und Schüler können(1) zentrale ausgewählte Grund- und Kinderrechte beschreiben und auf konkrete Situationen in Deutschland und andere Länder übertragen(Ministerium für Jugend, Kultus und Sport Baden-Württemberg 2016, S. 36)
Außerdem wird mit der Thematisierung der Kinderrechte der prozessbezogenen Kompetenz '2.5 Reflektieren und sich positionieren' nachgekommen:"Die Schülerinnen und Schüler können[…] 2. Empathiefähigkeit entwickeln und Perspektivwechsel vornehmen (zum Beispiel […] in der Auseinandersetzung […] mit Grund- und Kinderrechten […])" (ebd., S. 12)
Im Bereich der Denkanstöße besonders betont wird die Umsetzung der Kinderrechte in der Schule. Vor diesem Hintergrund scheint die Forderung des Deutschen Instituts für Menschenrechte, insbesondere in Bildungseinrichtungen mehr Beteiligungsmöglichkeiten für Kinder zu schaffen (vgl. DIMR 2023a, ausführlicher siehe Theoretische Einführung, Deutschland), noch bedeutsamer.Didaktische Überlegungen
Zeitpunkt
Da die Grundrechte ebenfalls Teil des Bildungsplans sind (ausführlicher siehe Relevanz der Thematik), bietet es sich an, die Unterrichtseinheit zu Kinderrechten in zeitlicher Nähe zu einer Behandlung der Grundrechte durchzuführen.
Themen und Inhalte
Die Unterrichtseinheit beschäftigt sich mit der Umsetzung von Kinderrechten, zuvorderst im Kontext Schule. Dies begründet sich zum einen in der durch die Denkanstöße des baden-württembergischen Bildungsplans gelegten Basis (ausführlicher siehe Relevanz der Thematik). Zum anderen wird angestrebt, Schüler*innen die Kinderrechte als solche Rechte zu vermitteln, über die sie selbst verfügen und die sie in ihrem direkten Umfeld jederzeit einfordern können. Hintergrund bildet auch die Einschätzung des Deutschen Instituts für Menschenrechte, dass diese Möglichkeiten, insbesondere im Bildungskontext, bisher nicht in ausreichender Anzahl und Erreichbarkeit vorhanden sind (vgl. DIMR 2023a, ausführlicher siehe Theoretische Einführung, Deutschland). Partizipation ermöglicht darüber hinaus, die eigene Selbstwirksamkeit zu erfahren, was ein positives Selbstkonzept fördert. Eine Auseinandersetzung mit weiteren erwogenen Schwerpunkten der Unterrichtseinheit erfolgt im Teil Aufbau der Unterrichtseinheit, Erwogene Alternativen.Die Themen der ersten beiden Unterrichtsstunden sind als Fragen formuliert: 'Kinderrechte – Welche Rechte habe ich?', 'Kinderrechte – Wie können wir sie umsetzen?'. Daraus ergeben sich drei Vorteile: Erstens wird dem Unterrichtsprozess Geschlossenheit verliehen, da sich die Frage als roter Faden durch die Stunde zieht und die einzelnen Unterrichtssituationen miteinander verbindet (vgl. Tänzer 2010, 132). Zweitens ermöglicht eine Frage, den Unterricht weniger lehrkraftzentriert zu gestalten, da die Schüler*innen selbst Lösungen finden sollen (ebd.). Und drittens verlangt eine Frage nach einer Antwort, was motivationale Aspekte fördert und eine Ergebnissicherung einschließt. Die dritte und gegebenenfalls vierte Unterrichtsstunde sind mit 'Kinderrechte – Wir setzen sie um!' betitelt, was den produzierenden Charakter der Stunde verdeutlicht sowie durch das Personalpronomen 'Wir' den Klassenzusammenhalt fokussiert und einen Hinweis auf die Sozialform liefert.
Die KRK umfasst 54 Rechte, die nicht alle Inhalt des Unterrichts sein können und müssen. Im Bildungsplan wird die Formulierung "ausgewählte Grund- und Kinderrechte" (Ministerium für Jugend, Kultus und Sport Baden-Württemberg 2016, S. 36) genutzt. Die folgende Tabelle bietet eine Übersicht über diejenigen Kinderrechte, die vor dem Hintergrund einer ausführlichen Recherche und unter Beachtung der Adressat*innengerechtigkeit für die Unterrichtseinheit vorgeschlagen werden. Die Auswahl obliegt der Lehrkraft.Es wird empfohlen, die vier Grundprinzipien der KRK (Art. 2, 3, 6, 12) in jedem Fall zu thematisieren. Weiterhin ist es sinnvoll, darüber zu sprechen, dass die KRK Artikel beinhaltet, die die Umsetzung der Kinderrechte regeln (Art. 43-54). Schlussendlich wird im Verlauf der Unterrichtseinheit der Film "Kinderrechte raten" der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb 2022d) eingesetzt, weswegen es sich anbietet, auch die dort vorkommenden Kinderrechte vorab anzusprechen.Die Anzahl der weiteren Kinderrechte kann je nach Klassenstufe, -größe und -zusammensetzung variiert werden (ausführlicher siehe Ablauf der Unterrichtseinheit, Abwandlungen / Anpassung an andere Klassenstufen). Insbesondere im Zusammenhang mit Krieg und Flucht sollten die Vorerfahrungen und mögliche Traumata der Schüler*innen berücksichtigt werden. Sensibilität ist geboten.
Artikel
Offizielle Bezeichnung
Kinderfreundliche Bezeichnung (in Anlehnung an Deutsches Komitee für UINCEF 2023a, 2023h, BMFSJ 2018)
Inhaltliche Begründung (ausführlicher siehe Theoretische Einführung, Inhalt und Aufbau)
Didaktische Begründung
2
Achtung der Kinderrechte; Diskriminierungsverbot
Recht auf Gleichheit
4 Grundprinzipien / unmittelbar anwendbares Recht
3
Wohl des Kindes
Recht auf das Beste für jedes Kind
6
Recht auf Leben
Recht auf Leben
12
Berücksichtigung des Kindeswillens
Recht auf eine eigene Meinung und darauf, ernst genommen zu werden
13
Meinungs- und Informationsfreiheit
Beteiligungsrecht
Einteilung logo!: Öffentliche Rechte (vgl. BMFSJ 2018, S. 40)
16
Schutz der Privatsphäre und Ehre
Recht auf Privatsphäre
Schutzrecht
Einteilung logo!: Private Rechte (vgl. BMFSJ 2018, S. 33)
17
Zugang zu den Medien; Kinder- und Jugendschutz
Recht auf Medien
Beteiligungsrecht
Film bpb "Kinderrechte raten" (vgl. bpb 2022d)
22
Flüchtlingskinder
Recht auf besonderen Schutz und Hilfe für Flüchtlingskinder
Schutzrecht
Einteilung logo!: Schutz vor Ausbeutung und Gewalt (vgl. BMFSJ 2018, S. 52ff.)
23
Förderung behinderter Kinder
Recht auf besondere Förderung und Unterstützung für behinderte Kinder
Förderrecht
Poster UNICEF (vgl. Deutsches Komitee für UINCEF 2023g)
24
Gesundheitsvorsorge
Recht auf Gesundheit
Förderrecht
Einteilung logo!: Recht auf Fürsorge (vgl. BMFSJ 2018, S. 32)
27
Angemessene Lebensbedingungen; Unterhalt
Recht auf gute Lebensverhältnisse
Schutzrecht
Einteilung logo!: Recht auf Fürsorge (vgl. BMFSJ 2018, S. 30)
28
Recht auf Bildung; Schule; Berufsausbildung
Recht auf Bildung
Förderrecht
Film bpb "Kinderrechte raten" (vgl. bpb 2022d)
31
Beteiligung an Freizeit, kulturellem und künstlerischem Leben; staatliche Förderung
Recht auf Spiel und Freizeit
Förderrecht
Film bpb "Kinderrechte raten" (vgl. bpb 2022d)
32
Schutz vor wirtschaftlicher Ausbeutung
Recht auf Schutz vor ausbeuterischer Kinderarbeit
Schutzrecht
Einteilung logo!: Schutz vor Ausbeutung und Gewalt (vgl. BMFSJ 2018, S. 45)
38
Schutz bei bewaffneten Konflikten; Einziehung zu den Streitkräften
Recht auf Schutz im Krieg
Schutzrecht
Einteilung logo!: Schutz vor Ausbeutung und Gewalt (vgl. BMFSJ 2018, S. 50f.)
43-54
"Diese Artikel erklären, wie die Vereinten Nationen in Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen wie UNICEF dafür sorgen wollen, dass die Kinderrechte eingehalten werden." (UNICEF 2023a)
u.a. Verfahrensregeln (Art. 42-45)
Hinweise zu den didaktischen Begründungen:Das Buch "Die Rechte der Kinder. von logo!einfach erklärt" (BMFSJ 2018) beinhaltet eine sinnvolle Einteilung, die über die Einteilung in Schutz-, Förder- und Beteiligungsrechte hinausgeht. Das Poster "Kinderrechte" von UNICEF (Deutsches Komitee für UINCEF 2023g) umfasst mit dem 'Recht auf besondere Förderung und Unterstützung bei Behinderung' ein Kinderrecht, das grundlegend von Bedeutung und im schulischen Kontext vor dem Hintergrund des Inklusionsbestrebens im Bildungssystem besonders relevant erscheint.Der Film "Kinderrechte raten" der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb 2022d) kommt im Verlauf der Unterrichtseinheit zum Einsatz.
Intentionen
In dem 2013 veröffentlichten Perspektivrahmen Sachunterricht spricht die Gesellschaft für Didaktik des Sachunterrichts davon, dass Ausrichtung und Anliegen des Sachunterrichts […] als zu fördernde Kompetenzen und Kompetenzerwartungen" (GDSU 2013, S. 12) beschrieben werden können. Nach Weinert (2001, S. 27f.) sind Kompetenzen "die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können".
Die folgenden Ziele stellen Lernziele dar, die sich sowohl auf Inhalt als auch auf Methoden beziehen (vgl. Tänzer 2010, S. 104). Sie werden auch als Verhaltensdispositionen bezeichnet, was verdeutlichen soll, dass sie "nicht zwangsläufig beobachtbar" (ebd., S. 102) sind. Die Ziele sind nach Stunden sortiert und orientieren sich in ihrer Reihenfolge an deren Aufbau.
Erste (Doppel-)Stunde
Die Schüler*innen könnenBedürfnisse / Wünsche von Kindern erkennen und nennenBedürfnisse / Wünsche von Kindern priorisieren / gewichtenKinderrechte nennenBedürfnissen / Wünschen von Kindern entsprechende Kinderrechte zuordnenzwischen Bedürfnissen / Wünschen und Rechten von Kindern unterscheideneine Verbindung zwischen den Kinderrechten und dem eigenen Leben herstellen
Zweite (Doppel-)Stunde
Die Schüler*innen könnenbegründen, warum bestimmte Kinderrechte bedeutsam sinddie Umsetzung von Kinderrechten in der Schule beurteilenVorschläge zur Verbesserung der Umsetzung von Kinderrechten in der Schule machen
Dritte (Doppel-)Stunde
Die Schüler*innen könnenin einer Gruppe auswählen, welche Inhalte zu einem bestimmten Kinderrecht auf einem Plakat Platz finden sollenin einer Gruppe ein Plakat zu einem Kinderrecht gestaltenin einer Gruppe ein Plakat zu einem Kinderrecht präsentieren
Aufbau der Unterrichtseinheit
Die folgenden Ausführungen sind auch als Übersicht in tabellarischer Form verfügbar. Die Übersicht orientiert sich an klassischen Unterrichtsskizzen, um im Unterricht als Leitfaden genutzt werden zu können. (Sie befindet sich auch noch einmal im Anhang.)
Die Unterrichtseinheit besteht aus drei obligatorischen Stunden und einer fakultativen Stunde. Sie können je nach Vorwissen, Arbeitstempo etc. der Schüler*innen als Einzel- oder als Doppelstunden durchgeführt werden.
Erste (Doppel-)Stunde: Kinderrechte – Welche Rechte habe ich?
Die erste (Doppel-)Stunde mit dem Thema 'Kinderrechte – Welche Rechte habe ich?' dient dazu, die KRK kennenzulernen und ihren Nutzen und ihre Schwerpunkte zu verstehen. Außerdem werden "ausgewählte [...] Kinderrechte" (siehe didaktische Überlegungen, Thema und Inhalte) besprochen und eigene Ausgaben der KRK angefertigt.Dafür werden in einem ersten Schritt (Einstieg) Bedürfnisse / Wünsche von Kindern durch die Schüler*innen genannt. Als Sozial- und Sitzform wird ein Stuhlkreis empfohlen. Die Lehrkraft (LK) notiert die Bedürfnisse / Wünsche auf bunten Karten, die in die Mitte des Stuhlkreises gelegt werden. Dies bietet den Vorteil, dass die daraufhin folgende Diskussion zum Stellenwert der einzelnen Bedürfnisse / Wünsche durch Verschieben der Karten visualisiert werden kann. Sie soll zeigen, dass einige Bedürfnisse zentraler, umfassender oder weitreichender sind als andere. Von großer Bedeutung ist hierbei, dass kein Konsens innerhalb der Klasse erzielt werden muss. Kindern können unterschiedliche Dinge wichtig sein. Ein offener Austausch, während welchem jede Meinung gehört wird, dient der Horizonterweiterung oder der Festigung des eigenen Standpunkts. Es sollte darauf geachtet werden, zwischen den Bedürfnis-Karten ausreichend Platz zu lassen, um zur Verdeutlichung des Nutzens der Kinderrechte in der Phase der Erarbeitung Kinderrechte-Karten hinzulegen zu können (ausführlicher siehe unten). Die Bedürfnis-Karten sollten nicht vorher vorbereitet sein. Dies würde unter Umständen die Assoziationsfreiheit der Schüler*innen einschränken, da der Eindruck entstehen könnte, bestimmte, 'richtige' Bedürfnisse nennen zu müssen. Je nach Gesprächsverlauf kann die LK eine Frage dazu stellen, wie die genannten Bedürfnisse / Wünsche garantiert werden könnten, um damit zur nächsten Phase, der Hinführung, überzuleiten. (Eine Formulierungsidee hierzu findet sich im Anhang.)In der Phase der Hinführung informiert die LK die Schüler*innen über die KRK, genauer über ihre Entstehung, ihren Ratifizierungsstatus, ihren Umfang und die Umsetzung durch Staaten und Organisationen sowie ihre Überprüfung mittels Staatenberichten und dem Kinderrechtsausschuss der VN. (Auch hier kann eine Formulierungsidee im Anhang eingesehen werden.) Es bietet sich an, in diesem Zusammenhang die Artikel 1 und 2 der kinderfreundlichen Version der KRK (Deutsches Komitee für UNICEF 2023a) vorzulesen, um konkrete Einblicke zu gewähren, über die Existenz eines Gesetzestextes explizit für Kinder zu informieren sowie zu der Phase der Erarbeitung überzuleiten. Die kinderfreundliche Version der KRK kann hier sowohl online heruntergeladen als auch kostenfrei als Printausgabe bestellt werden. Im Anschluss an die Hinführung kann die KRK im Klassenzimmer platziert werden, um den Schüler*innen die Möglichkeit zu geben, ihre Rechte zu jeder Zeit nachlesen zu können.In der Phase der Erarbeitung werden die Schüler*innen dazu aufgefordert, mögliche Kinderrechte zu nennen. Diese werden in Form vorbereiteter Kinderrechte-Karten (Kopiervorlagen unter Material Unterrichtseinheit Kinderrechte im Anhang) den bereits im Stuhlkreis liegenden Bedürfnis-Karten zugeordnet. Gegebenenfalls können weitere Bedürfnis-Karten beschriftet werden. Als Differenzierung können an dieser Stelle Murmelphasen zu zweit eingebaut werden. Auf den Kinderrechte-Karten befindet sich eine kinderfreundliche Beschreibung des entsprechenden Kinderrechts (siehe didaktische Überlegungen, Thema und Inhalte) sowie eine Visualisierung, die eine Situation darstellt, in der das Kinderrecht zur Anwendung kommt / kommen sollte. Es wird empfohlen, die Kinderrechte-Karten auf weißes Papier zu drucken, um sie visuell gut von den bunten Bedürfnis-Karten unterscheiden zu können. Bei Nennung eines nicht vorbereiteten Kinderrechts kann dieses problemlos auf einem weiteren, weißen Blatt Papier notiert werden. Eine Diskussion über mögliche Visualisierungen regt die Auseinandersetzung mit dem Kinderrecht weiter an. Es sollte in jedem Fall auf die Exemplarität der ausgewählten Kinderechte eingegangen werden und ein Austausch über den Zusammenhang zwischen Bedürfnissen und Kinderrechten und somit den Nutzen der KRK stattfinden. (Eine Formulierungsidee findet sich im Anhang.) Weiterhin wichtig ist es, die Ausgestaltung der Kinderrechte gut zu erklären und alle aufkommenden Fragen zu beantworten, um die Etablierung von Fehlkonzepten, zum Beispiel in Bezug auf Kinderarbeit, zu vermeiden. Es kann dazu kommen, dass einigen Wünschen kein Kinderrecht zugeordnet werden kann. An dieser Stelle kann die LK, sofern dies nicht bereits ohne ihr Zutun geschieht, einen Austausch über die Gründe dafür – beispielsweise die Nichtauswahl des entsprechenden Kinderrechts oder die eingeschränkte Reichweite des Wunsches – anstoßen. Es bietet sich an, den Unterschied zwischen einem Recht und einem Wunsch explizit zu verdeutlichen (ausführlicher siehe Formulierungsideen).Zur Ergebnissicherung gestalten die Schüler*innen in Einzelarbeit ihre eigene Ausgabe der KRK. (Eine Kopiervorlage für die einzelnen Seiten findet sich unter Material Unterrichtseinheit Kinderrechte im Anhang.) Pro Kinderrecht soll eine Seite gestaltet werden. Die Anzahl der Kopien hängt demnach von Klassenstärke und Anzahl der ausgewählten Kinderrechte ab. Die gestalteten Seiten können anschließend mit einem Heftstreifen oder einem Faden gebunden werden. Die Anordnung der Kinderrechte innerhalb ihrer Konvention soll von den Schüler*innen selbst bestimmt werden, um zu bewirken, dass sie noch einmal individuell über die Bedeutsamkeit der entsprechenden Kinderrechte nachdenken. Logistisch empfiehlt sich die reguläre Sitzform. Währenddessen kann die LK die sortierten Bedürfnis- und Kinderrechte-Karten gut sichtbar im Klassenzimmer anbringen, um den Schüler*innen zu ermöglichen, sich die gemeinsame Erarbeitung jederzeit wieder ins Gedächtnis zu rufen.Sollte es Schüler*innen geben, die früher fertig werden als andere, kann auf geeignetes, kostenfreies Zusatzmaterial der Bundeszentrale für politische Bildung und / oder der Kinder-Nachrichtensendung logo! zum Thema Kinderrechte zurückgegriffen werden. (Hinweise dazu finden sich auch in der letzten Zeile der Übersicht über die Unterrichtseinheit. Außerdem sei auf die Liste mit zu empfehlendem Unterrichtsmaterial im Anhang verwiesen).
Zweite (Doppel-)Stunde: Kinderrechte – Wie können wir sie umsetzen?
Die zweite (Doppel-)Stunde beschäftigt sich mit dem Thema 'Kinderrechte – Wie können wir sie umsetzen?', wobei es sich um die Umsetzung in der Schule handelt (ausführlicher siehe didaktische Überlegungen, Thema und Inhalte).Zuvor werden die Inhalte der letzten (Doppel-)Stunde wiederholt. Ein Film der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb 2022b, 0:27-2:52) bereitet drei Kinderrechte so auf, dass sie durch die Betrachter*innen erraten werden können. Der Film muss dazu nicht in kompletter Länge gesehen werden, zumal insbesondere sein Schlussteil keinen sinnvollen Zusammenhang zur Unterrichtseinheit aufweist. In Anlehnung an Diskussionsvorschläge der Bundeszentrale für politische Bildung wird vorgeschlagen, im Anschluss an die Nennung des Kinderrechts noch einmal seine Bedeutsamkeit zu thematisieren. Außerdem bietet es sich unter Umständen an, ebenfalls wiederholend auf den Inhalt des Kinderrechts einzugehen. (Formulierungsideen finden sich im Anhang.) Um auch die weiteren, in der vorausgegangenen Stunde eingeführten Kinderrechte zu wiederholen, folgt eine Übertragung des Formats des Films auf die Klassenebene: Freiwillige Schüler*innen beschreiben ein Kinderrecht, ohne dessen Bezeichnung zu nennen, während die anderen raten. Die Diskussion über Inhalt und Bedeutsamkeit als etablierte Struktur und relevanter Teil, um das Verständnis zu sichern, mögliche Lücken zu ergänzen und Fehlvorstellungen zu korrigieren, schließt an. Als Sitzform wird der Kinositz vorgeschlagen. In dem zweiten Teil der Wiederholung kann das entsprechende Kind zur Beschreibung seines Kinderrechts vor die Klasse treten und mit Überblick über seine Mitschüler*innen Antworten entgegennehmen. Dieser Teil der Stunde bringt eine natürliche Differenzierung mit sich, solange alle Schüler*innen auf freiwilliger Basis die Rolle eines vortragenden oder eines zuhörenden und gegebenenfalls ratenden Kinds einnehmen.Die Phase der Erarbeitung beinhaltet eine Untersuchung und Diskussion der Umsetzung der Kinderrechte in der Schule. Dies kann, je nach Vorerfahrungen und regulärer Sitzform der Klasse, in Partner- oder Gruppenarbeit geschehen. Ein Arbeitsblatt, das vier Spalten umfasst und so neben der Möglichkeit der Verschriftlichung der Zustände auch Platz für das Notieren von Lösungsvorschlägen bietet, dient der Ergebnissicherung des Austausches. (Die Kopiervorlage des Arbeitsblatts befindet sich auch im Anhang unter Material Unterrichtseinheit Kinderrechte.) Entsprechend der Möglichkeiten der Einhaltung der Aufsichtspflicht kann erwogen werden, die Schüler*innengruppen im Schulgebäude oder auf dem Schulgelände Hinweise auf Kinderrechte finden zu lassen. Vermutlich wird beispielsweise das Recht auf Gesundheit eher bedacht, wenn die Kinder vor oder in der Mensa stehen. Auch hier empfiehlt es sich, Zusatzmaterial für schneller arbeitende Schüler*innen zur Verfügung zu stellen.Um die Ergebnisse vergleichen und einordnen und die Lösungsvorschläge diskutieren zu können, wird in der Phase der Ergebnissicherung im Stuhlkreis ein Austausch durch die LK moderiert. Sie hat an dieser Stelle außerdem die Möglichkeit, auf Kinderrechte hinzuweisen, die nicht genannt werden. Sollte die Idee nicht von der Klasse selbst kommen, kann die LK als eigenen Vorschlag die Plakatgestaltung einbringen, die in der kommenden, dritten (Doppel-)Stunde durchgeführt werden soll. Die weiteren Lösungsvorschläge können auf einem Plakat gesammelt und im Klassenzimmer angebracht werden, um in der vierten (Doppel-)Stunde darauf zurückgreifen zu können.
