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"Deutschlands wirtschaftliches und politisches Gewicht verpflichtet uns, im Verbund mit unseren europäischen und transatlantischen Partnern Verantwortung für die Sicherheit Europas zu übernehmen, um gemeinsam Menschenrechte, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Völkerrecht zu verteidigen" (Angela Merkel: Bundesministerium der Verteidigung 2016, S. 6) Obwohl Angela Merkel nicht mehr Bundeskanzlerin ist, sind die Leitlinien, die im Weißbuch 2016 für die Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands festgelegt wurden, weiterhin elementar – oder nicht? Aber wie lässt sich ihre Aussage im Jahr 2022 verorten? Zeigt Deutschland Verantwortung für die EU, transnationale Partnerschaften und Völkerrecht? In diesem Beitrag soll das Verhältnis zwischen Deutschland und den Vereinten Nationen (VN) in den Blick genommen werden: Mit dem Wegfall des West-Ost-Konflikts, der Dekolonialisierung, dem Beitritt weiterer Staaten und der Veränderung des Krieges hin zu "Neuen Kriegen" (Hippler 2009, S. 3-8) ergeben sich neue Handlungsfelder und Herausforderungen, die die Vereinten Nationen in den Blick nehmen müssen.Je nach Ansicht fällt der größten Weltorganisation eine mehr oder weniger bedeutende Rolle in der internationalen Politik zu (vgl. Gareis & Varwick 2014, S. 295). Allerdings sind maßgeblich die Mitgliedsstaaten für das Gelingen der Vereinten Nationen und für die notwendigen Reformen zuständig, da sie als "klassische intergouvernementale Organisation" (ebd., S. 295) bezeichnet werden können.Die Forschungsfrage lautet daher, wie sich die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik international, im Rahmen der VN, verortet. Die deutsche Politik formuliert hierfür Ziele, die noch genauer zu untersuchen sind. Als eine Maßnahme, um die Zielerreichung zu gewährleisten, kann der MINUSMA-Einsatz in Mali angesehen werden, unter deutscher Beteiligung und von den Vereinten Nationen geführt. Es wird herausgearbeitet, inwiefern die deutsche Partizipation als Erfolg angesehen werden kann. Hierfür wird zuerst der theoretische Rahmen der Internationalen Beziehungen - der Grundzustand der Anarchie - erklärt und weitere Prämissen der VN, des VN-Peacekeepings, der historischen Rahmung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Einsatz selbst beschrieben, um am Ende zu einer elaborierten Aussage kommen zu können. 1. Theoretische Rahmung – Grundzustand AnarchieGareis und Varwick (2014, S. 67) konstatieren einen allgemeinen Anforderungswunsch an die VN, die eine 'Lücke' in der Ordnung der Internationalen Beziehungen füllen sollen. Aber von welcher 'Lücke' wird hier gesprochen? In der Politikwissenschaft gibt es verschiedene Ansätze, um die Beziehungen zwischen Staaten und das Wirken von internationalen Organisationen zu beschreiben. Die Prämisse bildet der Grundzustand von Anarchie, der wie folgt definiert werden kann: "Unter Anarchie wird in diesem Zusammenhang die für Kooperationschancen folgenreiche Struktur der Herrschaftslosigkeit bzw. der Nichtexistenz einer den Staaten übergeordneten, zentralen Autorität mit Handlungskompetenz verstanden" (Gareis & Varwick 2014, S. 67) Es gibt verschiedene Denkschulen, die den Grundzustand unterschiedlich gewichten und bewerten (vgl. Schimmelfennig, S. 63ff). Darunter sind zum Beispiel der Realismus, der Idealismus, der Institutionalismus und der Konstruktivismus zu nennen (vgl. Gareis & Varwick 2014, S. 71). Um das Verhältnis zwischen den VN und Deutschland erklären zu können, ist es hilfreich, zu überlegen, an welcher Denkschule sich die Sicherheits- und Außenpolitik Deutschlands (schwerpunkt- und situationsbezogen) orientiert. Die Ansätze sind in ihrer Gesamtheit in diesem Beitrag nicht zu würdigen, daher werden einzelne Hauptdifferenzen geklärt, um für die Beantwortung der Forschungsfrage eine Richtlinie geben zu können. Die Beschreibung erfolgt idealtypisch: Im Realismus ist der Grundzustand besonders präsent und hauptsächlich staatliche Akteure sind für die Internationalen Beziehungen verantwortlich. Die Staaten haben ein starkes Eigeninteresse, das sich aus der Unsicherheit des Grundzustandes speist, und handeln nach eigenen Machterhaltungsvorstellungen. "In dieser Sichtweise erfüllen internationale Organisationen lediglich aus der Souveränität und den Interessen ihrer Mitglieder abgeleitete Funktionen" (ebd., S. 68). Damit wären Handlungsfelder und Möglichkeiten eng an die Vorgaben der Staaten gekoppelt. Frieden wird als Sicherheit-Erhalten verstanden und bedeutet, dass die Nationalstaaten durch Machtsicherung ihre Souveränität gewährleisten können. (vgl. ebd., S. 68 & 71) Im Idealismus soll der anarchische Grundzustand durch "Kooperationsformen" (ebd., S. 68) geregelt werden. Die Friedenssicherung läuft über einen stetigen Prozess über eine "universelle Gemeinschaft" (ebd., S. 69), die für alle Vorteile bringen kann. Damit wäre das Ziel, Konflikte nicht mehr mit Gewalt lösen zu müssen, anders als im Realismus, wo Krieg als natürliche Form besteht, durch die normative Regelung des Grundzustandes möglich. Internationale Organisationen können mit ihren Regelungen die Realisierung von Frieden darstellen. Damit sind nicht nur Staaten als Akteure zu sehen und statt Machterhaltungsvorgaben ist das Handeln auf ein Gemeinwohl konzentriert. (vgl. ebd., S. 69 & 71) In der Tradition des Institutionalismus sind internationale Kooperationen deutlich wahrscheinlicher als im Realismus. Außerdem ist ihr Einfluss auf Staaten bedeutend höher einzuschätzen. Demnach helfen sie zum Beispiel, Informationen über andere Staaten zu sammeln und können so beim Aufbau von Vertrauen mitwirken. (vgl. ebd., S. 69f) Die "Interdependenz" (Schimmelfennig 2010, S. 93) zwischen den Staaten wird als hoch angesehen und bedarf internationaler Regelwerke, die die Kooperationsmöglichkeiten regulieren. In diesem Sinne sind Staaten an friedlichen Lösungen interessiert und halten Krieg für nicht gewinnbringend bzw. sehen Machtkonzentration als weniger produktiv an als das Streben nach Gewinnen. Dadurch ist der Grundzustand der Anarchie zwar nicht auflösbar, allerdings soll im Laufe der Zeit eine Zivilisierung stattfinden. (vgl. ebd., S. 90) Der Konstruktivismus sieht den Grundzustand der Anarchie nicht als gegeben, sondern als eine Konstruktion von Wirklichkeit an. Dadurch ist es möglich, diesen Zustand zu verändern / aufzuheben. Damit sind die Akteure selbst für den Grundzustand verantwortlich. (vgl. Gareis & Varwick 2014, S. 70) Damit lautet eine Kernhypothese des Konstruktivismus: "Je größer die Übereinstimmung der Ideen von internationalen Akteuren und je stärker damit Gemeinschaft zwischen ihnen ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit von Frieden und internationaler Kooperation" (Schimmelfennig 2010, S. 185) Es wären bspw. Staaten gemeint, die eine freundschaftliche Beziehung pflegen und unabhängig von Machtkonzentration Vertrauen aufbauen. (vgl. ebd., S. 184f) In den Denkschulen sind relativ konkrete Vorstellungen gegeben, wie eine internationale Organisation Einfluss und Machtkonzentration entwickeln kann oder sollte oder bereits beinhaltet. Die Vereinten Nationen können auf einen Blick als größte Organisation im internationalen Spektrum angesehen werden, denn sie haben aktuell 193 Mitgliedsstaaten (Stand 2022) (vgl. Die Vereinten Nationen im Überblick: Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e. V., o. J.).2. Die Vereinten Nationen Bevor über die VN auf manche Aspekte schwerpunktmäßig eingegangen werden kann, ist knapp zu klären, was eine internationale Organisation wie die VN darstellt. Hierbei orientiert sich dieser Beitrag an Gareis und Varwicks (2014, S. 295) Konstruktion von einer "klassische[n] intergouvernementale[n] Organisation", deren Reformfähigkeit und Erfolge maßgeblich von den Mitgliedsstaaten abhängen – also auch von Deutschland. Es werden prinzipiell keine Souveränitätsrechte an die Organisation abgegeben, mit der Ausnahme, dass der Sicherheitsrat Zwangsmaßnahmen zur Friedenswahrung durchsetzen kann (vgl. ebd., S. 72).2.1 Grundlegende Kennzeichen der Vereinten Nationen Die Grundlagen der Vereinten Nationen können an zwei Hauptfaktoren exemplarisch aufgezeigt werden: Erstens ist der Friedensbegriff nicht nur als Abwesenheit von Krieg definiert, er schließt vielmehr das Wohlergehen der Menschen in den Staaten ein und geht somit über das Nationalstaats-Denken hinaus (positiver Friedensbegriff). Das zweite Konzept ist das System kollektiver Sicherheit, dadurch soll der erhöhte Druck, von allen Staaten bei einer Aggression automatisch angegriffen oder anderweitig verurteilt zu werden, die Friedensbedrohung reduzieren. (vgl. Gareis & Varwick 2014, S. 19-22 & 87-92) Dass das System der kollektiven Sicherheit nicht bedingt greift oder einigen Herausforderungen unterworfen ist, liegt bspw. an den neuen Kriegsformen (vgl. Hippler 2009, S. 3f). Gleichzeitig kann die aktuelle Invasion Russlands in die Ukraine (vgl. u.a. Russlands Angriff auf die Ukraine: Beckmann 2022) herangezogen werden, dass die Mechanismen bspw. für Supermächte weitere Schwierigkeiten in der Praxis aufzeigen (vgl. Gareis & Varwick 2014, S. 89f). 2.2 Generalversammlung und Sicherheitsrat – wichtigste Gremien der VN Die Vereinten Nationen sind mittlerweile zu einer undurchsichtigen Ansammlung an offiziellen und inoffiziellen Strukturen geworden und sind unter dem Begriff VN-System sehr weit zu fassen (vgl. Gareis & Varwick 2014, S. 21f). Allerdings sind nach wie vor zwei von sechs Hauptorganen hervorzuheben:In der Generalversammlung (GV) sitzen alle Mitgliedsstaaten und sind nach dem Prinzip der Gleichberechtigung mit jeweils einer Stimme ausgestattet. Hauptcharakteristikum ist, dass die Generalversammlung ein Forum für Gespräche bietet und somit als größtes Austauschforum auf der Welt bezeichnet werden kann. In sechs Hauptausschüssen vollzieht sich die meiste Arbeit der Generalversammlung, auf die hier nicht weiter eingegangen werden soll. Entscheidend ist der Unterschied zum Sicherheitsrat: Die GV hat keinen Sanktionskoffer parat und kann lediglich Empfehlungen aussprechen. (vgl. ebd., S. 45-47) Der Sicherheitsrat besteht aktuell aus 15 Mitgliedsstaaten, wobei zwischen ständigen und nichtständigen Mitgliedern differenziert werden muss. Die ständigen Mitglieder sind die sogenannten 'Big Five' und setzen sich aus Frankreich, Großbritannien, USA, Russland und China zusammen. Sie werden nicht wie die nichtständigen Mitgliedsstaaten von der Generalversammlung im Zwei-Jahres-Zyklus gewählt.Verkürzt dargestellt nimmt der Sicherheitsrat Aufgaben wie Friedensmissionen, Ausschüssen o. Ä. wahr. Die ständigen Mitgliedsstaaten haben historisch bedingt ein Veto-Recht, das eine große Rolle spielt und mehrfach zur Lähmung des SR führte. Der Sicherheitsrat ist das mächtigste Hauptorgan der Vereinten Nationen und ist berechtigt, zur Friedenssicherung weitreichende Sanktionen und militärische Maßnahmen zu ergreifen. (vgl. ebd., S. 47-49) 2.3 Das VN-Peacekeeping aus historischer Perspektive Die Geschichte der VN ist überaus vielschichtig und kann hier nur in den Grundzügen wiedergegeben werden. Im Jahr 1945 wurde die Charta von 51 Staaten unterzeichnet. In den ersten Jahren ihrer Arbeit (1945-1954) mussten organisatorische und strukturelle Systeme aufgebaut werden, die im West-Ost-Konflikt zugleich erste Einschränkungen erfuhren. Die erste große Herausforderung des kollektiven Sicherheitssystems betraf den Korea-Krieg: Nordkorea fiel 1950 in Südkorea ein und der Sicherheitsrat wurde durch Russland blockiert. Daraufhin entstand in der Generalversammlung die Uniting for Peace-Resolution, die Empfehlungen und militärische Interventionen beinhaltete, sollte der SR seiner Aufgabe, den Weltfrieden zu sichern, nicht nachkommen. Die erste inoffizielle Blauhelmmission stellt die UNTSO-Mission dar, die die Überwachung eines Waffenstillstandes 1948 zwischen Israel und arabischen Staaten beinhaltete. (vgl. ebd., S. 27-30 & 127) In den darauffolgenden 19 Jahren (1955-1974) verschob sich das Mächtegleichgewicht maßgeblich durch die Dekolonisation und die Entstehung unabhängiger Staaten im Süden. Hervorzuheben ist die Suez-Krise, in der der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser 1956 den Suez-Kanal verstaatlichte. Großbritannien, Israel und Frankreich gingen ungeachtet der Ablehnung des SR militärisch dagegen vor, verhinderten gleichzeitig mit ihren Vetos eine Deeskalation der Lage. Auf Grundlage der Uniting for Peace-Resolution wurde wieder versucht, den Konflikt auszusetzen und einen Waffenstillstand einzufordern. Die GV beschloss daraufhin die Etablierung der United Nations Emergency Force (UNEF I), um zwischen den Konfliktparteien eine neutrale Zone aufzubauen. Die Blauhelme nahmen hier ein erweitertes Aufgabenspektrum wahr und erhielten bspw. Kontrolle über Hoheitsgebiet. "Damit wurde das wohl bedeutendste Friedenssicherungsinstrument der Vereinten Nationen, die Blauhelmeinsätze, ins Leben gerufen" (ebd., S. 31). (vgl. ebd., S. 27-30 & 128) Im "Nord-Süd-Konflikt (1975-1984)" (ebd., S. 32) versuchten die VN weiterhin, in einigen Konflikten aktiv mit Blauhelmeinsätzen zu vermitteln und zeigten sich angesichts der Invasion der Sowjetunion in Afghanistan (1979) als handlungsunfähig. (vgl. ebd., S. 32f) Die letzte Phase reicht bis heute und beginnt ab dem Jahr 1985. Die Annäherung der beiden Großmächte USA und Sowjetunion und der Zerfall der Sowjetunion ergab Handlungsspielraum im SR. Allerdings entzündete sich auch eine Reihe an neuen Konfliktherden: "Innerhalb von rund 25 Jahren stieg die Zahl der Friedensmissionen von 14 auf nunmehr 68" (ebd., S. 33). Nötige Reformen rückten zuletzt durch den USA geführten Irakkrieg und die Terroranschläge am 11. September vermehrt in den Fokus. (vgl. ebd., S. 33-35) 2.4 Typologisierung und Reformansätze Wie in der historischen Rahmung aufgezeigt, entstand das Peacekeeping, weil das kollektive Sicherheitssystem nicht funktionsfähig war. Die Blauhelmeinsätze sind praxisnahe Formen zur Sicherung des Friedens, die sich zwischen dem Souveränitätsanspruch und den Zielen der VN bewegen. Die Ausgestaltung der Friedensmissionen sind vielfältig: Die VN typologisieren die Einsätze in vier Generationen:In der ersten Generation sind Einsätze hauptsächlich "zur Beobachtung und Überwachung von bereits beschlossenen Friedens- bzw. Waffenstillstandsabkommen […]" (Gareis & Varwick 2014, S. 126) gemeint. Missionen der zweiten Generationen sind durch "ein erweitertes Aufgabenspektrum" (ebd.) ausgezeichnet und meinen Einsätze nach 1988. In der dritten Generation liegt der Fokus nicht nur auf Friedenserhaltung sondern auch auf dessen Erzwingung. Zum Schluss kommen in der vierten Generation nicht-militärische administrative Funktionen hinzu.Jede Generation erforderte Anpassungen und ein mühsames Lernen, sodass die Bilanz des VN-Peacekeeping sehr gemischt ausfällt. Neuere Bestrebungen zielen daher darauf ab, aus den vergangenen Fehlern zu lernen. Zum Beispiel soll das Peacekeeping nur noch mit realistischem Mandat stattfinden und die individuelle, komplexe Konfliktsituation angemessen darstellen. Außerdem ist zu gewährleisten, dass die Blauhelme gut ausgerüstet sind und unter den Aspekten eines robusten Mandats alle neuen Perspektiven der Friedenssicherung wahrnehmen können. Diese beinhalten vereinfacht dargestellt die Konfliktvermeidung, das Konfliktmanagement und die Konfliktnachsorge. (vgl. ebd., S. 124-151) Nachfolgend ist zu klären, inwiefern sich der MINUSMA-Einsatz darin einfügt und welche Rolle Deutschland in dem Entwicklungsprozess des VN-Peacekeeping und des Einsatzes spielt.3. United Nations Multidimensional Integrated Stabilization Mission in Mali (MINUSMA) Der MINUSMA-Einsatz der Vereinten Nationen ist als Peacekeeping-Mission der vierten Generation zu charakterisieren. 3.1 Strukturelle Rahmung des MINUSMA-Einsatzes Das Departement of Peacekeeping Operations (DPKO) ist für die Umsetzung und Planung der Blauhelmmissionen verantwortlich. Mit Stand 2022 sind insgesamt 15 Einsätze zu verzeichnen (DPKO: Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V., o. J.). Die Mission in Mali gehört zu den jüngsten Einsätzen und begann im April 2013 (vgl. Gareis & Varwick 2014, S. 141).Sie gründet sich auf die Resolution 2100 (vgl. Security Council Establishes Peacekeeping Force for Mali Effective 1 July: United Nations 2013) vom 25. April und die Resolution 2164 (vgl. Security Council: United Nations 2014) des Sicherheitsrates und hat multidimensional den Schutz der Zivilisten, die Gewährleistung der Menschenrechte, die Etablierung einer Staatsmacht, die Stabilisierung der Region durch den Aufbau eines Sicherheitsapparates und die Aufrechterhaltung der politischen Dialogfähigkeit und Konsultation als Aufgabe formuliert (vgl. MINUSMA Fact Sheet: United Nations 2022).Damit stehen auch militärische Interventionen zur Verfügung und es kann von einem robusten Mandat gesprochen werden, das lediglich als Ausnahme die aktive Terroristenbekämpfung ausschließt (vgl. Mali: Konopka 2022). Stand November 2021 befinden sich insgesamt 18.108 Menschen im Einsatz und davon sind 13.289 dem militärischen Personal zuzuordnen (vgl. MINUSMA Fact Sheet: United Nations 2022). Dazu kommen zivile Einsatzkräfte und bspw. Polizeiausbildende (vgl. ebd.).Die größten teilnehmenden Länder mit militärischem Personal sind mit 1440 Chad, mit 1119 Bangladesch, Ägypten mit 1072 und auf Platz 10 folgt Deutschland mit 531 Angehörigen (vgl. ebd.). Die Verluste an Menschenleben werden bisher auf 260 (Stand 2021) beziffert (vgl. ebd.). Die Finanzierung wird über die Generalversammlung jährlich geregelt und betrug zwischen 2021 und 2022 1.262.194.200 Dollar (vgl. ebd.).Neuere Zahlen der Bundeswehr (Stand Februar 2022) geben an, dass Deutschland mit über tausend Soldatinnen und Soldaten in Mali im Einsatz ist (vgl. Personalzahlen der Bundeswehr: Bundeswehr 2022). Die Zahl stellt sich als irreführend heraus, weil die Bundeswehr alle Beteiligten zusammenzählt, auch die, die bspw. in Nachbarländern an Schlüsselstellen der Infrastruktur beschäftigt sind (vgl. Mali: Konopka 2022).Die aktuelle Resolution der VN (2584) trat am 29. Juni 2021 in Kraft und ist bis zum 30. Juni 2022 gültig (vgl. Mali – MINUSMA: Bundeswehr 2022). Durch das Ablaufen des Mandats in diesem Jahr ist die Forschungsfrage darauffolgend auszuweiten, inwiefern Deutschland sich weiterhin an der Mission beteiligen wird. Zuerst sollte aber kurz auf die Situation Malis eingegangen werden, um zu klären, warum Deutschland und viele weitere Staaten überhaupt intervenieren. 3.2 Mali – eine von Gewalt geplagte Region Die gesamte Komplexität dieser Krisenregion kann hier nicht dargestellt werden. Allerdings sind einige Aspekte zu nennen, um die Verortung und die Herausforderungen des Peacekeepings zu verdeutlichen. In Nordmali begann 2012, um die politische Unabhängigkeit zu gewährleisten, ein gewaltsames Vorgehen gegen die malische Regierung. Als fragiles Bündnis kamen dschihadistische Kämpfende hinzu, die jedoch nach den ersten Eroberungen der nordmalischen Städte 2013 die Oberhand gewannen.Der Süden Malis war ebenfalls von einem Militärputsch geschwächt und die malische Regierung bat um internationale Hilfe. Frankreich folgte der Bitte und eröffnete die Operation Serval. Afrikanische Länder griffen unter der Mission AFISMA ein. Den alliierten Kräften gelang schnell die Rückeroberung der Städte im Norden. Allerdings ging daraus eine asymmetrische Kriegsführung hervor, die die vom Sicherheitsrat legitimierten Einsatztruppen besonders in den Fokus der Attacken der Dschihadisten stellt.Ein Friedensvertrag von 2015 umfasste bspw. nicht alle Konfliktparteien. Im Allgemeinen ist eine Verschlechterung der Gesamtsituation zu verzeichnen, da Dschihadisten mittlerweile versuchen, auch die Nachbarländer Niger und Burkina Faso zu destabilisieren und sich die Gewalt besonders um Zivilisten zentriert. (vgl. Mali: Konopka 2022) Im Zentrum dieses Kapitels soll die asymmetrische Kriegsführung, auch unter dem Aspekt der 'Neuen Kriege' bekannt, und somit die problematische Lage der Mission im Mittelpunkt stehen. Die Kernfrage ist bereits auf das weitere Engagement Deutschlands ausgeweitet worden und ist realitätsnah zu prüfen: In Afghanistan gelang keine Stabilisierung eines afghanischen Staates. Hier kam nach jahrzehntelangen erfolglosen Gefechten die Terrorgruppe Taliban 2021 an die Macht, als allen voran die USA den Rückzug aus der Krisenregion vollzogen (vgl. Nach 20 Jahren: bpb 2021). 4. Die deutsche Außenpolitik – Schwerpunktsetzung VN Die deutsche Sicherheits- und Außenpolitik ist sehr komplex und selbst ein kursorischer Überblick kann hier nicht geleistet werden. Durch die Darstellung diverser Aspekte ist jedoch eine Verortung möglich. 