Blaming und Shaming als Standortstrategie
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Deutschlands Problem ist nicht seine Modernisierungskrise. Sondern die fehlende Bereitschaft, sich seinen Problemen ernsthaft zu stellen. Ein Essay zum Jahresanfang 2025.
Bild: ha11ok / Pixabay.
IN DIESEN TAGEN gehört es zu den Aufgaben von Journalisten, gegen Geschichtsklitterung Stellung zu beziehen. Etwa gegen die von konservativ bis rechtspopulistisch vorgetragene
Behauptung, Deutschlands Modernisierungskrise habe erst in der Regierungszeit der Ampelkoalition begonnen oder sei gar durch diese verursacht worden. Vorrangig, so geht besagtes Narrativ
weiter, durch die Grünen und ihre industrie- und verbraucherfeindliche Umwelt- und Klimapolitik.
Ein paar Zitate hierzu aus dem Wiarda-Blog. Januar 2020, Überschrift: "Muss Deutschland (sich) neu erfinden?". Und weiter: "Waren die Deutschen nicht immer so stolz auf ihre Innovationskraft? An der
Schwelle zum neuen Jahrzehnt scheint von diesem Selbstbewusstsein nicht mehr viel übrig zu sein. Die Autoindustrie rutscht in einen Existenzkampf, ihre Chefetagen haben zu spät den tiefgreifenden
Wandel erkannt, den Klimakrise, Elektromobilität und KI bedeuten."
Oder Oktober
2021: "Seit Jahren gleitet die Bundesrepublik in eine immer tiefer werdende Modernisierungskrise ab, sie umfasst mittlerweile weite Teile der Verwaltung, Wirtschaft und des Bildungssystems,
mindestens. Nur hatte das bis zur Coronakrise außer den Warnern... kaum einer gemerkt oder wahrhaben wollen." Oder Dezember 2021, in einer Bilanz der Ära
Merkel: "Und doch: Die Modernisierungskrise, in der Deutschland steckt und die durch die Pandemie in all ihren Facetten zu Tage getreten ist, ist über viele Jahre immer tiefer geworden, und
daran trägt die 16-Jahre-Kanzlerin Merkel eine Mitverantwortung."
Die Ruhigstellung, die sich das Land wünschte
Nein, nicht die Alleinschuld. Denn seine tiefste Modernisierungskrise seit Bestehen der Bundesrepublik hat sich Deutschland als Ganzes erarbeitet. Zuletzt durch eine Ampel-Koalition,
die das Land zwar in Bewegung bringen wollte, deren Regierungshandwerk allerdings in Teilen atemberaubend schlecht war. Doch hatte Angela Merkel mit ihrer Anti-Reform-Politik und in
Zusammenarbeit vor allem mit der Nach-Schröder-SPD genau die Ruhigstellung geliefert, die sich das Land in den damals als krisenhaft empfundenen internationalen Zeiten wünschte. Und die,
inklusive der auf Jahrzehnte sündhaft teuren und in keiner Weise armutsbekämpfenden Rente mit 63, überhaupt nur möglich war durch den Spielraum, der durch den Agenda-2010-Kraftakt ihres
Vorgängers Gerhard Schröder kam.
Nur hat sich seitdem nicht nur das Verständnis dessen geändert, was Krise heißt. Sondern, nachdem durch Rentenpaket und Corona-Pandemie die staatliche. Reserven verfeuert waren, drängte sich mit
Ukraine-Krieg, dem Digitalboom der chinesischen und der US-Wirtschaft und dem gleichzeitigen sukzessiven Arbeitsmarktausstieg von Millionen Babyboomer-Fachkräften die Realisierung in
den Vordergrund, was von Politik und Unternehmen alles verpasst worden war in den vergangenen 20 Jahren.
Wofür jetzt – außer den Grünen – wie eigentlich immer in der Geschichte die Fremden, die Zugereisten, die Schwächsten, die Schutzsuchenden zu Sündenböcken gemacht werden. "Deutschland hat eine
Migrationskrise, nur anders", schrieb ich daher vergangene Woche. Denn ein Land, das nicht aus der eigenen Demographie
heraus seine wirtschaftliche Existenz sichern kann, sägt am letzten Ast, auf dem es sitzt, wenn es durch Menschenfeindlichkeit und dessen Schüren nicht nur Geflüchtete verschreckt, sondern auch
Hochqualifizierte im In- und Ausland. Die, siehe die nur 70.000 eingewanderte Fachkräfte 2023, gar nicht erst kommen, oder die sich im eigenen Land nicht mehr zu Hause fühlen.
"Point of no return"?
"Point of no return", postete die Gießener Philosophin Elif Oezmen auf "Bluesky", nachdem CDU-Chef Friedrich Merz der Welt am Sonntag gesagt hatte,
die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft für Eingewanderte müsse möglich sein, "wenn wir erkennen, dass wir bei straffällig werdenden Personen einen Fehler gemacht haben".
Am Montag legte der CSU-Vorsitzende Markus Söder in Sachen Staatsbürgerschafts-Aberkennung nach, er wolle Migrationsthemen im Wahlkampf "mit harter Hand durchdrücken". Eine Staatsbürgerschaft zweiter
Klasse für Einwanderer, für immer auf Bewährung?
Schon vorher kommentierte Oezmen: "Diesen Tag und diese Nachricht werde ich den Rest meines Lebens nicht vergessen. Denn heute habe ich eingesehen, dass man mir und meinesgleichen in meinem
Geburts- und Heimatland niemals eine sichere Heimat bieten wird."
Der Weg aus der Krise würde mit gesellschaftlicher Selbsterkenntnis beginnen. "Mit dem Modell der 70er Jahre gewinnen wir nicht das 21. Jahrhundert", so lautete die Überschrift über meinem
Jahresausblick für das Jahr 2023. "Deutschland hat
sich fast trotzig in eine Innovationskrise hineinmanövriert. Die Frage ist nicht nur, wie wir wieder herauskommen. Sondern vor allem, ob wir es überhaupt wollen."
Zwei Jahre später deuten die Zeichen nicht auf Kraftakt, nicht auf einen Willen zum Neuanfang, sondern zum Kleinkarierten, zum Blaming und Shaming und zum Der-Angst-Nachgeben.
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Mit bestem Dank und guten Wünschen für 2025
Ihr Jan-Martin Wiarda