Dritte (Doppel-)Stunde: Kinderrechte – Wir setzen sie um!
(Doppel-)Stunde 3 'Kinderrechte – Wir setzen sie um!' beinhaltet die Gestaltung von Plakaten zu den Kinderrechten, um die Bekanntheit dieser in der Schule zu erhöhen.Für die Durchführung in Gruppen wird empfohlen, die Schüler*innen nach klasseneigenen Methoden einzuteilen und vorab über das Verhalten in Gruppen, wie beispielsweise die Rollenverteilung oder den Umgang miteinander, zu sprechen. Je nach Anzahl der "ausgewählten [...] Kinderrechte" (siehe didaktische Überlegungen, Thema und Inhalte), können die Gruppen unterschiedlich groß sein. Es kann sich auch auf einige zentrale Kinderrechte beschränkt werden. Die Zuordnung von Kinderrechten zu entsprechenden Gruppen kann per Zufallsprinzip oder beispielsweise anhand der von den Schüler*innen in der vorherigen, zweiten (Doppel-)Stunde in PA / GA gefundenen und geschilderten Kinderrechte erfolgen. Das bereits angesprochene Zusatzmaterial kann erneut für schneller arbeitende Schüler*innen zum Einsatz kommen. Eine weitere Möglichkeit ist, diese Schüler*innen andere Gruppen unterstützen zu lassen. Die kinderfreundliche Version der KRK und die sortierten Bedürfnis- und Kinderrechte-Karten im Klassenzimmer sowie die eigenen Ausgaben der KRK können als inhaltliche Stütze dienen. Es bietet sich darüber hinaus an, vorab zu klären, welche Inhalte die Plakate umfassen sollen, um eine möglichst hohe Informationsdichte und Einheitlichkeit aller Plakate zu gewährleisten.In der Phase der Ergebnissicherung werden die Plakate im Kinositz präsentiert, bevor sie gemeinsam im Schulhaus angebracht werden. Die LK stellt ebenfalls ein Plakat vor, was Informationen zu Hilfemöglichkeiten / Anlaufstellen beinhaltet, die bei Verletzung oder Missachtung der eigenen Kinderrechte oder der anderer aufgesucht beziehungsweise kontaktiert werden können. (Eine Plakatvorlage und Ideen zur Präsentation finden sich im Anhang unter Material Unterrichtseinheit Kinderrechte und Formulierungsideen.)
Vierte (Doppel-)Stunde: Kinderrechte – Wir setzen sie um!
Die vierte (Doppel-)Stunde ist fakultativ. Sie befasst sich ebenfalls mit dem Thema 'Kinderrechte – Wir setzen sie um!' und bietet Raum, die weiteren Lösungsvorschläge der Schüler*innen aus der Erarbeitungsphase der zweiten (Doppel-)Stunde anzugehen.Darüber hinaus könnten auch das Aufzeigen der Möglichkeit der Partizipation in einem Kinderparlament in der eigenen oder einer nahe gelegenen Stadt oder die Vorbereitung einer Teilnahme an der UNICEF-Aktion 'Wir reden mit!', die jedes Jahr am Tag der Kinderrechte (20.11) stattfindet (vgl. Deutsches Komitee für UNICEF 2023i), Inhalt sein. Zu der Planung und Durchführung eines eigenen Projekts können Informationsmaterialien bei der Bundeszentrale für politische Bildung eingesehen werden (vgl. Sander 2013).
Abwandlungen / Anpassung an andere Klassenstufen
InsgesamtAnpassung der Anzahl der "ausgewählte[n] [...] Kinderrechte"
Erste (Doppel-)StundeEinstieg: Bedürfnisse mündlich, keine PriorisierungHinführung: Anpassung der InformationsmengeErarbeitungKinderrechte-Karten: keine Schrift, nur VisualisierungZusammenhang von Kinderrechten und Bedürfnissen mündlichErgebnissicherung: in zu gestaltenden Ausgaben der KRK ist kinderfreundlicher Titel des Kinderrechts / Schlagwort zur Verdeutlichung des Kinderrechts (z.B. Bildung, Gesundheit…) bereits vorhanden (von LK vor dem Kopieren auf Kopiervorlage notiert), Kinder malen ausschließlich dazu
Zweite (Doppel-)StundeErarbeitung: gemeinsamer Gang durch das Schulhaus / über das Schulgelände und Thematisierung der Kinderrechte vor Ort, kein ABErgebnissicherung: Sammeln von Lösungsvorschlägen im Plenum, LK notiert Vorschläge auf Plakat mit
Dritte (Doppel-)StundeGestaltung von Bildern zu Kinderrechten (anstatt von Plakaten): auch in EA möglich, freie Wahl des Kinderrechts möglichErgebnissicherung: keine Präsentation, Anbringen der Bilder unterhalb vorbereiteter Schriftzüge mit kinderfreundlichen Titeln der Kinderrechte (durch LK vorbereitet)
Vierte (Doppel-)StundeBereits angepasst an die Interessen der Schüler*innenAnpassung an Kapazitäten der Schüler*innen
Erwogene Alternativen
Alternative
Begründung für deren Ausschluss
Kinderrechte in aller Welt
- 'Kinder in aller Welt' eigenes Thema des baden-württembergischen Bildungsplans für Klassen 1/2 und 3/4: Standards für inhaltsbezogene Kompetenzen > Kultur und Gesellschaft (vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport 2016, S. 17, 35)- großer Vorbereitungs- und Zeitaufwand, um zu vermeiden, dass sich Stereotype / Generalisierungen / Machtgefälle (gebildet – ungebildet, reich – arm, modern – vormodern) etablieren und auf die Klassenebene übertragen werden
Fokus auf ein Recht im Besonderen
- wurde bereits in Blogbeitrag Kinderrechte unterrichten mit Astrid Lindgren (Reusch 2018) umgesetzt - Wahl eines Kinderrechts und somit Hervorhebung dieses Kinderrechts schwierig (wenn dann Recht auf Bildung (s. unten))
Umsetzung in Deutschland: Bildungs-ungerechtigkeit
- eher anspruchsvoll und umfangreich - von Bundeszentrale für politische Bildung für Klassen 5-8 empfohlen (vgl. Sander et al. 2013)
Debatte: Kinderrechte ins Grundgesetz
- aktuelle Thematik, Unterrichtseinheit könnte schnell inhaltlich überarbeitet werden müssen - Berücksichtigung des Kontroversitätsgebots (Beutelsbacher Konsens) schwierig
Abkürzungsverzeichnis
CRC = Convention on the Rights of the Child
BMFSFJ = Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
BMZ = Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
bpb = Bundeszentrale für politische Bildung
DIMR = Deutsches Institut für Menschenrechte
EA = Einzelarbeit
GA = GruppenarbeitGDSU = Gesellschaft für Didaktik des Sachunterrichts
KRK = Konvention über die Rechte des Kindes, kurz: Kinderrechtskonvention
LK = Lehrkraft
PA = Partnerarbeit
UN = United Nations (engl. für: Vereinte Nationen)
UNICEF = United Nations International Children's Emergency Fund
VN = Vereinte NationenAnhang
Übersicht Unterrichtseinheit Kinderrechte
Material Unterrichtseinheit Kinderrechte
Formulierungsideen Unterrichtseinheit KinderrechteListe zu empfehlendes Unterrichtsmaterial KinderrechteLiteraturverzeichnis Kinderrechte
1. EinleitungAls im Frühjahr viele Menschen auf die Straße gingen, um gegen die von der Regierung beschlossenen Einschränkungen zur Eindämmung der Verbreitung des Coronavirus zu demonstrieren, fühlten sich nicht wenige an die Pegida-Proteste - beginnend im Dezember 2014 - erinnert, bei denen vor allem in Dresden, aber auch in anderen deutschen Städten tausende Menschen auf die Straße gegangen sind, um ihrem Unmut hinsichtlich der Einwanderungspolitik der Regierung Ausdruck zu verleihen.Den Teilnhemer:innen der Pegida-Proteste wird oftmals vorgeworfen, 'rechts' oder gar Neo-Nazis zu sein, während die "Querdenker" als Verschwörungstheoretiker:innen und Maskenverweigerer dargestellt werden. Entsprechend konnten einschlägigen Medien die folgenden Überschriften entnommen werden:Pegida-Teilnehmer beschimpfen Hotel-Gäste rassistisch (Abendzeitung am 03.08.2016) [1]Typischer Pegida-Anhänger ist 48, männlich und gut gebildet (Berliner Zeitung am 04.02.2020) [2]"Querdenker"-Demo in Leipzig: Journalisten angegriffen, Grünen-Politiker belästigt (Frankfurter Rundschau am 08.11.2021) [3]Angriff auf Reichstag: 40 mutmaßliche Randalierer bislang ermittelt (ntv.de am 16.01.2021) [4]Aber wer sind diese Leute wirklich, die auf die Straße gehen, welche Motive haben sie und wie rechts sind sie? Mit dieser Frage beschäftigten sich verschiedene Forscherteams, die mit Hilfe von Befragungen versucht haben, dies herauszufinden. In der vorliegenden Arbeit werden diese Studien aufgegriffen und miteinander verglichen. Da die Ereignisse, insbesondere die Pegida-Proteste, bereits einige Jahre zurückliegen, wird in einem ersten Schritt die Entstehung und Chronologie der Proteste beschrieben, bevor im zweiten Teil die Pegida-Proteste mit denen der Querdenker verglichen werden.Dabei beschränkt sich die hier vorliegende Arbeit darauf, die Querdenker-Demonstrationen und die Pegida-Proteste hinsichtlich der Teilnehmer:innen und den Motiven für die Teilnahme zu untersuchen und vergleichen. Zudem soll das rechtextremistische Potential analysiert werden. Bei den ausgewählten Kategorien werden die jeweiligen Protestphänomene zunächst getrennt voneinander betrachtet und in einem zweiten Schritt miteinander verglichen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. 2. Chronologie der Proteste2.1 Chronologie der Pegida-ProtesteVersetzt man sich in das Jahr 2014, dem Beginn der Pegida-Proteste zurück, ist in Deutschland und insbesondere in Sachsen eine anhaltende negative Stimmung gegenüber Geflüchteten zu beobachten. Immer wieder kommt es zu Protesten gegen geplante Unterkünfte für die temporäre Unterbringung von Flüchtlingen, wie beispielsweise im November 2013 in Schneeberg, wo sich rund 2000 Menschen versammeln, um gegen die Unterbringung von rund 250 aus Syrien geflüchteter Menschen zu demonstrieren (Röpke 2013; Antifa Reche Team Dresden 2016, S. 35).Von dieser allgemeinen Stimmung angeregt, gründete Lutz Bachmann später eine Facebookgruppe "Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes", woraus schließlich der eingetragene Verein 'Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes' kurz 'Pegida' hervorging (Geiges, Marg & Walter 2015, S. 19), welcher am 20. Oktober 2014 zu einem sogenannten Abendspaziergang in die Dresdner Innenstadt aufrief (Vorländer, Herold & Schäller 2016, S. 109).Unter der Bezeichnung 'Spaziergang' fanden diese Demonstrationen fortan jeden Montag in Dresden statt, um gegen Glaubens- und Stellvertreterkriege auf deutschem Boden sowie gegen die 'Islamisierung des Abendlandes' zu protestieren (Geiges, Marg & Walter 2015, S. 12), wobei am 8. Dezember 2014 zum ersten Mal die Marke von 10.000 Teilnehmenden überschritten wurde (Antifa Reche Team Dresden 2016, S. 35).In den darauffolgenden Wochen konnte ein weiterer Zustrom zu den wöchentlich montags stattfindenden Protesten beobachtet werden. Den Höhepunkt der Demonstrationen bildete der Spaziergang am 12. Januar 2015, der unter den Eindrücken des Anschlags auf das französische Satiremagazin 'Charlie Hebdo' stand und an dem sich nach offiziellen Angaben der Polizei rund 25.000 Menschen beteiligten (ebd.; Geiges, Marg & Walter 2015, S. 18).Angeregt von dem großen Zuspruch der Dresdner Spaziergänge gründeten sich in ganz Sachsen, aber auch in viel anderen Städten der Bundesrepublik, wie München, Würzburg, Kassel, Hannover und Bonn, Ableger, die allerdings mit wenigen Ausnahmen in Sachsen nicht annähernd so großen Zulauf hatten wie die Proteste in Dresden und an denen teilweise nur wenige Dutzend Menschen teilnahmen (Antifa Reche Team Dresden 2016, S. 36).Im Frühjahr und Sommer flachte, auch aufgrund anhaltender Konflikte innerhalb des Organisationsteams, der Zulauf zu den Demonstrationen merklich ab. Bisweilen versammelten sich nur noch weniger als 2.000 Menschen zu den Spaziergängen in Dresden. Jedoch fanden insbesondere im Umland von Dresden nahezu täglich Demonstrationen, organisiert von Pegida Ablegern, statt (Antifa Reche Team Dresden 2016, S. 47, Geiges, Marg & Walter 2015, S. 21).Auch unter dem Einfluss des anhaltenden Zustromes von Flüchtlingen konnte über den Sommer hinweg wieder eine Steigerung der Teilnehmerzahl beobachtet werden. Waren es im Juli noch rund dreitausend Teilnehmende, waren es Anfang September bereits über fünftausend, was sich bis Ende September auf neuntausend Teilnehmende steigerte (Antifa Reche Team Dresden 2016, S. 47). Zum einjährigen Bestehen von Pegida am 19. Oktober 2015 versammelt sich bei einer stationären Kundgebung in der Dresdener Innenstadt 15.000 bis 20.000 Menschen (ebd.).Bei den folgenden Kundgebungen konnte eine immer aufgeladenere Stimmung beobachtet werden, die zunehmend auch zu gewaltsamen Ausschreitungen führte. Beispielsweise wurden am Rand des Pegida-Weihnachtssingens am 21. Dezember 2015 gezielt Menschen von Nazis und Hooligans angegriffen, die sich unter die Pegida-Anhänger gemischt hatten (ebd.; Jacobsen 2015).Vorläufiger Höhepunkt sollte eine europäische Vernetzung der Pegida-Demonstrationen am 6. Februar 2016 sein, bei der in vielen europäischen Städten wie Graz, Amsterdam, Dublin und Antwerpen gleichzeitig Kundgebungen abgehalten und so die 'Festung Europa' symbolisiert werden sollte. Der Zuspruch blieb aber selbst in Dresden weit hinter den Erwartungen zurück (Antifa Reche Team Dresden 2016, S. 50; Zeit online 2016).Insbesondere in Dresden kam es dennoch bis weit ins Jahr 2017 hinein zu weiteren Protestkundgebungen mit bis zu zweitausend Teilnehmenden. Die bisher letzte größere Protestaktion fand anlässlich des fünfjährigen Bestehens der Organisation am 20. Oktober 2019 statt, bei der sich rund dreitausend Menschen versammelten, um erneut gegen die Migrationspolitik zu demonstrieren (Tagesschau 2019). 2.2 Chronologie der Querdenker-ProtesteErste Meldungen, nach denen in der Provinz Wuhan in China ein vermutlich tödliches, hoch ansteckendes Virus entdeckt wurde, konnten den Medien bereits Ende 2019 entnommen werden. Der erste bestätigte Fall wurde in Deutschland schließlich am 27. Januar 2020 in Bayern gemeldet (Imöhl & Ivanow 2021). Nachdem die Bundesregierung zunächst eher zurückhaltend reagiert und sich gegen striktere Maßnahmen ausgesprochen hatte, wurde schließlich beginnend mit dem 22. März 2020, zunächst befristet bis zum 19. April, der erste Lockdown verhängt, der mehrmals verlängert wurde und schließlich nach sieben Wochen am 7. Mai. 2020 endete (Bundesministerium für Gesundheit 2022).Unter dem Begriff der 'Hygienedemos' fanden bereits im April erste Protestaktionen gegen die von der Bundesregierung beschlossenen tiefgreifenden Einschränkungen des öffentlichen Lebens statt. Nachdem anfänglich ein Schwerpunkt der Proteste in Berlin beobachtet werden konnte, fanden bereits kurze Zeit später ähnliche Aktionen in anderen deutschen Großstädten und ebenfalls im ländlichen Raum statt (Frei & Nachtwey 202, S. 1).Die Proteste gewannen dabei schnell an Zulauf und breiteten sich immer weiter aus. Im Anschluss an eine Großkundgebung am 9. Mai 2020 in Stuttgart mit über 20.000 Teilnehmenden gründete sich schließlich unter der Federführung von Michael Ballweg die Initiative 'Querdenken 711' (ebd.). Hierbei wurde auch der Begriff 'Querdenken' geprägt (Bundesstelle für Sektenfragen 2021, S. 5).Bundesweit gründeten sich nach dem Stuttgarter Vorbild weitere Querdenken-Initiativen, sowohl in größeren Städten als auch im ländlichen Raum. Zudem gelang es den Organisatoren der Querdenker-Bewegung innerhalb kurzer Zeit, erhebliche finanzielle Mittel zu generieren, mit denen die Protestkundgebungen finanziert werden konnten (Holzer, et al., 2021, S. 21).Den Höhepunkt erreichten die Proteste Mitte Mai 2020, ehe mit Auslaufen des Lockdowns auch die Teilnehmerzahlen an den Demonstrationen wieder abflachte (Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen 2022, S. 12). Initiiert von der Querdenker-Bewegung unter der Führung von Michael Ballweg vernetzten und strukturierten sich die einzelnen Protestgruppen und es wurden bundesweit Kundgebungen organisiert (Holzer, et al., 2021, S. 13).Die größten Kundgebungen fanden am 1. und 29. August in Berlin, am 4. Oktober in Konstanz sowie am 7. November 2020 in Leipzig statt (Frei & Nachtwey 202, S. 1), ehe über den Winter hinweg der Zulauf erneut abflachte. Eine weitere Protestwelle konnte im Frühjahr 2021 beobachtet werden. Vor dem Hintergrund des zweiten Lockdowns, der am 6. Januar 2021 beschlossen wurde und bis in den Mai hinein anhielt, zogen wieder vermehrt Menschen auf die Straße, um gegen die Maßnahmen zu demonstrieren (Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen 2022, S. 12).In diesem Zusammenhang identifizierte der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen (2022, S. 12) eine positive Korrelation zwischen steigenden Infektionszahlen und Protestgeschehen. Der Bericht stellt zudem fest, dass im Lauf des Jahres 2021 eine Zunahme verbal aggressiven Verhaltens seitens der Teilnehmenden zu beobachten war und sich Ärzt:innen, Politiker sowie Wissenschaftler als Feindbild herausbildeten, die teilweise sogar angegriffen und bedroht wurden (Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen 2022, S. 16; S. 20).Mit Abflachen der Infektionswelle nahm auch das Protestgeschehen im Sommer 2021 zunächst merklich ab. Im Herbst veränderte sich schließlich die Form des Protestes. Die Querdenken-Organisationen verloren zunehmend an Einfluss und statt großer Kundgebungen war eine Verschiebung hin zu einer Vielzahl kleinerer Protestaktionen in kleineren Städten und ländlichen Gebieten zu beobachten (Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen 2022, S. 16; S. 20).Mit dem Auslaufen der meisten Corona-Maßnahmen konnte auch ein deutlicher Rückgang an Protesten gegen die Maßnahmen beobachtet werden. Zurzeit finden nach wie vor in vielen Städten noch regelmäßig Demonstrationen statt, wie beispielsweise am 13. August 2022 in Berlin ein Auto- und Fahrradkorso, um gegen das vom Bundestag beschlossene Infektionsschutzgesetz zu demonstrieren [5]. 3. Vergleich der Protestphänomene3.1 Wer nimmt an den Protesten teil?3.1.1 Pegida-ProtesteMit der Frage, wer an den Protesten teilnimmt, beschäftigt sich insbesondere eine Studie von Vorländer, Herold & Schäller aus dem Jahr 2015, bei der durch "Face-to-Face-Interviews" (Vorländer, Herold & Schäller 2015; S 13) mit Teilnehmenden an Pegida-Demonstrationen in Dresden die soziodemografische Zusammensetzung sowie die zentralen Motive der Protesttierenden ermittelt werden sollten.Ergebnisse dieser Untersuchungen zeigen, dass die Befragten durchschnittlich 47,6 Jahre alt und von den 397 Teilnehmenden der Proteste eine Mehrheit von 74,6 Prozent männlich waren (ebd., S. 43f). Zudem wurde der letzte Bildungsabschluss ermittelt. Die Mehrheit der Befragten hat demnach die Schule nach der 10. Klasse verlassen (ebd. S. 45). Ebenfalls auffällig ist der hohe Anteil an Befragten, die einen Hochschulabschluss als letzten Bildungsabschluss angaben [6]. Mit 28,2 Prozent ist der Anteil im Vergleich zum Bundesdurchschnitt doppelt so hoch (ebd., S. 46). Des Weiteren gaben 5 Prozent einen Hauptschulabschluss, 16,4 Prozent die Hochschulreife und 8,6 Prozent einen Meisterabschluss als letzten Bildungsabschluss an (ebd.). Mit rund 47,6 Prozent waren die meisten der Befragten Arbeiter oder Angestellte, gefolgt von 20,4 Prozent Selbständigen und 17,6 Prozent Rentner (ebd., S. 47). Beamte, Studierende, Auszubildende, Schüler:innen und Arbeitslose machten lediglich etwas mehr als 10 Prozent der Protestierenden aus.Auch wurde nach der Parteiverbundenheit der Pegida-Anhänger gefragt. Eine große Mehrheit von 62,1 Prozent fühlt sich demnach zu keiner der etablierten Parteien hingezogen (ebd., S. 52). Betrachtet man die Ergebnisse, geben 16,8 Prozent der Befragten an, dass ihre Einstellungen am ehesten mit den Ideen der 'Alternativen für Deutschland' (AfD) übereinstimmen. Die anderen Parteien sind weit abgeschlagen: CDU 8,9 Prozent, NPD 3,7 Prozent, Linke 3,0 Prozent, SPD und FDP 1,2 Prozent, Grüne 1,0 Prozent (ebd.). Die Ersteller der Studie vermuten zudem eine große Schnittmenge zwischen dem hohen Anteil an Nichtwähler bei der Landtagswahl in Sachsen (50,9 Prozent) und dem Anteil der Befragten an den Pegida-Kundgebungen, die sich zu keiner der etablierten Parteien hingezogen fühlen (ebd., S. 53).Die Ergebnisse der Studie lassen darauf schließen, dass es sich um eine sehr heterogene Gruppe mit überdurchschnittlicher Bildung und überdurchschnittlichem Einkommen handelt, die sich vorwiegend aus Menschen in der 'Mitte der Gesellschaft' zusammensetzt (Kocyba 2016, S. 149f). Die hier verwendeten Daten müssen allerdings mit Vorsicht betrachtet werden, Kocyba (2016, S. 151) und Nachtwey (2016, S. 305) merken an, dass beobachtet werden konnte, dass viele der Demonstrierenden nicht an wissenschaftlichen Befragungen teilnahmen und dadurch nur ein verzerrtes Ergebnis hin zur Mitte der Gesellschaft abgebildet werden konnte.3.1.2 Querdenker-ProtesteBei den verwendeten Studien handelt es sich zum einen um eine Umfrage, die im Rahmen der sogenannte Erntedank-Demonstration Anfang Oktober in Konstanz