4.1 Historische Perspektive der deutschen Sicherheits- und Außenpolitik Deutschland blickt auf eine bewegte Geschichte zurück. Ab 1945 wurde die Bundesrepublik enormen Veränderungen durch die Besatzungsmächte unterworfen. Während die DDR unter der UdSSR keine wirklich eigene Außenpolitik entwickelte, gelang es Westdeutschland allmählich, politische Spielräume zurückzugewinnen und eigene Ziele zu vertreten (vgl. Gareis 2021, S. 57). In der Zeit vor der Wiedervereinigung sind einige "konstante Handlungsmuster" (ebd., S. 58) zu erkennen, die bis heute ihre Wichtigkeit beibehalten haben. Darunter sind besonders vier Punkte zu nennen:"die Westintegration, durch welche die Bundesrepublik ihren Platz in den europäischen und transatlantischen Strukturen fand und einnahm die Entspannungs- und Ostpolitik, durch die sie ihre friedens- und stabilitätspolitische Handlungsspielräume erweitern konnte die Offenheit für einen breit angelegten, globalen Multilateralismus mit dem Ziel einer verlässlichen rechtlichen Verregelung und Institutionalisierung des Internationalen Systems die selbstgewählte Kultur der Zurückhaltung in machtpolitischen, insbesondere militärischen Angelegenheiten" (ebd., S. 58) Hervorzuheben sind die anfänglichen Bemühungen der deutschen Außenpolitik, um Frankreich von ihrer skeptischen Sichtweise auf die Wiederbewaffnung und Wiederaufnahme der deutschen Souveränität nach dem Zweiten Weltkrieg abzubringen. Die Bemühungen mündeten bspw. 1963 im Élysée-Vertrag, der die enge Partnerschaft merklich vorantrieb und als "deutlicher […] Motor der europäischen Integration" (ebd., S. 65) zu sehen ist.Eine Verankerung in Internationale Beziehungen vollzog sich somit bereits früh mit den Bemühungen Deutschlands, sich in Europa und in die NATO zu integrieren. In den Zeiten vor der Wiedervereinigung konnte Deutschland dennoch nicht gänzlich zu seinem Selbstvertretungsanspruch finden. Die Integration in internationale Organisationen, die die Machtkonzentration des teilnehmenden Landes einschränken können, wurde zwar innenpolitisch heftig diskutiert, kollidierte jedoch mit realen Erweiterungen der Souveränitätsansprüche Deutschlands und formte somit die Erfahrung dieser Ordnungen.Der Multilateralismus ist eine logische Konstante, weil der Wunsch nach Regeln im Internationalen System die eigene Sicherheit erhöhen soll und im Falle Deutschlands auch politische Freiheiten bedeutete. Das Engagement kann als ernsthaft beschrieben werden, weil die Bemühungen auch mit der Erreichung der eigenen Staatssouveränität bspw. in den Vereinten Nationen und dem europäischen Einigungsprozess nicht nachließ – im Gegenteil intensiviert stattfindet. (vgl. ebd., S. 57f & 61-65 & 70f) 4.2 Deutschlands Außen- und Sicherheitspolitik im 21. Jahrhundert - Verortung Im 21. Jahrhundert sind eine neue Vielzahl an nicht-staatlichen Akteuren, weitere Unwägbarkeiten und multidimensionale Problemfelder mit einer höheren Unsicherheit im Internationalen System verbunden, die die Zuverlässigkeit von internationalen Partnern einschränkt. Diese Problematik wird bspw. u. a. durch das Erstarken des Rechtspopulismus, dem Rückgang liberal-demokratischer Regierungen seit 2005, der neuen Risikobewertung und Qualität des transnationalen Terrorismus begründet. (vgl. Gareis 2021, S. 89f) Als aktuelle Referenz kann das Weißbuch 2016 die Sicherheitsinteressen Deutschlands aufzeigen. Darin sind, bedingt bspw. durch die russische Aggression gegenüber der Ukraine, wieder vermehrt nationale Interessen vertreten, die den Schutz der Bürger*innen und die Integrität der Souveränität Deutschlands ins Blickfeld nehmen. Allerdings sind auch internationale Bestrebungen zur vertiefenden Weiterarbeit in der Entwicklungspolitik, dem Völkerrecht und der partnerschaftlichen Zusammenarbeit in allen wichtigen Internationalen Organisationen wie NATO, EU und VN zu nennen. (vgl. Gareis 2021, S. 105)4.2 Deutschland und die Vereinten Nationen Ein ernsthafter Beitrag zur strategischen (Neu-)Kalibrierung der Sicherheits- und Außenpolitik, die in ihren anfänglichen vier Konstanten (s.o.) auch Diskontinuitäten erfuhr, ist die Münchner Sicherheitskonferenz im Jahr 2014 hervorzuheben, in der das Engagement für internationale Organisationsformen, die einen supranationalen Ordnungsrahmen darstellen können - wie die EU, NATO und VN - verstärkt in den Mittelpunkt gestellt worden. Die Konstante der 'Zurückhaltung' bricht also weiter auf und zeigt das "Leitmotiv der aktiven Übernahme größerer Verantwortung für Frieden und Internationale Sicherheit in einem umfassenden Ansatz […]" (Gareis 2021, S. 92) auf. (vgl. ebd., S. 91f) Für Deutschland stellen die Vereinten Nationen das Höchstmaß für Multilateralismus und Institutionalismus dar. Bestrebungen in den VN waren von der Gründung an ein wichtiges Anliegen der Bundesrepublik, um auf die internationale Bühne zurückkehren zu können. Insgesamt kann das Engagement Deutschlands in den VN als hoch angesehen werden: Aktuell ist Deutschland der viertgrößte Beitragszahler, unterhält über 30 VN-Organe im Land und ist um einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat bemüht und mindestens durch die häufige Wiederwahl (zuletzt 2019/20 – damit zum sechsten Mal) und eindeutigen Wahlergebnissen um einen nichtständigen Sitz als international anerkannt zu bezeichnen. Das Interesse beider Akteure ist als interdependent zu bezeichnen: Die VN brauchen in diesen schwierigen Zeiten einflussreiche Staaten und Deutschland hingegen internationale Kooperationsmöglichkeiten in vielfältigen Ressorts. (vgl. ebd., S. 193f) Deutschland beteiligte sich gleich nach der Wiedervereinigung an VN-Peacekeeping-Einsätzen – allerdings mit unbewaffneten Zivilkräften. Anfang des 21. Jahrhunderts stellte Deutschland nicht nur zivile sondern auch militärische Einheiten zur Verfügung. Das Engagement kann in ihren Anfängen als bescheiden beschrieben werden. Insgesamt bevorzugt Deutschland vom VN-mandatierte Einsätze, die anschließend von der EU oder NATO ausgeführt werden. Der MINUSMA-Einsatz ist somit eine Ausnahme und der zweitgrößte Auslandseinsatz der Bundeswehr. Der afrikanische Raum ist aufgrund seiner Fluchtbewegungen zu einem wichtigen sicherheitspolitischen Raum geworden. (vgl. ebd., S. 203f) Allerdings sind die Gründe für den Einsatz in Mali weiter auszuführen, da die Argumentation möglicher Fluchtbewegungen Lücken aufweist. (vgl. Mali: Konopka 2020) 5. Deutschland und der MINUSMA-Einsatz In den vorherigen Kapiteln sind die Bezüge der deutschen Sicherheits- und Außenpolitik zu den Vereinten Nationen bereits angeschnitten worden. Als Nächstes ist der MINUSMA-Einsatz aus einer politischen Perspektive unter Einbezug der Ziele Deutschlands zu charakterisieren und ein Ausblick auf das Ergebnis dieser Intervention zu geben. Die Bewertung des Einsatzes ist entscheidend, um den deutschen Einsatz nachzuvollziehen. 5.1 Motive für die Beteiligung am MINUSMA-Einsatz Die Intervention und Beteiligung Deutschlands am MINUSMA-Einsatz scheint sich nicht auf die Bekämpfung von Fluchtursachen zu beschränken (vgl. Mali: Konopka 2020 & Kaim 2021, S. 31). Weitere Motive sind aus Kapitel 4 abzuleiten und könnten, kombiniert aus dem Wunsch humanitäre Hilfe leisten zu wollen und die Position der Vereinten Nationen - und sich selbst im Internationalen System und den Multilateralismus - zu stärken, eine Begründungslage bieten. Sie wirkt jedoch unpräzise und bedarf genauerer Beschreibungen: Wie bereits beschrieben, ist Frankreich bereits 2013 dem Hilfegesuch der malischen Regierung gefolgt und musste anhand der realen Bedingungen ihre Ziele anpassen: Deutschland sollte dem engen Bündnis- und EU-Partner unter die Arme greifen. Die Bundesregierung gab zunächst lediglich unbewaffneten Kapazitäten Platz, ehe das Mandat langsam auf aktuell 1100 Soldat*innen aufgestockt wurde.Deutschland schien dabei die Vertiefung der Kooperation von EU-Staaten wie Frankreich und den Niederlanden als geeignete Gelegenheit. Ebenfalls ließ der Friedensvertrag auf weitere Stabilität im Land hoffen. Außerhalb der Bemühungen um die Partnerschaft ist für den Autor Konopka die Bewerbung Deutschlands für den nichtständigen Sitz im Sicherheitsrat (2019/20) ausschlaggebend gewesen.Die anfängliche Konzentration auf die europäische Mission EUTM Mali ging mit einer deutlichen Ausweitung auf die VN-Peacekeeping-Mission über. Außerdem, so der Autor, wäre Deutschland in der Bringschuld gegenüber den Teilnehmenden gewesen, da die Bundesrepublik in weiteren Missionen kaum bis gar keine Präsenz vorzuweisen hatte (bspw. EUMAM RCA oder EUTM RCA). (vgl. Mali: Konopka 2020) Kaim (2021) von der Stiftung Wissenschaft und Politik spricht von einem typischen Muster der deutschen Auslandseinsatzbereitschaft, erst durch Bündnisanfragen Einsatzkräfte zu mobilisieren. Aus dieser Sicht ist primär der Versuch, einen "europäischen Fußabdruck" (ebd., S. 12) im internationalen System zu hinterlassen, anzusehen. Allerdings wird auch hervorgehoben, wie die Bewerbung um den nichtständigen Sitz im Sicherheitsrat eine Intensivierung der deutschen Sicherheits- und Außenpolitik in den VN und besonders im afrikanischen Raum beinhaltete. (vgl. ebd., S. 12-20) Dadurch sind sechs Hauptmotive auszumachen, davon greifen manche weniger als andere: 1. Die Bündnistreue zu Frankreich 2. Die Ausgangslage durch die Münchner Sicherheitskonferenz (2014) 3. Das erweiterte Engagement Deutschlands in den VN 4. Der Versuch, eine europäische Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. 5. Die regionale Sicherheit in Mali zu gewährleisten 6. Terrorismusbekämpfung und die Eindämmung von Fluchtbewegungen (vgl. ebd., S. 27-31) Die Punkte 4, 5 und 6 sind als Hauptmotivlage nachrangig einzusortieren; Punkt 5 wird anhand der deutlichen Zunahme an Instabilität den MINUSMA-Einsatz generell und die deutsche Beteiligung gezielt infrage stellen. 5.2 Bewertung des Einsatzes Die bisherige Bewertung des Einsatzes ist auf Grundlage der festgestellten Motive zu leisten, die eine detaillierte Rahmengebung vorgeben. In die Bewertung fließen themenbedingt erste wichtige Aspekte für das Abschlusskapitel ein. 5.2.1 Die Bündnistreue zu Frankreich Die Unterschiede in der strategischen Bewertung des Einsatzes der beiden Länder zeigt deutlich auf: Während Frankreich mehr militärisches Engagement erwartet und die Terrorbekämpfung in den Fokus stellt, steht die Bundesregierung der Friedenssicherung unter VN-Mandat näher, die die Terroristenbekämpfung explizit ausschließt. Festzuhalten wäre, dass die unterschiedlichen Herangehensweisen in Mali zwischen Frankreich und Deutschland differente Zielvorstellungen aufweisen und das gemeinsame Handeln konterkarieren. (vgl. Kaim 2021, S. 27f) Daraus ist ebenso die Frage zu stellen, ob die Bundesregierung das auslaufende Mandat (vgl. Mali: Konopka 2020) ausweiten, beibehalten oder beenden wird. 5.2.2 Die Ausgangslage durch die Münchner Sicherheitskonferenz Deutschland ist bis heute im MINUSMA-Einsatz tätig (2013-2022) und ist dem Bündnis- und langjährigen EU-Partner Frankreich nachgekommen (vgl. Mali: Konopka 2020). Das Engagement ist bis jetzt ausgeweitet worden und von einer anfänglichen Symboltruppe stehen im direkten Einsatzgebiet in Mali ca. 500 (vgl. MINUSMA Fact Sheet: United Nations 2022) und im erweiterten Einsatz ca. 1000 Soldat*innen (vgl. Personalzahlen der Bundeswehr: Bundeswehr 2022).Die Steigerung der Fachkräfte im MINUSMA-Einsatz ist als Intensivierung zu werten (vgl. Kaim 2021, S. 28). Dies kann als Beleg für die vertiefende Arbeit international angesehen werden, wie es zuvor auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 skizziert wurde. Allerdings wären andere Erweiterungen der Tätigkeitsfelder im internationalen Raum und besonders in internationalen Organisationen denkbar und beinhalten nicht zwangsläufig die Intensivierung des MINUSMA-Einsatzes – gleichzeitig bietet das Einsatzgebiet ein robustes Mandat, also internationale Legitimierung, die für deutsche Auslandseinsätze mitentscheidend ist und einen multilateralen Raum, den die Sicherheits- und Außenpolitik favorisiert (vgl. ebd.).5.2.3 Das erweiterte Engagement Deutschlands in den VN Politisch und militärisch dürfte die Beteiligung Deutschlands am MINUSMA-Einsatz die Vereinten Nationen stärken (vgl. Kaim 2021, S. 28). Bei dieser Beteiligung ist mitunter auch deutlich, dass Deutschland nicht altruistisch, sondern auch im Sinne der im Kapitel 4.2 festgelegten Interdependenzen für den Erhalt der eigenen Sicherheit im Internationalen System handelt.Die Idee eines ständigen Sitzes im Sicherheitsrat gilt als unwahrscheinlich sowie der Reformvorschlag der 'Gruppe der Vier' (mit deutscher Beteiligung), der von den vielen Vorschlägen zur Veränderung des Sicherheitsrates zwar als angemessen erscheint, aber dennoch u. a. an den Veto-Mächten bisher scheiterte (vgl. Gareis & Varwick 2014, S. 308-311). Somit bleibt Deutschland lediglich die Kandidatur im SR als nichtständiges Mitglied, dem die Bundesregierung mit ähnlicher Argumentation und Engagement vermutlich in der nächstmöglichen Amtszeit nachkommen wird (vgl. Kaim 2021, S. 29). 5.2.4 Der Versuch, eine europäische Handlungsfähigkeit zu demonstrieren Die europäische Handlungsfähigkeit kann bereits unter Punkt 5.2.1 als inkonsequent bezeichnet werden. Außerdem sind europäische Kräfte an eigenen Missionen vor Ort gebunden und stellen im MINUSMA-Einsatz nicht die meisten Einsatzkräfte zur Verfügung (vgl. Kaim 2021, S. 29 & MINUSMA Fact Sheet: United Nations 2022). Von einer geschlossenen oder klaren europäischen Einheit kann nicht gesprochen werden, jedoch von einer klaren Beteiligung Deutschlands am Einsatz. 5.2.5 Die regionale Sicherheit in Mali zu gewährleisten Seit dem Friedensabkommen 2015 hat sich die Lage stetig verschlechtert und stellt die VN-Friedensmission insgesamt infrage. (vgl. Kaim 2021, S. 30) Weitere Problemfelder stellen gerade die Alleingänge der europäischen Länder an der MINUSMA-Mission dar, die bspw. auf die typischen Blauhelme und auf die VN-Farbgebung bei Fahrzeugen verzichten. Außerdem sind europäische Kräfte vornehmlich in als sicher geltende Einsätze gebunden und in anderen Stützpunkten als die restlichen Länder wie bspw. Ägypten untergebracht. (vgl. Mali: Konopka 2020) Das stellt die VN-geführte Friedensmission auch vor interne Probleme und kann die Handlungsfähigkeit sowie Moral der teilnehmenden Länder beeinträchtigen.5.2.6 Terrorismusbekämpfung und die Eindämmung von FluchtbewegungenDie Mission ist unter den Aspekten von Fluchtbewegungen bereits als vernachlässigbar (zumindest für Fluchtbewegungen nach Europa) klassifiziert worden (vgl. Kaim 2021, S. 30f). Außerdem wird wegen der Destabilisierung des Landes sogar mit weiteren Flüchtenden zu rechnen sein. Weiterhin ist die dynamische Situation in Mali undurchsichtig und schwer zu charakterisieren, inwiefern der Terrorismus Deutschland bedroht (vgl. ebd.) und inwiefern Dschihadisten mittlerweile als Hauptproblem angesehen werden können, wenn die malischen Sicherheitskräfte immer mehr in den Fokus von Korruption und Destabilisierung rücken (vgl. Mali: Konopka 2020). 5.3 Ausblick – Bleibt Deutschland im MINUSMA-Einsatz? Die Motive sowie deren Zielerreichung sind größtenteils als Fehlschlag zu werten und stellen als größten Erfolg die Arbeit in der internationalen Organisation, den Vereinten Nationen, heraus. (vgl. Kaim 2021, S. 31f) Dass nicht alle Ziele erreicht werden können, liegt mitunter an der multidimensionalen und dynamischen Situation vor Ort und an der Herausforderung, die den 'Neuen Kriegen' (vgl. Hippler 2009, S. 3-8) und das VN-Peacekeeping in der vierten Generation (vgl. Gareis & Varwick 2014, S. 119-127) kennzeichnen. Somit hängt das Engagement Deutschlands im MINUSMA-Einsatz von vielen Faktoren ab, die bspw. die öffentliche Meinung über Auslandseinsätze und die Beschaffenheit und Einsatzfähigkeit der Bundeswehr nach Etatkürzungen einschließen (vgl. Kaim 2021, S. 32). Wie die Einsatzkosten zeigen (s. Kapitel 3), sind das insgesamt beträchtliche Summen, die die Staatengemeinschaft – und anteilig Deutschland – aufbringen müssen.Während die Stiftung Wissenschaft und Politik noch von größeren Hürden diesbezüglich ausgeht (vgl. ebd.), ist durch den Einmarsch Russlands in die Ukraine ein Paradigmenwechsel mit ungeahnter Tragweite in der deutschen Sicherheits- und Außenpolitik möglich (vgl. Mehrheit unterstützt deutschen Ukraine-Kurs: Tagesschau 2022), der die Fortführung des VN-Peacekeepings neu bewerten wird. 6. Zusammenführung und Interpretation Unter dem Aspekt des VN-Peacekeeping wurden zuerst allgemeine Aspekte umrissen und die Forschungsfrage weiter ausgeweitet. Im Kern geht es um die Frage, wie Deutschland sich im 21. Jahrhundert mit seiner Sicherheits- und Außenpolitik im Internationalen System verortet und inwiefern dies als Erfolg angesehen werden kann. Letzteres ist nur unter bestimmten, einschränkenden Aspekten zu beantworten und ist mithilfe des MINUSMA-Einsatzes zu verorten. Deutschland positioniert sich offen und ernst zu den Vereinten Nationen und folgt dabei historisch gewachsenen Paradigmen und Erfahrungswerten (s. Unterkapitel 4.1): Daraus lassen sich die Bemühungen um einen ständigen oder nichtständigen Sitz im Sicherheitsrat und weiteres internationales Engagement wie im VN-Peacekeeping und somit die Beteiligung in Mali (MINUSMA-Mission) folgerichtig begründen.Deutschland hat ein nationales sicherheitspolitisches Interesse an einer Verregelung des anarchischen Grundzustandes, um die eigene Position darin zu stärken – Unsicherheiten also abzubauen (vgl. Gareis 2021, S. 58). Damit folgt die Politik nicht einer uneingeschränkten Idealismus-Denkschule und zeigt auch zweckrationale Positionen auf. Dennoch ist der MINUSMA-Einsatz in diesem Sinne als Misserfolg zu werten und zeigt besonders in den Bemühungen um Multilateralismus und einer Institutionalisierung des Internationalen Systems, hier in Form der Vereinten Nationen zu interpretieren, erwähnenswerte Erfolge auf (s. Kapitel 5).Die deutsch-französischen Beziehungen hingegen könnten insgesamt unter dem Konstruktivismus Betrachtung finden: Obwohl die strategische Ausrichtung beider Länder nicht immer im selben Verständnis verläuft (s. Kapitel 5), ist sehr wohl ein ernstzunehmender Konflikt zwischen den beiden großen europäischen Staaten nicht anzunehmen und die außerordentliche internationale Kooperation als erwähnenswert anzusehen. Aus der Ausarbeitung tritt ein Dilemma zutage, das wie folgt zu charakterisieren ist: Deutschland als Nationalstaat hat nur begrenzt Ressourcen und Möglichkeiten, die auch interessengeleitet begründet werden müssen. Deswegen ist ein Problem für Deutschland darin zu skizzieren und zu fragen, in welche internationale Organisation sie ihren weiteren Fokus legen wird. VN-mandatierte aber von NATO und EU ausgeführte Friedensmissionen werden bspw. bevorzugt, gleichzeitig wird eine Stärkung der Vereinten Nationen als Ziel formuliert (s. Kapitel 4).Investitionen in allen internationalen Organisationen bringen Deutschland in eine prekäre Situation, wie die Motivlage und die Ausgestaltung des MINUSMA-Einsatzes aufzeigt (s. Unterkapitel 5.2.5). Als Fazit ist festzuhalten, dass der MINUSMA-Einsatz einer oftmals bloßen Rhetorik zur Stärkung multilateraler Beteiligung grundsätzlich entgegenläuft und Deutschland zukünftig als ernstzunehmenden internationalen Akteur kennzeichnen könnte (vgl. Gareis 2021, S. 216). Prinzipiell kann zudem bestätigt werden, dass Deutschland am ehesten seine Fähigkeiten einbringen kann, wenn internationale Legitimation besteht (mit Blick auf das Grundgesetz und der eigenen 'Zurückhaltungs-Konstante'), Bündnis- und beteiligte Partner mit ihren Interessen zumindest kollidieren (vgl. ebd., S. 112) und Multilateralismus als Merkmal auftritt. Daraus lässt sich die Intensivierung in internationale Organisationen ableiten, weil es nachhaltig die Souveränität Deutschlands positiv beeinflussen kann (vgl. ebd.). So kann Gareis (2021, S. 93) zugestimmt werden, wenn er schreibt: "Sicherlich kann auch im Jahr 2020 festgestellt werden, dass Deutschland an seinen Bemühungen um eine Zivilisierung der internationalen Politik durch Regime und Institutionen festhält. Auch ist es seiner Bevorzugung von friedlicher Konfliktbeilegung und Kooperation vor der Machtpolitik sowie schließlich auch seiner grundsätzlichen Bereitschaft zur Übertragung von Souveränitätsrechten weitestgehend treu geblieben – wenngleich die mit dem Zivilmachtkonzept gern verbundene 'Kultur der Zurückhaltung' Ergänzungen durch die Verfolgung stärker nationaler Interessen erfahren hat." Der Ausblick ist jedoch unter der aktuellen Prämisse (s. Unterkapitel 5.3) unter Vorbehalt zu stellen und zeigt deutlich die Unsicherheiten auf, die der Grundzustand der Anarchie treffend formuliert und exemplarisch die angerissene Reformbedürftigkeit der Vereinten Nationen sowie die Handlungsunfähigkeit des Sicherheitsrats hervorhebt. Deutschland wird in jeglichem denkbaren Szenario eine größere Rolle in den Internationalen Beziehungen spielen: "Die Anforderungen an die multilaterale deutsche Außen- und Sicherheitspolitik werden also steigen, und neben dem vielbeschworenen Willen zur Übernahme von 'Verantwortung' wird auch die Bereitschaft zum personellen und finanziellen Engagement wie auch zur Übernahme ungewohnter politischer Risiken wachsen müssen" (Gareis 2021, S. 216) 7. Literatur Beckmann, H. (26.02.2022): Russlands Angriff auf die Ukraine. Europa hat einen neuen Feind. Online: https://www.tagesschau.de/ausland/europa/russland-krieg-europa-101.html [09.03.2022]. Bundesministerium der Verteidigung (2016): Weissbuch 2016. Zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr. Online: https://www.bmvg.de/resource/blob/13708/015be272f8c0098f1537a491676bfc31/weissbuch2016-barrierefrei-data.pdf [09.03.2022].Bundeswehr (21.02.2022): Personalzahlen der Bundeswehr. Wie lauten die Einsatzzahlen. Online: https://www.bundeswehr.de/de/ueber-die-bundeswehr/zahlen-daten-fakten/personalzahlen-bundeswehr [09.03.2022].Bundeswehr (0. J.): Mali – MINUSMA. Online: https://www.bundeswehr.de/de/einsaetze-bundeswehr/mali-einsaetze/minusma-bundeswehr-un-einsatz-mali [09.03.2022]. Bundeszentrale für politische Bildung (07.06.2021): Nach 20 Jahren: NATO-Truppenabzug aus Afghanistan. Online: https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/334345/nach-20-jahren-nato-truppenabzug-aus-afghanistan/ [09.03.2022]. Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e. V. (o. J.): Die Vereinten Nationen im Überblick. Online: https://dgvn.de/un-im-ueberblick [09.03.22].Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e. V. (22.02.2022): Wie geht es weiter mit dem deutschen Engagement in Mali? Online: https://dgvn.de/meldung/wie-geht-es-weiter-mit-dem-deutschen-engagement-in-mali [09.03.22].Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e. V. (o. J.): Hauptabteilung Friedenssicherungseinsätze (DPKO). 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Online: https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend/deutschlandtrend-2925.html [09.03.2022].United Nations (2013): Security Council Establishes Peacekeeping Force for Mali Effective 1 July. Unanimously Adopting Resolution 2100 (2013). Online: https://www.un.org/press/en/2013/sc10987.doc.htm [09.03.2022]. United Nations (2014): Security Council. Resolution 2164 (2014). Adopted by the Security Council at its 7210th meeting, on 25 June 2014. Online: https://www.un.org/en/ga/search/view_doc.asp?symbol=S/RES/2164(2014) [09.03.2022]. United Nations (01.03.2022): MINUSMA Fact Sheet. United Nations Multidimensional Integrated Stabilization Mission in Mali. Online: https://peacekeeping.un.org/en/mission/minusma [09.03.2022].