durchgeführt wurde, die von der Initiative "Querdenken 753" organisiert wurde und bei der es gelungen ist, 138 Personen zu interviewen (Koos 2022, S. 68). Dabei wurden nach dem Zufallsprinzipe gezielt Protestierende auf der Demonstration angesprochen und per Handzettel zur Teilnahme an der Umfrage eingeladen (ebd.).Bei der zweiten Studie handelt es sich um eine im Herbst 2021 durchgeführte Online-Umfrage des Schweizer Forscherteams Frei, Schäfer & Nachtwey. Bei dieser nicht-repräsentativen Umfrage wurden die Einladungen zur Teilnahme in offenen Telegram-Gruppen von Protestorganisator:innen gepostet (Frei, Schäfer & Nachtwey 2021, S. 251). Dadurch konnten 1152 Umfrageteilnehmer gewonnen werden (ebd.).Beide Studien kommen zum Schluss, dass die Teilnehmer:innen an den Protesten durchschnittlich etwa 48 (47) [7] Jahre alt sind und vorwiegend über einen höheren Bildungsabschluss verfügen (Koos 2022, S. 71). Nachtwey, Schäfer & Frei fanden dabei heraus, dass rund 34 Prozent über ein abgeschlossenes Studium verfügen, 31 Prozent das Abitur als höchsten Abschluss angaben und 21 Prozent mindestens die Mittlere Reife. Damit sind unter den Demonstrationsteilnehmer:innen Personen, die mindestens das Abitur als höchsten Bildungsabschluss angaben, überdurchschnittlich häufig vertreten verglichen mit dem Durchschnitt der deutschen Bevölkerung (ebd.).Ebenfalls überrepräsentiert sind Selbständige mit 20 (25) Prozent der Teilnehmer:innen, während die Mehrheit von 46 Prozent sich selbst als Arbeiter oder Angestellte einstuften (ebd.). Rentner:innen, Hausfrauen, Student:innen bildeten zusammen rund 20 Prozent der Teilnehmenden (Nachtwey, Schäfer, & Frei 2022, S. 8). Beide Studien kommen entsprechend zum Schluss, dass sich die Teilnehmer:innen der Querdenker-Proteste meist der Mittelschicht zuordnen lassen (Koos 2022, S. 72).Eine Mehrheit von 61 Prozent bezeichnet sich den Umfragen zufolge als politisch interessiert (ebd. S. 80). Fragt man nach dem Wahlverhalten bei der Bundestagswahl 2017, gaben die meisten (23 Prozent) an, die Grünen gewählt zu haben, gefolgt von 'Die Linke' (18 Prozent), AfD (15 Prozent), CDU/CSU (10 Prozent), FDP (7 Prozent), SPD (6 Prozent) sowie 'andere Parteien' (21 Prozent) (Nachtwey, Schäfer, & Frei 2022, S. 10).Auf die Frage, welche Partei die Teilnehmer:innen heute wählen würden, antworteten 61 Prozent 'andere Parteien' (ebd.). Die AfD käme demnach auf 27 Prozent der Stimmen, FDP 6 Prozent, die Linke 5 Prozent, Grüne und CDU/CSU jeweils 1 Prozent und SPD 0 Prozent (ebd.). Es zeigt sich hier eine deutliche Verschiebung hin zu anderen Parteien und auch zur AfD, was darauf schließen lässt, dass sich eine Mehrheit der Befragten nicht ausreichend von den etablierten Parteien vertreten fühlt.Hierbei sei bemerkt, dass die Studie von Koos die Tendenzen hin zur AfD nicht bestätigen konnte. Zwar wurden auch hier 'andere Parteien' mit 55 Prozent am häufigsten genannt, es gaben jedoch lediglich 2 Prozent der Befragten an, die AfD bei der kommenden Bundestagswahl wählen zu wollen (Koos 2022, S. 81). Diese Diskrepanz könnte darauf zurückzuführen sein, dass Koos lediglich Personen befragte, die bei der Demonstration in Konstanz teilnahmen, während Nachtwey und Kolleg:innen auf Umfrageteilnehmer:innen aus ganz Deutschland zurückgriffen, entsprechend auch aus Regionen, in denen die AfD stärker vertreten ist (Sachsen: 28,4 Prozent [8]; Thüringen: 22 [9]) als in Baden-Württemberg (9,7 Prozent [10]), was darauf schließen lässt, dass dort unabhängig von Corona die AfD eher eine etablierte Wählerklientel aufweisen kann.3.1.3 Gemeinsamkeiten und UnterschiedeDer Vergleich der Pegida-Demonstrationen und der Querdenker-Proteste zeigt, dass sich die Teilnehmenden recht ähnlich sind. Vergleicht man die beiden Protestphänomene miteinander, ist zunächst das Durchschnittsalter mit 47-48 Jahren auffällig gleich. Auch hinsichtlich des Bildungsabschlusses und der Berufstätigkeit gibt es nur geringe Unterschiede. In beiden Fällen sind die Teilnhmer:innen eher überdurchschnittlich gebildet. Der Anteil von Angestellten und Arbeitern ist jeweils am höchsten. Außerdem ist auffällig, dass ein nicht unerheblicher Teil einer selbstständigen Tätigkeit nachgeht. Unterschiede gibt es hinsichtlich der Geschlechterverteilung. Während bei den Querdenker-Protesten die Verteilung nahezu gleich ist, sind männliche Teilnehmer bei den Pegida-Kundgebungen in der Überzahl.Schaut man sich das Wahlverhalten an, stellt man fest, dass die meisten der Befragten keine der 'etablierten' Parteien bei der nächsten Bundestagswahl wählen würden. Bei den jeweiligen Befragungen kommt keine der 'etablierten' Parteien über 10 Prozent der Stimmen. Vor allem Parteien aus dem linken Spektrum überzeugen nur wenige der Protestteilnehmer:innen. Dies spiegelt die große Unzufriedenheit der Befragten mit der Arbeit von Regierung und Politikern wider, auf die im folgenden Kapitel nochmals genauer eingegangen wird.Die Rolle der AfD ist etwas undurchsichtiger. Von den etablierten Parteien findet die AfD unter den Pegida-Anhänger die meiste Zustimmung, wenngleich der Wert mit etwas mehr als 16 Prozent recht gering ist. Bei den Querdenker-Anhängern kommen die Befragungen zu unterschiedlichen Ergebnissen: Bei der Online-Befragung würden 27 Prozent bei der kommenden Bundestagswahl die AfD wählen, während dies bei der Vor-Ort-Befragung in Konstanz nur zwei Prozent tun würden.Die hier aufgeführten Aspekte zeigen eine recht große Übereinstimmung hinsichtlich demographischer, sozioökonomischer und politischer Einstellungen der Protesteinehmerenden, die im folgenden Kapitel auch hinsichtlich ihrer Motive für die Protestteilnehme verglichen werden.3.2 Welche Motive haben die Protestteilnehmer:innen?3.2.1 Pegida-ProtesteDie Motive für die Teilnahme an den Pegia-Protesten in Dresden sind vielfältig. Generell lassen sich die Motive als allgemeine Unzufriedenheit mit politischen Entscheidungen und deren Kommunikation beschreiben (Vorländer, Herold, & Schäller 2015, S. 63). Bei der Umfrage des Dresdner Forscherteams Vorländer, Herold und Schäller gaben über 71 Prozent der Befragten dies als eines der Hauptmotive für die Teilnahme an den Pegida-Protesten an. Weitere wichtige Teilnahmemotive waren Kritik an Medien und Öffentlichkeit (34,5 Prozent), grundlegende Vorbehalte gegenüber Zuwanderern und Asylbewerbern (31,2 Prozent) sowie Protest gegen religiös oder ideologisch motivierte Gewalt (10,3 Prozent) [11] (ebd. S. 59). Sonstige Motive nannten 21,9 Prozent.Betrachtet man die Antwortengruppe 'Unzufriedenheit mit politischen Entscheidungen und deren Kommunikation' genauer, waren die am häufigsten gegebenen Antworten 'Unzufriedenheit mit der Asylpolitik' und 'Allgemein empfundene Diskrepanz zwischen Volk und Politikern' mit jeweils über 25 Prozent (ebd. S. 62). Zudem wurden häufig die 'Unzufriedenheit mit dem politischen System der Bundesrepublik', 'Unzufriedenheit mit Zuwanderungs- und Integrationspolitik', 'Allgemeine Unzufriedenheit mit der Politik' sowie 'Unzufriedenheit mit der Wirtschafts- und Sozialpolitik' genannt (ebd.).Daraus resultiert, dass rund 34 Prozent (bereinigt von Doppelnennungen) der Befragten allgemein mit der Integrations-, Asyl- oder Sicherheitspolitik der Regierung unzufrieden sind (ebd. S. 63). Generell scheinen grundlegende Vorbehalte gegenüber Zuwanderung, insbesondere aus dem islamischen Raum, eines der Hauptmotive für die Teilnahme zu sein.Wirft man einen genaueren Blick auf die Kategorie 'Grundlegende Vorbehalte gegenüber Zuwanderern und Asylbewerbern', geben 15,4 Prozent der Befragten an, allgemeine Vorbehalte gegenüber Muslimen bzw. dem Islam zu haben (Vorländer, Herold, & Schäller 2015, S. 69). Die Angst vor sozioökonomischer Benachteiligung, Sorge um hohe Kriminalität von Asylbewerbern und die Furcht vor eigenem Identitätsverlust und 'Überfremdung' werden ebenfalls häufig als zentrale Motive für die Teilnahme genannt (ebd.).In einem Positionspapier fordern die Organisatoren von Pegida entsprechend eine im Grundgesetz verankerte Integrationspflicht für Geflüchtete, um einer "Islamisierung des Abendlandes" und damit verbundenen "Glaubenskriegen auf deutschem Boden" entgegenzuwirken (Antifa Recherche Team Dresden 2016, S. 45).Laut Organisator:innen gibt Pegida all den Menschen eine Stimme, die sich "überfremdet, benachteiligt und in ihrer Identität bedroht fühlen" (ebd. S. 35), um zu verhindern, dass Asylsuchende Geld vom Staat bekommen, während ein Großteil der Bevölkerung sich das alltägliche Leben nicht mehr leisten kann. Hierbei gibt es Überschneidungen zwischen den Kategorien 'Unzufriedenheit mit der Wirtschafts- und Sozialpolitik' und der allgemeinen Angst, das eigene Leben nicht mehr finanzieren zu können, sowie der 'Angst vor sozioökonomischer Benachteiligung' durch Einwanderung.Obwohl rund 34 Prozent der Antworten das Themenfeld Integrations-, Asyl- und Sicherheitspolitik als Motiv für die Protestteilnahme angeben, wurde von lediglich 24,2 Prozent der Befragten explizit der Islam, Islamismus und Islamisierung als Grund genannt (Vorländer, Herold, & Schäller 2015, S. 72).Neben den Themen Zuwanderung, Asyl und Islam ist auch die kritische bis ablehnende Haltung gegenüber Öffentlichkeit und Medien, insbesondere gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk eines der Hauptmotive für die Teilnahme an den Pegida-Demonstrationen. Der Begriff der 'Lügenpresse' verdeutlicht die Wut und ablehnende Haltung gegenüber Vertretern der Medien und den Medien als Institution.21,2 Prozent der Befragten äußerten entsprechend eine allgemeine Unzufriedenheit mit der Berichterstattung der Medien und 18,4 Prozent kritisieren eine diffamierende Berichterstattung über die Pegida-Proteste (Vorländer, Herold, & Schäller 2015; S. 66.). Oft wird dabei pauschalisierend Kritik an der politischen Einstellung und an der Arbeit von Medienvertretern geübt (ebd. S. 67). Anhänger der Pegida-Bewegung bemängeln zudem, dass sie zu wenig im öffentlichen Diskurs gehört werden und die Sorgen und Ängste nicht ernst genommen werden. Zudem wird beklagt, dass der Öffentlichkeit Informationen vorenthalten werden (ebd. S. 68). Am Rande der Demonstrationen ist entsprechend eine aufgeladene Stimmung gegenüber Vertretern der Medien sowie eine Weigerung, mit Medienvertretern zu sprechen, zu beobachten.3.2.2 Querdenker-ProtesteSo vielfältig wie die Protestteilnehmer:innen sind auch die Motive für die Teilnahme. Trotz der Heterogenität vereint alle der zentrale Aspekt, gegen etwas zu sein (Frei, Schäfer, & Nachtwey 2021, S. 251). Ein Hauptgrund für die Teilnahme bilden die durch die Krise hervorgebrachten sozialen Ungleichheiten und die hierdurch verursachte wahrgenommene Benachteiligung in unterschiedlichsten Bereichen (Koos 2022, S. 73).Befragungen von Koos (2022, S. 73) bei der Demonstration in Konstanz im Herbst 2022 zeigen, dass weniger die persönliche Betroffenheit Grund für die Teilnahme ist, sondern vielmehr die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen der getroffenen Maßnahmen ausschlaggebend sind. Lediglich rund 20 Prozent der Befragten nannten unmittelbare finanzielle Auswirkungen als ein Teilnahmemotiv (ebd.).Hauptsächlich spielt die Sorge um die eigene familiäre Situation eine Rolle. 39 Prozent (der Studie von Nachtwey, Schäfer, & Frei [2022, S. 16] zufolge rund 34 Prozent) der Befragten gaben an, dass durch die getroffenen Maßnahmen zur Eindämmung des Pandemiegeschehens übermäßig hohe Belastungen für Familien entstanden sind (Koos 2022, S. 74). Dies ist auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass Nachtwey und Kollegen (2021, bei ihrer Umfrage eine 80-prozentige Zustimmung zur Aussage über die Willkürlichkeit der Corona-Maßnahmen ermittelten und dass rund 95 Prozent der Aussage, die Regierung dramatisiere oder übertreibe die Corona-Problematik,k zustimmten bzw. voll und ganz zustimmten (Nachtwey, Schäfer, & Frei 2022, S. 14f.).Größter Kritikpunkt an den Maßnahmen sind die temporären Einschränkungen der Grundrechte, wie Ausgangsbegrenzungen und Kontaktverbote. 80 Prozent der Befragten nannten die negativen Auswirkungen der Maßnahmen auf die eigenen Grundrechte als einen der Hauptgründe, sich an den Querdenker-Protesten zu beteiligen (Koos 2022, S. 75). Zudem stimmten 95 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass die Corona-Maßnahmen die Meinungsfreiheit und Demokratie bedrohen (Nachtwey, Schäfer, & Frei 2022, S. 17).Als Einschränkung der Grundrechte wird auch die Verpflichtung zum Tragen von Masken gesehen. Teilnehmer:innen behaupteten hierbei, dass es durch das Tragen der Maske zu Todesfällen in Deutschland gekommen sei (Gensing 2020). Entsprechend stimmen über 88 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass Maskenpflicht Kindesmissbrauch sei (Nachtwey, Schäfer, & Frei 2022, S. 18). Auch aufgrund der temporären Schulschließungen ist der Schutz von Kindern unter den Motiven der Demonstrationsteilnehmer:innen zu finden und rückte mit zunehmendem Verlauf des Corona-Protestgeschehens vermehrt in den Fokus der Debatte.Neben Kritik an den konkret aufgrund der Corona-Pandemie getroffenen Maßnahmen durch die Bundesregierung ist auch die allgemeine Kritik an Regierung und Parlament eine der Hauptmotivationen. So gaben 88 Prozent der Befragten an, kein Vertrauen in die Regierung zu haben (Koos 2022, S. 79). Gleiches gilt für den Bundestag. In das Parlament und die gewählten Abgeordneten haben nur 4 Prozent Vertrauen (ebd.). Eine Mehrheit von 77 Prozent hat dabei das Vertrauen in das politische System verloren (ebd. S. 80). Dennoch lehnen 94 Prozent eine Diktatur als möglicherweise bessere Staatsform ab (ebd.). Der Aussage, dass 'Medien und die Politik unter einer Decke stecken' stimmen rund 77 Prozent der Teilnehmer in der Befragung von Nachtwey, Schäfer, & Frei (2022, S. 17) zu.Entsprechend groß ist die Ablehnung gegenüber etablierten Medien (91 Prozent) (Koos 2022, S. 79). Die oftmals als einseitig empfundene Berichterstattung von den Corona-Protesten, vermeintlich tendenzielle Berichterstattung und das mutmaßliche Zurückhalten wichtiger Informationen werden oft als Hauptgründe für die ablehnende Haltung gegenüber etablierten Medien, insbesondere dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk genannt (Frei, Schäfer, & Nachtwey 2021, S. 225). Konkret wird den Medien 'Angstmacherei' vorgeworfen mit dem Ziel, die Menschen zu verunsichern. Die Teilnehmer:innen bezeichnen sich daher oftmals selbst als besonders kritische Menschen, die Dinge hinterfragen und gegen die "mediale Desinformation" (ebd. S. 256) vorgehen und aufklären wollen.Waren im Frühjahr und Herbst 2020 noch die von der Bundesregierung getroffenen Maßnahmen und deren Auswirkungen, wie Lockdown, Schulschließungen und Maskentrageverordnung, der Hauptgrund für die Teilnahme an den Querdenker-Demonstrationen, wandelten sich die Motive im Lauf der Zeit. Mit der Entwicklung von Corona-Impfstoffen, deren Zulassung und den anschließenden, im Frühjahr und Sommer 2021 groß angelegten Impfkampagnen, wurde vermehrt auch die Kritik an einer vermeintlichen Zwangsimpfung und die Diskriminierung Ungeimpfter zum zentralen Motiv (Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen 2022, S. 3).Entsprechend konnten sich 70 Prozent der Befragten vorstellen, dass einflussreiche Geschäftsleute die Menschheit zwangsimpfen lassen wollen, um so persönlich davon zu profitieren (Koos 2022, S. 77). Allgemein haben Verschwörungstheorien und eine darauf aufbauende "Realität" großen Einfluss, die Motive der Teilnehmer:innen betreffend. Unter den Befragten können sich 75 Prozent vorstellen, dass Wissenschaftler gezielt manipulieren, Tatsachen erfinden oder Beweise zurückhalten, um die Öffentlichkeit zu täuschen (ebd.).Zwar haben 37 Prozent der Befragten Vertrauen in die Wissenschaft, dieser vergleichsweise hohe Wert könnte aber auch darauf zurückgeführt werden, dass sich im Lauf der Pandemie eine Vielzahl selbsternannter Experten etabliert hat, deren Wissen und Expertise gleichgesetzt wurde mit Wissen von Experten, die dem etablierten Wissenschaftssystem zuzuordnen sind (ebd. S. 79). Hauptkritikpunkt ist dabei die Nichtproduktion eindeutiger Ergebnisse und die Anpassung von Empfehlungen aufgrund neuster Erkenntnisse, die oftmals zu Verwirrung und Irritationen führten.Es bleibt festzuhalten, dass sich berechtigte Kritik an den Corona-Maßnahmen mit inhaltlich diffuser Kritik (Frei, Schäfer, & Nachtwey 2021, S. 257) mischt, was zu einer wirren Verflechtung von Tatsachen mit Verschwörungserzählungen führt, die schließlich zur Teilnahme an den Querdenker-Demonstrationen führen.3.2.3 Gemeinsamkeiten und UnterschiedeZu den Gemeinsamkeiten beider Protestgruppen lässt sich zunächst herausstellen, dass beide sehr heterogen zusammengesetzt sind und eine Vielzahl von Motiven die Menschen zur Teilnahme an den Protesten veranlasst. In beiden Gruppen ist eines der Hauptmotive die allgemeine Unzufriedenheit mit Mandatsträgern und politischen Entscheidungen im allgemeinen.Beide Gruppen unterscheiden sich hinsichtlich des konkreten Anlasses für die Proteste. Während der Hauptauslöser für die Pegida-Proteste in der Asylpolitik der Regierung, der mangelnden Kommunikation bei der Unterbringung von Geflüchteten sowie in einer vermeintlichen Überfremdung Deutschlands liegen, resultierte die Unzufriedenheit bei den Querdenker-Protesten hauptsächlich aus den Grundrechtseinschränkungen, die die Corona-Pandemie eindämmen sollten, sowie später aus der vermeintlichen Diskriminierung von Ungeimpften.Auch wenn sich die konkreten Anlässe unterscheiden, ist der Auslöser für die jeweiligen Proteste eine aktuelle Gegebenheit, die aufgegriffen und instrumentalisiert wird. Die Proteste beziehen sich dabei nicht nur auf den konkreten Anlass, sondern lassen sich als allgemeine Unzufriedenheit interpretieren. Was beide Gruppen gemein haben, ist die generelle Ablehnung von Politik und der Vertrauensverlust in Politik und Politiker. Waren es bei den Pegida-Protesten rund 71 Prozent, die angaben, mit politischen Entscheidungen unzufrieden zu sein, nannten bei der Befragung bei einer Querdenken-Kundgebung in Konstanz 88 Prozent der Teilnehmer:innen dies als Grund für die Teilnahme.Hier zeigt sich eine Zunahme der Unzufriedenheit. Dies ist vermutlich auch darauf zurückzuführen, dass die Menschen aufgrund der Corona-Maßnahmen direkter von Regierungsentscheidungen betroffen sind und diese auch das tägliche Leben betreffen. Bei beiden Umfragen zeigt sich besondere eine ablehnende Haltung gegenüber politischen Mandatsträgern, die sich nach Ansicht vieler Befragter zu weit vom einfachen Bürger entfernt haben und nicht mehr im Sinne des Volkes handeln.Bei beiden Protestbewegungen konnte zudem eine ablehnende Haltung gegenüber etablierten Medien beobachtet werden. Dies zeigte sich zum einen in der Verweigerung, mit Medien zusammenzuarbeiten, als auch in verbalen und teilweise handgreiflichen Übergriffen auf Medienvertreter:innen. Sowohl bei Querdenker-Kundgebungen als auch bei Pegida-Demonstrationen hat sich der Begriff 'Lügenpresse', als Ausdruck einer kritischen Haltung gegenüber Medien etabliert. Häufig wird zudem eine tendenziöse, abwertende Berichterstattung von den Protestkundgebungen und ein absichtliches Zurückhalten von vermeintlich wichtiger Informationen für die ablehnende Haltung genannt.Sowohl bei den Protesten der Querdenker-Bewegung gegen die Corona-Politik als auch bei den Pegida-Protesten spielt die Angst vor einer sozioökonomischen Benachteiligung eine wichtige Rolle, wenngleich die Angst unterschiedlich begründet wird. Während dies bei Pegida-Anhängern durch die Zuwanderung von Menschen mit muslimischem Glauben und damit verbundener größerer Konkurrenz um Arbeitsplätze sowie der durch Einwanderung veränderten Verteilung der zur Verfügung stehenden Mittel auf mehr Personen begründet wird, argumentieren Anhänger der Querdenker-Bewegung dahingehend, dass mit den von der Politik getroffenen Maßnahmen, die das öffentliche Leben einschränken, die Lebensgrundlage wegfällt. Auch wenn viele der Teilnehmer:innen angaben, von den Maßnahmen nicht unmittelbar betroffen zu sein, zeigt sich die Angst besonders bei Selbständigen, die aufgrund der Maßnahmen ihrer Berufstätigkeit nicht mehr nachgehen können.Auch hinsichtlich des Glaubens an Verschwörungstheorien gibt es eine Schnittmenge zwischen beiden Protestphänomenen. Zentral ist die Idee einer geheimen Machtelite, die negativen Einfluss auf das Volk nehmen möchte. Bei den Pegida-Protesten wird dieses Narrativ untermauert von dem Glauben an eine "Umvolkung", also dem Austausch der Deutschen durch zugewanderte Flüchtlinge aus dem islamischen Raum. Von der Unterdrückung des Volkes durch die getroffenen Maßnahmen und die vermeintliche Absicht, die Menschen durch die Corona-Impfung zu reduzieren oder zumindest durch das Einpflanzen eines Computerchips unter die Kontrolle einer Machtelite zu bringen, sind zentrale Erzählungen bei Querdenker-Kundgebungen.Auch wenn sich die Protestbewegungen in ihren eigentlichen Auslösern unterscheiden, gibt es die Motive betreffend erstaunlich viele Überschneidungen. Die Einwanderung bzw. der Protest gegen die Corona-Maßnahmen sind in beiden Fällen ein allgemeiner Ausdruck angestauter politischer Unzufriedenheit, der sich im Kontext der konkreten Anlässe entlädt. 3.3 Das rechtsradikale Potential der Protestbewegungen3.3.1 Pegida-ProtesteAuch wenn die Studie von Vorländer, Herold & Schäller vermuten lässt, dass die Pegida-Teilnehmer:innen vorwiegend aus der Mitte der Gesellschaft kommen, stellt dies kein Grund zur Verharmlosung dar (Kokyba 2016, S. 149). Oftmals wird dieser Studie vorgeworfen, das rechtsradikale Potenzial der Protestbewegung zu unterschätzen. Als Hauptgrund wird angeführt, dass eine Vielzahl von Teilnehmenden sich weigern, an wissenschaftlichen Umfragen teilzunehmen, und dass diejenigen, die mit wissenschaftlichen Institutionen sprechen, eher der gemäßigten Mitte zuzuordnen sind und daher das Ergebnis in Richtung gemäßigter Ansichten verzerren.Als Indiz für eine rechtsradikale Gesinnung kann allein die Teilnahme an einer Kundgebung unter dem islamfeindlichen Motto 'Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes' angesehen werden (ebd. S. 152). Auch kann eine solche Gesinnung aus den Rednern und den Inhalten von Reden im Rahmen der Kundgebungen abgeleitet werden.Bei der Kundgebung zum einjährigen Bestehen von Pegida am 19. Oktober 2015 war Akif Pirinçci einer der Hauptredner. Pirinçci, der offen rechtspopulistische und islamfeindliche Positionen vertritt und zudem aufgrund diverser Äußerungen rechtskräftig verurteilt wurde, sprach bei der genannten Veranstaltung unter anderem von der "Moslemmüllhalde" Deutschland und warf Politikern vor, als "Gauleiter gegen das eigene Volk" zu agieren (Spiegel.de 2015). Wegen dieser Äußerungen und auch der Aussage "die KZs sind leider derzeit außer Betrieb" wurde die Rede schließlich nach 25 Minuten abgebrochen und Pirinçci im Anschluss wegen Volksverhetzung zu einer Geldstrafe verurteilt (ebd.).Offiziell grenzt sich Pegida zwar immer wieder von rechtsextremen Positionen ab, die Bewegung mobilisiert jedoch eine rechtspopulistisch rebellierende Bevölkerung, die sich aus der Mitte der Bevölkerung her rekrutiert und den Anspruch erhebt, das Volk zu repräsentieren (Nachtwey 2016, S. 210). Eine Studie von Daphi et al. (2015: S. 22f.) zeigt zudem, dass über 59 Prozent der Pegida-Anhänger bei der Landtagswahl in Sachsen 2014 der AfD ihre Stimme gegeben haben. Somit hat eine Partei, die zwar im Bundestag vertreten ist, aber in Teilen aufgrund von verfassungswidrigen Positionen vom Verfassungsschutz beobachtet wird, eine absolute Mehrheit unter den Pegida-Anhängern erzielen können.Vorländer, Herold & Schäller (2016, S. 116) stellen jedoch auch heraus, dass sich die rechtsradikale und ausländerfeindliche Einstellung der Pegida-Teilnehmer in Dresden nicht wesentlich von Werten in West- bzw. Gesamtdeutschland unterscheiden. Es bleibt festzuhalten, dass die Pegida-Bewegung keine "originär" (Nachtwey 2016, S 1) rechtsextreme Bewegung ist, jedoch das rechtsextreme Potenzial nicht unterschätzt werden darf.3.3.2 Querdenker-ProtesteDer Sonderbericht des nordrhein-westfälischen Innenministeriums bescheinigt der Querdenker-Bewegung, dass einzelne Personen und Bewegungen aus der rechtsextremistischen Szene Einfluss nehmen und die Bewegung für ihre eigene Agenda zu instrumentalisieren versuchen (Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen 2022, S. 34). Zudem wurden bei den Kundgebungen rechtsextremistische Inhalte geteilt, bei gleichzeitigem Bemühen, einen demokratischen und rechtsstaatlichen Anschein zu wahren (Stern 2021, S. 2).Der Bericht bezieht sich dabei auf eine hohe Ablehnung des Rechtsstaates, die sich jedoch laut der Umfrage von Koos (2022, S. 80) nur bedingt bestätigen lässt. 96 Prozent der Teilnehmenden widersprechen zumindest der Aussage, dass eine Diktatur eine möglicherweise bessere Regierungsform sei. Dennoch lässt sich bei den Kundgebungen eine gewisse antisemitische sowie anti-rechtsstaatliche Haltung finden, die sich vor allem in diversen Verschwörungserzählungen ausdrücken. Einer der Protagonisten in Berlin, Attila Hildmann, behauptete beispielsweise am Rande einer Kundgebung, jüdische Familien wollen die "deutsche Rasse auslöschen" (Leber 2020).Der Verfassungsschutz von Nordrhein-Westfalen schätzte im Dezember 2020 zudem, dass rund 10 Prozent der Demonstranten Rechtsextreme oder Reichsbürger sind (Grande, Hutter, Hunger & Kanol 2021, S. 22). Einer Umfrage von Grande et al. (2021, S. 22) zufolge sind 7,5 Prozent der Protestierenden dem rechten Rand zuzuordnen. Zwar ist dies nur eine Minderheit, die jedoch aufgrund ihres Mobilisierungspotentials nicht vernachlässigt werden darf, zumal 40 Prozent der Befragten rechtsextreme Positionen zustimmungsfähig finden (ebd.). Die Umfragen haben zudem gezeigt, dass sich das rechtsextreme Potenzial im Lauf der Zeit verstärkt hat. Vergleicht man die erste Protestwelle mit der zweiten, stieg der Zustimmungswert von knapp über 30 Prozent auf über 40 Prozent (Grande et al. 2021, S. 23).Dieses Potenzial zeigt sich auch, wenn Teilnehmer:innen mit Reichskriegsflaggen die Absetzung der Regierung fordern. Am Rande der Kundgebung in Berlin Ende August 2022 versuchte schließlich eine Gruppe von Corona-Gegnern, den Reichstag zu stürmen und die Regierung zu stürzen (Patenburg, Reichhardt, Sepp 2021, S. 3). Zudem sind häufig Forderungen zu hören, die Verantwortlichen für die Corona-Maßnahmen bei einer Neuauflage der Nürnberger Prozesse zur Rechenschaft zu ziehen (Virchow 2022). Diese und weitere aus der NS-Zeit abgeleitete Semantik ist ein weiteres Indiz für die Nähe von Querdenkern zu rechtsradikalen Positionen.Zu beobachten ist zudem, dass sich immer wieder bekannte Neonazis unter die Demonstranten mischen. Diese nutzen die friedlichen Demonstrationen, um unter dem Deckmantel 'Corona' rechtsradikale Thesen zu verbreiten. Hierbei besteht insbesondere die Gefahr, dass friedliche Menschen aus der Mitte der Gesellschaft für eine rechtsradikale Agenda missbraucht werden. Abschließend kann herausgestellt werden, dass der zunächst friedliche Protest zunehmend von Anhängern rechtsradikaler Bewegungen unterlaufen und zunehmend für rechte Zwecke missbraucht wurde.3.3.3 Gemeinsamkeiten und UnterschiedeSowohl die Pegida-Proteste als auch die Querdenker-Kundgebungen rekrutieren ihre Teilnehmer:innen aus der Mitte der Gesellschaft. Obwohl sie den Anschein einer bürgerlichen Protestbewegung haben, ist ein rechtsextremistisches Potenzial nicht zu unterschätzen. Forschungen zeigen, dass bei beiden Bewegungen eine rechtsradikale Minderheit unter den Teilnehmenden vertreten ist, die die Proteste für eigene Zwecke zu instrumentalisieren versucht. Entsprechend konnte bei beiden Bewegungen eine zunehmende Radikalisierung festgestellt werdenCharakteristisch für beide Bewegungen ist zudem eine allgemeine Ablehnung von Rechtsstaat und politischen Institutionen. Dies zeigt sich auch im Wahlverhalten. Bei beiden Protestphänomenen identifizieren sich nur wenige Teilnehmenden mit einer der etablierten Parteien und gaben an, bei der kommenden Wahl eine 'andere Partei' wählen zu wollen.Unter den im Bundestag vertretenen Parteien kann lediglich die AfD einen nennenswerten Stimmenanteil auf sich vereinen. Auch hierbei zeigt sich das rechtsradikale Potenzial der Proteste. Die AfD ist zwar im Bundestag vertreten, doch werden einzelne Mitglieder und Landesparteien vom Verfassungsschutz beobachtet. Diese Haltung zeigt sich teilweise auch in Verschwörungserzählungen, die oftmals als Rechtfertigung für die Proteste herangezogen werden. Zudem sind bei beiden Protesten nationalistische Symbole wie die Reichskriegsflagge zu beobachten und Reden eindeutig rechter nationalistischer Personen zu hören.Was beide Protestgruppen unterscheidet, ist die ursprüngliche Intention, mit der die Menschen auf die Straße gegangen sind. Während bei Pegida von vorneherein eine eindeutig nationalistische, auch rechtsradikale Positionierung zu erkennen war, war die ursprüngliche Intention der Querdenker-Demonstrierenden gegen die aus ihrer Sicht unsinnigen Corona-Maßnahmen zu demonstrieren. Erst später bildeten sich auch hier nationalistische und rechtsradikale Züge heraus. Hier kann als Höhepunkt dieser Entwicklung der 'Sturm auf den Reichstag' genannt werden. Es beliebt festzuhalten, dass sich bei beiden Protestgruppen legitime Anliegen mit rechtsradikalen Positionen vermischen, was die Proteste so gefährlich macht.4. Zusammenfassung und AusblickIn der hier vorliegenden Arbeit wurden die Querdenker-Proteste in Folge der Corona-Pandemie und die aus dem vermehrten Zuzug islamischer Flüchtlinge resultierenden Pegida-Proteste miteinander verglichen sowie Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufgezeigt. In einem ersten Schritt wurde die Chronologie der Protestbewegungen dargestellt und anschließend hinsichtlich dreier spezifischer Merkmale miteinander verglichen.Im Hinblick auf demografische und sozioökonomische Aspekte sowie dem Wahlverhalten sind sich die Teilnehmenden an beiden Protestphänomenen recht ähnlich. Die im Schnitt 48 Jahre alten Demonstrationsteilnehmer:innen sind zumeist Angestellte oder Arbeiter, wobei der Anteil an Selbständigen recht hoch ist. Politisch fühlt sich eine Mehrheit nicht von den etablierten politischen Parteien ausreichend vertreten und würde daher bei der kommenden Wahl eine 'andere Partei' wählen. Es konnte zudem gezeigt werden, dass bei Pegida- und Querdenker-Protesten die AfD als einzige der im Bundestag vertreten Parteien eine nennenswerte Wählerschaft anspricht.Auch in Bezug auf die Motive zeigte sich eine erhebliche Schnittmenge zwischen Teilnehmer:innen der Pegida- und Querdenker-Demonstrationen. Beide Phänomene nehmen aktuelle politische Entscheidungen als Demonstrationsanlass, die aber lediglich als Katalysator für aufgestaute Wut und Enttäuschungen wirken. Entsprechend wurde gezeigt, dass allgemeine Unzufriedenheit mit Politik, Regierung und Mandatsträgern ein zentrales Motiv für die Proteste ist.Hinzu kommt die Kritik an Medien, tendenziöse Berichterstattung zu betreiben und voreingenommen über die Proteste zu berichten. Zudem würden zentrale Informationen gezielt nicht weitergegeben, um so die Menschen gezielt zu täuschen und wahre Beweggründe politischer Entscheidungen zu verschweigen. Hier zeigte sich auch die Anfälligkeit der Proteste für Verschwörungstheorien, die auch Einfluss auf Wissensbasis und Motive haben.Abschließend wurde das rechtsradikale Potenzial der Bewegungen aufgezeigt. Beide Bewegungen haben sich dabei aus der Mitte der Gesellschaft hin an den rechten Rand bewegt, wobei die Pegida-Kundgebungen von Beginn an eher rechts zu verorten waren. Größtes Problem ist die Instrumentalisierung der Proteste durch rechte Gruppen, die unter dem Deckmantel friedlicher Proteste mit Menschen aus der Mitte der Gesellschaft rechtsradikale Propaganda gesellschaftsfähig machen wollen.Die hier untersuchten Kategorien bilden die beiden Protestphänomene bei weitem nicht vollständig ab. Es ist daher nötig, weitere Vergleiche anzustellen. Beispielsweise wäre es noch interessant zu ermitteln, inwiefern sich die Protestkundgebungen in puncto Wahrnehmung in der Bevölkerung unterscheiden oder inwiefern sich Politik und Regierung mit den Protesten auseinandergesetzt haben. Überdies sollte noch erforscht werden, wie die Teilnehmer:innen das Vertrauen in Politik zurückgewinnen können und was getan werden muss, um bei zukünftigen politischen Krisen ähnliche Protestbewegungen zu verhindern.Abschließend bleibt festzuhalten, dass wir uns zukünftig vermutlich häufiger mit solchen Formen des Protestes auseinandersetzen müssen. Im Zuge der Energiekrise, resultierend aus dem russischen Angriffskrieg und den Sanktionen gegen Russland, haben erste Verbände und Parteien dazu aufgerufen, den Unmut über Regierungsentscheidungen auf die Straße zu tragen und gegen die Regierenden zu demonstrieren. Es bleibt also abzuwarten, ob sich in den kommenden Monaten eine Protestbewegung, ähnlich wie die Pegida- und Querdenker-Proteste, entwickelt.5. LiteraturverzeichnisAntifa Recherche Team Dresden. (2016). Pegida: Entwicklung einer rechten Bewegung. In T. Heim (Hrsg.), Pegida als Spiegel und Projektionsfläche (S. 33-54). Wiesbaden: Springer VS.Bundesministerium für Gesundheit. (06. 08. 2022). Coronavirus-Pandemie: Was geschah wann? Abgerufen am 13.08.2022 von https://www.bundesgesundheitsministerium.de/coronavirus/chronik-coronavirus.htmlBundeststelle für Sektenfragen. (2021). Das Phänomen Verschwörungstheorien in Zeiten der COVID-19-Pandemie. Bericht der Bundesstelle für Sektenfragen an die Bundesministerin für Frauen, Familie, Jugend und Integration .Wien.Frei, N., & Nachtwey, O. (2021). Wer sind die Querdenker_innen? Demokratie im Ausnachmezustand. Wie vrändert die Coronakrise Recht, Politik und Gesellschaft? (Friedrich-Ebert-Stiftung, Hrsg.).Frei, N., Schäfer, R., & Nachtwey, O. (26.06.2021). Die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen: Eine soziologische Annäherung. Forschungsjournal Soziale Bewegungen, S. 249-258.Geiges, L., Marg, S., & Walter, F. (2015). Pegida. Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft? Bielefeld: transcript Verlag.Gensing, P. (09. 30. 2020). Gezielte Gerüchte über Todesfälle durch Maske. Abgerufen am 16.08. 2022 von https://www.tagesschau.de/faktenfinder/corona-kritiker-101.htmlGrande, E., Hutter, S., Hunger, S., & Kanol, E. (2021). Alles Covidioten? Politische Potenziale des Corona-Protests in Deutschland. Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung gGmbH.Holzer, B., Koos, S., Meyer, C., Otto, I., Panreck, I., & Reichardt, S. (2021). Einleitung: Protest in der Pandemie. In S. Reichardt (Hrsg.), Die Misstrauensgemeinschaft der "Querdenker" : Die Corona-Proteste aus kultur- und sozialwissenschaftlicher Perspektive (S. 7-26). Frankfurt: Campus Verlag.Imöhl, S., & Ivanov, A. (12.06.2021). Bundesregierung bestellt 80 Millionen Dosen Omikron-Impfstoff bei Biontech. Die Zusammenfassung der aktuellen Lage seit Ausbruch von Covid-19 im Januar 2020. Abgerufen am 13.08.2022 von https://www.handelsblatt.com/politik/corona-chronik-bundesregierung-bestellt-80-millionen-dosen-omikron-impfstoff-bei-biontech/25584942.htmlJacobsen, L. (23.12.2021). Selbst ihr Weihnachtsmann ist wütend. Abgerufen am 12.08.2022 von https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2014-12/pegida-weihnachten-singen-dresdenKocyba, P. (2016). Wieso Pegida keine Bewegung harmloser, besorgter Bürger ist. In K. Rehberg, F. Kunz, & T. Schlinzig (Hrsg.), PEGIDA - Rechtspopulismus zwischen Fremdenangst und »Wende«-Enttäuschung? (S. 147-164). Bielefeld: transcript Verlag.Koos, S. (2022). Konturen einer hetrerogenen 'Misstrauensgemeinschaft': Die soziale Zusammensetzung der Corona-Prosteste und die Motive der Teilnehmer:innen. In S. Reichardt (Hrsg.), Die Misstrauensgemeinschaft der 'Querdenker'. Bonn: Campus Verlag.Leber, S. (20.06.2020). Attila Hildmann gibt Juden die Schuld – und verteidigt Hitler. Abgerufen am 21.08.2022 von Der Tagesspiegel: https://www.tagesspiegel.de/themen/reportage/antisemitismus-im-netz-attila-hildmann-gibt-juden-die-schuld-und-verteidigt-hitler/25930880.htmlNachtwey, O. (2016). PEGIDA, politische Gelegenheitsstrukturen und der neue Autoritarismus. In K. Rehberg, F. Kunz, & T. Schlinzig (Hrsg.), PEGIDA - Rechtspopulismus zwischen Fremdenangst und »Wende«-Enttäuschung?(S. 299-312). Bielefeld: transcript Verlag.Nachtwey, O., Schäfer, R., & Frei, N. (2022). Politische Soziologie der Corona-Proteste. Von https://doi.org/10.31235/osf.io/zyp3f abgerufen am 21.08.2022Röpke, A. (04.11.2013). Rechter Aufruhr in Schneeberg. Abgerufen am 12.08.2022 von https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/schneeberg-in-sachsen-rechter-protest-gegen-fluechtlinge-a-931711.htmlReichardt, S., Pantenburg, J., & Sepp, B. (2021). Corona-Proteste und das (Gegen-)Wissen sozialer Bewegungen. Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 22-27.Spiegel.de. (20.10.2015). Eklat bei Pegida-Demo :"Die KZs sind ja leider derzeit außer Betrieb". Abgerufen am 22.08.2022 von https://www.spiegel.de/politik/deutschland/akif-pirincci-rede-bei-pegida-in-dresden-abgebrochen-a-1058589.html Stern, Verena (2021): Die Profiteure der Angst? - Rechtspopulismus und die COVID-19-Krise in Europa; Friedrich Ebert Stiftung, online unter https://library.fes.de/pdf-files/dialog/17736-20210512.pdf.Tageschau. (20.10.2019). Protest in Dresden: Menschen demonstrieren gegen "Pegida". Abgerufen am 12.08.2022 von https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-610155.htmlVerfassungsschutz Nordrhein-Westfalen. (2022). Sonderbericht zu Verschwörungsmythen und "Corona- Protestlern" . Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen , Düsseldorf.Virchow, F. (01.03.2022). Querdenken und Verschwörungserzählungen in Zeiten der Pandemie. Abgerufen am 2021.08.2022 von Bundeszentrale für politische Bildung: https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/508468/querdenken-und-verschwoerungserzaehlungen-in-zeiten-der-pandemie/Vorländer, H., Herold, M., & Schäller, S. (2015). Wer geht zu PEGIDA und warum? Eine empirische Untersuchung von PEGIDA Demonstranten in Dresden. Dresden: Zentrum für Verfassungs und Demokratieforschung.Vorländer, H., Herold, M., & Schäller, S. (2016). PEGIDA – eine rechtsextremistische Bewegung? In G. Pickel, & O. Decker (Hrsg.), Extemismus in Sachsen. Eine kritische Bestandsaufnahme. Dresden/Leipzig: Sächsische Landeszentrale für politische Bildung.Zeit Online. (06.02.2016). Pegida-Aktionstag bleibt überschaubar. Abgerufen am 12.08.2022 von https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-02/pegida-aktionstag-europa-fluechtlinge-dresdenFußnoten[1] https://www.abendzeitung-muenchen.de/muenchen/pegida-teilnehmer-beschimpfen-hotel-gaeste-rassistisch-art-354308[2] https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/studie-der-tu-dresden-typischer-pegida-anhaenger-ist-48-maennlich-und-gut-gebildet-li.24398[3] https://www.fr.de/politik/leipzig-querdenker-demonstration-eskalation-angriff-journalisten-gruene-gewalt-verletzte-news-zr-91099309.html[4] https://www.n-tv.de/panorama/40-mutmassliche-Randalierer-bislang-ermittelt-article22295508.html[5] Quelle: Demonstrationskalender der Polizei Berlin, abzurufen unter: https://www.berlin.de/polizei/service/versammlungsbehoerde/versammlungen-aufzuege/ (abgerufen am 13.08.2022)[6] Vgl. Mikrozensus 2013. https://www.destatis.de/DE/Themen/Querschnitt/Jahrbuch/statistisches-jahrbuch-2018-dl.pdf?__blob=publicationFile (zu beachten ist, dass die Daten aufgrund der zeitlichen Verschiebung nur eingeschränkt miteinander verglichen werden können, dennoch Tendenzen davon abgeleitet werden können.[7] Die Werte in Klammern beziehen sich auf die Studie von Nachtwey, Schäfer, & Frei 2022[8] Stimmanteil der AfD bei der Landtagswahl in Sachsen am 01. September 2019. Quelle:https://wahlen.sachsen.de/landtagswahl-2019-wahlergebnisse.php (angerufen am 14.08.2022)[9] Stimmanteil der AfD bei der Landtagswahl in Thüringen am 27. Oktober 2019 Quelle: https://www.wahlen.thueringen.de/datenbank/wahl1/wahl.asp?wahlart=LW&wJahr=2019&zeigeErg=Land (angerufen am 14.08.2022)[10] Stimmanteil der AfD bei der Landtagswahl Baden-Württemberg am 14. März 2021. Quelle: https://www.statistik-bw.de/Wahlen/Landtag/02035000.tab?R=LA (angerufen am 14.08.2022)[11] Die mehr als 100 Prozent sind auf Mehrfachnennungen der Befragten zurückzuführen.