Medienpädagogische Zielsetzungen und Menschenbilder sind stets Konjunkturen unterworfen und haben sich im Laufe der Zeit immer wieder gewandelt. Im Call for Papers für dieses Themenheft haben wir gefragt, ob wir heute wiederum an einem solchen Punkt stehen, und es angesichts von Datafizierung, algorithmischer Kultur und Künstlicher Intelligenz neuer, veränderter medienpädagogischer Leitbilder bedarf. Leitbilder können im klassischen Verständnis begriffen werden "als normierende Vorgriffe zur Steuerung der individuellen Lebensführung wie auch sozialer Prozesse" (Pongratz 2010 [1995], S. 165). Sie dienen im pädagogischen Kontext als gesellschaftlich legitimierte Blaupause zur "Verbesserung des Lebens" (ebd.), beanspruchen insofern normative Gültigkeit und dienen als Bezugspunkt theoretischer und praktischer Debatten. Angesichts der Omnipräsenz digital-medialer Veränderungsprozesse scheint es angebracht, die vorherrschenden Setzungen kritisch zu beleuchten und auf ihre Aktualität zu prüfen. Insbesondere haben wir im Rahmen des Calls dazu eingeladen, den Begriff der Souveränität (neu) auszubuchstabieren und zu hinterfragen, da sich entlang dieses Konzepts aktuell eine ebensolche medienpädagogische Leitbilddiskussion aufspannt. Dabei war unsere Intention eine doppelte: Einerseits wollten wir den aktuellen, maßgeblich ökonomisch und technologisch signierten Diskurs (z. B. bitkom 2019) um 'Digitale Souveränität' medienpädagogisch betrachten und wenden. Andererseits wollten wir vor dem Hintergrund veränderter Mensch-Technik-Balancen mit dem Begriff der Souveränität verknüpfte Ideale wie Mündigkeit, Autonomie und Handlungsfreiheit befragen. Vereinfacht drückt sich in diesen Idealen die normativ erwünschte Fähigkeit sozialer Entitäten aus, durch Entscheidungen und Handlungen gestaltend Einfluss auf ihre Umwelten nehmen zu können, womit auch klassische pädagogische Ideale adressiert werden. Diese tradierte Souveränitätsfiktion, die demokratietheoretisch weiterhin der Idee von Bürgerschaft zugrunde liegt, wird sozialtheoretisch freilich seit langem als 'naiv' angezweifelt: Von kritischer Theorie bis Poststrukturalismus wurde in unterschiedlicher Form dargelegt, inwiefern Handlungsfreiheit immer schon als bedingt und innerhalb von Machtgefügen betrachtet werden muss. Medienbezogen zeigt sich Souveränität heute zunehmend aber auch empirisch angezählt: angesichts der gewachsenen Konkurrenz technischer Systeme und Plattformen, die für uns entscheiden oder uns Empfehlungen geben, die qua strategischer Intransparenz Dystopien des Souveränitätsverlusts nähren; angesichts digitaler Medienökologien, die aktuelles Medienhandeln mit Mustern vergangenen Handelns in Verbindung setzen und denen Prognosen künftigen Handelns eingeschrieben sind; sowie durch mediale Komplexität, die verunsichert und einen Bedarf nach Kontingenzreduktion evoziert. Wenngleich die Debatte um Zielrichtungen, Ideale und Menschenbilder nicht neu ist (siehe etwa merzWissenschaft 2017), so erscheint sie angesichts dieser Entwicklungen doch aktueller denn je. Sowohl im Hinblick auf die medienpädagogische Praxis als auch im Bereich der Forschung ergeben sich Herausforderungen, die eine (Neu-) Positionierung und ein Hinterfragen bestehender Prämissen erfordern. Insofern lässt sich diese Ausgabe der merzWissenschaft als Versuch verstehen, die laufenden Debatten aufzugreifen und fokussiert fortzuführen. Diese Einführung in das Themenheft ist insbesondere von einer Beobachtung geprägt, die wir aufgreifen und vertiefen möchten: In vielen der hier versammelten Beiträge spielen Semantiken des Relationalen eine Rolle, um die Herausforderungen gegenwärtiger Digitalmedien und Dateninfrastrukturen mit Blick auf Fragen der Souveränität adäquat zu beschreiben. Wie Neuberger in ihrem Beitrag treffend feststellt, berührt "der Diskurs um digitale Souveränität [...] auch die Frage nach dem Subjektbegriff in der Medienpädagogik, weil mit der Personzentrierung die Vorstellung mitgeführt wird, dass Subjekte Ursprung von Handlungen sind". In dieser Einführung möchten wir nun skizzieren, welche Konzepte relationaler Subjektivität hierbei entworfen werden und inwiefern in den Beiträgen ein relational turn zur Geltung kommt, der seit einiger Zeit auch in anderen Disziplinen und Fachbereichen diskutiert wird1. Darüber hinaus wird es auch darum gehen, an welcher Stelle tradierte Subjektkonzepte zum Tragen kommen und in welcher Form auch hier die Frage nach relationalen Verhältnissen von zunehmender Bedeutung ist. Vom schwachen zum starken zum relationalen Subjekt? Als Disziplin, die sich mit Lern-, Bildungs-, Sozialisations- und Erziehungsprozessen befasst, kommt die Medienpädagogik nicht umhin, ihre ontologischen Vorannahmen ebenso wie ihre normativen Zielsetzungen zu reflektieren (Swertz et al. 2017; Trültzsch-Wijnen 2017). Seit den späten 1970er Jahren bildet die Vorstellung des "starken Subjekts" (Taube et al. 2017; Wagner 2013) einen zentralen normativen Rahmen des medienpädagogischen Menschenbildes (Kammerl 2017). Das Doppeltheorem der kommunikativen Kompetenz (Baacke 1973) setzt eine empirische Souveränität der Subjekte voraus, verstanden als die ihnen gegebene Fähigkeit (medial) zu kommunizieren. Diese Fähigkeit wird mit dem normativen Erwartungshorizont verknüpft, die in ihren Grundlagen gegebene Kompetenz des Zeichengebrauchs im jeweils gegebenen kulturellen und gesellschaftlichen Kontext weiter auszubilden, entsprechend pädagogischer Zielsetzungen zu entfalten und zu fördern. Diese doppelte Klammer aus Befähigt-Sein und Befähigt-Werden ist zumindest für jenen Teil der Medienpädagogik, der sich als Handlungswissenschaft versteht, tief in das professionelle Selbstverständnis eingeschrieben (Schorb 2011). Brüggen/Lauber/Schober erinnern in ihrem Artikel daran, dass diese Handlungsorientierung in den 1970er Jahren gegen den Mainstream der damaligen Bewahrpädagogik erkämpft wurde; nicht zuletzt in produktiver Wendung der bis dato dominanten, kulturpessimistischen Deutungen der Massenmedien als bloße Kulturindustrie und ohnmächtigen, schutzlosen Massenpublika. In den 1980er und 90er Jahren konnte sich die mit gewendetem Menschen- und Medienbild versehene handlungsorientierte Medienpädagogik zur sozialtheoretischen Avantgarde einer interaktionistischen Sozialisationsforschung zählen, die die 'Agency' der Subjekte – nach Jahrzehnten strukturalistischer Dominanz – sichtbar machte. 'Stark' waren diese Subjekte nicht, weil sie (mithilfe medienpädagogischer Intervention) alles konnten, wussten oder sich vollkommen frei von Handlungszwängen machen konnten, sondern weil ihnen theoretisch wie praktisch emanzipatorische Potenziale zugeschrieben wurden und weil der Glaube vorhanden war, durch individuelle wie kollektive Freisetzung von Gestaltungsmacht Veränderung zu bewirken, um zum Beispiel eine andere Öffentlichkeit herzustellen. Das Ideal einer souveränen Lebensführung bedeutete demnach, auf Basis und in Anerkennung des Bestehenden, fähig zu sein, eigene Positionen zu entwickeln, sich mithilfe von Medien Gehör zu verschaffen, sich in Debatten einzuschalten, kulturell etablierte Formen der Mediennutzung und -aneignung in den eigenen Alltag zu integrieren, sie dabei ab-zuändern, kreativ umzuprägen. Deutlich wird jedoch, dass die Vorstellung vom starken Subjekt oft eine individualtheoretische Konnotation aufweist, die etwa in einer kantianischen Theorietradition steht und das Subjekt über die dualistische Abgrenzung gegenüber dem Objekt definiert (Künkler 2014). In der Tendenz wird das Subjekt dabei als "Individuen-Entität" (Reckwitz 2012, S. 16) gefasst und gilt – je nach theoretischer Ausformung – beispielsweise aufgrund seiner Vernunftbegabung, seiner Körperlichkeit, seiner Reflexions- oder seiner Handlungsfähigkeit als generatives Zentrum von Sozialität. Wenn vor diesem Hintergrund, im Sinne einer Neuorientierung des Leitbilds, nun Relationali-tät als Beschreibungskategorie betont wird, ist das begründungsbedürftig. Sowohl das 'starke' als auch das 'schwache Subjekt' sind nicht ohne das Beziehungsgeflecht zu denken, innerhalb dessen sie hervorgebracht werden. Aus unserer Sicht läuft daher die zu findende retrospektive Etikettierung tradierter medienpädagogischer Positionen als orientiert an rein monadisch-atomistischen Subjektverständnissen oder an Idealen vollständiger oder absoluter Souveränität fehl. Dennoch handelt es sich beim Plädoyer für einen stärkeren Relationalitätsbegriff um eine tatsächliche Verschiebung, um mehr als rhetorische Neuetikettierung. In der Kultur der Digitalität, so etwa Engel/ Mayweg/Carnap in ihrem Beitrag, sei Handlungsmächtigkeit "stets eine verteilte Mächtigkeit, sie findet als 'Effekt' verschiedener Akteur*innen und Aktanten statt." Mit Leineweber/ Zulaica y Mugica gesprochen geht es um eine "nicht-naive Reaktualisierung des Begriffs der Souveränität". Überblickend lässt sich ablesen, dass ein soziotechnisch informiertes Denken vielfach als besonders relevant erachtet wird. Eingearbeitet in das Subjektverständnis und die Vorstellung von Medienhandeln respektive Me-dienpraxis wird (metaphorisch und personifizierend gesprochen) die Figur eines Daten-Selbst, mit dem die Subjekte wissentlich oder unwissentlich beständig in Interaktion stehen (Schelhowe 2020; Cheney-Lippold 2019). Dieses Daten-Selbst präformiert und beeinflusst unsere Erfahrungsräume, unabhängig von den anderen sozialen und kulturellen Kontexten als Ebenen von Relationalität, die medienpädagogisch immer schon Beachtung fanden. Bevor wir verschiedene Argumentationslinien skizzieren, die verdeutlichen, wie Relationalität und Subjektivität als relevante Bezugskategorien für Fragen der (digitalen) Souveränität in den Beiträgen aufscheinen, möchten wir eine historische Entwicklung sichtbar machen, die aus unserer Sicht Anhaltspunkte bietet, warum Relationalität als konzeptuelle Perspektive gerade jetzt paradigmatisch zu werden scheint. Unsere These ist hierbei, dass die technisch-medialen Umwälzungen und kultur- und sozialwissenschaftliche Re-Orientierungen bzgl. Subjektwerdung und humaner Handlungsmacht in der Gegenwart konvergieren. Anhaltende sozialtheoretische (Subjekt-)Kritik und faktische Technologisierung entfalten ihre persuasive Kraft also zusammen (Abb. 1). Besonders seit dem Aufkommen datenintensiver digitaler Plattformen erscheint es – nicht zuletzt aufgrund der opaken Konstitutivität von Mensch-Algorithmen-Verkettungen, wie Ernst in seinem Beitrag deutlich macht – zunehmend schwierig, unmittelbare Anknüpfungspunkte für medienpädagogisches Handeln zu finden, welches dem Idealbild des souveränen Subjekts anhängt (Eder et al. 2017). Medientechnologische Innovationen und zugehörige Prozesse, etwa der Datafizierung, sind damit ein wesentlicher Bestandteil der Bestimmung von Möglichkeiten und Grenzen pädagogischen Handelns. Im Zuge dessen scheint eine Infragestellung bewährter Subjektvorstellungen angebracht, welche implizit und teils auch explizit medienpädagogischen Diskussionen zugrunde liegen. Gerade in jüngeren Ansätzen relationaler Subjektivität kommt eine Wende dergestalt zum Ausdruck, dass den Relationen ontologischen Vorrang gegenüber den Relata eingeräumt wird (Künkler 2014, S. 27). Dieser Denkansatz – der unter anderem auf die Arbeiten des Soziologen Norbert Elias (1970) rekurriert, sich aber auch in jüngeren Debatten um posthumanistische Ansätze (Braidotti 2015) oder neomaterialistische Positionen (Hoppe/ Lemke 2021) findet – geht also nicht a priori von Entitäten aus, die in einer bestimmten Art und Weise zueinander in Beziehung stehen, sondern dreht dieses Verhältnis um und betrachtet zuallererst die "Beziehungsweisen und Bezogenheiten" (Krautz 2017). Diesen wird generative Kraft zugeschrieben, erst durch die spezifische Ausprägung der relationalen Verhältnisse werden Manifestationen möglich. Ein so verstandenes 'relationales Subjekt' darf nicht als substanzialistische Entität missverstanden werden, sondern lässt sich vielmehr als unabschließbarer Formierungsprozess heterogener Verwoben-heiten und unterschiedlicher Bindungsqualitäten mit der Fähigkeit zur temporären Stabilisierung durch Wiederholung begreifen (Seyfert 2019, S. 107 ff.). Die Beiträge in dieser Ausgabe weisen hier in unterschiedliche Richtungen: Einerseits wird Relationalität im Anschluss an klassische Subjektkonzepte als etwas beschrieben, innerhalb dessen Subjekte sich handelnd bewegen und entwerfen. Andererseits entwickeln manche Autor*innen Konzepte 'relationaler Subjekte', die sich – durchaus als Fortführung poststrukturalistischer Denklinien – deutlicher von traditionellen Vorstellungen des Subjekts lösen, indem sie Relationalität primär im Sinne einer Prozessontologie verstehen, sich von dualistischen und individualtheoretischen Ansätzen abgrenzen und wesentlich offensiver die Bedeutung hybrider Subjektivierungsweisen in den Vordergrund rücken. Subjektivität, Digitalität und Souveränität: Drei Argumentationslinien Mit den vorangegangenen Ausführungen wurde deutlich, dass für deskriptiv-analytisch wie für normativ ausgerichtete Fragen nach Souveränität die jeweils zugrunde gelegten Subjektverständnisse maßgeblich sind. In den Beiträgen sehen wir drei größere Argumentationslinien, die gemünzt auf konkrete Gegenstände durchaus ineinandergreifen. Die ersten beiden Argumentationslinien knüpfen dabei vielfach an bestehende medienpädagogische Orientierungen an, reagieren jedoch mit einer Verstärkung relationaler Sichtweisen auf die Diagnosen veränderter medialer Umwelten. Die dritte Argumentationslinie, noch eher im Status von Theorieentwürfen durchgespielt, nutzt die Diagnosen hingegen, um das Subjektverständnis selbst nachhaltig zu refigurieren. Mitgestalten, stören, spielen: Handeln in relationalen Verhältnissen als Quelle der Unruhe In der ersten Argumentationslinie steht der Anspruch, auch unter veränderten Spielregeln den Raum für Reflexion und Mitgestaltung möglichst weit offen zu halten, im Mittelpunkt. Im Grunde handelt es sich um die Verlängerung des medienpädagogischen Credos, Emanzipation und Mitbestimmung zu ermöglichen, und wo möglich, systemische Prädispositionen kreativ zu stören bzw. umzuarbeiten. Sich seiner Schwäche und digitalen Vulnerabilität bewusst, erschöpft sich das in relationalen Verhältnissen handelnde Subjekt auch unter der Bedingung permanenter Datafizierung und durchökonomisierter Medienumgebungen nicht in der Rolle passiv-aktiver Funktionserfüllung. Hier schimmert die "Sozialfigur des Hackers" (Funken 2010) durch, zu deren Souveränitätsfiktion gehört, innerhalb datenbasierter Umwelten humane Agency und Gestaltungskraft zu bewahren. In diese Argumentationslinie fallen zum einen Positionen, die die Gemachtheit technischer Systeme betonen, zuvorderst also: ihre Gestaltung durch Menschen, und entsprechend stark machen, dass diese Systeme potenziell anders beschaffen sein könnten und sollten. Anstatt also Ohnmacht zu akzeptieren, wird das humane Momentum und die individuelle und kollektive Verantwortung, für eine andere Medien- und Datenwelt einzutreten, scharf gestellt. Im vorliegenden Heft argumentieren beispielsweise Raffel, Allert und Richter in diese Richtung. In Relektüre von Ansätzen aus der informatorischen Bildung sowie von Critical Data Literacy leiten sie eine umfassende "Mitgestaltungskompetenz" ab. Hierbei betonen sie unter anderem die Bedeutung von Folgenabschätzungen, die "nicht-intentionale Effekte" sowie die "strukturelle Unbeherrschbarkeit von Software auch für jene, die sie produzieren" mitdenken. Darüber hinaus wird diese Konzeption der Einbindung des Subjekts in relationale Verhältnisse auch nicht-technisch als reflexive und mitunter widerspenstige, unberechenbare Instanz diskutiert (siehe dazu auch merzWissenschaft 2021). Um in dieser Weise wirksam zu werden, braucht es allerdings Methoden, um die für digitale Medien und Infrastrukturen charakteristische Intransparenz und Opazität in Manifestationen zu überführen, welche für die Subjekte greifbar sind. "Digital doubles", so Herzig/Sarjevski/Hielscher in Rekurs auf Bode und Kristensens Studie zur Quantified Self-Bewegung, sind nicht nur Werkzeuge von Vermarktung und Überwachung, sondern auch potenzielles "Element der reflexiven Auseinandersetzung mit dem Selbst", das einen "kontinuierlichen Dialog" zwischen dem "Ich und dem anderen Ich" (der selbstbezogenen Daten, erfahrbar z. B. durch Visualisierung) ermögliche. Einige Beiträge in diesem Themenheft nehmen hierbei Anleihen aus der Ästhetiktheorie: Leineweber/Zulaica y Mugica werben auf Basis eines ästhetisch orientierten Verständnisses von Souveränität für eine Medienpädagogik, die hilft zu erkennen, dass das sozialtechnologische Versprechen, "die Welt durch Daten beherrschbar zu machen" nicht mehr ist als eine "ästhetische Choreografie des Souveränen durch digitale Berechnungen", deren Kern im Grunde an-ästhetisch ist, weil sie Reflexion, Reibung, Ungewissheit, Aushandeln, das Ringen um Begründung zum Erliegen bringt. Wiedel/Dietrich/ Knieper wiederum beziehen sich auf den Governance-Ansatz, um eine Vorstellung von "strategischer Autonomie" zu etablieren. Aufgabe der Medienpädagogik sei es, Subjekte zu befähigen, bestehende "Handlungskorridore situativ zu erkennen und darin selbstbestimmt sowie wertgebunden eigene Handlungsentscheidungen zu treffen. Regieren, verbünden, quervernetzen: Relationalität als politisches Konzept In der zweiten Argumentationslinie steht Relationalität für ein Konzept politischen Handelns, wonach Souveränität nur (noch) im Zusammenspiel verschiedener Instanzen zu erreichen ist. Für die Medienpädagogik bedeutet das in erster Linie, neue Allianzen zu formen und bestehende zu intensivieren, wie das im Wechselspiel mit politischer Bildung, informatorischer Bildung sowie Medienrecht/-politik bereits getan wird. Auch hier geht es nicht zwingend darum, das Subjektverständnis der Medienpädagogik im Vergleich zu früheren Ansätzen gänzlich in Frage zu stellen. Vielmehr heben die Autor*innen hervor, dass traditionelle Vorstellungen von Medienkompetenz Gefahr laufen, das Individuum ebenso wie die Medienpädagogik mit Ansprüchen zu überfrachten, die beide nicht einlösen können; und umgekehrt Verantwortung, die bei anderen Instanzen liegt, an das Subjekt zu delegieren. In diesem, negativen Sinn beschreibt 'di-gitale Souveränität' eine Subjektivierungsform, die im schlimmsten Fall vortäuscht, mit etwas Training und Qualifizierung wären die befürchteten Souveränitätsverluste schon irgendwie auszugleichen. Dem wird ein (politisches) Verständnis von Relationalität gegenübergestellt, das verschiedene Ebenen durchkreuzt und mehrere Instanzen kombiniert. Herzig/Sarjevski/Hielscher etwa argumentieren, dass algorithmische Entscheidungssysteme Formen der Intransparenz beinhalten, die Subjekte mit noch so großer Anstrengung allein nicht überwinden können. Darauf aufbauend beschreiben sie ein relationales Instanzen-Gefüge mit drei Seiten, bestehend aus kompetenten Nutzer*innen (transparency by education), um Transparenz und Nachvollziehbarkeit bemühte Softwareunternehmen (transparency by design) sowie um politische und rechtliche Institutionen, die regulativ eingreifen (transparency by regulation). Diese Stoßrichtung relationaler Semantik schreibt hier im Grunde fort, was Medienpädagogik insbesondere im Bereich des Jugendmedienschutzes schon lange versucht: ein konzertiertes Zusammenspiel aus Kompetenz- und Bildungsarbeit auf individueller Ebene, Eigenverantwortung und Selbstorganisation auf Seiten der Medienanbieter*innen (FSK, FSF, USK usw.) sowie rechtliche Rahmen und Durchsetzungsorgane bei Verstößen. Waldecker wiederum hält in seinem Beitrag fest, dass es begriffliche Alternativen braucht, um die "Verstrickung in datenbezogene Ausbeutungsverhältnisse" der Subjekte angemessen fassen zu können. In einer explorativen Studie zur Nutzung von Smart Speakern zeichnet sich in seinen Augen ab, dass das Konzept der Souverä-nität an Grenzen stößt, um die multiplen Abhängigkeiten angemessen erfassen und pädagogisch thematisieren zu können. Notwendig erscheint in diesem Sinne – um mit Wendt zu sprechen – "die Eigenlogik digitaler Strukturbildung zu reflektieren", um so Möglichkeiten zu finden, der Tendenz digitaler "Hyperindividualisierung" etwas entgegenzusetzen. Subjektivieren, praxeologisieren, materialisieren: Relationale Subjektivität als sozialtheoretische Re-Orientierung In der dritten Argumentationslinie steht die Figur des relationalen Subjekts für die Verschiebung sozialtheoretischer Prämissen. Hier mischt sich das lange Abarbeiten diverser kultur- und sozialwissenschaftlicher Strömungen am Erbe des idealistischen Subjekts der Aufklärungsphilosophie, mit den Zeitdiagnosen zu Digitalisierung, Technisierung und Mediatisierung. Für Riettiens etwa scheint es angesichts "einer postulierten Unhintergehbarkeit des Digitalen in der Gegenwart (...) geradezu produktiv, sich mit der Nicht-Souveränität auseinanderzusetzen, um die relationalen Bedingungen von subjektiver Handlungsfähigkeit in einer Kultur der Digitalität zu reflektieren." Engel/Mayweg/Carnap fragen nach angemessenen, postdigitalen Vorstellungen von Handlungsmächtigkeit "nach der Souveränität". Hervorgehoben werden veränderte Mensch-Technik-Balancen, die die Frage nach Handlungsmacht (Agency) neu stellen. Digitale Medien treten hierbei nicht mehr bloß als Werkzeuge, Gebrauchsgegenstände oder Repräsentationen auf. Vielmehr sind sie als epistemische Akteure mitzudenken, die über eigene Modi, die Welt zu 'erkennen', verfügen (Jörissen 2015). Korrespondierend dazu wird auf deutlich anders gelagerte Ansätze rekurriert, die – oft in Anlehnung an poststrukturalistische Positionen oder in jüngerer Zeit den material turn (Kalthoff et al. 2016) – von einer Dezentrierung des Subjekts ausgehen und eine relationale Position stark machen (z. B. Fenwick/Edwards 2010). Poststrukturalistisch inspirierte Ansätze, die Subjekte als Handlungsinstanz nicht voraussetzen, sondern das Gemachtwerden von Subjektivität in den Vordergrund rücken, werden als Ausgangspunkte gesehen, um adäquater mit der technologischen Komplexität umzugehen. Ausgehend vom Konzept der Subjektivation, lässt sich, so Schmidt/Böhmer, "eine unidirektionale Bildungsbewegung zur Steigerung der Mündigkeit (...) pädagogisch nicht mehr verfolgen". Andere Beiträge wie der von Müller/Petschner/Tischer/Thumel mobilisieren praxeologisches Denken und schlagen eine Analyseheuristik vor, anhand derer digitale Souveränität als situierte Praxis in den Blick genommen werden kann. Neuberger wiederum schließt unter anderem an Butler sowie die praxistheoretische Position von Alkemeyer an und wirbt – ebenfalls mit Verweis auf die Notwendigkeit empirischer Forschung – dafür, Subjektivierungsprozesse in machttheoretischer Hinsicht zu erschließen, um auf dieser Basis Aussagen über Souveränität treffen zu können. So verschieden die Regresse und Argumentationen im Einzelnen sind, eint sie der Anspruch, dualistische Gegenüberstellungen – hier das Subjekt, dort die Struktur oder Objektwelt (Gesellschaft, Kultur, Medien) – zu überwinden. Anthropomorphe Kategorien wie Souveränität, Selbstbestimmung oder Autonomie stoßen in diesen Ansätzen schnell an Grenzen, da Sozialität nicht mehr in erster Linie von dem Menschen her gedacht wird, sondern viel stärker die Bedingungsgefüge in den Mittelpunkt rücken, unter denen Subjektpositionen erzeugt werden und Agency als Zusammenwirken menschlicher und nichtmenschlicher Größen entstehen kann. Vor lauter Komplexität: Anschlussfähigkeit wahren So inspirierend die Überlegungen sein mögen, Subjektivität, Relationalität und Souveränität in ihrer wechselseitigen Ko-Konstitutivität zu betrachten, so lassen sich durchaus auch kritische Fragen formulieren. Eine relationale Wende impliziert eine normative Selbstbescheidung, die angesichts veränderter Medienökologien geboten ist und zugleich die Gefahr birgt, emanzipatorische Orientierungen der Medienpädagogik zu verwaschen. Die theoretische Komplexitätssteigerung des zu erfassenden Gegenstands mag zwar Erkenntnispotenziale bieten und den medienpädagogischen Wissenschaftsdiskurs interdisziplinär anschlussfähig halten. Souveränität wird dabei aber zunehmend als 'moving target' konzipiert, das heißt, sie zeigt sich allenfalls situativ, in heterogenen Konstellationen als komplexe Assemblagen diverser miteinander interagierender Elemente, die gegebenenfalls in bestimmten Medienpraktiken verknüpft vorliegen. So nachvollziehbar und weiterführend die verschiedenen Argumentationsfiguren sind, so drohen die komplexe theoretische Modellierung und Möglichkeiten bzw. Anforderungen der medienpädagogi-schen Praxis und Forschung auseinanderzufallen. Wer über die (situierte) Agency von Algorithmen und technischer Materialität spricht, sollte im nächsten Schritt überzeugend aufweisen, wie diese (nicht zuletzt in ihrer Flüchtigkeit) zu beobachten sind. Wenn von komplexen Vorstellungen ineinandergreifender Handlungsmacht verschiedener Entitäten die Rede ist, sollte die Frage nach Konsequenzen für die unterschiedlichen medienpädagogischen Handlungsfelder nicht in Vergessenheit geraten. Es bleibt zu klären, welche Möglichkeiten zur Etablierung alternativer Strategien und Praktiken sich anbieten, um entgegen hegemonialer Machtstrukturen individuelle wie kollektive Formen von Empowerment umzusetzen – ohne dabei in bewahrpädagogische Muster zurückzufallen, aber auch ohne sich überzogenen Freiheitsillusionen hinzugeben. Mit Pause gesprochen ließe sich beispielsweise fragen, wie die Medienpädagogik es schaffen kann, "einen Modus der Teilnahme zu etablieren, der aus etwas anderem resultiert als der Affordanzstruktur der Netzwerke selbst, und der nicht dazu führt, dass Nicht-Teilnahme automatisch in Nicht-Identität umschlägt". Das bekannte Vermittlungsproblem von Theorie und Praxis gestaltet sich in Anbetracht eines sich dynamisch entwickelnden Gegenstands- und Forschungsfeldes somit als wiederkehrende Herausforderung, die aber beständig aufs Neue reflektiert werden muss, wie die Beiträge in diesem Heft eindrucksvoll verdeutlichen.