"Deutschlands wirtschaftliches und politisches Gewicht verpflichtet uns, im Verbund mit unseren europäischen und transatlantischen Partnern Verantwortung für die Sicherheit Europas zu übernehmen, um gemeinsam Menschenrechte, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Völkerrecht zu verteidigen" (Angela Merkel: Bundesministerium der Verteidigung 2016, S. 6) Obwohl Angela Merkel nicht mehr Bundeskanzlerin ist, sind die Leitlinien, die im Weißbuch 2016 für die Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands festgelegt wurden, weiterhin elementar – oder nicht? Aber wie lässt sich ihre Aussage im Jahr 2022 verorten? Zeigt Deutschland Verantwortung für die EU, transnationale Partnerschaften und Völkerrecht? In diesem Beitrag soll das Verhältnis zwischen Deutschland und den Vereinten Nationen (VN) in den Blick genommen werden: Mit dem Wegfall des West-Ost-Konflikts, der Dekolonialisierung, dem Beitritt weiterer Staaten und der Veränderung des Krieges hin zu "Neuen Kriegen" (Hippler 2009, S. 3-8) ergeben sich neue Handlungsfelder und Herausforderungen, die die Vereinten Nationen in den Blick nehmen müssen.Je nach Ansicht fällt der größten Weltorganisation eine mehr oder weniger bedeutende Rolle in der internationalen Politik zu (vgl. Gareis & Varwick 2014, S. 295). Allerdings sind maßgeblich die Mitgliedsstaaten für das Gelingen der Vereinten Nationen und für die notwendigen Reformen zuständig, da sie als "klassische intergouvernementale Organisation" (ebd., S. 295) bezeichnet werden können.Die Forschungsfrage lautet daher, wie sich die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik international, im Rahmen der VN, verortet. Die deutsche Politik formuliert hierfür Ziele, die noch genauer zu untersuchen sind. Als eine Maßnahme, um die Zielerreichung zu gewährleisten, kann der MINUSMA-Einsatz in Mali angesehen werden, unter deutscher Beteiligung und von den Vereinten Nationen geführt. Es wird herausgearbeitet, inwiefern die deutsche Partizipation als Erfolg angesehen werden kann. Hierfür wird zuerst der theoretische Rahmen der Internationalen Beziehungen - der Grundzustand der Anarchie - erklärt und weitere Prämissen der VN, des VN-Peacekeepings, der historischen Rahmung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Einsatz selbst beschrieben, um am Ende zu einer elaborierten Aussage kommen zu können. 1. Theoretische Rahmung – Grundzustand AnarchieGareis und Varwick (2014, S. 67) konstatieren einen allgemeinen Anforderungswunsch an die VN, die eine 'Lücke' in der Ordnung der Internationalen Beziehungen füllen sollen. Aber von welcher 'Lücke' wird hier gesprochen? In der Politikwissenschaft gibt es verschiedene Ansätze, um die Beziehungen zwischen Staaten und das Wirken von internationalen Organisationen zu beschreiben. Die Prämisse bildet der Grundzustand von Anarchie, der wie folgt definiert werden kann: "Unter Anarchie wird in diesem Zusammenhang die für Kooperationschancen folgenreiche Struktur der Herrschaftslosigkeit bzw. der Nichtexistenz einer den Staaten übergeordneten, zentralen Autorität mit Handlungskompetenz verstanden" (Gareis & Varwick 2014, S. 67) Es gibt verschiedene Denkschulen, die den Grundzustand unterschiedlich gewichten und bewerten (vgl. Schimmelfennig, S. 63ff). Darunter sind zum Beispiel der Realismus, der Idealismus, der Institutionalismus und der Konstruktivismus zu nennen (vgl. Gareis & Varwick 2014, S. 71). Um das Verhältnis zwischen den VN und Deutschland erklären zu können, ist es hilfreich, zu überlegen, an welcher Denkschule sich die Sicherheits- und Außenpolitik Deutschlands (schwerpunkt- und situationsbezogen) orientiert. Die Ansätze sind in ihrer Gesamtheit in diesem Beitrag nicht zu würdigen, daher werden einzelne Hauptdifferenzen geklärt, um für die Beantwortung der Forschungsfrage eine Richtlinie geben zu können. Die Beschreibung erfolgt idealtypisch: Im Realismus ist der Grundzustand besonders präsent und hauptsächlich staatliche Akteure sind für die Internationalen Beziehungen verantwortlich. Die Staaten haben ein starkes Eigeninteresse, das sich aus der Unsicherheit des Grundzustandes speist, und handeln nach eigenen Machterhaltungsvorstellungen. "In dieser Sichtweise erfüllen internationale Organisationen lediglich aus der Souveränität und den Interessen ihrer Mitglieder abgeleitete Funktionen" (ebd., S. 68). Damit wären Handlungsfelder und Möglichkeiten eng an die Vorgaben der Staaten gekoppelt. Frieden wird als Sicherheit-Erhalten verstanden und bedeutet, dass die Nationalstaaten durch Machtsicherung ihre Souveränität gewährleisten können. (vgl. ebd., S. 68 & 71) Im Idealismus soll der anarchische Grundzustand durch "Kooperationsformen" (ebd., S. 68) geregelt werden. Die Friedenssicherung läuft über einen stetigen Prozess über eine "universelle Gemeinschaft" (ebd., S. 69), die für alle Vorteile bringen kann. Damit wäre das Ziel, Konflikte nicht mehr mit Gewalt lösen zu müssen, anders als im Realismus, wo Krieg als natürliche Form besteht, durch die normative Regelung des Grundzustandes möglich. Internationale Organisationen können mit ihren Regelungen die Realisierung von Frieden darstellen. Damit sind nicht nur Staaten als Akteure zu sehen und statt Machterhaltungsvorgaben ist das Handeln auf ein Gemeinwohl konzentriert. (vgl. ebd., S. 69 & 71) In der Tradition des Institutionalismus sind internationale Kooperationen deutlich wahrscheinlicher als im Realismus. Außerdem ist ihr Einfluss auf Staaten bedeutend höher einzuschätzen. Demnach helfen sie zum Beispiel, Informationen über andere Staaten zu sammeln und können so beim Aufbau von Vertrauen mitwirken. (vgl. ebd., S. 69f) Die "Interdependenz" (Schimmelfennig 2010, S. 93) zwischen den Staaten wird als hoch angesehen und bedarf internationaler Regelwerke, die die Kooperationsmöglichkeiten regulieren. In diesem Sinne sind Staaten an friedlichen Lösungen interessiert und halten Krieg für nicht gewinnbringend bzw. sehen Machtkonzentration als weniger produktiv an als das Streben nach Gewinnen. Dadurch ist der Grundzustand der Anarchie zwar nicht auflösbar, allerdings soll im Laufe der Zeit eine Zivilisierung stattfinden. (vgl. ebd., S. 90) Der Konstruktivismus sieht den Grundzustand der Anarchie nicht als gegeben, sondern als eine Konstruktion von Wirklichkeit an. Dadurch ist es möglich, diesen Zustand zu verändern / aufzuheben. Damit sind die Akteure selbst für den Grundzustand verantwortlich. (vgl. Gareis & Varwick 2014, S. 70) Damit lautet eine Kernhypothese des Konstruktivismus: "Je größer die Übereinstimmung der Ideen von internationalen Akteuren und je stärker damit Gemeinschaft zwischen ihnen ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit von Frieden und internationaler Kooperation" (Schimmelfennig 2010, S. 185) Es wären bspw. Staaten gemeint, die eine freundschaftliche Beziehung pflegen und unabhängig von Machtkonzentration Vertrauen aufbauen. (vgl. ebd., S. 184f) In den Denkschulen sind relativ konkrete Vorstellungen gegeben, wie eine internationale Organisation Einfluss und Machtkonzentration entwickeln kann oder sollte oder bereits beinhaltet. Die Vereinten Nationen können auf einen Blick als größte Organisation im internationalen Spektrum angesehen werden, denn sie haben aktuell 193 Mitgliedsstaaten (Stand 2022) (vgl. Die Vereinten Nationen im Überblick: Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e. V., o. J.).2. Die Vereinten Nationen Bevor über die VN auf manche Aspekte schwerpunktmäßig eingegangen werden kann, ist knapp zu klären, was eine internationale Organisation wie die VN darstellt. Hierbei orientiert sich dieser Beitrag an Gareis und Varwicks (2014, S. 295) Konstruktion von einer "klassische[n] intergouvernementale[n] Organisation", deren Reformfähigkeit und Erfolge maßgeblich von den Mitgliedsstaaten abhängen – also auch von Deutschland. Es werden prinzipiell keine Souveränitätsrechte an die Organisation abgegeben, mit der Ausnahme, dass der Sicherheitsrat Zwangsmaßnahmen zur Friedenswahrung durchsetzen kann (vgl. ebd., S. 72).2.1 Grundlegende Kennzeichen der Vereinten Nationen Die Grundlagen der Vereinten Nationen können an zwei Hauptfaktoren exemplarisch aufgezeigt werden: Erstens ist der Friedensbegriff nicht nur als Abwesenheit von Krieg definiert, er schließt vielmehr das Wohlergehen der Menschen in den Staaten ein und geht somit über das Nationalstaats-Denken hinaus (positiver Friedensbegriff). Das zweite Konzept ist das System kollektiver Sicherheit, dadurch soll der erhöhte Druck, von allen Staaten bei einer Aggression automatisch angegriffen oder anderweitig verurteilt zu werden, die Friedensbedrohung reduzieren. (vgl. Gareis & Varwick 2014, S. 19-22 & 87-92) Dass das System der kollektiven Sicherheit nicht bedingt greift oder einigen Herausforderungen unterworfen ist, liegt bspw. an den neuen Kriegsformen (vgl. Hippler 2009, S. 3f). Gleichzeitig kann die aktuelle Invasion Russlands in die Ukraine (vgl. u.a. Russlands Angriff auf die Ukraine: Beckmann 2022) herangezogen werden, dass die Mechanismen bspw. für Supermächte weitere Schwierigkeiten in der Praxis aufzeigen (vgl. Gareis & Varwick 2014, S. 89f). 2.2 Generalversammlung und Sicherheitsrat – wichtigste Gremien der VN Die Vereinten Nationen sind mittlerweile zu einer undurchsichtigen Ansammlung an offiziellen und inoffiziellen Strukturen geworden und sind unter dem Begriff VN-System sehr weit zu fassen (vgl. Gareis & Varwick 2014, S. 21f). Allerdings sind nach wie vor zwei von sechs Hauptorganen hervorzuheben:In der Generalversammlung (GV) sitzen alle Mitgliedsstaaten und sind nach dem Prinzip der Gleichberechtigung mit jeweils einer Stimme ausgestattet. Hauptcharakteristikum ist, dass die Generalversammlung ein Forum für Gespräche bietet und somit als größtes Austauschforum auf der Welt bezeichnet werden kann. In sechs Hauptausschüssen vollzieht sich die meiste Arbeit der Generalversammlung, auf die hier nicht weiter eingegangen werden soll. Entscheidend ist der Unterschied zum Sicherheitsrat: Die GV hat keinen Sanktionskoffer parat und kann lediglich Empfehlungen aussprechen. (vgl. ebd., S. 45-47) Der Sicherheitsrat besteht aktuell aus 15 Mitgliedsstaaten, wobei zwischen ständigen und nichtständigen Mitgliedern differenziert werden muss. Die ständigen Mitglieder sind die sogenannten 'Big Five' und setzen sich aus Frankreich, Großbritannien, USA, Russland und China zusammen. Sie werden nicht wie die nichtständigen Mitgliedsstaaten von der Generalversammlung im Zwei-Jahres-Zyklus gewählt.Verkürzt dargestellt nimmt der Sicherheitsrat Aufgaben wie Friedensmissionen, Ausschüssen o. Ä. wahr. Die ständigen Mitgliedsstaaten haben historisch bedingt ein Veto-Recht, das eine große Rolle spielt und mehrfach zur Lähmung des SR führte. Der Sicherheitsrat ist das mächtigste Hauptorgan der Vereinten Nationen und ist berechtigt, zur Friedenssicherung weitreichende Sanktionen und militärische Maßnahmen zu ergreifen. (vgl. ebd., S. 47-49) 2.3 Das VN-Peacekeeping aus historischer Perspektive Die Geschichte der VN ist überaus vielschichtig und kann hier nur in den Grundzügen wiedergegeben werden. Im Jahr 1945 wurde die Charta von 51 Staaten unterzeichnet. In den ersten Jahren ihrer Arbeit (1945-1954) mussten organisatorische und strukturelle Systeme aufgebaut werden, die im West-Ost-Konflikt zugleich erste Einschränkungen erfuhren. Die erste große Herausforderung des kollektiven Sicherheitssystems betraf den Korea-Krieg: Nordkorea fiel 1950 in Südkorea ein und der Sicherheitsrat wurde durch Russland blockiert. Daraufhin entstand in der Generalversammlung die Uniting for Peace-Resolution, die Empfehlungen und militärische Interventionen beinhaltete, sollte der SR seiner Aufgabe, den Weltfrieden zu sichern, nicht nachkommen. Die erste inoffizielle Blauhelmmission stellt die UNTSO-Mission dar, die die Überwachung eines Waffenstillstandes 1948 zwischen Israel und arabischen Staaten beinhaltete. (vgl. ebd., S. 27-30 & 127) In den darauffolgenden 19 Jahren (1955-1974) verschob sich das Mächtegleichgewicht maßgeblich durch die Dekolonisation und die Entstehung unabhängiger Staaten im Süden. Hervorzuheben ist die Suez-Krise, in der der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser 1956 den Suez-Kanal verstaatlichte. Großbritannien, Israel und Frankreich gingen ungeachtet der Ablehnung des SR militärisch dagegen vor, verhinderten gleichzeitig mit ihren Vetos eine Deeskalation der Lage. Auf Grundlage der Uniting for Peace-Resolution wurde wieder versucht, den Konflikt auszusetzen und einen Waffenstillstand einzufordern. Die GV beschloss daraufhin die Etablierung der United Nations Emergency Force (UNEF I), um zwischen den Konfliktparteien eine neutrale Zone aufzubauen. Die Blauhelme nahmen hier ein erweitertes Aufgabenspektrum wahr und erhielten bspw. Kontrolle über Hoheitsgebiet. "Damit wurde das wohl bedeutendste Friedenssicherungsinstrument der Vereinten Nationen, die Blauhelmeinsätze, ins Leben gerufen" (ebd., S. 31). (vgl. ebd., S. 27-30 & 128) Im "Nord-Süd-Konflikt (1975-1984)" (ebd., S. 32) versuchten die VN weiterhin, in einigen Konflikten aktiv mit Blauhelmeinsätzen zu vermitteln und zeigten sich angesichts der Invasion der Sowjetunion in Afghanistan (1979) als handlungsunfähig. (vgl. ebd., S. 32f) Die letzte Phase reicht bis heute und beginnt ab dem Jahr 1985. Die Annäherung der beiden Großmächte USA und Sowjetunion und der Zerfall der Sowjetunion ergab Handlungsspielraum im SR. Allerdings entzündete sich auch eine Reihe an neuen Konfliktherden: "Innerhalb von rund 25 Jahren stieg die Zahl der Friedensmissionen von 14 auf nunmehr 68" (ebd., S. 33). Nötige Reformen rückten zuletzt durch den USA geführten Irakkrieg und die Terroranschläge am 11. September vermehrt in den Fokus. (vgl. ebd., S. 33-35) 2.4 Typologisierung und Reformansätze Wie in der historischen Rahmung aufgezeigt, entstand das Peacekeeping, weil das kollektive Sicherheitssystem nicht funktionsfähig war. Die Blauhelmeinsätze sind praxisnahe Formen zur Sicherung des Friedens, die sich zwischen dem Souveränitätsanspruch und den Zielen der VN bewegen. Die Ausgestaltung der Friedensmissionen sind vielfältig: Die VN typologisieren die Einsätze in vier Generationen:In der ersten Generation sind Einsätze hauptsächlich "zur Beobachtung und Überwachung von bereits beschlossenen Friedens- bzw. Waffenstillstandsabkommen […]" (Gareis & Varwick 2014, S. 126) gemeint. Missionen der zweiten Generationen sind durch "ein erweitertes Aufgabenspektrum" (ebd.) ausgezeichnet und meinen Einsätze nach 1988. In der dritten Generation liegt der Fokus nicht nur auf Friedenserhaltung sondern auch auf dessen Erzwingung. Zum Schluss kommen in der vierten Generation nicht-militärische administrative Funktionen hinzu.Jede Generation erforderte Anpassungen und ein mühsames Lernen, sodass die Bilanz des VN-Peacekeeping sehr gemischt ausfällt. Neuere Bestrebungen zielen daher darauf ab, aus den vergangenen Fehlern zu lernen. Zum Beispiel soll das Peacekeeping nur noch mit realistischem Mandat stattfinden und die individuelle, komplexe Konfliktsituation angemessen darstellen. Außerdem ist zu gewährleisten, dass die Blauhelme gut ausgerüstet sind und unter den Aspekten eines robusten Mandats alle neuen Perspektiven der Friedenssicherung wahrnehmen können. Diese beinhalten vereinfacht dargestellt die Konfliktvermeidung, das Konfliktmanagement und die Konfliktnachsorge. (vgl. ebd., S. 124-151) Nachfolgend ist zu klären, inwiefern sich der MINUSMA-Einsatz darin einfügt und welche Rolle Deutschland in dem Entwicklungsprozess des VN-Peacekeeping und des Einsatzes spielt.3. United Nations Multidimensional Integrated Stabilization Mission in Mali (MINUSMA) Der MINUSMA-Einsatz der Vereinten Nationen ist als Peacekeeping-Mission der vierten Generation zu charakterisieren. 3.1 Strukturelle Rahmung des MINUSMA-Einsatzes Das Departement of Peacekeeping Operations (DPKO) ist für die Umsetzung und Planung der Blauhelmmissionen verantwortlich. Mit Stand 2022 sind insgesamt 15 Einsätze zu verzeichnen (DPKO: Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V., o. J.). Die Mission in Mali gehört zu den jüngsten Einsätzen und begann im April 2013 (vgl. Gareis & Varwick 2014, S. 141).Sie gründet sich auf die Resolution 2100 (vgl. Security Council Establishes Peacekeeping Force for Mali Effective 1 July: United Nations 2013) vom 25. April und die Resolution 2164 (vgl. Security Council: United Nations 2014) des Sicherheitsrates und hat multidimensional den Schutz der Zivilisten, die Gewährleistung der Menschenrechte, die Etablierung einer Staatsmacht, die Stabilisierung der Region durch den Aufbau eines Sicherheitsapparates und die Aufrechterhaltung der politischen Dialogfähigkeit und Konsultation als Aufgabe formuliert (vgl. MINUSMA Fact Sheet: United Nations 2022).Damit stehen auch militärische Interventionen zur Verfügung und es kann von einem robusten Mandat gesprochen werden, das lediglich als Ausnahme die aktive Terroristenbekämpfung ausschließt (vgl. Mali: Konopka 2022). Stand November 2021 befinden sich insgesamt 18.108 Menschen im Einsatz und davon sind 13.289 dem militärischen Personal zuzuordnen (vgl. MINUSMA Fact Sheet: United Nations 2022). Dazu kommen zivile Einsatzkräfte und bspw. Polizeiausbildende (vgl. ebd.).Die größten teilnehmenden Länder mit militärischem Personal sind mit 1440 Chad, mit 1119 Bangladesch, Ägypten mit 1072 und auf Platz 10 folgt Deutschland mit 531 Angehörigen (vgl. ebd.). Die Verluste an Menschenleben werden bisher auf 260 (Stand 2021) beziffert (vgl. ebd.). Die Finanzierung wird über die Generalversammlung jährlich geregelt und betrug zwischen 2021 und 2022 1.262.194.200 Dollar (vgl. ebd.).Neuere Zahlen der Bundeswehr (Stand Februar 2022) geben an, dass Deutschland mit über tausend Soldatinnen und Soldaten in Mali im Einsatz ist (vgl. Personalzahlen der Bundeswehr: Bundeswehr 2022). Die Zahl stellt sich als irreführend heraus, weil die Bundeswehr alle Beteiligten zusammenzählt, auch die, die bspw. in Nachbarländern an Schlüsselstellen der Infrastruktur beschäftigt sind (vgl. Mali: Konopka 2022).Die aktuelle Resolution der VN (2584) trat am 29. Juni 2021 in Kraft und ist bis zum 30. Juni 2022 gültig (vgl. Mali – MINUSMA: Bundeswehr 2022). Durch das Ablaufen des Mandats in diesem Jahr ist die Forschungsfrage darauffolgend auszuweiten, inwiefern Deutschland sich weiterhin an der Mission beteiligen wird. Zuerst sollte aber kurz auf die Situation Malis eingegangen werden, um zu klären, warum Deutschland und viele weitere Staaten überhaupt intervenieren. 3.2 Mali – eine von Gewalt geplagte Region Die gesamte Komplexität dieser Krisenregion kann hier nicht dargestellt werden. Allerdings sind einige Aspekte zu nennen, um die Verortung und die Herausforderungen des Peacekeepings zu verdeutlichen. In Nordmali begann 2012, um die politische Unabhängigkeit zu gewährleisten, ein gewaltsames Vorgehen gegen die malische Regierung. Als fragiles Bündnis kamen dschihadistische Kämpfende hinzu, die jedoch nach den ersten Eroberungen der nordmalischen Städte 2013 die Oberhand gewannen.Der Süden Malis war ebenfalls von einem Militärputsch geschwächt und die malische Regierung bat um internationale Hilfe. Frankreich folgte der Bitte und eröffnete die Operation Serval. Afrikanische Länder griffen unter der Mission AFISMA ein. Den alliierten Kräften gelang schnell die Rückeroberung der Städte im Norden. Allerdings ging daraus eine asymmetrische Kriegsführung hervor, die die vom Sicherheitsrat legitimierten Einsatztruppen besonders in den Fokus der Attacken der Dschihadisten stellt.Ein Friedensvertrag von 2015 umfasste bspw. nicht alle Konfliktparteien. Im Allgemeinen ist eine Verschlechterung der Gesamtsituation zu verzeichnen, da Dschihadisten mittlerweile versuchen, auch die Nachbarländer Niger und Burkina Faso zu destabilisieren und sich die Gewalt besonders um Zivilisten zentriert. (vgl. Mali: Konopka 2022) Im Zentrum dieses Kapitels soll die asymmetrische Kriegsführung, auch unter dem Aspekt der 'Neuen Kriege' bekannt, und somit die problematische Lage der Mission im Mittelpunkt stehen. Die Kernfrage ist bereits auf das weitere Engagement Deutschlands ausgeweitet worden und ist realitätsnah zu prüfen: In Afghanistan gelang keine Stabilisierung eines afghanischen Staates. Hier kam nach jahrzehntelangen erfolglosen Gefechten die Terrorgruppe Taliban 2021 an die Macht, als allen voran die USA den Rückzug aus der Krisenregion vollzogen (vgl. Nach 20 Jahren: bpb 2021). 4. Die deutsche Außenpolitik – Schwerpunktsetzung VN Die deutsche Sicherheits- und Außenpolitik ist sehr komplex und selbst ein kursorischer Überblick kann hier nicht geleistet werden. Durch die Darstellung diverser Aspekte ist jedoch eine Verortung möglich. 4.1 Historische Perspektive der deutschen Sicherheits- und Außenpolitik Deutschland blickt auf eine bewegte Geschichte zurück. Ab 1945 wurde die Bundesrepublik enormen Veränderungen durch die Besatzungsmächte unterworfen. Während die DDR unter der UdSSR keine wirklich eigene Außenpolitik entwickelte, gelang es Westdeutschland allmählich, politische Spielräume zurückzugewinnen und eigene Ziele zu vertreten (vgl. Gareis 2021, S. 57). In der Zeit vor der Wiedervereinigung sind einige "konstante Handlungsmuster" (ebd., S. 58) zu erkennen, die bis heute ihre Wichtigkeit beibehalten haben. Darunter sind besonders vier Punkte zu nennen:"die Westintegration, durch welche die Bundesrepublik ihren Platz in den europäischen und transatlantischen Strukturen fand und einnahm die Entspannungs- und Ostpolitik, durch die sie ihre friedens- und stabilitätspolitische Handlungsspielräume erweitern konnte die Offenheit für einen breit angelegten, globalen Multilateralismus mit dem Ziel einer verlässlichen rechtlichen Verregelung und Institutionalisierung des Internationalen Systems die selbstgewählte Kultur der Zurückhaltung in machtpolitischen, insbesondere militärischen Angelegenheiten" (ebd., S. 58) Hervorzuheben sind die anfänglichen Bemühungen der deutschen Außenpolitik, um Frankreich von ihrer skeptischen Sichtweise auf die Wiederbewaffnung und Wiederaufnahme der deutschen Souveränität nach dem Zweiten Weltkrieg abzubringen. Die Bemühungen mündeten bspw. 1963 im Élysée-Vertrag, der die enge Partnerschaft merklich vorantrieb und als "deutlicher […] Motor der europäischen Integration" (ebd., S. 65) zu sehen ist.Eine Verankerung in Internationale Beziehungen vollzog sich somit bereits früh mit den Bemühungen Deutschlands, sich in Europa und in die NATO zu integrieren. In den Zeiten vor der Wiedervereinigung konnte Deutschland dennoch nicht gänzlich zu seinem Selbstvertretungsanspruch finden. Die Integration in internationale Organisationen, die die Machtkonzentration des teilnehmenden Landes einschränken können, wurde zwar innenpolitisch heftig diskutiert, kollidierte jedoch mit realen Erweiterungen der Souveränitätsansprüche Deutschlands und formte somit die Erfahrung dieser Ordnungen.Der Multilateralismus ist eine logische Konstante, weil der Wunsch nach Regeln im Internationalen System die eigene Sicherheit erhöhen soll und im Falle Deutschlands auch politische Freiheiten bedeutete. Das Engagement kann als ernsthaft beschrieben werden, weil die Bemühungen auch mit der Erreichung der eigenen Staatssouveränität bspw. in den Vereinten Nationen und dem europäischen Einigungsprozess nicht nachließ – im Gegenteil intensiviert stattfindet. (vgl. ebd., S. 57f & 61-65 & 70f) 4.2 Deutschlands Außen- und Sicherheitspolitik im 21. Jahrhundert - Verortung Im 21. Jahrhundert sind eine neue Vielzahl an nicht-staatlichen Akteuren, weitere Unwägbarkeiten und multidimensionale Problemfelder mit einer höheren Unsicherheit im Internationalen System verbunden, die die Zuverlässigkeit von internationalen Partnern einschränkt. Diese Problematik wird bspw. u. a. durch das Erstarken des Rechtspopulismus, dem Rückgang liberal-demokratischer Regierungen seit 2005, der neuen Risikobewertung und Qualität des transnationalen Terrorismus begründet. (vgl. Gareis 2021, S. 89f) Als aktuelle Referenz kann das Weißbuch 2016 die Sicherheitsinteressen Deutschlands aufzeigen. Darin sind, bedingt bspw. durch die russische Aggression gegenüber der Ukraine, wieder vermehrt nationale Interessen vertreten, die den Schutz der Bürger*innen und die Integrität der Souveränität Deutschlands ins Blickfeld nehmen. Allerdings sind auch internationale Bestrebungen zur vertiefenden Weiterarbeit in der Entwicklungspolitik, dem Völkerrecht und der partnerschaftlichen Zusammenarbeit in allen wichtigen Internationalen Organisationen wie NATO, EU und VN zu nennen. (vgl. Gareis 2021, S. 105)4.2 Deutschland und die Vereinten Nationen Ein ernsthafter Beitrag zur strategischen (Neu-)Kalibrierung der Sicherheits- und Außenpolitik, die in ihren anfänglichen vier Konstanten (s.o.) auch Diskontinuitäten erfuhr, ist die Münchner Sicherheitskonferenz im Jahr 2014 hervorzuheben, in der das Engagement für internationale Organisationsformen, die einen supranationalen Ordnungsrahmen darstellen können - wie die EU, NATO und VN - verstärkt in den Mittelpunkt gestellt worden. Die Konstante der 'Zurückhaltung' bricht also weiter auf und zeigt das "Leitmotiv der aktiven Übernahme größerer Verantwortung für Frieden und Internationale Sicherheit in einem umfassenden Ansatz […]" (Gareis 2021, S. 92) auf. (vgl. ebd., S. 91f) Für Deutschland stellen die Vereinten Nationen das Höchstmaß für Multilateralismus und Institutionalismus dar. Bestrebungen in den VN waren von der Gründung an ein wichtiges Anliegen der Bundesrepublik, um auf die internationale Bühne zurückkehren zu können. Insgesamt kann das Engagement Deutschlands in den VN als hoch angesehen werden: Aktuell ist Deutschland der viertgrößte Beitragszahler, unterhält über 30 VN-Organe im Land und ist um einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat bemüht und mindestens durch die häufige Wiederwahl (zuletzt 2019/20 – damit zum sechsten Mal) und eindeutigen Wahlergebnissen um einen nichtständigen Sitz als international anerkannt zu bezeichnen. Das Interesse beider Akteure ist als interdependent zu bezeichnen: Die VN brauchen in diesen schwierigen Zeiten einflussreiche Staaten und Deutschland hingegen internationale Kooperationsmöglichkeiten in vielfältigen Ressorts. (vgl. ebd., S. 193f) Deutschland beteiligte sich gleich nach der Wiedervereinigung an VN-Peacekeeping-Einsätzen – allerdings mit unbewaffneten Zivilkräften. Anfang des 21. Jahrhunderts stellte Deutschland nicht nur zivile sondern auch militärische Einheiten zur Verfügung. Das Engagement kann in ihren Anfängen als bescheiden beschrieben werden. Insgesamt bevorzugt Deutschland vom VN-mandatierte Einsätze, die anschließend von der EU oder NATO ausgeführt werden. Der MINUSMA-Einsatz ist somit eine Ausnahme und der zweitgrößte Auslandseinsatz der Bundeswehr. Der afrikanische Raum ist aufgrund seiner Fluchtbewegungen zu einem wichtigen sicherheitspolitischen Raum geworden. (vgl. ebd., S. 203f) Allerdings sind die Gründe für den Einsatz in Mali weiter auszuführen, da die Argumentation möglicher Fluchtbewegungen Lücken aufweist. (vgl. Mali: Konopka 2020) 5. Deutschland und der MINUSMA-Einsatz In den vorherigen Kapiteln sind die Bezüge der deutschen Sicherheits- und Außenpolitik zu den Vereinten Nationen bereits angeschnitten worden. Als Nächstes ist der MINUSMA-Einsatz aus einer politischen Perspektive unter Einbezug der Ziele Deutschlands zu charakterisieren und ein Ausblick auf das Ergebnis dieser Intervention zu geben. Die Bewertung des Einsatzes ist entscheidend, um den deutschen Einsatz nachzuvollziehen. 5.1 Motive für die Beteiligung am MINUSMA-Einsatz Die Intervention und Beteiligung Deutschlands am MINUSMA-Einsatz scheint sich nicht auf die Bekämpfung von Fluchtursachen zu beschränken (vgl. Mali: Konopka 2020 & Kaim 2021, S. 31). Weitere Motive sind aus Kapitel 4 abzuleiten und könnten, kombiniert aus dem Wunsch humanitäre Hilfe leisten zu wollen und die Position der Vereinten Nationen - und sich selbst im Internationalen System und den Multilateralismus - zu stärken, eine Begründungslage bieten. Sie wirkt jedoch unpräzise und bedarf genauerer Beschreibungen: Wie bereits beschrieben, ist Frankreich bereits 2013 dem Hilfegesuch der malischen Regierung gefolgt und musste anhand der realen Bedingungen ihre Ziele anpassen: Deutschland sollte dem engen Bündnis- und EU-Partner unter die Arme greifen. Die Bundesregierung gab zunächst lediglich unbewaffneten Kapazitäten Platz, ehe das Mandat langsam auf aktuell 1100 Soldat*innen aufgestockt wurde.Deutschland schien dabei die Vertiefung der Kooperation von EU-Staaten wie Frankreich und den Niederlanden als geeignete Gelegenheit. Ebenfalls ließ der Friedensvertrag auf weitere Stabilität im Land hoffen. Außerhalb der Bemühungen um die Partnerschaft ist für den Autor Konopka die Bewerbung Deutschlands für den nichtständigen Sitz im Sicherheitsrat (2019/20) ausschlaggebend gewesen.Die anfängliche Konzentration auf die europäische Mission EUTM Mali ging mit einer deutlichen Ausweitung auf die VN-Peacekeeping-Mission über. Außerdem, so der Autor, wäre Deutschland in der Bringschuld gegenüber den Teilnehmenden gewesen, da die Bundesrepublik in weiteren Missionen kaum bis gar keine Präsenz vorzuweisen hatte (bspw. EUMAM RCA oder EUTM RCA). (vgl. Mali: Konopka 2020) Kaim (2021) von der Stiftung Wissenschaft und Politik spricht von einem typischen Muster der deutschen Auslandseinsatzbereitschaft, erst durch Bündnisanfragen Einsatzkräfte zu mobilisieren. Aus dieser Sicht ist primär der Versuch, einen "europäischen Fußabdruck" (ebd., S. 12) im internationalen System zu hinterlassen, anzusehen. Allerdings wird auch hervorgehoben, wie die Bewerbung um den nichtständigen Sitz im Sicherheitsrat eine Intensivierung der deutschen Sicherheits- und Außenpolitik in den VN und besonders im afrikanischen Raum beinhaltete. (vgl. ebd., S. 12-20) Dadurch sind sechs Hauptmotive auszumachen, davon greifen manche weniger als andere: 1. Die Bündnistreue zu Frankreich 2. Die Ausgangslage durch die Münchner Sicherheitskonferenz (2014) 3. Das erweiterte Engagement Deutschlands in den VN 4. Der Versuch, eine europäische Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. 5. Die regionale Sicherheit in Mali zu gewährleisten 6. Terrorismusbekämpfung und die Eindämmung von Fluchtbewegungen (vgl. ebd., S. 27-31) Die Punkte 4, 5 und 6 sind als Hauptmotivlage nachrangig einzusortieren; Punkt 5 wird anhand der deutlichen Zunahme an Instabilität den MINUSMA-Einsatz generell und die deutsche Beteiligung gezielt infrage stellen. 5.2 Bewertung des Einsatzes Die bisherige Bewertung des Einsatzes ist auf Grundlage der festgestellten Motive zu leisten, die eine detaillierte Rahmengebung vorgeben. In die Bewertung fließen themenbedingt erste wichtige Aspekte für das Abschlusskapitel ein. 5.2.1 Die Bündnistreue zu Frankreich Die Unterschiede in der strategischen Bewertung des Einsatzes der beiden Länder zeigt deutlich auf: Während Frankreich mehr militärisches Engagement erwartet und die Terrorbekämpfung in den Fokus stellt, steht die Bundesregierung der Friedenssicherung unter VN-Mandat näher, die die Terroristenbekämpfung explizit ausschließt. Festzuhalten wäre, dass die unterschiedlichen Herangehensweisen in Mali zwischen Frankreich und Deutschland differente Zielvorstellungen aufweisen und das gemeinsame Handeln konterkarieren. (vgl. Kaim 2021, S. 27f) Daraus ist ebenso die Frage zu stellen, ob die Bundesregierung das auslaufende Mandat (vgl. Mali: Konopka 2020) ausweiten, beibehalten oder beenden wird. 5.2.2 Die Ausgangslage durch die Münchner Sicherheitskonferenz Deutschland ist bis heute im MINUSMA-Einsatz tätig (2013-2022) und ist dem Bündnis- und langjährigen EU-Partner Frankreich nachgekommen (vgl. Mali: Konopka 2020). Das Engagement ist bis jetzt ausgeweitet worden und von einer anfänglichen Symboltruppe stehen im direkten Einsatzgebiet in Mali ca. 500 (vgl. MINUSMA Fact Sheet: United Nations 2022) und im erweiterten Einsatz ca. 1000 Soldat*innen (vgl. Personalzahlen der Bundeswehr: Bundeswehr 2022).Die Steigerung der Fachkräfte im MINUSMA-Einsatz ist als Intensivierung zu werten (vgl. Kaim 2021, S. 28). Dies kann als Beleg für die vertiefende Arbeit international angesehen werden, wie es zuvor auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 skizziert wurde. Allerdings wären andere Erweiterungen der Tätigkeitsfelder im internationalen Raum und besonders in internationalen Organisationen denkbar und beinhalten nicht zwangsläufig die Intensivierung des MINUSMA-Einsatzes – gleichzeitig bietet das Einsatzgebiet ein robustes Mandat, also internationale Legitimierung, die für deutsche Auslandseinsätze mitentscheidend ist und einen multilateralen Raum, den die Sicherheits- und Außenpolitik favorisiert (vgl. ebd.).5.2.3 Das erweiterte Engagement Deutschlands in den VN Politisch und militärisch dürfte die Beteiligung Deutschlands am MINUSMA-Einsatz die Vereinten Nationen stärken (vgl. Kaim 2021, S. 28). Bei dieser Beteiligung ist mitunter auch deutlich, dass Deutschland nicht altruistisch, sondern auch im Sinne der im Kapitel 4.2 festgelegten Interdependenzen für den Erhalt der eigenen Sicherheit im Internationalen System handelt.Die Idee eines ständigen Sitzes im Sicherheitsrat gilt als unwahrscheinlich sowie der Reformvorschlag der 'Gruppe der Vier' (mit deutscher Beteiligung), der von den vielen Vorschlägen zur Veränderung des Sicherheitsrates zwar als angemessen erscheint, aber dennoch u. a. an den Veto-Mächten bisher scheiterte (vgl. Gareis & Varwick 2014, S. 308-311). Somit bleibt Deutschland lediglich die Kandidatur im SR als nichtständiges Mitglied, dem die Bundesregierung mit ähnlicher Argumentation und Engagement vermutlich in der nächstmöglichen Amtszeit nachkommen wird (vgl. Kaim 2021, S. 29). 5.2.4 Der Versuch, eine europäische Handlungsfähigkeit zu demonstrieren Die europäische Handlungsfähigkeit kann bereits unter Punkt 5.2.1 als inkonsequent bezeichnet werden. Außerdem sind europäische Kräfte an eigenen Missionen vor Ort gebunden und stellen im MINUSMA-Einsatz nicht die meisten Einsatzkräfte zur Verfügung (vgl. Kaim 2021, S. 29 & MINUSMA Fact Sheet: United Nations 2022). Von einer geschlossenen oder klaren europäischen Einheit kann nicht gesprochen werden, jedoch von einer klaren Beteiligung Deutschlands am Einsatz. 5.2.5 Die regionale Sicherheit in Mali zu gewährleisten Seit dem Friedensabkommen 2015 hat sich die Lage stetig verschlechtert und stellt die VN-Friedensmission insgesamt infrage. (vgl. Kaim 2021, S. 30) Weitere Problemfelder stellen gerade die Alleingänge der europäischen Länder an der MINUSMA-Mission dar, die bspw. auf die typischen Blauhelme und auf die VN-Farbgebung bei Fahrzeugen verzichten. Außerdem sind europäische Kräfte vornehmlich in als sicher geltende Einsätze gebunden und in anderen Stützpunkten als die restlichen Länder wie bspw. Ägypten untergebracht. (vgl. Mali: Konopka 2020) Das stellt die VN-geführte Friedensmission auch vor interne Probleme und kann die Handlungsfähigkeit sowie Moral der teilnehmenden Länder beeinträchtigen.5.2.6 Terrorismusbekämpfung und die Eindämmung von FluchtbewegungenDie Mission ist unter den Aspekten von Fluchtbewegungen bereits als vernachlässigbar (zumindest für Fluchtbewegungen nach Europa) klassifiziert worden (vgl. Kaim 2021, S. 30f). Außerdem wird wegen der Destabilisierung des Landes sogar mit weiteren Flüchtenden zu rechnen sein. Weiterhin ist die dynamische Situation in Mali undurchsichtig und schwer zu charakterisieren, inwiefern der Terrorismus Deutschland bedroht (vgl. ebd.) und inwiefern Dschihadisten mittlerweile als Hauptproblem angesehen werden können, wenn die malischen Sicherheitskräfte immer mehr in den Fokus von Korruption und Destabilisierung rücken (vgl. Mali: Konopka 2020). 5.3 Ausblick – Bleibt Deutschland im MINUSMA-Einsatz? Die Motive sowie deren Zielerreichung sind größtenteils als Fehlschlag zu werten und stellen als größten Erfolg die Arbeit in der internationalen Organisation, den Vereinten Nationen, heraus. (vgl. Kaim 2021, S. 31f) Dass nicht alle Ziele erreicht werden können, liegt mitunter an der multidimensionalen und dynamischen Situation vor Ort und an der Herausforderung, die den 'Neuen Kriegen' (vgl. Hippler 2009, S. 3-8) und das VN-Peacekeeping in der vierten Generation (vgl. Gareis & Varwick 2014, S. 119-127) kennzeichnen. Somit hängt das Engagement Deutschlands im MINUSMA-Einsatz von vielen Faktoren ab, die bspw. die öffentliche Meinung über Auslandseinsätze und die Beschaffenheit und Einsatzfähigkeit der Bundeswehr nach Etatkürzungen einschließen (vgl. Kaim 2021, S. 32). Wie die Einsatzkosten zeigen (s. Kapitel 3), sind das insgesamt beträchtliche Summen, die die Staatengemeinschaft – und anteilig Deutschland – aufbringen müssen.Während die Stiftung Wissenschaft und Politik noch von größeren Hürden diesbezüglich ausgeht (vgl. ebd.), ist durch den Einmarsch Russlands in die Ukraine ein Paradigmenwechsel mit ungeahnter Tragweite in der deutschen Sicherheits- und Außenpolitik möglich (vgl. Mehrheit unterstützt deutschen Ukraine-Kurs: Tagesschau 2022), der die Fortführung des VN-Peacekeepings neu bewerten wird. 6. Zusammenführung und Interpretation Unter dem Aspekt des VN-Peacekeeping wurden zuerst allgemeine Aspekte umrissen und die Forschungsfrage weiter ausgeweitet. Im Kern geht es um die Frage, wie Deutschland sich im 21. Jahrhundert mit seiner Sicherheits- und Außenpolitik im Internationalen System verortet und inwiefern dies als Erfolg angesehen werden kann. Letzteres ist nur unter bestimmten, einschränkenden Aspekten zu beantworten und ist mithilfe des MINUSMA-Einsatzes zu verorten. Deutschland positioniert sich offen und ernst zu den Vereinten Nationen und folgt dabei historisch gewachsenen Paradigmen und Erfahrungswerten (s. Unterkapitel 4.1): Daraus lassen sich die Bemühungen um einen ständigen oder nichtständigen Sitz im Sicherheitsrat und weiteres internationales Engagement wie im VN-Peacekeeping und somit die Beteiligung in Mali (MINUSMA-Mission) folgerichtig begründen.Deutschland hat ein nationales sicherheitspolitisches Interesse an einer Verregelung des anarchischen Grundzustandes, um die eigene Position darin zu stärken – Unsicherheiten also abzubauen (vgl. Gareis 2021, S. 58). Damit folgt die Politik nicht einer uneingeschränkten Idealismus-Denkschule und zeigt auch zweckrationale Positionen auf. Dennoch ist der MINUSMA-Einsatz in diesem Sinne als Misserfolg zu werten und zeigt besonders in den Bemühungen um Multilateralismus und einer Institutionalisierung des Internationalen Systems, hier in Form der Vereinten Nationen zu interpretieren, erwähnenswerte Erfolge auf (s. Kapitel 5).Die deutsch-französischen Beziehungen hingegen könnten