This dissertation, entitled "How to Embed Sustainability in the Core of Higher Education Institutions: Drivers of, Barriers to, & Patterns behind the Implementation Processes of Sustainability Curricula – Insights from a Quantitative Meta-Study with Data from around the Globe," addresses the question of how sustainability curricula1 can be implemented and established in higher education institutions2. This research question is based on the assumption that sustainable development requires new ways of thinking and acting in the world. Accordingly, universities – as hubs for knowledge generation, innovation, and education – provide a central leverage point for sustainably developing society at large. Therefore, the institutionalization of sustainability curricula is not only socially demanded, but also stipulated in numerous political statements from the international community (e.g., those of the UN and UNESCO) and operationalized via Sustainable Development Goal No. 4: "Quality Education". Previous findings on how such implementation can be successful and what factors support or inhibit the process have come primarily through case studies of individual higher education institutions. These studies provide important insights but have been largely descriptive rather than analytical and leave open questions about the generalizability of their findings – for example, the extent to which other universities can be guided by the experiences of the respective higher education institutions. The present dissertation addresses this research gap. Through a meta-study (i.e., an analytical comparison of existing case studies), generalizable findings on the implementation processes of sustainability curricula are explored. In the first step, a case universe was collected in order to provide a database for deeper analyses. In two further analysis steps that built on the case universe from Step 1, certain factors that promote or inhibit the implementation of sustainability curricula (Step 2) and specific implementation patterns (Step 3) were examined. The following paragraphs provide greater details and an overview of the respective findings. In the first step, a database of peer-reviewed English-language case studies from around the globe that report on such processes was created. A total of 230 case studies were identified, 133 of which focus on the implementation processes of sustainability curricula.3 A bibliometric analysis of the 230 case studies revealed that this field of research is growing, although the discourse is primarily dominated by authors from North America, Europe, Oceania, and Asia, with South America and Africa being underrepresented. In addition, a citation analysis demonstrated that some universities incorporate findings from other countries whereas other universities act in isolation. This observation leaves open the question of the extent to which universities learn from one another in order to advance the implementation of sustainability curricula. In the second step of the analysis, the qualitative data of the collected case studies (sample of 133 case studies) were compared using the case survey method, which is a specific type of a meta-1 Sustainability curricula include courses, programs, and certificates from all fields of study that deal in some form with sustainability topics. For a more-detailed discussion of what education for sustainable development (ESD) entails, see Section Error! Reference source not found. 2 Higher education institutions (HEIs) include universities, universities of applied sciences, and other institutions that offer at least a bachelor's degree. 3 A detailed explanation of the case sample and subsamples can be found in Section Error! Reference source not found. analysis. The focus of the comparison lay on the drivers of and barriers to the processes of sustainability curriculum implementation at higher education institutions. Driving- and inhibiting factors have been thoroughly examined theoretically in the discourse on education for sustainable development (ESD), especially those pertaining to higher education institutions. However, no large body of data has yet been created to empirically test these hypotheses. The present meta-study found that the following factors lead to the deep-rooted and comprehensive establishment of sustainability curricula: strong leadership support; the establishment of sustainability curricula in the areas of education, research, campus operations, and outreach activities; formal participation of internal (including students) and external stakeholders; and engagement by sustainability champions (change agents), who are often the first to implement sustainability curricula and can face strong resistance. Other enabling factors include strategic planning, coordination, communication, having a vision, external political influence, the presence of a window of opportunity (e.g., an environmental disaster, a change in presidency), and the availability of interdisciplinary meeting spaces. On the other hand, the strongest cited barriers to the implantation of sustainability curricula were found to be the lack of interdisciplinary meeting spaces, the lack of a vision, the lack of incentives, the lack of resources, an overly full curriculum, and an unsupportive / overly bureaucratic organizational structure. The third step of the analysis also built on data from the 133 case studies and explored whether certain types or patterns of implementation processes occur. Through the analysis, six implementation patterns were identified that share similar driving- and inhibiting factors. The respective interplay between factors leads to various degrees of sustainability curriculum implementation in terms of how deeply rooted and comprehensive this implementation is. As discussed in greater detail below, in descending order of the level of achieved deep-rooted change, these patterns are (1) a collaborative paradigm shift, (2) bottom-up institutional change, (3) top-down institutional change, (4) the presence of many barriers that hinder institutional change, (5) externally driven initiatives, and (6) initiatives that are scattered due to a lack of coordination. Across all patterns, two phases could be identified: First, the impetus to implement ESD may be initiated not only by internal actors, but also by external ones. This initiation can take hold from the "bottom-up" (i.e., by students or faculty), from the "top-down" (i.e., at the presidential level), or in both directions simultaneously. The following key factors appear to be important in driving the initial implementation forward: a culture of open communication between all stakeholders in which feedback and reflection are welcome and even actively solicited, the development of a shared understanding and vision that further create a sense of ownership and long-term success, a high level of collaboration among all stakeholders, and existing initiatives that lead to knowledge sharing and other resources. In this regard, informal collaboration and cooperation can partially compensate for a lack of presidential-level support and/or a formal communication structure. Furthermore, developing a strategy with individual steps and shared responsibility leads to more-successful implementation of ESD at higher education institutions. The presented findings add a complementary empirical perspective to the discourse on the establishment of ESD at higher education institutions. First, the case studies that specifically address the implementation processes of sustainability curricula are reviewed and analyzed here for the first time as part of a research landscape. This research landscape reveals where research on such implementation processes has been or is being conducted. On this basis, both researchers and funders can reflect on the status quo and plan further research- or funding endeavors. Second, this dissertation offers the opportunity to compare a multitude of individual case studies and thus to develop new and generalizable insights into the implementation of sustainability curricula. The empirical analysis uses 133 case studies to identify key factors that promote or inhibit the implementation of sustainability curricula and to add a complementary perspective to the discourse, which has thus far been dominated by theoretical considerations and individual case studies. The analysis thereby offers a new perspective on generalizable influencing factors that appear to be important across different contexts. Thus far, specific patterns of implementation processes have been infrequently studied, and with few datasets. This dissertation analyzes the complex interplay between over 100 variables and provides one of the first research attempts at better understanding the processes that lead to the deep-rooted and comprehensive implementation of sustainability curricula. Internal and external practitioners of higher education institutions can find examples and evidence that can be useful in planning the next steps of their sustainability curriculum implementation. In the future, higher education institutions will play an even greater role in the journey toward sustainable development. This dissertation offers generalizable empirical findings on how universities can succeed in recognizing their own responsibility to that end and in realizing this transformation through the implementation of ESD. ; Diese Dissertation "How to Embed Sustainability in the Core of Higher Education Institutions: Drivers of, Barriers to, & Patterns behind the Implementation Processes of Sustainability Curricula – Insights from a Quantitative Meta-Study with Data from around the Globe" geht der Frage nach, wie nachhaltigkeitsbezogene Curricula1 an Hochschulen2 implementiert und etabliert werden können. Der Fragestellung liegt die Annahme zu Grunde, dass eine nachhaltige Entwicklung mit veränderten Denk- und Handlungsmustern dringend erforderlich ist und Hochschulen – als Hubs für Forschung, Innovationen & Bildung – einen zentralen Hebelpunkt für eine nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft leisten. Daher ist die Institutionalisierung von Nachhaltigkeitscurricula nicht nur gesellschaftlich gefordert, sondern auch in zahlreichen politischen Statements der Weltgemeinschaft, z.B. der UN und der UNESCO, festgeschrieben und durch das Sustainable Development Goal Nr. 4 "Quality Education" operationalisiert. Bisherige Erkenntnisse wie eine solche Implementierung gelingen kann und welche Faktoren den Prozess befördern oder hemmen, liegen vor allem durch Fallstudien einzelner Hochschulen vor. Diese bilden wichtige Erkenntnisse, sind zum Großteil aber eher deskriptiv als analytisch und lassen Fragen nach der Generalisierbarkeit der Erkenntnisse offen – also inwiefern weitere Hochschulen sich an den jeweiligen Erfahrungen orientieren können. An dieser Forschungslücke setzt die vorliegende Dissertation an. Durch eine Meta-Studie, den analytischen Vergleich existierender individueller Fallstudien, werden generalisierbare Erkenntnisse zum Implementierungsprozess von Nachhaltigkeitscurricula erforscht. In einem ersten Schritt wurde eine Grundgesamtheit von Fallstudien erhoben, um die Datengrundlage für tiefergehende Analysen zu generieren. In zwei weiteren Analyseschritten wurden, aufbauend auf der erhobenen Grundgesamtheit der Fallstudien aus Schritt 1, bestimmte Faktoren, die die Implementierung von Nachhaltigkeitscurricula fördern oder hemmen (Schritt 2), sowie spezifische Implementierungsmuster (Schritt 3) untersucht. Die folgenden Abschnitte erläutern Details und präsentieren einen Überblick über die jeweiligen Ergebnisse. In einem ersten Schritt wurde eine Datenbank aus Englisch-sprachigen Fallstudien angelegt, die weltweit über Implementierungsprozesse von Nachhaltigkeitscurricula an Hochschulen berichten. Insgesamt wurden 230 Fallstudien identifiziert, wovon sich 133 Fallstudien im Kern mit der Implementierung von Nachhaltigkeitscurricula beschäftigen3. Eine bibliometrische Analyse der 230 Fallstudien zeigt, dass dieses Forschungsfeld wächst. Der Diskurs ist vor allem durch Forschende und Fallstudien aus Nordamerika, Europa, Ozeanien und Asien geprägt, wobei Forschende und Fallstudien aus Südamerika und Afrika unterrepräsentiert sind. Zudem zeigt eine Zitationsanalyse, dass einige 1 Nachhaltigkeitsbezogene Curricula werden hier verstanden als Kurse, Programme und Zertifikate alle Fachrichtungen, die sich in irgendeiner Form mit nachhaltigen Themen beschäftigen. Eine detaillierte Diskussion welche Typen von Bildung für Nachhaltige Entwicklung im Diskurs vertreten sind, findet sich in Abschnitt Error! Reference source not found. 2 Hochschule wird hier als Sammelbegriff genutzt für Universitäten, Fachhochschulen sowie weitere Institutionen, die mindestens einen Bachelor Abschluss anbieten. 3 Eine detaillierte Beschreibung der Fallstudien Stichprobe und die Unterteilung in Untergruppen ist in Abschnitt Error! Reference source not found. erklärt. Fallstudien von Hochschulen die Erkenntnisse aus anderen Ländern miteinfließen lassen, während andere eher isoliert agieren. Dies lässt die Frage offen, inwiefern Hochschulen global miteinander im Austausch stehen und voneinander lernen, um die Implementierung von Nachhaltigkeitscurricula voran zu treiben. In einem zweiten Analyseschritt wurden die qualitativen Daten der gesammelten Fallstudien (Stichprobe von 133 Fallstudien) anhand der Case-Survey-Methode (Art der Meta-Analyse) verglichen. Im Fokus standen dabei die Treiber und Barrieren der Prozesse,um Nachhaltigkeitscurricula an Hochschulen zu implementieren. Treibende und hemmende Einflussfaktoren auf den Implementierungsprozess von Nachhaltigkeitscurricula sind im Diskurs zur Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE), speziell bezogen auf Hochschulen, ein theoretisch eingehend betrachtetes Feld. Hingegen fehlte bislang eine große Datenlage, um diese Hypothesen empirisch zu prüfen. Diese Forschungslücke füllt die vorliegende Arbeit, wobei die empirische Analyse ergeben hat, dass folgende Faktoren zu einer tiefen und breiten Etablierung von Nachhaltigkeitscurricula führen: Eine starke Unterstützung durch die Führungsebene (z.B. Präsidium, Dekanat); die Etablierung von Nachhaltigkeit sowohl in Lehre, Forschung, Campus, als auch der Austausch mit lokalen Akteurinnen und Akteuren; die formelle Partizipation interner (auch Studierende) und externer Akteurinnen und Akteure; und das Engagement von "Nachhaltigkeits-Champions" (change agents), die oft zuerst Nachhaltigkeitscurricula implementieren und gegen Widerstände ankämpfen. Weitere befördernde Faktoren sind: Strategische Planung, Koordination, Kommunikation, Vision, politischer Einfluss, eine günstige Gelegenheit (window of opportunity) (z.B. Umweltkatastrophe, Wechsel im Präsidium) sowie interdisziplinäre Begegnungsräume. Als stärkste Barrieren wurden folgende genannt: Fehlen von interdisziplinären Begegnungsräumen, fehlende Vision, fehlende Anreize, fehlende Ressourcen, überfülltes Curriculum, wenig unterstützende / zu bürokratische Organisationsstruktur. Der dritte Analyseschritt baut ebenfalls auf der Datenlage der 133 Fallstudien auf und erforscht, ob bestimmte Typen bzw. Muster von Implementierungsprozessen auftreten. Durch die Analyse wurden sechs typische Implementierungsmuster identifiziert. Dabei führt das jeweilige Zusammenspiel der Faktoren zu einer Implementierung von Nachhaltigkeitscurricula in unterschiedlicher Tiefe und Breite, welche nachfolgend durch die absteigende Reihenfolge der Muster indiziert ist: (1) "a collaborative paradigm shift", (2) "bottom-up institutional change", (3) "top-down institutional change", (4) "the presence of many barriers that hinder institutional change", (5) "externally driven initiatives", and (6) "initiatives that are scattered due to a lack of coordination". Über alle Muster hinweg wurden zudem zwei Phasen identifiziert. Zum einen kann der Anstoß zur Implementierung von BNE nicht nur von internen, sondern auch von externen Akteurinnen und Akteuren initiiert werden. Zum anderen kann sich diese Initiierung dann sowohl "bottom-up", also durch Studierende, Lehrende, etc., als auch "top-down", also z.B. durch das Präsidium, oder auch von beiden Ebenen gleichzeitig durchsetzen. Um den ersten Anstoß gewinnbringend zu nutzen, sind folgende Schlüsselfaktoren wichtig: Eine offene Kommunikationskultur zwischen allen Akteurinnen und Akteuren, in der Feedback und Reflektion willkommen sind und auch aktiv eingeholt werden. Die Entwicklung einer Vision, die von allen Beteiligten geteilt wird, kreiert Ownership und einen langfristigen Erfolg. Eine hohe Kollaboration aller Akteurinnen und Akteure, aber auch bestehender Initiativen führt zur Teilung von Wissen und weiteren Ressourcen. Dabei kann eine informelle Kollaboration und Kooperation teilweise die fehlende Unterstützung der präsidialen Ebene und/oder eine formelle Kommunikationsstruktur ausgleichen. Weiterhin führt die Entwicklung einer Strategie mit einzelnen Schritten und geteilter Verantwortung zu einer erfolgreicheren Implementierung von BNE an Hochschulen. Die vorgestellten Erkenntnisse stellen eine ergänzende empirische Perspektive im Diskurs um die Etablierung von BNE an Hochschulen dar. Erstens sind die Fallstudien, die sich konkret mit den Implementierungsprozessen von Nachhaltigkeitscurricula befassen, das erste Mal als Forschungslandschaft analysiert worden. Auf dieser Grundlage können sowohl Forschende sowie Fördergebende über den Status Quo reflektieren und weitere Schritte planen, aber auch Praktikerinnen und Praktiker Beispiele auffinden. Zweitens bietet die vorliegende Dissertation die Möglichkeit die Vielzahl an Einzelfallstudien zu vergleichen und somit neue und generalisierbare Erkenntnisse zu entwickeln. Die empirische Analyse anhand von 133 Fallstudien zur Identifizierung von Schlüsselfaktoren, die eine Implementierung von Nachhaltigkeitscurricula fördern oder hemmen, stellt eine ergänzende Perspektive im Diskurs dar, der von theoretischen Überlegungen und individuellen Fallstudien geprägt ist. Damit eröffnet sich eine neue Perspektive auf Einflussfaktoren, die in jedem Kontext wichtig zu sein scheinen. Vor allem spezielle Muster an Implementierungsprozessen wurden bisher kaum und mit weniger Datensätzen untersucht. Diese Dissertation analysiert das komplexe Zusammenspiel aus über 100 Variablen und bietet damit eine der ersten Arbeiten, die Prozesse, die zu einer tiefen und breiten Implementierung von Nachhaltigkeitscurricula führen, besser zu verstehen. In Zukunft werden Hochschulen eine noch größere Rolle auf dem Weg einer nachhaltigen Entwicklung spielen. Diese Dissertation bietet generalisierbare empirische Erkenntnisse wie es Hochschulen gelingen kann ihre Verantwortung wahrzunehmen und durch die Implementierung von BNE zu realisieren.