insgesamt unter dem Konstruktivismus Betrachtung finden: Obwohl die strategische Ausrichtung beider Länder nicht immer im selben Verständnis verläuft (s. Kapitel 5), ist sehr wohl ein ernstzunehmender Konflikt zwischen den beiden großen europäischen Staaten nicht anzunehmen und die außerordentliche internationale Kooperation als erwähnenswert anzusehen. Aus der Ausarbeitung tritt ein Dilemma zutage, das wie folgt zu charakterisieren ist: Deutschland als Nationalstaat hat nur begrenzt Ressourcen und Möglichkeiten, die auch interessengeleitet begründet werden müssen. Deswegen ist ein Problem für Deutschland darin zu skizzieren und zu fragen, in welche internationale Organisation sie ihren weiteren Fokus legen wird. VN-mandatierte aber von NATO und EU ausgeführte Friedensmissionen werden bspw. bevorzugt, gleichzeitig wird eine Stärkung der Vereinten Nationen als Ziel formuliert (s. Kapitel 4).Investitionen in allen internationalen Organisationen bringen Deutschland in eine prekäre Situation, wie die Motivlage und die Ausgestaltung des MINUSMA-Einsatzes aufzeigt (s. Unterkapitel 5.2.5). Als Fazit ist festzuhalten, dass der MINUSMA-Einsatz einer oftmals bloßen Rhetorik zur Stärkung multilateraler Beteiligung grundsätzlich entgegenläuft und Deutschland zukünftig als ernstzunehmenden internationalen Akteur kennzeichnen könnte (vgl. Gareis 2021, S. 216). Prinzipiell kann zudem bestätigt werden, dass Deutschland am ehesten seine Fähigkeiten einbringen kann, wenn internationale Legitimation besteht (mit Blick auf das Grundgesetz und der eigenen 'Zurückhaltungs-Konstante'), Bündnis- und beteiligte Partner mit ihren Interessen zumindest kollidieren (vgl. ebd., S. 112) und Multilateralismus als Merkmal auftritt. Daraus lässt sich die Intensivierung in internationale Organisationen ableiten, weil es nachhaltig die Souveränität Deutschlands positiv beeinflussen kann (vgl. ebd.). So kann Gareis (2021, S. 93) zugestimmt werden, wenn er schreibt: "Sicherlich kann auch im Jahr 2020 festgestellt werden, dass Deutschland an seinen Bemühungen um eine Zivilisierung der internationalen Politik durch Regime und Institutionen festhält. Auch ist es seiner Bevorzugung von friedlicher Konfliktbeilegung und Kooperation vor der Machtpolitik sowie schließlich auch seiner grundsätzlichen Bereitschaft zur Übertragung von Souveränitätsrechten weitestgehend treu geblieben – wenngleich die mit dem Zivilmachtkonzept gern verbundene 'Kultur der Zurückhaltung' Ergänzungen durch die Verfolgung stärker nationaler Interessen erfahren hat." Der Ausblick ist jedoch unter der aktuellen Prämisse (s. Unterkapitel 5.3) unter Vorbehalt zu stellen und zeigt deutlich die Unsicherheiten auf, die der Grundzustand der Anarchie treffend formuliert und exemplarisch die angerissene Reformbedürftigkeit der Vereinten Nationen sowie die Handlungsunfähigkeit des Sicherheitsrats hervorhebt. Deutschland wird in jeglichem denkbaren Szenario eine größere Rolle in den Internationalen Beziehungen spielen: "Die Anforderungen an die multilaterale deutsche Außen- und Sicherheitspolitik werden also steigen, und neben dem vielbeschworenen Willen zur Übernahme von 'Verantwortung' wird auch die Bereitschaft zum personellen und finanziellen Engagement wie auch zur Übernahme ungewohnter politischer Risiken wachsen müssen" (Gareis 2021, S. 216) 7. Literatur Beckmann, H. (26.02.2022): Russlands Angriff auf die Ukraine. Europa hat einen neuen Feind. Online: https://www.tagesschau.de/ausland/europa/russland-krieg-europa-101.html [09.03.2022]. Bundesministerium der Verteidigung (2016): Weissbuch 2016. Zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr. Online: https://www.bmvg.de/resource/blob/13708/015be272f8c0098f1537a491676bfc31/weissbuch2016-barrierefrei-data.pdf [09.03.2022].Bundeswehr (21.02.2022): Personalzahlen der Bundeswehr. Wie lauten die Einsatzzahlen. Online: https://www.bundeswehr.de/de/ueber-die-bundeswehr/zahlen-daten-fakten/personalzahlen-bundeswehr [09.03.2022].Bundeswehr (0. J.): Mali – MINUSMA. Online: https://www.bundeswehr.de/de/einsaetze-bundeswehr/mali-einsaetze/minusma-bundeswehr-un-einsatz-mali [09.03.2022]. Bundeszentrale für politische Bildung (07.06.2021): Nach 20 Jahren: NATO-Truppenabzug aus Afghanistan. Online: https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/334345/nach-20-jahren-nato-truppenabzug-aus-afghanistan/ [09.03.2022]. Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e. V. (o. J.): Die Vereinten Nationen im Überblick. Online: https://dgvn.de/un-im-ueberblick [09.03.22].Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e. V. (22.02.2022): Wie geht es weiter mit dem deutschen Engagement in Mali? Online: https://dgvn.de/meldung/wie-geht-es-weiter-mit-dem-deutschen-engagement-in-mali [09.03.22].Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e. V. (o. J.): Hauptabteilung Friedenssicherungseinsätze (DPKO). Online: https://frieden-sichern.dgvn.de/friedenssicherung/organe/un-sekretariat-dpko/ [09.03.22].Gareis, S. B. (2021): Deutschlands Außen- und Sicherheitspolitik: eine Einführung. Stuttgart: UTB. Gareis, S. B. & Varwick, J. (2014): Die Vereinten Nationen. Aufgaben, Instrumente und Reformen. 5. Auflage. Bonn: Barbara Budrich, Opladen & Toronto.Hippler, J. (2009): Wie "Neue Kriege" beenden? Aus: APuZ (46/2009): Neue Kriege. Bpb, S. 3-8. Kaim, M. (2021): Die deutsche Politik im VN-Peacekeeping: eine Dienerin vieler Herren. Berlin: SWP. Konopka, T. (22.02.2022): Mali: Rückzug oder mehr Risiko? Online: https://zeitschrift-vereinte-nationen.de/suche/zvn/artikel/mali-rueckzug-oder-mehr-risiko [09.03.22]. Schimmelfennig, F. (2017): Internationale Politik. 5. Auflage. Stuttgart und Paderborn: UTB.Tagesschau (03.03.2022): Mehrheit unterstützt deutschen Ukraine-Kurs. Online: https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend/deutschlandtrend-2925.html [09.03.2022].United Nations (2013): Security Council Establishes Peacekeeping Force for Mali Effective 1 July. Unanimously Adopting Resolution 2100 (2013). Online: https://www.un.org/press/en/2013/sc10987.doc.htm [09.03.2022]. United Nations (2014): Security Council. Resolution 2164 (2014). Adopted by the Security Council at its 7210th meeting, on 25 June 2014. Online: https://www.un.org/en/ga/search/view_doc.asp?symbol=S/RES/2164(2014) [09.03.2022]. United Nations (01.03.2022): MINUSMA Fact Sheet. United Nations Multidimensional Integrated Stabilization Mission in Mali. Online: https://peacekeeping.un.org/en/mission/minusma [09.03.2022].
What is a radical? Somebody who goes against mainstream opinions? An agitator who suggests transforming society at the risk of endangering its harmony? In the political context of the British Isles at the end of the eighteenth century, the word radical had a negative connotation. It referred to the Levellers and the English Civil War, it brought back a period of history which was felt as a traumatic experience. Its stigmas were still vivid in the mind of the political leaders of these times. The reign of Cromwell was certainly the main reason for the general aversion of any form of virulent contestation of the power, especially when it contained political claims. In the English political context, radicalism can be understood as the different campaigns for parliamentary reforms establishing universal suffrage. However, it became evident that not all those who were supporting such a reform originated from the same social class or shared the same ideals. As a matter of fact, the reformist associations and their leaders often disagreed with each other. Edward Royle and Hames Walvin claimed that radicalism could not be analyzed historically as a concept, because it was not a homogeneous movement, nor it had common leaders and a clear ideology. For them, radicalism was merely a loose concept, « a state of mind rather than a plan of action. » At the beginning of the nineteenth-century, the newspaper The Northern Star used the word radical in a positive way to designate a person or a group of people whose ideas were conform to those of the newspaper. However, an opponent of parliamentary reform will use the same word in a negative way, in this case the word radical will convey a notion of menace. From the very beginning, the term radical covered a large spectrum of ideas and conceptions. In fact, the plurality of what the word conveys is the main characteristic of what a radical is. As a consequence, because the radicals tended to differentiate themselves with their plurality and their differences rather than with common features, it seems impossible to define what radicalism (whose suffix in –ism implies that it designate a doctrine, an ideology) is. Nevertheless, today it is accepted by all historians. From the mid-twentieth century, we could say that it was taken from granted to consider radicalism as a movement that fitted with the democratic precepts (universal suffrage, freedom of speech) of our modern world. Let us first look at radicalism as a convenient way to designate the different popular movements appealing to universal suffrage during the time period 1792-1848. We could easily observe through the successions of men and associations, a long lasting radical state of mind: Cartwright, Horne Tooke, Thomas Hardy, Francis Burdett, William Cobbett, Henry Hunt, William Lovett, Bronterre O'Brien, Feargus O'Connor, The London Society for Constitutional information (SCI), The London Corresponding Society (LCS), The Hampden Clubs, The Chartists, etc. These organizations and people acknowledged having many things in common and being inspired by one another in carrying out their activities. These influences can be seen in the language and the political ideology that British historians name as "Constitutionalist", but also, in the political organization of extra-parliamentary societies. Most of the radicals were eager to redress injustices and, in practice, they were inspired by a plan of actions drawn on from the pamphlets of the True Whigs of the eighteenth-century. We contest the argument that the radicals lacked coherence and imagination or that they did not know how to put into practice their ambitions. In fact, their innovative forms of protest left a mark on history and found many successors in the twentieth century. Radicals' prevarications were the result of prohibitive legislation that regulated the life of associations and the refusal of the authorities to cooperate with them. As mentioned above, the term radical was greatly used and the contemporaries of the period starting from the French Revolution to Chartism never had to quarrel about the notions the word radical covered. However, this does not imply that all radicals were the same or that they belong to the same entity. Equally to Horne Tooke, the Reverend and ultra-Tory Stephens was considered as a radical, it went also with the shoemaker Thomas Hardy and the extravagant aristocrat Francis Burdett. Whether one belonged to the Aristocracy, the middle-class, the lower class or the Church, nothing could prevent him from being a radical. Surely, anybody could be a radical in its own way. Radicalism was wide enough to embrace everybody, from revolutionary reformers to paternalistic Tories. We were interested to clarify the meaning of the term radical because its inclusive nature was overlooked by historians. That's why the term radical figures in the original title of our dissertation Les voix/voies radicales (radical voices/ways to radicalism). In the French title, both words voix/voies are homonymous; the first one voix (voice) correspond to people, the second one voies (ways) refers to ideas. By this, we wanted to show that the word radical belongs to the sphere of ideas and common experience but also to the nature of human beings. Methodoloy The thesis stresses less on the question of class and its formation than on the circumstances that brought people to change their destiny and those of their fellows or to modernize the whole society. We challenged the work of E.P. Thompson, who in his famous book, The Making of the English Working Class, defined the radical movements in accordance with an idea of class. How a simple shoe-maker, Thomas Hardy, could become the center of attention during a trial where he was accused of being the mastermind of a modern revolution? What brought William Cobbett, an ultra-Tory, self-taught intellectual, to gradually espouse the cause of universal suffrage at a period where it was unpopular to do so? Why a whole population gathered to hear Henry Hunt, a gentleman farmer whose background did not destine him for becoming the champion of the people? It seemed that the easiest way to answer to these questions and to understand the nature of the popular movements consisted in studying the life of their leaders. We aimed at reconstructing the universe which surrounded the principal actors of the reform movements as if we were a privileged witness of theses times. This idea to associate the biographies of historical characters for a period of more than fifty years arouse when we realized that key events of the reform movements were echoing each other, such the trial of Thomas Hardy in 1794 and the massacre of Peterloo of 1819. The more we learned about the major events of radicalism and the life of their leaders, the more we were intrigued. Finally, one could ask himself if being a radical was not after all a question of character rather than one of class. The different popular movements in favour of a parliamentary reform were in fact far more inclusive and diversified from what historians traditionally let us to believe. For instance, once he manage to gather a sufficient number of members of the popular classes, Thomas Hardy projected to give the control of his association to an intellectual elite led by Horne Tooke. Moreover, supporters of the radical reforms followed leaders whose background was completely different as theirs. For example, O'Connor claimed royal descent from the ancient kings of Ireland. William Cobbett, owner of a popular newspaper was proud of his origins as a farmer. William Lovett, close to the liberals and a few members of parliament came from a very poor family of fishermen. We have thus put together the life of these five men, Thomas hardy, William Cobbett, Henry Hunt, William Lovett and Feargus O'Connor in order to compose a sort of a saga of the radicals. This association gives us a better idea of the characteristics of the different movements in which they participated, but also, throw light on the circumstances of their formation and their failures, on the particular atmosphere which prevailed at these times, on the men who influenced these epochs, and finally on the marks they had left. These men were at the heart of a whole network and in contact with other actors of peripheral movements. They gathered around themselves close and loyal fellows with whom they shared many struggles but also quarreled and had strong words. The original part of our approach is reflected in the choice to not consider studying the fluctuations of the radical movements in a linear fashion where the story follows a strict chronology. We decided to split up the main issue of the thesis through different topics. To do so, we simply have described the life of the people who inspired these movements. Each historical figure covers a chapter, and the general story follows a chronological progression. Sometimes we had to go back through time or discuss the same events in different chapters when the main protagonists lived in the same period of time. Radical movements were influenced by people of different backgrounds. What united them above all was their wish to obtain a normalization of the political world, to redress injustices and obtain parliamentary reform. We paid particular attention to the moments where the life of these men corresponded to an intense activity of the radical movement or to a transition of its ideas and organization. We were not so much interested in their feelings about secondary topics nor did we about their affective relations. Furthermore, we had little interest in their opinions on things which were not connected to our topic unless it helped us to have a better understanding of their personality. We have purposely reduced the description of our protagonists to their radical sphere. Of course we talked about their background and their intellectual development; people are prone to experience reversals of opinions, the case of Cobbett is the most striking one. The life of these personalities coincided with particular moments of the radical movement, such as the first popular political associations, the first open-air mass meetings, the first popular newspapers, etc. We wanted to emphasize the personalities of those who addressed speeches and who were present in the radical associations. One could argue that the inconvenience of focusing on a particular person presents a high risk of overlooking events and people who were not part of his world. However, it was essential to differ from an analysis or a chronicle which had prevailed in the studies of the radical movements, as we aimed at offering a point of view that completed the precedents works written on that topic. In order to do so, we have deliberately put the humane character of the radical movement at the center of our work and used the techniques of biography as a narrative thread. Conclusion The life of each historical figure that we have portrayed corresponded to a particular epoch of the radical movement. Comparing the speeches of the radical leaders over a long period of time, we noticed that the radical ideology evolved. The principles of the Rights of Men faded away and gave place to more concrete reasoning, such as the right to benefit from one's own labour. This transition is characterized by the Chartist period of Feargus O'Connor. This does not mean that collective memory and radical tradition ceased to play an important part. The popular classes were always appealed to Constitutional rhetoric and popular myths. Indeed, thanks to them they identified themselves and justified their claims to universal suffrage. We focused on the life of a few influent leaders of radicalism in order to understand its evolution and its nature. The description of their lives constituted our narrative thread and it enabled us to maintain consistency in our thesis. If the chapters are independent the one from the other, events and speeches are in correspondences. Sometimes we could believe that we were witnessing a repetition of facts and events as if history was repeating itself endlessly. However, like technical progress, the spirit of time, Zeitgeist, experiences changes and mutations. These features are fundamental elements to comprehend historical phenomena; the latter cannot be simplified to philosophical, sociological, or historical concept. History is a science which has this particularity that the physical reality of phenomena has a human dimension. As a consequence, it is essential not to lose touch with the human aspect of history when one pursues studies and intellectual activities on a historical phenomenon. We decided to take a route opposite to the one taken by many historians. We have first identified influential people from different epochs before entering into concepts analysis. Thanks to this