Wäre die Gegenwart eine andere, hätte im Mai 2020 die achte Ausgabe der Konferenz "Theater und Netz", einer Initiative von nachtkritik.de und der Heinrich-Böll-Stiftung, stattgefunden. Stattdessen ergab sich für Theaterschaffende, Kritiker*innen und Publikum reichlich Gelegenheit, das Verhältnis von Theater und Netz in actu auszuloten: Durch die Ausgangsbeschränkungen befeuert, verlagerte sich das Theatergeschehen in die digitale Experimentierstube. Im Oktober erschien nun der Band Netztheater, der in 21 Beiträgen die Erfahrungen der vergangenen sechs Monate reflektiert –fundiert durch die Expertise der im Format "Theater und Netz" seit 2013 geleisteten Pionierarbeit. Die Kürze der zwei- bis siebenseitigen Beiträge, gepaart mit der Erfahrungsdiversität aus Herstellung, Rezeption und wissenschaftlicher Auseinandersetzung, hat entscheidende Vorteile: Hier wird nicht lange umständlich unter Ausrufung irgendeines "Post-" herumgeredet oder die beliebte Formel strapaziert, Theater müsse "neu gedacht" werden. Die Beitragenden verbindet die gemeinsame Sache und so kommen sie rasch zum Punkt. Als Hybrid aus theoretischen Positionen und reflektierender Praxis bündelt die Publikation praktisch verwertbares und weiterentwickelbares Wissen kompakt und beinahe in Echtzeit. Daher verhandelt diese Rezension die Beiträge nicht chronologisch, sondern führt einander ergänzende Perspektiven zu zentralen Aspekten wie Dramaturgie, Community, Interaktion etc. kommentierend zusammen: Der Band eröffnet mit einem Praxisbericht des geglückten Burgtheater-on-Twitter-Experiments #vorstellungsänderung, das tausende Mittweeter*innen auch abseits des Abopublikums rekrutierte. Projekte wie dieses geben Hoffnung, dass die Theater, die sich im Netz oft als singuläre kulturelle Leuchttürme gebärden, durchaus von den Praktiken der Sozialen Medien profitieren können: Like, share, comment, retweet sind schließlich nichts anderes als digitale Kürzel für gemeinschaftsstiftende Interaktionen, basierend auf Emotion, Zuspruch, Diskussion und Multiplikation. Vielleicht sind in Zukunft ja auch vermehrt offen und öffentlich geführte Dialoge zwischen Theaterhäusern zu erwarten? Netztheater geht davon aus, dass die Suche nach digitalen künstlerischen Ausdrucksformen sich nicht erst daraus ergibt, dass Hygieneregeln und Distanzierungsvorgaben die Modi des Zuschauens kurzfristig verändert haben. Auch tradierte Annahmen über das Publikum sind zu überprüfen. In ihrem kollaborativen Text "Das Theater der Digital Natives" beobachten Irina-Simona Barca, Katja Grawinkel-Claassen und Kathrin Tiedemann, dass die Digitalisierung längst "in Form von Alltagstätigkeiten und Wahrnehmungsweisen" (S.16) im Theater angekommen sei. Das Theater ist kein geschützter Ort, an dem die Zeit stehen geblieben ist. Vielmehr tragen die Zuschauer*innen die Welt, in der sie leben, unweigerlich in ihn hinein. Das betrifft auch Praktiken des Multitaskings bzw. des 'Second Screen', also die Gleichzeitigkeit mehrerer Interfaces und Informationsquellen. Jahrhundertelang war der zentralperspektivische Blick der Barockbühne prägend für die Organisation einer exklusiven Aufmerksamkeit im Theater. Wiewohl es also eine neue Erfahrung für die Theaterhäuser ist, "Nebenbeimedium zu sein" (S. 20), wie Judith Ackermann betont, ist es höchste Zeit, diese 'verstreute' Aufmerksamkeit im Inszenierungsprozess aktiv mitzudenken und gezielt einzusetzen. Dabei ist die Diversität des Publikums inklusive der unterschiedlich ausgeprägten Media Literacy zu beachten, denn nicht alle Zuschauer*innen werden sich augenblicklich z. B. in einer gamifizierten virtuellen Umgebung zurechtfinden: "Indem ich im digitalen Raum Zusatzinformationen – Hintergrundinfos zum Stück, zur Produktion – zu meinen Inszenierungen streue, kann ich zum Beispiel auch dem 'analogen Publikum' einen Mehrwert bieten, der es aber nicht verschreckt." (S. 22) Für eine Dramaturgie des Digitalen ist Aristoteles allenfalls partiell ein guter Ratgeber. Zu viele Komponenten sind neben 'der Story an sich' an der Architektur der Erzählung beteiligt. Einige Elemente des 'klassischen' Storytellings lassen sich psychologisch für den digitalen Raum begründen: Das Überschreiten der 'Schwelle' etwa wird als zentraler Moment markiert, zumal die Spielregeln für das Dahinterliegende noch nicht festgelegt sind – die Verständigung auf "Floskeln, Rollen und Situationen" (S. 71) hat erst zu erfolgen. Friedrich Kirschner, Professor für digitale Medien an der Ernst Busch Berlin, schlägt vor, die zur Vermittlung von "Rollen- und Erlebnissicherheit" (ebd.) dringend nötigen Ausverhandlungsprozesse im Rahmen der jeweiligen Inszenierung ästhetisch zu gestalten. Dabei setzt er auf ein Miteinander, "das im Gegensatz zu den treibenden Kräften der Plattformhalter auf Erkenntnis gerichtet ist; das Handlungsfähigkeit vermittelt anstelle von Determinismus" (S. 73). In diesem Sinne schlägt Ackermann überdies vor, "modular" zu denken, also "leichte Ein- und Ausstiegsmöglichkeiten" zu schaffen, "indem man immer wieder die Möglichkeit gibt dazuzustoßen" (S. 21). Wiederholt wird das Serielle als Chance für neue Theaterformen ausgewiesen, beispielsweise um "durch gemeinsames, geteiltes Wissen über einen langen Zeitraum […] eine Beziehung zu Figuren auf[zu]bauen, sie mit der eigenen Lebensrealität ab[zu]gleichen und mit Freund/innen [zu] diskutieren" (S. 72), wie Kirschner in "Teilhabe als Notwendigkeit: Theater als Raum pluraler Gemeinschaften" schreibt. Um diese Gemeinschaftsbildung ist es auch Christiane Hütter zu tun: Die Community ist das Herzstück des Theaters, weshalb die künstlerische Energie aktuell vor allem darauf zu verwenden sei, "dass Leute wiederkommen, dass sich Routinen und Rituale entwickeln, dass serielle Formate entstehen" (S. 45). Diese Community aufzubauen, "das ist ein Handwerk, das eine Strategie, Zeit und Inhalte benötigt" (S. 30), weiß auch Christian Römer, Referent für Kulturpolitik und Neue Medien der Heinrich-Böll-Stiftung, in seinem Plädoyer "Für ein Theater @home!". Essentieller Bestandteil dieser Strategie, die vorerst noch strategisch auf eine Gemeinschaft "vor der Bezahlschranke" setzen müsse, sei die "Arbeit an der eigenen Identität als Theater im Netz" (ebd.). "Ein Schaufenster in die eigene Vergangenheit stärkt die Bindung des Publikums an 'sein' Theater." (S. 29) Man möchte hinzufügen, dass die "Verbindung zur [eigenen] Geschichte" (ebd.) auch nach Innen identitäts- und strukturbildend wirken und so womöglich die ein oder andere Erschütterung abfangen kann, die die Theaterschaffenden gegenwärtig persönlich und als Gemeinschaft erleben. Wie zugkräftig Selbstmarketing bzw. 'Branding' in Sachen Follower*innenschaft ist, lässt sich beispielsweise bei erfolgreichen Influencer*innen beobachten. Der Dramatiker und Dramaturg Konstantin Küspert zeigt in "Sozialmediale Theaterräume: Die performative Parallelwelt von TikTok" überaus schlüssig auf, welche "Grundelemente theatraler Praxis" in Social-Media-Formaten zu finden sind: "TikToks müssen, um erfolgreich zu sein, praktisch immer eine Pointe haben, meistens überraschend und lustig, und damit grundsätzliche Elemente einer Narration – teilweise regelrechte Fünf-Akt-Strukturen oder Rekontextualisierungen im Miniformat – nachbauen." (S. 26) Auffällig sind auch Praktiken des Samplings, wie sie schon in Hans-Thies Lehmanns Postdramatische[m] Theater, das jüngst seinen zwanzigsten Geburtstag feierte, zu finden sind: Denn auch bei TikToks wird "reinszeniert, kontextualisiert und koproduziert" (ebd.). Aber manchmal ist es gerade das Ähnliche, das trennt. Man stelle sich etwa einen Burgschauspieler auf der Bühne eines Kölner Karnevalsvereines vor. So verlockend wasserdicht die von Küspert angestrengte Gleichung auch anmutet, lässt sich eigentlich nur in der konkreten Anwendung überprüfen, "was vom eigenen Formenrepertoire übersetzbar ist" (S. 84). Der schmerzliche Verlust öffentlicher Orte, zu denen auch das Theater als Raum der gesellschaftlichen Verständigung gehört, zieht sich leitmotivisch durch die Texte des Sammelbandes. "Die Corona-Krise ist eine Krise der Versammlung" (S. 35), bringt Dramaturg Cornelius Puschke diesen Umstand zu Beginn seines "Plädoyer[s] für 1000 neue Theater" auf den Punkt. Dass es sehr wohl auch im Internet Formen von Gemeinschaftsbildung gibt, die sich auf dezentrale Weise organisieren, beobachtet Christiane Hütter mit kritischem Interesse: "QAnon und Konsorten glänzen mit orchestriertem Storytelling, outgesourced an viele, mit einem übergeordneten World-building-Framework, das Inkonsistenzen erlaubt" (S. 41). Eine Aufgabe des Theaters könnte es sein, positive Gegenangebote zu entwerfen, die dieser Sehnsucht nach Gemeinschaft, Austausch und gemeinsamer Erzählung entsprechen. Wie aber können solche Dialog und Austausch befördernden Formate aussehen? Die interdisziplinäre Künstlerin und Game Designerin Christiane Hütter, aus deren Feder insgesamt drei Texte des Bandes und zwei Interviews stammen, entwirft zu diesem Zweck eine "Typologie von Interaktion, Kollaboration und Partizipation" in übersichtlich tabellarischer Form, denn häufig enttäuschten 'interaktive Stücke' durch "Pseudo-Interaktions-Möglichkeiten" oder "asymmetrische Interaktion" (S. 44). Angesichts der pandemiebedingten Einschnitte in die Möglichkeit, durch Handlungen 'stattzufinden', ist es eine der wichtigsten Herausforderungen an Inszenierungsprozesse, die Agency der Zuschauer*innen sinnvoll zu integrieren. Die Nachtkritikerin Esther Slevogt plädiert explizit dafür, die Webseiten der Theater als "Portale in den digitalen Raum" und "Interfaces" (S. 109) zu behandeln. Diese verstehen sich gegenwärtig eher als Sende- denn als Empfangskanäle; die einstigen Gästebücher sind längst in selbstverwaltete Facebook-Gruppen migriert und bilden hier den kulturkritischen Versammlungsort einer recht spezifischen Theaterklientel. Eine Brücke zwischen analog und virtuell, Inszenierungs- und Alltagsgeschehen könnten hybride Formate herstellen. Der Theaterregisseur Christopher Rüping beschreibt Hybridität durchaus als Challenge, weil "sich die kulturellen Praktiken des einen und des anderen so beißen". Eine Inszenierung, die so divergente Rezeptionsbedingungen berücksichtigt, sei entsprechend komplex im Herstellungsprozess und müsste "auf achtzehn Ebenen gleichzeitig" funktionieren: "Interaktivität, die nur im digitalen Raum stattfindet, während ich analog zuschaue und davon ausgeschlossen bin, ist merkwürdig." (S. 94) Zudem ist es auch für Darsteller*innen eine neue Erfahrung, auf die weder Ausbildung noch bisherige Praxis sie angemessen vorbereitet haben. So stellt Ackermann die berechtigte Frage: "Wie kann den Schauspieler/innen das Gefühl vermittelt werden, dass sie keinen Film machen, sondern dass sie mit Personen interagieren, die nicht Teil der performenden Gruppe sind – auch wenn diese Personen nicht physisch kopräsent sind?" (S. 21) 'Gemeinsames Erzählen' prägt die Entstehungsgeschichte unserer Kultur, Gesellschaft und Sozialisation. Keine Entwicklung ohne Kooperation, keine Innovation ohne Vorstellungsvermögen. Netztheater könnte ein System der jahrhundertelangen Professionalisierung von Theater neu in Bewegung bringen, weil es Expertisen unterschiedlicher Provenienz bedarf und den Grundgedanken von Crowdsourcing in Schaffensprozesse integriert. Aber sind wir wirklich bereit für künstlerische Formate mit offenem Ausgang? Widerspricht das nicht dem Prinzip von Inszenierung? Müsste man das Profil der Regie – der ja gerade im deutschen Sprachraum besondere Deutungshoheit zukommt – womöglich neu definieren? Aktionen von Zuschauer*innen, die aktiv am Handlungsverlauf mitschreiben, sind schwer zu antizipieren; die Interventionen von Trollen und Bots brechen unerwartet in den Handlungsverlauf ein. Aber vielleicht ist es angesichts der Erschütterungen von 2020 gar keine dumme Idee, statt vorgefertigter Handlungsbögen flexibel adaptierbare Aktionsmodelle zu entwerfen, mit denen auf den Einbruch des Unvorhergesehen reagiert werden kann. Frank Rieger vom Chaos Computer Club beforscht Mixed-Reality-Projekte bereits seit den 1990er-Jahren. "Hybride Räume, digitale und interaktive Formate" hätten bereits eine lange Geschichte, allerdings gäbe es immer wieder "unrealistische Annahmen über das, was die Technik am Ende leisten können wird" (S. 61). Mitunter behindere aber gerade die entgegengesetzte Annahme die Umsetzung: "Man kriegt ein staatliches Theater für eine große Produktion nur dazu, das auch im digitalen Raum zu machen, wenn die das gleiche Gefühl von ernsthafter Technik haben" (S. 94), weiß Regisseur Christopher Rüping aus eigener Erfahrung. Andere Internetformate bewiesen, dass es nicht immer schweres Gerät erfordert, denn "im digitalen Raum dieses Erlebnis [von Gemeinschaft] zu stiften" sei etwas, das "jedem mittelmäßigen Streamer gelingt" (ebd.). Die Ursache für solche Trugschlüsse sieht Rieger in der Inselexistenz, die viele Theater fristen. Der Branche fehle noch immer eine "breite Kultur des ehrlichen Erfahrungsaustausches, der Diskussion von technischen, inhaltlichen und Projektmanagement-Fehlern" (S. 62), sodass das Rad immer wieder neu erfunden werden müsse. Dem entgegenzuarbeiten beabsichtigt die im vergangenen Jahr gegründete Dortmunder Akademie für Digitalität und Theater. Gemäß ihrer Open-Source-Strategie will sie "Nerdkultur […] ins Theater reinbekommen" (S. 67) und die Erkenntnisse ihrer prototypischen Arbeit in Tutorials, Talks und Wikis zugänglich dokumentieren. In ihrer Auswertung der Netztheaterexperimente des ersten Pandemie-Halbjahres bemerken die Bandredakteur*innen Sophie Diesselhorst und Christian Rakow, dass "das Gros […] piratischen Charakter" hatte. "Es entstammte der Freien Szene oder ging auf Initiativen von Einzel-Künstler/innen zurück, die sich ihre eigene Infrastruktur bauten und einfache technische Lösungen jenseits des Stadttheater-Apparats fanden." (S. 89) Man kann annehmen, dass dieser Innovationsgeist zumindest teilweise der Not geschuldet war. Denn selbst Projekte an etablierten Häusern sind häufig von externen Zusatzförderungen abhängig. Um über den eigenen Guckkasten hinauszudenken, haben einige Theater bereits Kontakt zu freien Künstler*innen und Kollektiven aufgenommen. "Es gibt viele kleine Aufträge von Theatern, die sagen: 'Wir wissen nicht, wie es weitergeht. Wollen Sie etwas ausprobieren?'" (S. 97), schreibt die britische Kritikerin Alice Saville. Diese vorsichtige Kontaktaufnahme birgt die Chance, das Gespräch darüber zu beginnen, wie sich festgefahrene Strukturen künstlerisch und wirtschaftlich öffnen lassen. Eine Möglichkeit wäre, Theater künftig als "Agenturen für das Dramatische" zu denken, wie am 13.11.2020 bei der Onlinetagung "Postpandemisches Theater" vorgeschlagen wurde, die ebenfalls auf die Initiator*innen des Sammelbandes zurückgeht. Für die Pluralität und Interdisziplinarität der Branche steht übrigens auch, dass keine der Autor*innenbiographien einen linearen Verlauf aufweist, geschweige denn sich auf eine einzige Berufsbezeichnung zurückführen ließe. Eine der aktuellen Herausforderungen besteht darin, Jobprofile zu überdenken. In Christiane Hütters Entwurf für ein "Theater der Gegenwart" ändert sich die Organisationsstruktur auch auf der Leitungsebene: "Es geht in Zukunft vor allem auch darum, die Gesamtprozesse zu koordinieren, Projektmanagement zu machen, Herstellungsleitung für Situationen, Care-Arbeit fürs Team." (S.45) Ein Kernanliegen der Publikation ist das Plädoyer für eine 'vierte', digitale Sparte – wobei zu bemerken ist, dass das digitale Theater sich diesen vierten Platz vielerorts mit dem Theater für junges Publikum teilt. Dieser Befund ist symptomatisch, werden doch Digitalität und Jugend oft zusammengedacht. Berücksichtigt man die zeitliche Dimension –"in naher Zukunft wird es nur noch Digital Natives geben" (S. 16) – wird rasch klar, dass es sich um eine voreilige Schlussfolgerung handelt. Die sich andeutende Marginalisierung verheißt wenig Gutes für die so dringend nötigen Finanzierungsstrukturen und Fördermodelle, zumal auch die Verantwortung, diese 'vierte Sparte' zu gestalten, damit demselben Personenkreis zugesprochen wird. Folgerichtig wird immer wieder sachlich bemerkt, dass zum Aufbau einer künstlerischen Infrastruktur tatsächliche Ressourcen in Form von Zeit, Geld und neuen Stellenprofilen am Theater benötigt werden. Einige Häuser haben bereits erste Schritte gesetzt und beschäftigen neben Positionen wie Social Media oder – neudeutsch – Community Management nun auch Programmierer*innen. Das Staatstheater Augsburg, das sich bereits im Frühjahr "einen Namen als VR-Hochburg mit einem umfangreichen Spielplan an Virtual-Reality-Produktionen" (S. 99) machte, hat mit Beginn der Spielzeit 2020/21 Tina Lorenz als "Projektleitung für Digitale Entwicklung" eingestellt; das Schauspielhaus Zürich holte für seine Webserie Dekalog den Designer für Virtuelle Interaktion, Timo Raddatz, ins Boot. Für eine "Digitale Sparte" argumentiert auch Elena Philipp, die die Münchner Kammerspiele, das Staatstheater Augsburg und das Hebbel am Ufer als Case Studies ins Feld führt. Die Nutzung digitaler Technologien beschränkt sich aber naturgemäß nicht nur auf die künstlerische Außenwirkung, sondern bietet auch ganz praktische Lösungen: Produktionsvorgänge –und sogar der ökologische Fußabdruck –können beispielsweise durch 'virtuelle Bauproben', 3D-Modelle und die Nutzung von Extended Reality (XR) wesentlich erleichtert werden. Mit der routinemäßigen Nutzung digitaler Technologien stehen auch neue Inhalte in Aussicht. Derzeit erfahre die Form zu große Aufmerksamkeit, zitiert Philipp Tina Lorenz, die konkrete Vorschläge für inhaltliche Schwerpunkte abseits der tausendsten Neuauflage von Goethe und Schiller macht: "Noch ist das Medium die Message, aber wir müssen Geschichten für das digitale Zeitalter entwickeln, über die Gig Economy, Smart Cities oder darüber, wie Kommunikation, Aktivismus und soziale Bewegungen im 21. Jahrhundert funktionieren." (S. 102) Der Blick der Herausgeber*innen inkludiert auch Länder, deren staatliche Subventionsstrukturen weit weniger privilegiert beschaffen sind als im deutschsprachigen Raum. Alice Saville stellt in ihrem Beitrag "Keine Show ohne Publikum" einige Beispiele aus "Großbritanniens immersive[r] Theaterszene im Lockdown" vor, die ja aufgrund ihrer Organisationsform –weit mehr Touring Companies als feste Ensembletheater –ein gewisses Training in innovativer Raumgestaltung besitzt. Der Stadtplaner und Theaterleiter Trevor Davies berichtet von seinen Erfahrungen mit der hybriden Performancereihe "Wa(l)king Copenhagen", für die 100 Künstler*innen eingeladen wurden "ab dem 1. Mai 2020 über 100 Tage lang 100 kuratierte zwölfstündige Walks […] über stündliche Livestreams digital [zu] übertragen" (S. 54). Und die Kuratorin und Kritikerin Madly Pesti erzählt am Beispiel Estlands, bei dem sich die Einwohnerzahl und die Summe der jährlichen Theaterbesuche entsprechen, von der gelungenen Kooperation von Theaterhäusern und Rundfunk, die auf ein über Jahrzehnte gepflegtes Verhältnis zurückgeht: Da die Rechte der beteiligten Künstler*innen vom Estnischen Schauspielerverband vertreten wurden, konnte eine Sonderregelung für die Dauer des Ausnahmezustands verhandelt werden, um die künstlerischen Arbeiten im kulturellen Webportal des Nationalrundfunks kostenlos zugänglich zu machen. Angesichts des vergleichsweise neuen Terrains muss das Theater sich fragen, was es aus den Erfahrungen anderer Branchen lernen kann. Denkt man beispielsweise an die wirtschaftlichen Nöte des Onlinejournalismus und die mühsame Etablierung von Paywalls, ist es sinnvoll, frühzeitig über Verwertungsmodelle bzw. den Preis von 'gratis' nachzudenken. Es gilt zu prüfen, inwiefern Limitation (zeitlich, kapazitär, Ticketing), Exklusivität (Sonderformate, Blicke hinter die Kulissen, Stichwort Onlyfans) oder Partizipations- und Mitgestaltungsoptionen als wertsteigernde Maßnahmen praktikabel und tragfähig sind. Im Kontext von Big Data ist zudem branchenweit zu diskutieren, wie sich Theaterhäuser zu privatisierten Plattformen, die ja den digitalen Raum dominieren, verhalten sollen. Erschwerend kommt hinzu, dass die ungeklärte Rechtesituation im deutschsprachigen Raum auf Netztheaterexperimente nachgerade innovationsfeindlich wirkt. "Man kann nicht Theater im Internet machen und dann aber straight die Copyright-Gepflogenheiten des Analogen anwenden wollen" (S. 93), spricht die Dramaturgin Katinka Deecke im Interview ein Feld mit raschem Klärungsbedarf an. Wiewohl alle Texte von den Lehren aus spezifischen Best Practices leben – schließlich werden die neuen Ausdrucksformate von Pionieren "des Ausprobierens, Aneignens und Entdeckens" (S. 76) entwickelt – versammelt die Publikation in einem eigenen "Produktionen"-Kapitel gezielt Besprechungen einzelner Projekte. Sinnigerweise stammen diese Texte mehrheitlich von Menschen, die berufsbedingt einen größeren Überblick über die Rezeption der Szene besitzen: Kritiker*innen und Redakteur*innen. So kommt Elena Philipps Untersuchung des "Aufbau[s] von Online-Programmen an Theatern" beispielsweise zu dem Schluss, dass "begleitend zu einer Theaterästhetik" – beispielsweise "für Virtual-Reality-Umgebungen" – auch "das Publikum dafür entwickelt" (S. 101) werden müsse. Der Umgang mit neuer Technologie ist schließlich für alle Beteiligten zunächst eine Terra incognita. Sophie Diesselhorst berichtet vom Online-Zusammenspiel der "Netztheater-Experimente aus Schauspielschulen", etwa der vielbeachteten Produktion Wir sind noch einmal davongekommen der Münchner Theaterakademie August Everding, die sich das Artifizielle des Mediums spielerisch überhöht zunutze machte und vermittels kluger Discord-Regie die Videokästchen in Bewegung setzte. Schade, dass die zitierten Experimente nicht zur Nachschau verlinkt bzw. verfügbar sind. Ein Grund hierfür könnte neben der prinzipiellen Unverfügbarkeit einmalig ausgestrahlter Livestreams sein, dass auch andere Quellen knapp einen Monat nach Erscheinen der Publikation bereits der 'Transitorik' des Internets zum Opfer gefallen sind. "Virtuelle[n] Festivalauftritte[n]" widmet sich Esther Slevogt, allen voran dem Berliner Theatertreffen mit seinen streambegleitenden Sonderformaten, die mittels Chat und Videotelefonie erstmals Fachdiskurse, die sonst wenigen Eingeweihten vorbehalten sind, mitsamt den dazugehörigen Gesichtern im Internet teilten. Für das Festival Radar Ost entwarf das Künstlerduo CyberRäuber ein weboptimiertes 360-Grad-3D-Modell des Deutschen Theaters, innerhalb dessen in verschiedenen 'Räumen', inklusive der Unterbühne, Veranstaltungen im Videoformat eingesehen werden konnten. Rückgriffe auf analoge Formate – die Berliner Volksbühne entschied sich etwa für eine Magazinanmutung bei der Gestaltung ihres Festivals Postwest – können laut Slevogt durchaus inspirierend sein: Als "Transfererleichterung für das Denken immaterieller Räume" genüge mitunter eine simple Lageplanskizze, wie es schon 1995 die Association for Theatre in Higher Education der Universität Hawai'i bewies. Wenn es gilt "Übergangsschleusen von der analogen in die digitale Welt benutzer/innenfreundlich zu gestalten", votiert Slevogt ganz klar für "Pragmatismus" (S. 109). Netztheater räumt mit dem weitverbreiteten Missverständnis auf, dass das Digitale allenfalls ein Substitut für 'das Echte' sei. Es ist an der Zeit, sich von falsch verstandenen Authentizitätsdiskursen und einer Überbetonung der 'leiblichen Ko-Präsenz', die die Theaterwissenschaft – die ja damit eine ganz eigene Agenda vertrat – an das Theater herangetragen hat, zu verabschieden. Netztheater will niemandem etwas wegnehmen. Es will das tradierte Theater keineswegs abschaffen, nicht den intimen Moment der Begegnung zweier Menschen ersetzen. Es sucht vielmehr nach technologisch unterstützten Erzähl- und Interaktionsformaten, in denen solche Begegnungen ebenfalls möglich sind. Das Digitale hat unser Denken bis in seine neurologischen Strukturen hinein verändert, die Art, wie wir kommunizieren und interagieren, wie wir uns organisieren, uns in der Welt verorten. Es hat sich in unser Verhältnis zu unseren Körpern eingeschrieben, unseren Zugang zu Wissen erleichtert und auf Herrschaftswissen basierende Hierarchien abgeschafft oder zumindest verschoben. Die Fülle an Information ist nahezu unnavigierbar geworden, Fake News haben unser Vertrauen in glaubwürdige Quellen erschüttert. Das Internet hat eine Vielzahl von alternativen Wahrheiten und alternativen Realitäten geschaffen. Das ist beängstigend, zumal in Zeiten einer Pandemie. Das 18. Jahrhundert hat das Theater als Laboratorium gedacht und die Bühne als Ort, an dem Probehandeln möglich ist, um etwas über unser Menschsein zu erfahren. Auch das Netztheater ist ein solches Laboratorium, ausgestattet mit den Gerätschaften der Gegenwart, die etwa Aufschluss darüber geben können, wie unsere Wahrnehmung beschaffen ist oder wie sich Aufmerksamkeit organisieren lässt. "Theater ist die Institution mit dem ältesten Wissen über die gesellschaftliche Kraft des Spielens." (S. 15) Philosophie und Soziologie veranschlagen im Spiel die Grundlage unseres Menschseins. Es wäre fatal, die verfügbaren virtuellen Spielzeuge und technischen Gadgets jenen Player*innen zu überlassen, deren Interessen wirtschaftlich, militärisch oder politisch getrieben sind. Indem wir unser über die Jahrtausende gewachsenes Wissen über Theatralität und Inszenierungsformen einsetzen, um spielerisch zu experimentieren, erlernen wir den Umgang damit und finden heraus, welche Weltgestaltung mit ihnen möglich ist. Die Lektüre der Beiträge zeigt deutlich: Die vielfach beschworene Minimaldefinition des Theaters – A geht durch einen Raum während B zuschaut – beinhaltet keinerlei Spezifikation, dass B sich dabei im selben Zimmer befinden muss.
Pädagogische Fachkräfte aus den unterschiedlichsten Arbeitsfeldern nutzen heute Social Media und speziell Soziale Onlinenetzwerke in ihrer pädagogischen Arbeit. Als Reaktion auf datenschutzrechtliche Bedenken und fehlende Umgangsregeln wurden 2013 in einigen Bundesländern Vorgaben zur Nutzung von Sozialen Onlinenetzwerken im Kontext Schule erlassen. Diese inhaltlich sehr unterschiedlichen Erlasse führen in Arbeitsfeldern und Bundesländern, wo keine Vorgaben vorliegen, zu Unsicherheiten. Dieser Beitrag soll einerseits Orientierung bieten, indem er die Perspektive der jungen Menschen in den Fokus stellt. Es wird die Frage beantwortet, wie die jungen Menschen dazu stehen, dass sich ihre Jugendarbeiter/innen und Lehrer/innen in Sozialen Onlinenetzwerken aufhalten, und welches Interaktionsverhalten sie dort als (un-)angemessen empfinden. Dazu werden die Erkenntnisse verschiedener Studien aufbereitet und zusammengefasst sowie abschliessend auf das Arbeitsfeld der ausserschulischen Kinder- und Jugendarbeit übertragen. Dies soll auch andererseits die Leser/innen dazu anregen, gemeinsam mit den jungen Menschen Umgangsregeln zu entwickeln. Nicht zuletzt kann der Beitrag auch als Argumentationshilfe für eine pädagogische Nutzung herangezogen werden. 1 Nutzung in Jugendarbeit verbreiteter als in Schule Die folgenden Ergebnisse basieren auf zwei praxisnahen Studien in pädagogischen Arbeitsfeldern und müssen zum aktuellen Zeitpunkt als punktuelle Erhebungen sowohl einen wissenschaftlich fundierten als auch deutschlandweiten Gesamtüberblick zur Nutzungssituation der ausserschulischen Kinder- und Jugendarbeit ersetzen. Bitkom, der Verband der digitalen Wirtschaftsunternehmen, befragte 500 Lehrkräfte der Sekundarstufe I zur beruflichen Nutzung von Social Media (Bitkom 2014). «Am häufigsten werden Soziale Netzwerke von Lehrern bis 40 Jahre genutzt, hier ist jeder Fünfte (20%) mit seinen Schülern vernetzt. Bei den Ü̈ber-40-Jährigen sind es lediglich 8%» (Bitkom 2014, o.S.). Innerhalb der Sozialen Onlinenetzwerke werden Links zu interessanten Online-Artikeln verbreitet (76%), individuelle Fragen zum Unterricht beantwortet (61%) oder Schulinfos (56%) und Hausaufgaben (47%) gepostet. Zur Nutzung von Alternativen geben Dreiviertel der befragten Lehrkräfte an, E-Mail zu nutzen, 9% verwenden Messenger. 21% der Befragten tauschen sich gar nicht elektronisch mit ihren Schülerinnen und Schülern aus (Bitkom 2014). Für die ausserschulische Kinder- und Jugendarbeit liegt lediglich eine auf Berlin begrenzte Studie aus dem Jahr 2011 vor. Sie zeigt, dass rund 60% der 140 befragten Berliner Jugendarbeiter/innen zum Erhebungszeitpunkt Soziale Onlinenetzwerke in ihrer Arbeit nutzten (Korfmacher 2011, 10). Facebook sowie mit Abstand Jappy und MySpace waren die beliebtesten Sozialen Onlinenetzwerke (Korfmacher 2011, 9f.). Andere Social Media (YouTube, Wikipedia und Google Maps) wurden ebenfalls noch von einer grossen Gruppe (40%) verwendet. Instant Messenger, Mikroblogging und Weblogs wurden 2011 dagegen nur vereinzelt in der pädagogischen Arbeit eingesetzt (Korfmacher 2011, 10f.). Social Media dienten hauptsächlich der Informationsweitergabe sowie dem Informationserhalt. Ausserdem geben 44% der Einrichtungen an, direkt Kontakt zu jungen Menschen aufzunehmen. Ein Fünftel der Befragten nutzen Social Media, um Hilfs- und Beratungsangebote anzubieten (Korfmacher 2011, 11f.). Die Ergebnisse zeigen, dass bereits vor drei Jahren die Nutzung von Sozialen Onlinenetzwerken in der ausserschulischen Kinder- und Jugendarbeit verbreiteter war als heute in der Schule. Diese Erkenntnis und die insgesamt gewachsenen Nutzerzahlen (Statista 2014) legen nahe, dass die ausserschulische pädagogische Nutzung seit dem Zeitpunkt der Umfragen noch zugenommen hat. Auffällig ist, dass sowohl im schulischen als auch im ausserschulischen Kontext die allgemeine Weitergabe von Informationen quantitativ häufiger stattfindet als die individuelle Interaktionen mit jungen Menschen. 2 Vorgaben bieten nur unzureichend Orientierung Diese pädagogische Nutzung von Sozialen Onlinenetzwerken wird jedoch mehr oder weniger stark und mehr oder weniger transparent auf verschiedenen Ebenen (administrativ bzw. bildungspolitisch) eingeschränkt. Die bereits erwähnte Studie von Bitkom konnte aufzeigen, dass an vier von zehn Schulen die dienstliche Nutzung von Sozialen Onlinenetzwerken und die Vernetzung mit Schüler(inne)n verboten ist. 36% der befragten Lehrkräfte geben an, dass die Nutzung der Netzwerke an ihrer Schule erlaubt sei oder dass es keine Regeln gebe und sie toleriert werde. «Jeder fünfte Lehrer (20%) darf Soziale Netzwerke zwar nicht für schulische Belange nutzen, sich aber dort privat mit Schülern vernetzen» (Bitkom 2014, o.S.). Die Verbote von Seiten der Schulleitungen finden ihre Entsprechung auf höherer Ebene in den im vergangenen Jahr in einigen Bundesländern erlassenen Vorgaben zum Umgang mit Facebook in der Schule. Beispielsweise haben Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein Vorgaben zur (Nicht-)Nutzung von Sozialen Onlinenetzwerken erlassen. Da diese Vorgaben sehr divergieren (siehe Tabelle), führt dies in den pädagogischen Arbeitsfeldern und Bundesländern, in denen keine eindeutigen Regelungen vorliegen, zu Unsicherheiten. Für die ausserschulische Kinder- und Jugendarbeit gibt es bislang keine derartig umfassenden ministeriellen Vorgaben. Einige kommunale Träger haben für ihre Angestellten im Öffentlichen Dienst Vorgaben zur Nutzung von Sozialen Onlinenetzwerken erlassen. Inwiefern diese einzelnen kommunalen und freien Träger der Kinder- und Jugendarbeit ihren Mitarbeiter(inne)n diesbezüglich eher Orientierung bieten oder ihnen Restriktionen auferlegen, ist nicht bekannt. Auf Grund einer eigenen – bislang unveröffentlichten – Untersuchung kann darauf geschlossen werden, dass nur in vereinzelten Einrichtungen der Jugendarbeit Leitlinien von Trägerseite vorliegen. Die Aussagen der pädagogischen Fachkräfte der ausserschulischen Kinder- und Jugendarbeit sowie der Lehrkräfte in der Bitkom-Studie lassen vermuten, dass diese Vorgaben top down – von den Ministerien, Schulleitungen und Trägern – festgelegt wurden. Es scheint, dass weder die Pädagog(inn)en noch die jungen Menschen oder deren Eltern2 an den Prozessen beteiligt wurden3. Wie insbesondere an den ministeriellen Vorgaben deutlich wird, sind die Begründungen einerseits datenschutzrechtlicher Natur, andererseits wird mit Aspekten des Umgangs (Gleichbehandlungsgrundsatz sowie Obhuts- und ausserdienstliche Wohlverhaltenspflicht) argumentiert. Bezüglich des Umgangs hätte eine Berücksichtigung der Interessen aller betroffenen Akteure möglicherweise zu konstruktiveren Lösungen als den jetzigen Verboten geführt. Tabelle: Übersicht der Ländervorgaben zum Umgang mit Sozialen Onlinenetzwerken 3 Junge Menschen sehen die pädagogische Nutzung kritisch Im folgenden Abschnitt werden Erkenntnisse verschiedener Studien, die die Perspektive von jungen Menschen auf die pädagogische Facebook-Nutzung untersuchten, zusammengefasst. Da Facebook zuerst im US-amerikanischen Hochschulkontext genutzt wurde, liegen von dort mehrere Studien vor, die sich mit der Frage auseinandergesetzt haben, ob Soziale Onlinenetzwerke ein «student-based territory» (Mazer et al. 2007) oder eine «professor free zone» (Malesky und Peters 2011) sind. Im Fokus der vornehmlich quantitativen Untersuchungen stand ausserdem die Frage nach der Angemessenheit der Interaktion von Dozenten und Studierenden (z.B. Hewitt und Forte 2006; Teclehaimanot und Hickman 2011). Das Thema der pädagogischen Nutzung von Sozialen Onlinenetzwerken beschäftigt seit dem Facebook-Boom im Jahr 2010 auch in Deutschland zunehmend die Menschen. Sowohl die JIM-Studie 2013 des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest (mpfs 2013) als auch der Medienkonvergenz Monitoring Report 2010 der Universität Leipzig (Schorb et al. 2010) gehen in ihren Untersuchungen auf das Thema ein. Als ungefilterter Blick auf die Perspektive der jungen Menschen wird zusätzlich eine Online-Abstimmung der Teenager-Zeitschrift Mädchen, die seit 2013 läuft, herangezogen. Die Mädchen werden dort gebeten, «Pro & Contra: Facebook-Freundschaften mit Lehrern?» abzustimmen, und sie konnten freiwillig ihre Argumente posten (Mädchen.de 2014). Diese wurden für die vorliegende Synthese ergänzend ausgewertet. Die knappe Mehrheit der befragten Studierenden billigen die grundsätzliche Präsenz von Universitätsangehörigen in Facebook (Hewitt und Forte 2006, 2 sowie Malesky und Peters 2011, 143). Eine Interaktion zwischen Dozenten und Studierenden finden lediglich drei Viertel der befragten Männer und sogar nur ein Drittel der Frauen akzeptabel (Hewitt und Forte 2006, 2 ebenso Mazer et al. 2007). Im schulischen Kontext finden sogar gerade mal rund 25% der befragten Schülerinnen eine Facebook-Freundschaft zu einer Lehrkraft akzeptabel (Mädchen.de, 18.7.2014, 15:15 Uhr). Neben dem Geschlecht ist das Alter ein ausschlaggebender Faktor für die Akzeptanz einer Facebook-Freundschaft zu Lehrkräften. Mit zunehmendem Alter steigt die Bereitschaft, sich mit Lehrkräften zu befreunden. Die Altersschwelle hierfür liegt zwischen 15 und 16 Jahren (mpfs 2013, 40). Hinsichtlich der Ausbildungsstufe konnten keine bedeutenden Unterschiede gefunden werden (Teclehaimanot und Hickman 2011). Junge Menschen empfinden die Anwesenheit von Dozenten in Sozialen Onlinenetzwerken dann als persönlich vorteilhaft, wenn diese die Sozialen Onlinenetzwerke zur Unterstützung nutzen, um beispielsweise die Namen zu lernen (Malesky und Peters 2011, 144). Für Schüler/innen ist auch die Ansprechbarkeit zum Beispiel im Fall von Rückfragen zu den Hausaufgaben hilfreich (Mädchen.de). Offensichtlich erhöht sich auch die Bereitschaft, mit Lehrkräften über Soziale Onlinenetzwerke zu interagieren, wenn deren Persönlichkeit als «cool» und «entspannt» charakterisiert wird (Mädchen.de 2014). Ein bedeutsamer Faktor für die Nicht-Akzeptanz von Lehrkräften in Sozialen Onlinenetzwerken sind dagegen die Faktoren Kontrolle und Macht. Aus Sicht der jungen Menschen ist es vollkommen unangemessen, Soziale Onlinenetzwerke als Kontrollinstrument zu nutzen. Für sie ist es beispielsweise nicht akzeptabel, mit ihrer Hilfe eine Abwesenheitsentschuldigung auf Richtigkeit zu überprüfen (Malesky und Peters 2011, 144). Soziale Onlinenetzwerke werden von den jungen Menschen als ein Raum wahrgenommen, in dem sie sich unkontrolliert von Eltern, Professor(inn)en oder Chefs auslassen können (Malesky und Peters 2011, 144). Dementsprechend schränkten die jungen Menschen die Sichtbarkeit ihrer Profile zunehmend ein, wenn bekannt geworden ist, dass sich auch Lehrkräfte in SchülerVZ aufhielten (Schorb et al. 2010, 62, Mädchen.de 2014). «Besonders fürchten sie die Einzelpersonen, denen sie keinen Einblick in ihren Intimbereich geben wollen, den sie nur mit ihren Freunden zu teilen bereit sind. Das sind in erster Linie die Autoritäten, die Macht über ihr Leben haben, die Eltern sowie die Lehrerinnen und Lehrer» (Schorb et al. 2010, 72f.). Mit Macht und Kontrolle in enger Verbindung ist auch das bereits angeklungene Thema der Privatsphäre. Die jungen Menschen, die Pädagog(inn)en in Sozialen Onlinenetzwerken ablehnen, sehen diese als private Räume und bevorzugen anderweitige Kontaktaufnahmemöglichkeiten wie Telefon, E-Mail oder Moodle (Hewitt und Forte 2006, 2; Mädchen.de 2014). Interessanterweise thematisieren diese Gegnerinnen ebenso einen Schutz der Privatsphäre der Lehrkräfte (Mädchen.de 2014). In einzelnen – durch die Medien bekannt gewordenen – Fällen von Lehrermobbing mag dies zutreffen, jedoch können Mazer et al. (2007) sogar positive Auswirkungen auf das Lernklima belegen. Wenn Studierende die Dozenten besser kennen und mehr von ihnen wissen, nehmen sie sie positiver wahr und können sie besser antizipieren. Daten über den tatsächlichen Umfang der Kontakte zwischen jungen Menschen und ihren Lehrkräften bzw. Dozierenden finden sich nur vereinzelt: 2009 gaben 15% der befragten Studierenden an, bereits Kontakt mit Dozenten über Facebook gehabt zu haben (Ophus und Abbitt 2009, 643). 2013 bestätigen 37% der jungen Menschen eine Freundschaft mit ihren Lehrkräften (mpfs 2013, 40). Zum Vergleich: 12% der Lehrkräfte gaben an, über Soziale Onlinenetzwerke mit den jungen Menschen in Kontakt zu stehen (Bitkom 2014). Die gelingende Interaktion mit Lehrkräften in Sozialen Onlinenetzwerken ist auch von der Wahrung einer professionellen Distanz abhängig. Die jungen Menschen bevorzugen ein beiderseitig professionelles und eher passives Verhalten (Teclehaimanot und Hickman 2011, 25). Beispielsweise würden sich nur 58% der befragten Studierenden an einer Online-Diskussionsgruppe beteiligen, wenn die/der Dozent ebenfalls teilnähme; gegenüber 79% bei einer rein studentischen Diskussionsgruppe (Ophus und Abbitt 2009, 643). Den Studierenden ist es insgesamt wichtig, dass Dozenten stets in einer professionellen Rolle bleiben und nicht auf privater Ebene versuchen zu «socializen» (Hewitt und Forte 2006, 2). So führen Freundschaftsanfragen von Dozenten zu Unsicherheit und Angst vor negativen Konsequenzen (Karl und Peluchette 2011, 220). Insbesondere das «poking» – bei uns als Gruscheln (VZ-Netzwerke) oder Anstupsen (Facebook) bekannt – wird als unangemessenes Verhalten bewertet (Hewitt und Forte 2006, 2 sowie Teclehaimanot und Hickman 2011, 25). Da für die obige Synthese auf Ergebnisse des (hoch-)schulischen Kontextes zurückgegriffen werden musste, stellt sich nun die Frage, ob und inwieweit diese Erkenntnisse auf die ausserschulische Kinder- und Jugendarbeit übertragbar sind. 4 Die Strukturen der Jugendarbeit sprechen für eine pädagogische Nutzung Aus den bisherigen Ausführungen ergeben sich an verschiedenen Stellen Parallelen zu den Strukturmerkmalen der ausserschulischen Kinder- und Jugendarbeit im Allgemeinen und zur Offenen Kinder- und Jugendarbeit im Speziellen. Dies sind Merkmale wie: Lebensweltorientierung, Partizipation, Freiwilligkeit, Offenheit und Niedrigschwelligkeit sowie Machtarmut und Diskursivität. Die einzelnen Parallelen werden im Folgenden aufgezeigt. Hierbei handelt es sich um eine idealisierte, aus Gründen der Übersichtlichkeit vorgenommene Trennung der Merkmale. Lebensweltorientierung bedeutet, dass die Angebote der Kinder- und Jugendarbeit an den alltäglichen und jugendtypischen Themen von jungen Menschen orientiert sind. Indem die Pädagog(inn)en der o.g. Studien die Sozialen Onlinenetzwerke in ihrer Arbeit nutzen, lassen sie sich auf die lebensweltlichen Themen der jungen Menschen ein und setzen sich aktiv damit auseinander. Für die pädagogischen Fachkräfte der Kinder- und Jugendarbeit ist die Nutzung also bereits in dieser Hinsicht erstrebenswert. Zusätzlich ergeben sich aus der Nutzung weitere Möglichkeiten. Wenn die Jugendarbeiter/innen mit den jungen Menschen interagieren oder deren Interaktion als Follower oder Freund verfolgen, wissen sie, welche Themen und Trends bei der Zielgruppe aktuell sind. Sie können daraufhin gezielt relevante oder vermeintlich interessante Informationen an die jungen Menschen weiterleiten und sogar an die Themen anknüpfend Bildungsgelegenheiten schaffen. Ausserdem führt der regelmässige Gebrauch zu Routinen im Umgang mit Privatsphäreeinstellungen, so dass die pädagogischen Fachkräfte den jungen Menschen bei Problemen beratend zur Seite stehen können. Unter Partizipation ist die aktive Beteiligung der jungen Menschen bei der Planung und Durchführung von Jugendarbeitsangeboten und -aktivitäten gemeint. Ausserdem sollte sich Kinder- und Jugendarbeit für eine wirksame Partizipation von jungen Menschen einsetzen. Der Partizipationsgedanke ist leider in den oben aufgeführten Erlassen vergeblich zu suchen. Die Vorgaben wurden von bildungspolitischer bzw. -administrativer Seite erlassen. Argumentiert wurde vordergründig mit datenschutzrechtlichen Bedenken, aber auch Argumenten des Umgangs. Die Einrichtungen und Gruppen der Kinder- und Jugendarbeit könnten an diesem Punkt ansetzen und gemeinsam mit den jungen Menschen einen goldenen Weg des Miteinanders in Sozialen Onlinenetzwerken entwickeln, der sowohl ggf. vorhandene Vorgaben berücksichtigt als auch den jungen Menschen eine Stimme gibt. Die Teilnahme an Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit ist grundsätzlich freiwillig. Wie oben deutlich wurde, führen die Freundschaftsanfragen einiger Lehrkräfte die jungen Menschen in ein Dilemma. Es besteht Druck, die Freundschaftsanfragen anzunehmen, um negative Konsequenzen durch die Ablehnung zu vermeiden. Dies ist insbesondere bei Personen, die auf Grund der institutionellen Rollenbeziehung als Autoritäten eingeschätzt werden, der Fall (Schorb et al. 2010). Die Jugendarbeit hat diesbezüglich einen Vorteil: Die jungen Menschen kommen aus Interesse. Beziehungen zu Jugendarbeiter(inne)n werden aus Sympathie eingegangen. Dementsprechend unterliegen mögliche Freundschaftsanfragen einem geringeren autoritären Druck. Kinder- und Jugendarbeit ist durch die Freiwilligkeit gezwungen, attraktive Angebote und partizipative Methoden zu entwickeln und den jungen Menschen dann den Freiraum zu gewähren, diese freiwillig anzunehmen. Dieses Prinzip könnte auch gut auf die Arbeit in Sozialen Onlinenetzwerken übertragen werden, die Grundlagen für eine «gute» Beziehung schaffen, aber Freundschaftsanfragen nur annehmen, nicht versenden. Dass dabei der Gleichheitsgrundsatz berücksichtigt werden muss, d.h. Nicht-Freunde dürfen nicht benachteiligt werden, sollte selbstverständlich sein. Mit den obigen Strukturmerkmalen eng verbunden sind die Offenheit und Niedrigschwelligkeit: Jugendarbeit steht grundsätzlich allen daran interessierten jungen Menschen offen. Die Angebote sind in ihrer Erreichbarkeit niedrigschwellig anzulegen und sollen Raum für eigene Themenfindungen und Gestaltungen lassen sowie die Selbstorganisation unterstützen. Durch die Präsenz in Sozialen Onlinenetzwerken entsteht ein weiterer – niedrigschwelliger – Kontaktpunkt für junge Menschen. Sie können sich bei Rückfragen und Problemen direkt über die Sozialen Onlinenetzwerke an die verfügbaren Ansprechpartner/innen wenden. Bedingt durch die obigen Strukturmerkmale wie Freiwilligkeit, Partizipation und Offenheit ergibt sich die Diskursivität als weiteres Prinzip für die Kinder- und Jugendarbeit. Durch das Fehlen starrer Regelungen und bürokratischer Vorgaben ist es notwendig, die alltäglichen konkreten Bedingungen stets neu auszuhandeln. Dazu zählen auch die Beziehungen zwischen den jungen Menschen und den Jugendarbeiter(inne)n. Denn im Gegensatz zum (hoch-)schulischem Setting fehlen in der Kinder- und Jugendarbeit feste Rollenbeschreibungen für diese Beziehungen. Die Forderung der in den obigen Studien Befragten nach Einhaltung einer professionellen Distanz fällt in der Kinder- und Jugendarbeit auf fruchtbaren Boden. Die offenen Strukturen bieten Gelegenheit, die Grenze von Nähe und Distanz auf beiden Seiten – für die jungen Menschen und für die Jugendarbeiter/innen – auszuhandeln. Der augenfälligste Punkt für die Nicht-Akzeptanz von pädagogischen Fachkräften in Sozialen Onlinenetzwerken ist die Furcht vor Machtmissbrauch. Lediglich wohlwollende, unterstützende Eingriffe werden akzeptiert. Die Nutzung von Sozialen Onlinenetzwerken zu Kontrollzwecken, insbesondere durch Personen, zu denen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, wird als Missbrauch empfunden. Das führt zu der Frage, ob junge Menschen Jugendarbeiter(inne)n eine ähnlich autoritäre Rolle zuschreiben wie Eltern und Lehrkräften. Die obigen Strukturmerkmale weisen darauf hin, dass die ausserschulische Kinder- und Jugendarbeit geprägt ist von flachen Hierarchien und Machtarmut. Entspricht dies auch der Wahrnehmung durch die jungen Menschen? Wie Kruse in ihrer Dissertation zu mädchengerechten Konzepten der Offenen Jugendarbeit herausgefunden hat, sehen die befragten Mädchen (elf bis 20 Jahre) in den Jugendarbeiterinnen weniger eine Mutter als eine erwachsenen Freundin. «Im Grunde suchen sie die Vertrautheit, die sie mit ihren Freundinnen erleben, auch mit der Pädagogin. Sie möchten eine erwachsene Freundin, die sie aufgrund ihrer Lebenserfahrung beraten kann» (Kruse 2002, 288). Die Abgrenzung zur Mutterrolle wird in dem Zitat eines Mädchens deutlich: «Sie ist ja nicht unsere Mutter, sie kann irgendwie nicht mit uns schimpfen, ja» (Kruse 2002, 289). Die Sanktionen der Jugendarbeiterinnen werden von den Mädchen nicht als mit elterlichen und schulischen Sanktionen gleichwertig bewertet. Es zeigt sich, dass die Faktoren, die im (hoch-)schulischen Kontext eher zu Ablehnung führen, in der ausserschulischen Kinder- und Jugendarbeit weniger ausgeprägt sind, so dass im Umkehrschluss die positiven Faktoren stärker ins Gewicht fallen. 5 Soziale Onlinenetzwerke sind keine Jugendräume - aber ausgehandelte Regeln sind wichtig Soziale Onlinenetzwerke und vor allem Facebook sind im Gegensatz zu den VZ-Netzwerken keine Jugendräume mehr. Die pädagogische Nutzung von Sozialen Onlinenetzwerken wird aber kritisch gesehen. Nicht nur von administrativer Seite, auch die jungen Menschen finden Regeln für die Interaktion mit pädagogischen Fachkräften zum beiderseitigen Schutz wichtig. Durch die besondere Struktur der Kinder- und Jugendarbeit bietet sich für diese die Gelegenheit, gemeinsam mit den jungen Menschen Richtlinien für die gemeinsame Nutzung von Sozialen Onlinenetzwerken zu entwickeln. Dies gilt – unter anderen strukturellen Bedingungen – in gewissem Masse auch für den schulischen Kontext. Den Auftrag der Kinder- und Jugendarbeit, sich parteiisch für die Interessen der jungen Menschen einzusetzen, könnte man in diesem Fall folgendermassen verstehen: Die Stimme der jungen Menschen stark machen und sich für die Aufhebung von generellen Verboten zugunsten gemeinsam mit allen Akteuren entwickelter Leitlinien einsetzen. 2Die Perspektive der Eltern ist vor allem vor dem Hintergrund einer Studie von HRInfo und der TU Darmstadt ein wichtiger zu berücksichtigender Faktor. Die Studie zeigt, dass 53% der Eltern gegen die Nutzung von Facebook für schulische Zwecke sind (hrOnline.de 2014). 3Dies führt auch zu der Frage nach der Verbindlichkeit der Vorgaben für die jeweiligen Akteure. Aus den ministeriellen Vorgaben ist nicht direkt zu erkennen, welche Sanktionen die Nichteinhaltung der Vorgaben, die sowohl Soll-Zustände beschreiben als auch klare Verbote aussprechen, nach sich ziehen. ; Today, pedagogues from a wide variety of fields use social media and especially social network sites in their daily work. As a reaction to data protection concerns and a lack of rules on how to use the network, some German states issued guidelines on the use of social network sites in schools in 2013. These decrees, which differ widely in content, lead to uncertainty in fields and in federal states where no specifications exist. On the one hand, this article is intended to provide orientation by focusing on the perspective of young people. It answers the question of what young people think about their youth workers and teachers being on social network sites and what interaction behaviour is perceived as (in)appropriate. To this end, the findings of various studies will be processed and summarised and finally transferred to the field of youth work. This also should encourage readers to develop rules of conduct together with the young people. Last but not least, thie paper can also be used as a pedagogical argumentation for use of social network sites in pedagogical fields.