compilation of radical leaders, a new and fresh look to the understanding of radicalism was possible. Of course, we were not the first one to have studied them, but we ordered them following a chronology, like Plutarch enjoyed juxtaposing Greeks and Romans historical figures. Thanks to this technique we wanted to highlight the features of the radical leaders' speeches, personalities and epochs, but also their differences. At last, we tried to draw the outlines and the heart of different radical movements in order to follow the ways that led to radicalism. We do not pretend to have offered an original and exclusive definition of radicalism, we mainly wanted to understand the nature of what defines somebody as a radical and explain the reasons why thousands of people decided to believe in this man. Moreover, we wanted to distance ourselves from the ideological debate of the Cold War which permeated also the interpretation of past events. Too often, the history of radicalism was either narrated with a form of revolutionary nostalgia or in order to praise the merits of liberalism. If the great mass meetings ends in the mid-nineteenth-century with the fall of Chartism, this practice spread out in the whole world in the twentieth-century. Incidentally, the Arab Spring of the beginning of the twenty-first-century demonstrated that a popular platform was the best way for the people to claim their rights and destabilize a political system which they found too authoritative. Through protest the people express an essential quality of revolt, which is an expression of emancipation from fear. From then on, a despotic regime loses this psychological terror which helped it to maintain itself into power. The balance of power between the government and its people would also take a new turn. The radicals won this psychological victory more than 150 years ago and yet universal suffrage was obtained only a century later. From the acceptance of the principles of liberties to their cultural practice, a long route has to be taken to change people's mind. It is a wearisome struggle for the most vulnerable people. In the light of western history, fundamental liberties must be constantly defended. Paradoxically, revolt is an essential and constitutive element of the maintenance of democracy. ; Die radikalen Strömungen in England von 1789 bis 1848 Formulierung der Problematik Was ist ein Radikaler? Eine Person die vorgefassten Meinungen zuwiderhandelt? Ein Agitator, der die Gesellschaft verändern will und dabei das Risiko eingeht, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen? Im politischen Kontext, in dem sich die britischen Inseln am Ende des 18. Jahrhunderts befanden, hatte dieser Begriff eine negative Konnotation. Er erinnert nämlich an die levellers und an den Bürgerkrieg. Diese historische Epoche, die als traumatisches Erlebnis empfunden wurde, hat bei den politischen Führern Stigmata hinterlassen, die immer noch vorhanden sind. Die Herrschaft Cromwells hatte bestimmt einen direkten Einfluss auf die Aversion der Engländer gegen jede heftige Form des Protestes gegen die herrschende Macht, vor allem wenn er politisch vereinnahmt wird. Im politischen Kontext in England versteht man unter Radikalismus verschiedene Versuche, eine Parlamentsreform durchzusetzen, die das allgemeine Wahlrecht einführen sollte. Natürlich bedeutet dies nicht, dass die Befürworter solch einer Reform eine gesellschaftliche und ideologische Nähe verband. In der Tat waren sich die reformistischen Verbände oft untereinander nicht einig und ihre jeweiligen Führer hatten wenige Gemeinsamkeiten. Edward Royle und Hames Walvin erläutern, dass der Radikalismus historisch nicht wie ein Konzept analysiert werden kann, da er keine einheitliche Bewegung war, da sich die Führer untereinander nicht einig waren und da keine eindeutige Ideologie vorhanden war. Der Radikalismus war ihrer Meinung nach nur eine vage Ansammlung bunter Ideen. Er sei « eher eine Einstellung als ein Aktionsplan» gewesen. Am Beginn des 19. Jahrhunderts verwendete die Zeitung Northern Star den Begriff « radikal » in einem positiven Sinne, um eine Person oder eine Gruppe zu bezeichnen, deren Ideen mit den Ihrigen im Einklang standen. Gegner der Parlamentsreformbewegungen haben diesen Begriff im negativen Sinne verwendet. Der Radikale wurde dann also als Bedrohung wahrgenommen. Der Gebrauch des Begriffes radikal scheint kein semantisches Problem darzustellen im Vergleich zur Verwendung des Wortes Radikalismus dessen Suffix -ismus eine Doktrin bzw. eine Ideologie voraussetzt. Die Tatsache, dass die Radikalen so unterschiedliche Gesinnungen vertraten, scheint eine Definition des Radikalismus unmöglich zu machen. Trotzdem wird sein Gebrauch heute von allen Historikern akzeptiert. Man könnte also behaupten, dass es seit der Mitte des 20. Jahrhunderts gängig wurde, mit dem Begriff Radikalismus jede Bewegung zu bezeichnen, die Ideen durchsetzen wollte, die nach unserem heutigen Verständnis als demokratisch verstanden werden. Wir können den Begriff Radikalismus zwischen 1792 und 1848 also erst einmal als eine praktische Bezeichnung für die verschiedenen radikalen Volksbewegungen, die das Ziel verfolgten, das allgemeine Wahlrecht einzuführen, betrachten. Diese radikale Einstellung findet man bei einer ganzen Reihe von Menschen und Organisationen wieder. Cartwright, Horne Tooke, Thomas Hardy, Francis Burdett, William Cobbet, Henry Hunt, William Lovett, Bronterre O'Brien Feargus O'Connor, die London Society for Constitutional information (SCI), die London Corresponding Society (LCS), die Hampden Clubs, die Chartisten, usw. Man kann viele Gemeinsamkeiten zwischen den Protagonisten erkennen, die sie sich auch eingestanden haben. Auβerdem wird auch der Einfluss erkennbar, den sie aufeinander ausgeübt haben, um ihre Aktionen zu gestalten. Diese Einflüsse findet man sowohl in der Sprache und in der politischen Ideologie wieder, die von den britischen Historikern als « konstitutionalistisch » bezeichnet wurden, als auch in der politischen Organisation von auβerparlamentarischen Gruppierungen. Alle Radikalen wollten die Ungerechtigkeiten beheben, und in der Praxis haben sie sich von einem Aktionsplan anregen lassen, den sie im 18. Jahrhundert in den Pamphleten der true whigs gefunden haben. Wir müssen teilweise das Argument zurückweisen, dass die Radikalen nicht kohärent und einfallsreich waren, oder dass sie nicht genau wussten, wie sie ihre Ziele umsetzen konnten. Ganz im Gegenteil: Die innovativen Formen des Protestes, die ihnen zuzuschreiben sind, waren bezeichnend und haben eine Spur in der Geschichte hinterlassen. Das Zaudern der Radikalen war erstens auf die prohibitive Gesetzgebung zurückzuführen, der die Verbände unterlagen und zweitens auf die kategorische Ablehnung der Behörden zu kooperieren. Die Zeitgenossen der Epoche, die sich von der Französischen Revolution bis zum Chartismus erstreckt, haben nie über den Sinn des Begriffs radikal debattiert. Dies bedeutet allerdings nicht, dass alle Radikalen gleich waren, oder dass sie zu derselben Einheit gehörten. Horne Tooke und der Priester Stephens waren beide Radikale, so wie der Schuster Hardy und der extravagante Burdett. Ob man ein Adliger, ein Mitglied des Bürgertums, ein Handwerker, ein Gutsbesitzer oder ein Mann der Kirche war: Nichts hinderte einen daran, ein Radikaler zu sein. Jeder konnte auf seine Art ein Radikaler sein. In dem Radikalismus gab es in der Tat eine groβe Bandbreite, die sich vom revolutionären Radikalismus bis zum paternalistischen Torysmus erstreckte. Wir waren daran interessiert, genau zu verstehen, was der Begriff radikal bedeutet, denn sein integrativer Charakter wurde von Historikern übersehen. Wir haben uns deshalb so genau mit der Bedeutung des Begriffs « radikal » beschäftigt, weil dieses Adjektiv im Plural im Titel die radikalen Strömungen enthalten ist. Mit dem im französischen Titel enthaltenen Gleichklang zwischen den Wörtern « voie » (Weg, Strömung) und « voix » (Stimme) wollten wir zeigen, dass sich der Begriff « radikal » sowohl auf ein Ideenbündel als auch auf eine Person bezieht. Die methodische Vorgehensweise In dieser Arbeit richtet sich unser Augenmerk weniger auf die Frage, wie eine Gesellschaftsschicht entstanden ist, als auf die Umstände, die die Menschen dazu bewogen haben, ihrem Schicksal und dem Ihresgleichen oder gar der ganzen Gesellschaft eine andere Wendung zu geben. Wir stellten das Werk von E.P.Thompson in Frage, welcher in seinem bekannten Buch "The Making of the English Working Class" radikale Bewegungen, entsprechend einer Vorstellung von Klasse, definiert. Wie kam es, dass ein einfacher Schuster wie Thomas Hardy, während eines Prozesses, in dem er beschuldigt wurde, eine moderne Revolution anzuzetteln, im Zentrum der Öffentlichkeit stand? Wie kam es, dass ein Autodidakt und ein Anhängiger der Ultra- Tories wie William Cobbett sich nach und nach für das allgemeine Wahlrecht einsetzte, zu einer Zeit, in der es unpopulär war? Wie kam es, dass sich die ganze Bevölkerung in Massen um Henry Hunt scharte, einen Gutsbesitzer, der nicht gerade dazu bestimmt war, sich für die Belange des Volkes stark zu machen? Unser Ziel ist es, das Universum, in dem die wichtigsten Beteiligten lebten, wiederzugeben, so als wären wir ein privilegierter Zeuge dieser Epochen. Die einfachste Art diese Fragen zu beantworten und die Beschaffenheit der Volksbewegungen zu verstehen besteht unserer Meinung nach darin, das Leben jener Männer zu studieren, die sie gestaltet haben. Wir hatten den Einfall, mehrere Männer, die in einem Zeitraum von mehr als 50 Jahren gelebt haben, miteinander in Verbindung zu bringen, als uns aufgefallen ist, dass Schlüsselmomente der Reformbewegungen miteinander korrespondieren, wie z.B der Prozess von Thomas Hardy und das Massaker von Peterloo 1819. Je mehr wir uns mit diesen Ereignissen beschäftigten, desto mehr weckte dies unsere Neugier auf das Leben jener Menschen, die sie verursacht haben. Schlussendlich konnte man sich fragen, ob radikal zu sein nicht eher eine Frage des Charakters als eine Frage der Klassenzugehörigkeit war. Die verschiedenen Volksbewegungen für eine Parlamentsreform haben in der Tat viel mehr unterschiedliche Menschen vereint und waren um einiges vielfältiger als es die Historiker behauptet haben. So war es zum Beispiel Thomas Hardys Vorhaben, die Führung des Verbandes einer intellektuellen Elite unter Horne Tookes Kommando zu überlassen, nachdem er es geschafft haben würde, genug Mitglieder der Arbeiterschicht zu versammeln. Auβerdem haben die Sympathisanten mit Freude Führer akzeptiert, deren Schicksal sehr wenig mit dem Ihrigen gemeinsam hatte. O'Connor z. B erhob den Anspruch, der Nachkomme eines irischen Königs zu sein. Cobbett, der Besitzer einer bedeutenden Zeitung, erinnerte daran, dass er aus einer Bauernfamilie stammte. William Lovett, der den Liberalen und einigen Parlamentsmitgliedern nahe stand, stammte aus einer armen Fischerfamilie. Wir haben diese fünf Männer Thomas Hardy, William Cobbett, Henry Hunt, William Lovett und Feargus O'Connor in Verbindung gebracht, um gewissermaßen eine Saga der Radikalen zu erstellen. Dies erlaubte es uns, uns ein genaueres Bild zu machen von den Merkmalen der verschiedenen Bewegungen, an denen sie teilgenommen haben, von dem Kontext, in dem die Bewegungen entstanden sind, von ihren Misserfolgen, von der besonderen Atmosphäre, die in diesen unterschiedlichen Epochen herrschte, von den Männern, die diese Bewegungen beeinflusst haben und zuletzt von dem Zeichen, das sie gesetzt haben. Diese Männer waren im Mittelpunkt eines Netzwerkes und standen in Verbindung mit anderen Akteuren, die an peripheren Bewegungen beteiligt waren. Sie waren umgeben von treuen Weggefährten, mit denen zusammen sie viele Kämpfe ausgetragen haben, oder mit denen sie sich heftig gestritten haben. Unsere Vorgehensweise ist insofern neu, als wir die Fluktuationen der radikalen Bewegungen weder linear bzw. chronologisch beleuchten, noch in einer zersplitterten Weise, indem wir die Problematik in mehrere Themen unterteilen. Wir sind ganz einfach dem Leben der Männer gefolgt, die am Ursprung dieser Bewegung standen. Jedes Kapitel behandelt eine historische Person und die gesamte Abhandlung ist chronologisch aufgebaut. Manchmal war es notwendig, Rückblenden einzubauen oder die gleichen Ereignisse mehrmals zu erwähnen, wenn verschiedene historische Personen daran beteiligt waren. Die radikalen Bewegungen wurden von Menschen aus verschiedenen Horizonten beeinflusst. Verbunden waren sie vor allem durch ihr Bestreben, eine Normalisierung der politischen Welt zu erreichen, gegen die Ungerechtigkeiten zu kämpfen und eine Parlamentsreform durchzusetzen. Wir haben uns auf die Momente konzentriert, in denen das Leben der Männer mit einem aktiven Handeln in der radikalen Bewegung oder mit einer Veränderung ihrer Ideen oder in ihrer Organisation einherging. Ihre emotionalen Beziehungen und ihre Einstellung zu belanglosen Fragen interessierten uns nicht. Ihre Meinungen zu Fragen, die unser Studienobjekt nicht betreffen, waren auch nicht Gegenstand dieser Abhandlung, es sei denn sie ermöglichten es uns, ihre Persönlichkeit besser zu umreiβen. Unser Augenmerk richtete sich ausdrücklich und vor allem auf die radikale Tätigkeit der Beteiligten. Natürlich haben wir auch die Lebensumstände und die geistige Entwicklung dieser Männer geschildert, denn wir wissen, dass Meinungen sich im Laufe eines Lebens ändern können, wie es der bemerkenswerte Fall von Cobbett verdeutlicht. Das Leben dieser Personen fiel zeitlich mit markanten Momenten in der radikalen Bewegung zusammen, wie z. B die ersten politischen Organisationen der Arbeiterschichten, die ersten Massendemonstrationen oder die ersten politisch ausgerichteten Volkszeitungen. Wir wollten die menschlichen Züge jener Männer wiedergeben, die Reden gehalten haben und die in den radikalen Verbänden anwesend waren. Man könnte uns vorwerfen, dass wir- wenn wir uns auf eine historische Person konzentriert haben- andere Fakten oder Personen, die nicht zu ihrem Umfeld gehörten aber dennoch an der Bewegung beteiligt waren, ausgeblendet haben. Uns schien es aber wesentlich, die analytische Methode oder die historische Chronik, die die Studien über die radikalen Bewegungen maßgeblich prägt, aufzugeben. Unser Ziel war es nämlich, diese Schilderungen zu vervollständigen, indem wir den menschlichen Aspekt in den Vordergrund stellten. Dazu haben wir die biografische Perspektive gewählt und unserer Studie angepasst. Schluss Jeder Mann, dessen Rolle wir hervorgehoben haben, lebte in einer bestimmten Phase der radikalen Bewegung. Der Vergleich der Reden, die sie in verschiedenen Epochen gehalten haben, hat aufgezeigt, dass die radikale Ideologie sich im Laufe der Zeit verändert hat. Die Verteidigung der Menschenrechte verlor an Bedeutung und die Argumentation wurde konkreter: Es ging z. B mehr und mehr um das Recht, die Früchte seiner Arbeit zu genieβen. Dieser Wandel fand in der chartistischen Epoche Feargus O'Connors statt. Die Traditionen des Radikalismus und die Erinnerung daran spielten jedoch weiterhin eine wichtige Rolle. Die Rhetorik des Konstitutionalismus und der Volksmythos waren Themen, mit denen die Arbeiterschichten sich immer identifiziert haben, und die ihre Forderung nach dem allgemeinen Wahlrecht gerechtfertigt haben. Wir haben uns auf das Leben einiger einflussreicher Männer des Radikalismus konzentriert, um seine Entwicklung und sein Wesen zu verstehen. Ihre Lebensläufe haben uns als Leitfaden gedient und haben es uns ermöglicht, eine Kohärenz in unserer Abhandlung zu wahren. Zwar sind die Kapitel unabhängig voneinander, aber die Ereignisse und die Reden korrespondieren miteinander. Man könnte manchmal den Eindruck haben, dass sich Fakten, Handlungen und die Geschichte im Allgemeinen endlos wiederholen. Allerdings ist der Zeitgeist im ständigen Wandel begriffen, so wie dies auch beim technischen Fortschritt der Fall ist. Wir sind der Ansicht, dass diese Besonderheiten fundamentale Elemente sind, die es ermöglichen, historische Phänomene zu begreifen, die nicht auf philosophische, soziologische oder historische Konzepte reduziert werden können. Die Geschichte als Wissenschaft weist die Besonderheit auf, dass die physische Realität und die erwähnten Phänomene auch eine menschliche Realität sind. Daher ist es wesentlich, bei der intellektuellen Auseinandersetzung mit einem historischen Phänomen den menschlichen Aspekt nicht aus den Augen zu verlieren. Wir wollten einen Weg einschlagen, der dem vieler Historiker entgegengesetzt ist. Unser Augenmerk richtete sich zunächst auf die Männer, die ihre jeweiligen Epochen maβgeblich geprägt haben, bevor wir uns mit Konzepten beschäftigt haben. Die Männer, die wir auserwählt haben, gaben uns einen neuen und frischen Blick auf den Radikalismus und brachten uns diesen näher. Natürlich sind wir nicht die ersten, die sich mit diesen historischen Personen beschäftigt haben. Durch die chronologische Anordnung unserer Abhandlung, wollten wir- so wie Plutarch, der griechische und römische historische Personen miteinander in Verbindung brachte- die Wesensmerkmale ihrer Reden, Persönlichkeiten und Epochen aber auch ihre Unterschiede in den Vordergrund rücken. Wir haben also versucht, eine Bewegung zu umreiβen und im Kern zu erfassen und die Wege nachzuzeichnen, die zum Radikalismus führten. Wir behaupten nicht, dass wir eine neuartige und ausschlieβliche Definition dieser Bewegung geliefert haben. Wir haben nur versucht, die Wesensmerkmale eines Radikalen zu begreifen und herauszufinden, aus welchen Gründen tausende Männer an diesen Mann geglaubt haben. Wir wollten uns von der ideologischen Debatte über den Kalten Krieg losmachen, die sogar auf die Interpretation zurückliegender Ereignisse abgefärbt hat. Zu oft wurde die Geschichte des Radikalismus mit einer Art revolutionären Nostalgie erzählt, oder mit der Absicht, die Vorzüge des Liberalismus zu preisen. Der Chartismus leitete zwar im 19. Jahrhundert das Ende der groβen Massenbewegungen in England ein, aber diese Methode hat sich im 20. Jahrhundert überall auf der Welt verbreitet. In der Tat zeigt der arabische Frühling am Beginn des 21. Jahrhunderts, dass die zahlenmäβige Überlegenheit das beste Druckmittel des Volkes ist, um seine Rechte einzufordern und das bestehenden Regime zu destabilisieren. Ein Volk, das demonstriert, zeigt, dass es keine Angst mehr hat. Von dem Moment an, in dem ein autoritäres Regime diese psychologische Waffe, die es ihm ermöglicht hat, an der Macht zu bleiben, verliert, kehrt sich das Machtgefälle zwischen der autoritären Staatsgewalt und dem unterworfenen Volk um. Diesen psychologischen Sieg haben die englischen Radikalen vor mehr als 150 Jahren errungen. Jedoch wurde das allgemeine Wahlrecht erst ein Jahrhundert später eingeführt. Damit es also nicht bei Prinzipienerklärungen bleibt, sondern die Freiheiten in die Wirklichkeit umgesetzt werden, bedarf es einer Bewusstseinsänderung, die nur durch eine langwierige Arbeit zustande kommen kann. Für die Schwächsten ist dies ein langer Kampf. In Anbetracht der abendländischen Geschichte muss man die Freiheiten als Rechte betrachten, die es immer wieder zu verteidigen gilt. Paradoxerweise scheint die Revolte also eine grundlegende und unabdingbare Bedingung zu sein, um die Demokratie zu erhalten.