This dissertation examines how smallholder farming livelihoods may be more effectively leveraged to address food security. It is based on empirical research in three woredas (districts) in the Jimma Zone of southwestern Ethiopia. Findings in the chapters that follow draw on quantitative and qualitative data. In this research, I focus on local actors to investigate how they can be better supported in their roles as agents who have the ability to improve their livelihoods and achieve food security. This general aim is operationalized through three research questions that are addressed in separate chapters. The research questions are: (i) How do livelihood strategies influence food security?; (ii) What livelihood challenges are common and how do households cope with these?; and (iii) How do social institutions, in which livelihoods are embedded, influence people's abilities to undertake livelihoods and be food secure? Using quantitative data from a survey of randomly selected households, I applied a number of multivariate statistical analysis to determine types of livelihood strategies and to establish how these strategies are associated with capital assets and food security. Here I view livelihood strategies as a portfolio of livelihood activities that households undertake to make a living. The predominant livelihood in the study area was diversified smallholder farming involving mainly the production of crops. Food crops such as maize, teff, sorghum, and in smaller quantities – barley and wheat, were primarily produced for subsistence. Cash crops namely coffee and khat were primarily produced for the market. Based on our analyses, we found five types of livelihood strategies to be present along a gradient of crop diversity. Food security generally decreased with less crops being part of the livelihood strategy. The livelihood strategies were associated with households' capital assets. For example, the livelihood strategy with the most number of crops had more access to a wider range of capital assets. They had larger aggregate farm field size, and were more involved in learning with other farmers through informal exchange of information and knowledge. The status of food (in)security of each household during the lean season was measured using the Household Food Insecurity Access Scale (HFIAS). A generalized linear model established that the type of livelihood strategy a household undertook significantly influenced their food security. Other significant variables were educational attainment and gender of household head. The findings contribute evidence to the benefits of diversified livelihoods for food security, in this case, the combination of diverse food crops and cash crops. Smallholder farming in southwest Ethiopia is beset with process-related and outcome-related challenges. Here, a process-related challenge pertains to the lack of different types of capital assets that people need to be able to undertake their livelihoods, while an outcome-related challenge pertains to lack of food. The most frequently mentioned process-related challenges were associated with the natural capital either as lack in necessary ecosystem services or high levels of ecosystem disservices. Farming households typically faced the combined challenges of decreasing soil fertility, land scarcity, die-off of oxen due to diseases, and wild animal pests that raided their crops and attacked their livestock. Lack of cash was also common and this was associated with an inability to access goods and services that households needed to address other problems. For example, lack of cash prevented households from buying fertilizers or replacing the oxen they lost to diseases. Confronted with multiple and simultaneous challenges, households coped by drawing on more readily accessible capital assets in order to address a lack. This process is here referred to as capital asset substitution. The findings indicate that when households liquidate a physical asset in order to gain cash which they then use to address other challenges, the common outcome is an erosion of their capital asset base. Many households reported having to sell their livestock to buy fertilizers, as required by the government, without seeing an increase in their harvest. The same process of liquidating capital asset to purchase food particularly during the lean season, also led to erosion of capital assets. On the other hand, when households drew on their social capital to address the challenges, they tended to maintain their capital asset base. The local didaro system is one such example in which farming households with adjacent farm fields synchronize their cropping timing and pool their labor together to address the problem of wild animal pests. Human capital, for example, in the form of available labor was also important for coping. Protecting and enhancing natural capital is needed to strengthen the basis of livelihoods in the study area, and maintaining social and human capitals is important to enable farming households to cope with challenges without eroding their capital asset base. Smallholder farming in southwest Ethiopia is embedded in a social context that creates differentiated challenges and opportunities amongst people. Gender is an axis of social differentiation on which many of the differences are based. Since the coming into power of the currently ruling Ethiopian political coalition, important policy reforms have been put in place to empower women. This includes the formal requirement that wives' names are included in land certificates. Local residents reported notable changes related to gender in the last ten years. To make sense of the changes, we adapted the leverage points concept which identifies places to intervene in a system with different depths and effectiveness for changing the trajectory of a system. Using this concept, we classified the reported changes as belonging to the domains of visible gaps, social structures, and attitudes. Importantly, changes within these domains interacted, suggesting that changes facilitate further changes. The most prominent driver of the changes observed was the government's emphasis on empowering women and government-organized interventions including gender sensitization trainings. The changes toward more egalitarian relationships at the household level were perceived by local residents to lead to better implementation of livelihoods, and better ability to be food secure. The study offers the insight that while changing deep, underlying drivers (e. g. attitudes) of systemic inequalities is critical, other leverage points such as formal institutional change and closing of certain visible gaps can facilitate deeper changes (e. g. attitudes) through interaction between different leverage points. This can inform gender transformative approaches. While positive gender-related changes have been observed, highly unequal gender norms still persist that lead to women as well as poor men being disadvantaged. Social norms which provide the basis for collective understanding of acceptable attitudes and behaviors are entrenched in people's ways of being and doing and can therefore significantly lag behind formal institutional changes. For instance, daughters in southwest Ethiopia continued to be excluded from land inheritance because of long-standing patrilineal inheritance practices. This impacted on women's abilities to engage in smallholder farming in equal footing as men. Norms influenced practices around access and control of capital assets, decision-making, and allocation of activities with important implications for who gets to participate, how, and who gets to benefit. Landless men also faced distinct disadvantages in sharecropping arrangements where people involved often have unequal socioeconomic status. Processes that facilitate critical local reflections are needed to begin to change unequal social norms and transform smallholder farming to becoming more inclusive and egalitarian spheres. To more effectively leverage smallholder farming for a food secure future, this dissertation closes with four key insights namely: (1) Diversified livelihoods combining food and cash crops result in better food security; (2) Enhancing natural and social capital is a requisite for viable smallholder farming; (3) Social and gender equality are strategically important in improving livelihoods and food security; and (4) Institutions particularly social norms are key to achieving gender and social equality. Because the livelihoods-food security nexus depend on people's agency in their livelihoods, this dissertation concludes that livelihoods should be recast as critical spheres for expanding human agency and that conceptual development as well as formulation of suitable tools of measurement be pursued. ; Diese Dissertation untersucht, wie der Lebensunterhalt kleinbäuerlicher Landwirte effektiv gestaltet werden kann, um Ernährungssicherheit zu unterstützen. Sie basiert auf empirischer Forschung in drei woredas (Bezirken) in der Jimma Zone im Südwesten Äthiopiens. Die Ergebnisse der folgenden Kapitel resultieren aus quantitativen und qualitativen Daten. In dieser Forschung fokussiere ich auf lokale Akteure und untersuche, wie sie besser darin unterstützt werden können, ihren Lebensunterhalt zu verbessern und Ernährungssicherheit zu erreichen. Das übergeordnete Ziel wird durch drei Forschungsfragen operationalisiert, die in den verschiedenen Kapiteln behandelt werden. Diese Forschungsfragen sind: (i) Wie beeinflussen Strategien des Lebensunterhaltes die Ernährungssicherheit? (ii) Welche Herausforderungen gibt es in der Sicherung des Lebensunterhaltes, und wie bewältigen Haushalte diese? Und (iii) Wie beeinflussen soziale Institutionen, in denen Lebensunterhalte verankert sind, die Fähigkeiten von Personen, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten und Ernährungssicherheit zu erreichen? An quantitativen Umfragedaten von zufällig ausgewählten Haushalten führte ich eine Reihe von multivariater Statistik durch, um die Strategien des Lebensunterhaltes zu bestimmen und herauszufinden, wie diese Strategien mit Capital Assets und der Ernährungssicherheit assoziiert sind. In dieser Arbeit verstehe ich Strategien des Lebensunterhaltes als ein Portfolio von Aktivitäten die zum Lebensunterhalt des Haushaltes beitragen. Die meistverbreitete Aktivität zur Sicherung des Lebensunterhaltes in der Studienregion war diversifizierte kleinbäuerliche Landwirtschaft, hauptsächlich bezüglich der Ernteproduktion. Nahrungspflanzen wie Mais, Teff, Hirse und in kleineren Mengen Gerste und Weizen, wurden hauptsächlich zur Subsistenz angebaut. Marktkulturen, namentlich Kaffee und Khat, wurden hauptsächlich für den Markt produziert. Basierend auf unserer Analyse identifizierten wir fünf Typen von Lebensunterhaltstrategien, die entlang eines Gradienten gelegen sind, der durch Vielfalt der Anbaufrüchte charakterisiert ist. Generell gesehen verringerte sich die Ernährungssicherheit umso weniger Anbaufrüchte Teil der Lebensunterhaltstrategie waren. Die Lebensunterhaltstrategien sind assoziiert mit den Capital Assets des Haushaltes. Zum Beispiel hatte die Lebensunterhaltsstrategie mit der höchsten Nummer von Anbaufrüchten mehr Zugang zu einer größeren Zahl von Capital Assets. Sie hatten größere Felder und waren stärker involviert im gemeinsamen Lernen mit anderen Landwirte durch informellen Austausch von Informationen und Wissen. Der Status der Ernährungs(un)sicherheit jedes Haushaltes innerhalb der mageren Jahreszeit wurde durch die "Household Food Insecurity Access Scale (HFIAS)" gemessen. Ein verallgemeinertes lineares Modell (GLM) etablierte, dass die Typen der Lebensunterhaltsstrategien, die ein Haushalt unternahm, signifikant ihre Ernährungssicherheit beeinflussten. Andere signifikante Variablen waren Bildungsstand und Gender des Haushaltoberhaupts. Die Ergebnisse unterstützen den Befund der Vorteile von diversifizierten Lebensunterhalten für Ernährungssicherheit, in diesem Falle, in Kombination mit unterschiedlichen Nahrungs- und Marktpflanzen. Kleinbäuerliche Landwirtschaft in Südwest-Äthiopien ist geplagt von Prozess- und Ergebnis-bezogenen Herausforderungen. Eine Prozess-bezogene Herausforderung bezieht sich auf den Mangel von unterschiedlichen Typen von Capital Assets, die Personen brauchen um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, während eine Ergebnis-bezogene Herausforderung sich auf den Mangel an Nahrung bezieht. Die am häufigsten genannten Prozess-bezogenen Herausforderungen waren assoziiert mit Naturkapital, entweder als Mangel an notwendigen Ökosystemleistungen oder als hohe Verluste durch Ökosysteme. Landwirtschaftliche Haushalte haben typischerweise die kombinierten Herausforderungen von sich verringernder Bodenqualität, Landknappheit, Wegsterben von Ochsen durch Krankheiten und Wildtieren, die Felder überfallen und Viehbestand angreifen. Geldmangel war ebenfalls geläufig, und dies war assoziiert mit der Unfähigkeit auf Waren und Leistungen zuzugreifen, die gebraucht werden, um andere Probleme anzugehen. Als Beispiel verhinderte Geldmangel Haushalte vom Düngemittelkauf oder davon, durch Krankheit verlorene Ochsen zu ersetzen. Konfrontiert mit multiplen und gleichzeitig auftretenden Herausforderungen, bewältigten Haushalte diese durch die Heranziehung leicht verfügbarer Capital Assets, um diesen Geldmangel zu adressieren. Dieser Prozess nennt sich Anlagenaustausch. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass wenn Haushalte ein physikalisches Vermögen liquidieren um Geld zu bekommen, um andere Herausforderungen zu bewältigen, sie häufig eine Erosion ihrer Anlagegrundlage erfahren. Viele Haushalte gaben an, Viehbestand verkaufen zu müssen um Düngemittel, wie von der Regierung gefordert, zu kaufen ohne dass sie eine Steigerung in ihrer Ernte wahrnahmen. Der gleiche Prozess der Liquidierung von Anlagegegenständen um Nahrung zu kaufen, vor allem in der mageren Jahreszeit, führte ebenfalls zur Erosion der Anlagegrundlagen. Wenn Haushalte jedoch ihr soziales Kapital , einsetzten, um die Herausforderungen zu bewältigen, blieb ihre Anlagegrundlage meist erhalten. Das lokale didaro-System ist ein Beispiel, in dem landwirtschaftliche Haushalte mit benachbarten Ländereien ihre Erntezeit synchronisieren und ihre Arbeitskraft zusammen tun, um das Problem von Ernteverlust durch Wildtiere zu adressieren. Humankapital, als Beispiel, in Form von vorhandener Arbeitskraft war ebenfalls wichtig zur Bewältigung der Herausforderungen. Schutz und Verstärkung des Naturkapitals ist notwendig, um die Grundlagen der Lebensunterhalte in der Studienregion zu verstärken, und der Erhalt von Sozial- und Humankapital ist wichtig, um landwirtschaftlichen Haushalten eine Bewältigung ihrer Herausforderungen zu ermöglichen, ohne ihre Anlagegrundlagen zu erodieren. Kleinbäuerliche Landwirtschaft in Südwest-Äthiopien ist verankert in einem sozialen Kontext, welcher differenzierte Herausforderungen und Möglichkeiten zwischen den Personen kreiert. Gender ist eine Achse der sozialen Differenzierung, auf der viele Unterschiede basieren. Seit der Machtübernahme der derzeit regierenden Äthiopischen Koalition wurden wichtige politische Reformen in Gang gesetzt, um Frauen zu stärken. Dies beinhaltet die formelle Verpflichtung, dass die Ehefrau namentlich in Landzertifizierungen genannt wird. Lokale Einwohner gaben sichtbare Veränderungen bezüglich Genderaspekten in den letzten 10 Jahren an. Um diese Veränderungen zu verstehen, benutzen wir das Konzept der Interventionspunkte – leverage points – um Bereiche zu identifizieren, in denen in einem System mit unterschiedlicher Tiefenwirkung und Effektivität interveniert werden kann, um die Richtung des Systems zu ändern. Anhand dieses Konzeptes klassifizierten wir die angegebenen Veränderungen als zugehörig zu den Domänen des sichtbaren Mangel, sozialen Strukturen, und Einstellungen. Wichtig war, dass Veränderungen innerhalb dieser Domänen interagierten, was darauf hinweist, dass zukünftige Veränderungen vereinfacht werden könnten. Der auffälligste Treiber der observierten Veränderungen war die Hervorhebung der Stärkung von Frauen der Regierung sowie von der Regierung organisierte Interventionen, einschließlich Gender-Sensibilisierungstraining. Die Veränderungen hin zu egalitäreren Beziehungen in den Haushalten wurde von lokalen Anwohnern wahrgenommen als das Herbeiführen von besserer Durchführung der Lebensunterhalte, und verbesserten Fähigkeiten Ernährungssicherung zu schaffen. Die Studie eröffnet Einsichten, dass während die Veränderungen von tiefen, unterliegenden Treibern von systemischer Ungleichheit (z.B. Einstellung) notwendig ist, können andere leverage points wie formale institutionelle Veränderungen und Lückenschluss sichtbarer Mangel tiefere Veränderungen (z.B. Einstellungen) durch Interaktion zwischen verschiedenen leverage points erleichtern. Dies kann transformative Ansätze zu Gender informieren. Während positive Gender-bezogene Veränderungen festgestellt wurden, existieren dennoch ungleiche Gendernormen, die Frauen wie auch ärmere Männer benachteiligen. Soziale Normen, welche die Basis für kollektives Verständnis akzeptierter Einstellungen und Verhalten bilden, sind tief verwurzelt in der Lebensart- und weise der Bevölkerung und können daher stark hinter formellen institutionellen Veränderungen hinter her hinken. Zum Beispiel werden Töchter in Südwest-Äthiopien immer noch, aufgrund von langbewährten patrilinearen Vererbungspraxen, von der Vererbung von Ländereien ausgeschlossen. Dies beeinflusst die Fähigkeit von Frauen sich gleichberechtigt in kleinbäuerlicher Landwirtschaft zu engagieren. Normen beeinflussen Praktiken bezüglich Zugang zu und Kontrolle über Anlagegegenstände, Entscheidungsfindung, und Verteilung von Aktivitäten mit wichtigen Implikationen bezüglich wer in was und wie partizipieren kann, und wer davon einen Vorteil zieht. Männer ohne Landbesitz sehen sich ebenfalls mit bestimmten Benachteiligungen gegenübergestellt, vor allem im Bezug zu Übereinkommen der Halbpacht, in welcher involvierte Personen oft ungleichen sozioökonomischen Status haben. Prozesse, die kritische lokale Reflektionen vereinfachen sind notwendig um Veränderungen ungleicher sozialer Normen anzustoßen und kleinbäuerliche Landwirtschaft in Richtung Inklusivität und Egalität zu transformieren. Um kleinbäuerlicher Landwirtschaft zu einer ernährungssicheren Zukunft zu verhelfen, schließt diese Dissertation mit vier Einsichten, namentlich: (1) Diversifizierte Lebensunterhalte, welche Nahrungs- und Marktfrüchte kombinieren, resultieren in erhöhter Ernährungssicherheit; (2) Steigerung des Natur- und sozialen Kapitals ist erforderlich für rentable kleinbäuerliche Landwirtschaft; (3) Soziale und Gendergleichheit sind von strategischer Bedeutung, um Lebensunterhalte und Ernährungssicherheit zu verbessern; und (4) Institutionen und insbesondere soziale Normen sind Schlüssel, um Gender und soziale Gleichheit zu erreichen. Da der Nexus von Lebensunterhalt – Ernährungssicherheit abhängig ist von der Handlungsfähigkeit der Personen bezüglich ihres Lebensunterhaltes, schließt diese Dissertation, dass Lebensunterhalte als kritisch wichtige Sphäre menschlicher Handlungsfähigkeit gesehen werden sollten, und das hiervon die konzeptionelle Entwicklung wie auch die Formation passender Messwerkzeuge angestrebt wird.
Inhaltsangabe: Einleitung: 'Die Lage unserer Nation spiegelt sich im Schicksal der Stadt Berlin. Seit Kriegsende geteilt, gehört die Stadt zwei verschiedenen Welten an, die sich hier auf engstem Raum gegeneinander darstellen und abgrenzen. Die Mauer in Berlin ist zum weltweit bekannten Symbol der gewaltsamen Teilung Deutschlands geworden. (…) Berlin bleibt Gradmesser für die Ost-West-Beziehungen, Berlin bleibt das Symbol für die offene deutsche Frage'. Helmut Kohls Rhetorik aus dem Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland vom 23. Juni 1983 ist nur eine von unzähligen, in Kapitel 2.3 näher auszuführenden Bemerkungen aus Politik, Wissenschaft und Publizistik, die eine Verbindung zwischen der Stadt Berlin, seiner Mauer und der Deutschen Frage herstellen. Nach 1945 bezeichnete sie die Frage der Teilung Deutschlands und ihrer Überwindung, die Fragen zu wem und wohin die Deutschen gehören und wie sie ihre eigene kollektive Identität mit der Gestaltung Europas verbinden. Zu dieser Problematik spiegelte Berlin als Schaufenster der Systemkonkurrenz die Entwicklung in Deutschland, Europa und der Welt nach 1945 wider. Berlin war der Ort, an dem die deutsche Teilung für alle sichtbar war, der wie kein zweiter durch seine bloße Existenz die ungelöste Deutsche Frage symbolisierte. So wurde Berlin in der Literatur der Nachkriegszeit, vor allem aber seit dem Mauerbau vom 13. August 1961 zu dem Ort, um sich mit der deutschen Teilung zu beschäftigen. Auch nach der Öffnung der Grenze am 9. November 1989 musste 'die Stadt als Projektionsfläche für jedermann herhalten. Sie wurde zur 'Werkstatt der Einheit', zur 'Drehscheibe zwischen Ost und West', zum Energiezentrum einer nach ihr benannten Republik'. Daher konzentrieren sich ebenfalls die gesellschaftliche und wissenschaftliche Aufarbeitung von NS- und DDR-Geschichte auf die neue (alte) Hauptstadt. Auch dem deutschen Film diente Berlin seit der Weimarer Republik zur Herausbildung zahlreicher Topoi, und heute ist die Stadt wieder 'Deutschlands filmreifste Kulisse'. Das hilft erklären, warum auch die bundesdeutschen Grenzfilme nur selten an der 'grünen' innerdeutschen Grenze, weit häufiger aber in Berlin und an seiner Mauer spielen. Die Berliner Mauer: das war die in mehreren so genannten 'Generationen' um die drei alliierten Westsektoren der Stadt gebaute Grenzbefestigung. Nach über 28 Jahren und zwei Monaten fiel sie infolge ihrer Öffnung dem Abriss und der Musealisierung anheim. Weit wichtiger als ihre technischen Daten und ihre Geschichte erscheint aber ihre symbolische Bedeutung als innerstädtische, nationale und globale Scheidelinie zwischen West und Ost, Kapitalismus und Sozialismus, Freund und Feind. Um nur vier Beispiele dieses in Kapitel 2.4 näher zu erläuternden Erinnerungsortes zu nennen, so betonen die einen, die Mauer habe die West-Berliner in ihrem Gefühl von 'Eingeschlossensein' und 'Fernweh' bestärkt, während andere glauben, man habe aufgrund der Mauer in Berlin 'so frei denken und leben (können) wie nirgendwo sonst in Deutschland'. Aus der Perspektive europäischer Politiker war sie ein Symbol der Teilung Deutschlands und Europas, in globaler Sichtweise 'die zu Beton erstarrte Frontlinie des Kalten Krieges'. Hergeleitet aus dieser welthistorischen Bedeutung der Deutschen Frage und der Berliner Mauer analysiert die vorliegende Arbeit ihre symbolische Verbindung im bundesrepublikanischen Spielfilm von 1982 bis 2007. Konkret heißt dies, was in den Kapiteln 1.4 und 2 begründet und kontextualisiert wird, zu fragen: Welche Nationsverständnisse verknüpfen die Filme mit der Mauer? Wird eine gesamtdeutsche Nation oder werden mehrere Teilnationen ausgedrückt und welche Lehren ziehen die Filme daraus? Werden in synchroner und diachroner Perspektive Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen ihnen deutlich? In welchem Verhältnis stehen die Filmdarstellungen zu den damaligen politisch-kulturellen Vorstellungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen und welche Gründe sind für etwaige Abweichungen zu suchen? Wurde nun die geschichtswissenschaftliche Fragestellung im Film gefunden, sind erste Kritiker mit altbekannten Argumenten oft nicht allzu fern. Denn die Filmgeschichte fristet 'innerhalb der Geschichtswissenschaft ein Nischendasein (...), das nach wie vor ein Hauch von Luxus umgibt'. Nur selten an Historischen Seminaren thematisiert, wird der Spielfilm zumeist stiefmütterlich behandelt, weshalb die Interpretation und Einordnung seiner Bilder den Historikern nach wie vor schwer fällt. Das steht im deutlichen Kontrast zu den seit den 70er-Jahren erkennbaren Forderungen nach einer stärkeren Integration audio-visueller Quellen in die historische Forschung. Denn während in den Filmwissenschaften seit den 80er-Jahren ein verstärktes Interesse an der Filmgeschichte festzustellen ist, werden Filmgeschichte und historische Spielfilme erst in den letzten Jahren zunehmend von Geschichtswissenschaftlern und -didaktikern analysiert. So reift gegen Hans Rothfels, dessen Zeitgeschichte primär schriftliche Quellen im Auge hatte, die Erkenntnis, vor allem die Zeitgeschichte könne auf audio-visuelle Quellen nicht (mehr) verzichten; es müsse also eine Reflexion der 'Mitlebenden' auch als 'Mithörende' und 'Mitsehende' einsetzen. Denn ihre Lebenswelt ist verstärkt durch Radio, Film und Fernsehen geprägt, während von Filmwissenschaftlern, Zeitzeugen und den audio-visuellen Medien selbst die oft beanspruchte Deutungshoheit der Vergangenheit durch Geschichtswissenschaft (und –unterricht) in Frage gestellt wird. Die Erforschung der Zeitgeschichte darf aber nicht den Zeitzeugen, den oft betitelten 'Feinden des Historikers' überlassen werden. So liegt nämlich ein wichtiger Quellenwert des Films im unbeabsichtigten Transport selbstverständlicher, aber dennoch gesellschaftlich gebundener zeitgenössischer Einstellungen, hier: der Intentionen der Filmemacher. 'Für die Rekonstruktion von Erfahrungshorizonten sind Filme als Dokumente der Zeit und der Gesellschaft, in der und für die sie produziert worden sind, ausgezeichnete Quellen.' Dabei darf die Forschung jedoch nicht auf Archivmaterial und Diskussionen aus Wissenschaft, Politik und Publizistik verzichten; vielmehr sind sie erst die notwendige Voraussetzung jeder geschichtswissenschaftlichen Filmanalyse. Sie müssen daher auch in dieser Arbeit mit in die Analyse einfließen, um die Filme selbst besser verstehen zu können. Öffnet sich durch diesen Zugriff ein breites Feld politischer Ideengeschichte, soll neben Hinweisen zur Orthographie und Zitiertechnik vorab erwähnt werden, dass die ganze Vielfalt möglicher Filmanalysezugriffe nicht berücksichtigt werden kann: Weder werden die genre- typischen Eigenschaften der Filme noch ihre Handlungen miteinander verglichen. Sofern einzelne ausgewählte Filme nicht bekannt sind, ist des Verständnisses wegen in jedem Falle vor den einzelnen Kapiteln die jeweilige Inhaltsangabe im Anhang zu lesen. Analysen einzelner Sequenzen, Einstellungen und Schnitte, von Musik, Geräuschen etc. können ebenfalls nicht mit in die Arbeit einfließen. Romanvorlagen, Drehbücher, Begleitmaterial etc. werden in wichtigen ergänzenden Kommentaren hinzugezogen, sonstige Parallelen oder Abweichungen zum Film aber nicht eigens erläutert. Das gilt auch für den Bezug zu anderen Filmen des Regisseurs und zu den Produktionsbedingungen. Da ausschließlich die Inputseite der Filme thematisiert wird, muss des Weiteren eine Rezeptionsanalyse einer anderen Untersuchung vorbehalten bleiben. Wie in den Kapiteln 2.1 und 2.7 noch begründet wird, soll es auch nicht darum gehen, die Filmdarstellung mit der 'historischen Korrektheit' der Mauergeschichte zu vergleichen; allein auf grobe Fehler wird der Genauigkeit halber in den Anmerkungen hingewiesen. Dieser Ausschluss von möglichen Zugriffen ermöglicht im Gegenzug, die in den Filmen und anhand ihrer Figuren dargestellten Symboliken der deutschen Nation und der Berliner Mauer detaillierter zu untersuchen. So können insgesamt sechs Filme in die Analyse aufgenommen werden, um ein repräsentatives Bild vom Thema zu gewinnen. Die notwendige Bedingung dieser Repräsentativität aber ist eine begründete Auswahl der einzelnen Filme. Gang der Untersuchung: Bevor mit der Analyse der Filme begonnen werden kann, soll zunächst ein Ansatz für Nations- und Mauerbilder bzw. –erinnerungen im Film entwickelt werden. Da das Thema neben der Geschichtswissenschaft auch Geographie, Literatur-, Sozial- und Politikwissenschaften berührt, erprobt der zweite Abschnitt einen interdisziplinären geschichts-, sozial- und kommunikationsgeschichtlichen Zugriff. Dieser wird aus der zunehmenden Erkenntnis begründet, die eigenen Disziplingrenzen zu überschreiten, ohne die eigene Wissenschaft gegen andere auszuspielen. Zudem erscheint die konventionelle historische Forschung, die von Quellen, zeitgenössischen Ereignissen und Entwicklungen ausgeht, für die Fragestellung ebenso ungeeignet wie die traditionelle linkspolitische Filmforschung. Weniger politisch nähert sich die vorliegende Arbeit daher im zweiten Abschnitt dem Thema mit einem an Akteuren gebundenen begriffs- und ideengeschichtlichen Ansatz. Dieser soll die Konstruktionen, geschichtskulturelle Rahmenbedingungen und Erinnerungsmodalitäten von Deutscher Frage und Berliner Mauer aufzeigen, wie sie sich in den Filmen niederschlagen. Er bildet die Basis, um die Filme in politisch-kulturelle Vorstellungen und Normen einzubetten. Die darauf aufbauenden Abschnitte 3 und 4 unterteilen sich in jeweils drei Kapitel zu den einzelnen Filmen. Die parallel aufgebauten Unterkapitel sollen eine Vergleichbarkeit der einzelnen Thematiken sowie Rückverweise auf den/ die zuvor analysierten Film/e ermöglichen. So können intentions-, geschichts- und erinnerungskulturell bedingte Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Filmen eines Jahrzehnts sowie zwischen früheren und späteren Filmen, aber auch zu den politisch-kulturellen Rahmungen besser aufgezeigt werden. Um die Symbolik der Berliner Mauer erfassen zu können, thematisieren die Kapitel 3.1.1, 3.2.1, 3.3.1 bzw. 4.1.1, 4.2.1, 4.3.1 die 'Diktatur der Grenze(n)', die in der Lesart Thomas Lindenbergers neben der Staatsgrenze die zahlreichen anderen, unsichtbaren Grenzen im Alltag von der Arbeit über die Familie hin zum Wohngebiet umfasst, die jeder DDR-Bürger kannte. Interpretiert die Forschung diesen Begriff eher sozialgeschichtlich, soll hier stärker die 'Diktatur der Grenze(n) in den Köpfen' der Ost- und West-Berliner untersucht werden, da aus ihnen die Diskussion der Deutschen Frage erwächst. Denn am 'Anfang war die Mauer: die Mauer und das System, das sie sowohl repräsentierte wie bewahrte. Die Mauer verlief nicht um die DDR herum. Sie stand genau in ihrem Zentrum. Und sie verlief mitten durch jedes Herz hindurch'. Wie die Filmanalysen zeigen werden, steht mal stärker der Aspekt einer 'Diktatur der Mauer', mal der einer 'Diktatur der Grenze(n)' im Zentrum. Dafür werden zunächst die Mauerzitate und -verweise in den Filmen genannt. Daraus wird ersichtlich, inwieweit ost- und/ oder westdeutsche Perspektiven berücksichtigt werden. Stehen Mauerwände oder Grenzübergänge im Vordergrund? Wie leicht ist die personelle oder mediale Grenzüberschreitung? Welche Rückschlüsse lässt dies auf das Geschichts- und Mauerbild des Films zu? Diese weithin deskriptiven Kapitel bilden dann die Basis der jeweils folgenden drei. Sie greifen die wichtigsten Mauerszenen und –erwähnungen auf und diskutieren sie vertiefend im Bezug zur Geschichts- und Erinnerungskultur, zur Berliner Mauer und zur Deutschen Frage. So wird die Deutsche Frage, wie zu zeigen ist, mit anderen politisch-kulturellen Konzepten verbunden, seien sie nun (partei-)politischer, ideologischer oder religiöser Natur. Das jeweils zweite Kapitel (3.1.2, 3.2.2, 3.3.2 bzw. 4.1.2, 4.2.2, 4.3.2) versucht deshalb, diese dargestellten symbolischen Aufladungen der Mauer und die kollektiven Vorstellungen und Erinnerungen abzuschätzen, in deren Kontext die Deutsche Frage thematisiert wird; dargestellte sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Aspekte können bei der gewählten Fragestellungen also nur in Bezug zur Deutschen Frage berücksichtigt werden. Die Kapitel 3.1.3., 3.2.3, 3.3.3 bzw. 4.1.3, 4.2.3, 4.3.3 bilden den Kern der einzelnen Analysen. Sie untersuchen, inwieweit durch den in den vorigen Kapiteln analysierten Kontakt zur Mauer oder dem Reden über sie die Deutsche Frage gestellt bzw. nach Antworten gesucht wird. Welche Nationsverständnisse und Stellungnahmen zur Deutschen Frage werden im und vom Film vertreten? Ist die Mauer ein Symbol teil- bzw. gesamtdeutscher Identität? Wie bezieht der Film selbst dazu Stellung? Wie unterscheidet sich dies von den in den Kapiteln 2.3 und 2.5 dargelegten Ideen und Konzepten in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft? Bei den Filmen nach 1989/90 fragt sich, wie in der Erinnerung die Gedanken der 1980er-Jahre aufgegriffen und umgesetzt werden, oder ob aus den seither gesammelten Erfahrungen ein anderer Blick auf die damals noch offene Deutsche Frage und stehende Mauer erfolgt. Dabei wird nicht nur die filmische Darstellung der Mauer umgedeutet, sondern auch die ihrer Öffnung. Ausgehend von den Herbst-Demonstrationen des Jahres 1989 und ihren zentralen Forderungen – 'Die Mauer muss weg' und 'Wir sind das Volk' bzw. 'Wir sind ein Volk' – untersucht das jeweils vierte Kapitel des dritten Abschnitts, ob bereits in den Filmen der 80er-Jahre ein Mauerfall erwartet, befürchtet, erhofft oder zwecks Lösung der Deutschen Frage herbeigeführt werden sollte (Kap. 3.1.4, 3.2.4, 3.3.4). Die Kapitel zu den neueren Filmen analysieren, ob er (auch?) retrospektiv erwartet und als Ereignis dargestellt wird und wie sich dies schließlich in die deutsche Erinnerungskultur nach 1989/90 einbettet (Kap. 4.1.4, 4.2.4, 4.3.4). Das Schlusskapitel 5 fasst die zentralen Ergebnisse der Arbeit zusammen (Kap. 5.1, 5.2). Daraus wird ein Rückschluss auf den geschichts- und erinnerungskulturellen Rahmen und dessen Widersprüche zu einigen Ergebnissen dieser Arbeit ermöglicht (Kap. 5.3). Ein Ausblick auf anschlussfähige Forschungsfelder soll die Arbeit abrunden (Kap. 5.4). Bis dahin muss sich der geschichts- und erinnerungskulturelle Rahmen des Themas bewähren, der im folgenden Abschnitt entwickelt werden soll.Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis: 1.Begrenzte Einheit: Einleitende Bemerkungen5 1.1Wege zum Thema, Fragestellung und Abgrenzung der Arbeit5 1.2Selektionskriterien und Auswahl der Filme8 1.3Forschungsstand zu den ausgewählten Filmen und dem Thema der Arbeit13 1.4Begründung der Gliederung und Aufbau der Arbeit15 2.Geschichts- und erinnerungskulturelle Konzeptualisierung des Themas18 2.1'Die Mauer im Kopf' - Die Berliner Mauer, ihre Bedeutungen und Identitäten18 2.2Die deutsche Nation als vorgestellte und begrenzte Gemeinschaft20 2.3Eine kurze Skizze der Deutschen Frage in der Geschichtskultur der 1980er-Jahre23 2.4Auf dem Weg zum kollektiven Gedächtnis der deutschen Nation28 2.5Der Erinnerungsort Berliner Mauer und die Deutsche Frage33 2.6Die Berliner Mauer und die Deutsche Frage im Problem der Generationen35 2.7Der nationale Erinnerungs- und Erwartungsort Berliner Mauer im Film36 3.Berliner Mauer und Deutsche Frage im Spielfilm der 80er-Jahre41 3.1Der Mann auf der Mauer - Der Patriotismus von links und der 'Dritte Weg'41 3.1.1Die 'Diktatur der Mauer'41 3.1.2Geschichts- und erinnerungskulturelle Symboliken der Mauer: Liebe und Moses42 3.1.3Die Berliner Mauer, die offene Deutsche Frage und der 'Dritte Weg'44 3.1.3.1Positionen der Filmfiguren zu Mauer und Deutscher Frage44 3.1.3.2Kabe, der linke Patriotismus und der 'Dritte Weg'49 3.1.4Der Erwartungsort Berliner Mauer im 'Dritten Weg'52 3.2Meier - Mauerspringen ohne Diktatur und gesamtdeutsche Nation55 3.2.1Die selbst gesetzte 'Diktatur der Grenze(n)'55 3.2.2Geschichtskulturelle Symboliken der Mauer zu Reisen, Tapeten und Orden56 3.2.3Die Berliner Mauer und die offene, aber unbemerkte Deutsche Frage58 3.2.4Gewöhnung an die Mauer und fehlende Hoffnung auf ihren Fall63 3.3Der Himmel über Berlin -Grenze(n) und Erinnerungen im 'Epos des Friedens'64 3.3.1Die 'Diktatur der Grenze(n)' im Himmel und auf Erden64 3.3.2Erinnerungskulturelle Symboliken von Nation und Mauer, Krieg und Frieden65 3.3.3Die Berliner Mauer und die Deutsche Frage in Geschichte und Gedächtnis69 3.3.4Erwartungsort Berliner Mauer zwischen Frieden und Einheit.73 3.4Zwischenfazit zur Berliner Mauer und Deutschen Frage im 80er-Jahre Film76 4.Berliner Mauer und Deutsche Frage im kommunikativen Gedächtnis der Spielfilme nach 1989/9081 4.1Das Versprechen - offene Fragen und ,innere Einheit' in 28 Jahren Berliner Mauer81 4.1.1Die 'Diktatur der Mauer' in der Erinnerung81 4.1.2Erinnerungskulturelle Symboliken der Mauer zwischen Stasi, Kirche und Liebe82 4.1.3Berliner Mauer und die Suche nach der Offenheit der Deutschen Frage85 4.1.3.1Die private und die Deutsche Frage festgemauert?85 4.1.3.2Die Mauer, die private und die Deutsche Frage in den 80er-Jahren88 4.1.4Der unerwartete Mauerfall als Erinnerungsort und die 'innere Einheit'?91 4.2Sonnenallee - farben-'reiche Erinnerungen' vom 'antifaschistischen Schutzwall'94 4.2.1Die heile Welt der 'Diktatur der Grenze(n)'94 4.2.2Erinnerungskulturelle Symboliken der Mauer von Ost- contra West-Sicht96 4.2.3Die Berliner Mauer und die (Neue) Deutsche Frage100 4.2.3.1Verdrängung der Mauer vs. Offenhaltung der Deutschen Frage100 4.2.3.2Die Erfindung der ,DDR-Identität'104 4.2.4Erinnerungsort Mauerfall als 'friedliche ostdeutsche Revolution'106 4.3Das Leben der anderen - vom guten Menschen an der unsichtbaren Front109 4.3.1Die 'Diktatur der Grenze(n)' in der Erinnerung109 4.3.2Erinnerungskulturelle Symboliken der Mauer zwischen Stasi und Theater111 4.3.3Die Berliner Mauer und die Verfechter der offenen Deutschen Frage114 4.3.4Erinnerungsort Mauerfall und der Deutungskampf um die 'innere Einheit'116 4.3.4.1Der Erinnerungs- und Erwartungsort 9. November 1989116 4.3.4.2Die 'innere Einheit' und die Neue Deutsche Frage119 5.Fazit: Die Berliner Mauer und die (Neue) Deutsche Frage im Spielfilm123 5.1Die Symbolik der Berliner Mauer in Geschichts-, Erinnerungskultur und Film123 5.2Die (Neue) Deutsche Frage in Geschichts-, Erinnerungskultur und Film127 5.3Rückschlüsse auf den geschichts- und erinnerungskulturellen Rahmen133 5.4Ausblick und Perspektiven künftiger Forschung zur Mauer und Nation im Film136 Anhang139 a)Inhaltsangaben der ausgewählten Filme139 b)Filmverzeichnis143 c)Gesetzestexte, Vertragswerke und Textausgaben146 d)Literatur147Textprobe:Textprobe: Kapitel 4.2.3.1, Verdrängung der Mauer vs. Offenhaltung der Deutschen Frage: In Sonnenallee bekennen sich die Figuren entgegen den anderen Filmen zur DDR und grenzen sich durch ein eigenes kommunikatives Gedächtnis von den Westdeutschen, nicht von den Bundesbürgern, ab. Wie in der durch den Systemgegensatz gekennzeichneten Position des Grenzers, findet die Staats- und Parteiposition der DDR vor allem in undifferenzierten Propagandaformeln ihren Ausdruck. Für Sabines zeitweiligen SED-Freund Georg kommt Heinz aus dem 'imperialistischen Ausland', was eine offizielle Bezeichnung der Bundesrepublik war. Ähnelt dies den Phrasen aus Meier und dem Versprechen, wurde der Begriff in der Bevölkerung nur von weniger als einem Drittel geteilt. Zudem hatte man in der DDR-Verfassung vom 7. Oktober 1974 sämtliche Bezüge zur deutschen Nation getilgt, um 'für immer und unwiderruflich (…) untrennbarer Bestandteil der sozialistischen Staaten-gemeinschaft' zu sein. So waren die innerdeutschen Beziehungen aus Sicht der DDR-Führung Teil des Klassenkampfes, der Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Auch die jungen Pioniere des Films 'lernen' in der Schule, den Menschen gehe es vor allem in den kapitalistischen Ländern wie den USA, Frankreich und Skandinavien schlecht. Schulleiterin Nitzold fragt bezüglich der Anwesenheit des 'Scheichs von Berlin'– für Michael schlicht der 'Westler': 'Wer hat den Klassenfeind in unsere Schule gelassen?' Gemäß dieser ideologischen Position hebt sie, als Mario und Michael auf die Mauer uriniert haben, die Bedeutung der Mauer für das Selbstverständnis der DDR hervor: 'Sie urinieren auf den antifaschistischen Schutzwall? Sie urinieren auf unseren Staat? Dafür sind Ernst Thälmann und Tausende seiner Genossen hingerichtet worden. Und Sie urinieren auf ihre Gräber? Auf die Gräber derer, denen Sie ihre kostenlose Ausbilung und ein Leben in Frieden und Wohlstand verdanken'. In dieser Kopplung von Mauer und Staatswesen DDR kommt erstens die u. a. auf Ernst Thälmann beruhende antifaschistische Gründungslegende, oder besser: 'Geburtslüge' der DDR zum Ausdruck. Zweitens wird die in den vorigen Filmen nicht erwähnte Formel des ,antifaschistischen Schutzwalls' aufgegriffen. Beides zusammen verweist auf die Selbststilisierung der DDR als ein von Nazis 'gesäuberter' Staat, der für Frieden und Wohlstand aller sorgt. Durch diesen 'verordneten Antifaschismus' bemühte man sich um die moralische Basis, im Kampf gegen die Nazis die größten Opfer gebracht zu haben. In Abgrenzung von Parteispitze und Westdeutschland bei gleichzeitiger Verdrängung der Deutschen Frage leben nun die Bewohner der Sonnenallee in ständigem Kontakt zur Mauer: 'Hinter dieser Wand steht die Mauer. Sie teilt Berlin in Ost und West. Der goldene Westen liegt nur einen Steinwurf entfernt. Ich wohne in einer Straße, deren längeres Ende im Westen und deren kürzeres Ende im Osten liegt… in der Sonnenallee'. Daran anschließend rechtfertigt der Film, im Gegensatz zum Mann auf der Mauer und dem Versprechen, das Leben der Ostdeutschen, die sich wie in Meier klug und humorvoll von der Partei distanzieren können. So kritisiert Otto Parteimitglied Georg gegenüber direkt die Ideale der SED ebenso wie die DDR-Produkte, und fordert, den Schwarzen Kanal, 'die Hetze' auszumachen. Für ihn bleibt noch ein gesamtdeutsches Gefühl maßgebend, indem er seinem Schwager zustimmt, da Bürger aus West und Ost 'alle Deutsche' sind. Dennoch überwiegen ihre Meinungsverschiedenheiten bei Weitem, und so wird auch bei Otto die nationale Frage vom globalen Systemgegensatz überdeckt. Daher ist Heinz, demzufolge man in Moskau nur mit einer 'MP in der Faust oder der Kugel am Bein' studiere, für Otto ein 'Revanchist und Scharfmacher' sowie ein 'alter Kommunistenjäger'. Noch distanzierter, aber nicht mehr gesamtdeutsch denkend wie Otto ist die jüngere Generation im Film. Als Michael zur 'Ehre' wie Miriam 'einen selbstkritischen Beitrag leisten' muss, überzeichnen beide die Ideale von sozialistischer Treue, Theoriebildung und Parteiideologie und finden so in der Distanz zur Partei erste Gemeinsamkeiten. Später schreibt er in sein eigens für Miriam verfasstes Tagebuch, er 'warte und warte auf etwas, das nicht passiert'. Was das genau ist, bleibt ebenso unklar wie die Pläne im Freundeskreis, 'eine aktive Widerstandsgruppe' zu gründen. Diese Distanzierung entspricht zunächst bloß der üblichen Unterscheidung der Filme zwischen positiv gezeichneten Figuren und der Parteiführung. Neu ist aber eine Verdrängung der Mauer durch die Figuren, die der Wahrnehmung von Olaf aus Dresden widerspricht, wonach das Leben im Grenzgebiet 'doch gefährlich' sei. Dazu bemerkt Drehbuchautor Thomas Brussig: 'Das merkwürdige an der Mauer war, daß die, die dort wohnten, die Mauer gar nicht als außergewöhnlich empfanden. Sie gehörte so sehr zu ihrem Alltag, daß sie sie kaum bemerkten, und wenn in aller Heimlichkeit die Mauer geöffnet worden wäre, hätten die, die dort wohnten, es als allerletzte bemerkt'. Diese Verharmlosung und Verdrängung der Mauer steht der These der Forschung gegenüber, wonach Überwachung, Eingesperrtsein und Bedrohung zu einer enormen Belastung der Bewohner des Grenzgebiets führte. Solche Beschönigungen der Mauer führten zu einer später zurückgezogenen Strafanzeige gegen Sonnenallee durch die Organisation Help, und sind Zielscheibe heutiger Befürchtungen, das Verschwinden dieser Grenze führe zu einem Verlust der Erinnerungsmöglichkeiten, wobei die 'Vergoldung der DDR-Vergangenheit (…) ohne das Anschauungsmaterial Mauer besser voran (komme)'. Dabei steht nun im Film dieser Verdrängung der Mauer und der Distanzierung von der Partei in der ostdeutschen Erinnerung eine erfundene Offenhaltung der Deutschen Frage durch die Westdeutschen gegenüber. Gegenüber der breiten Diskussion der Mauer auf Ost-Berliner Seite sind bundesdeutsche Stellungnahmen zur nationalen Frage nur über Westbesucher zu erschließen. In ihren Einstellungen zeigt sich aber nicht wie in den Filmen der 80er-Jahre eine realistisch dargestellte Interesselosigkeit an der DDR und eine Gewöhnung an Mauer und Teilung. Ganz im Gegenteil besteht, wie das vorige Kapitel deutlich machte, ein breites, auch touristisches Interesse am Leben der DDR-Bürger, woraus, wie in den anderen Filmen, aus Abgrenzung von der DDR ein übersteigertes Selbstwertgefühl als Bundesbürger resultiert. Der einzige Westdeutsche, der im Film explizit zur Deutschen Frage Stellung bezieht, ist Onkel Heinz. Anschließend an seine durchgängige Kritik an der DDR, reagiert er empört auf Georgs These vom 'imperialistischen Ausland': 'Wie bitte, Ausland? Ausland? Aus Deutschland! (…) Wir sind ja alle Deutsche. Es gibt solche und solche, aber nur Deutsche.' (16) Entschieden artikuliert er gegen das Abgrenzungsbestreben der DDR eine vom bundesrepublikanischen Verfassungsverständnis und von vielen Bundesbürgern vertretene gesamtdeutsche Position, die die DDR nicht als Ausland ansieht und die Deutsche Frage offen hält. Diese Position kennt keinen 'Dritten Weg' und hebt vor allem die Reise- und Wahlfreiheit, Universitäten und Wohlstand 'der freien Welt'hervor. Zusammengefasst wird also wie im Versprechen die Gewöhnung der Bundesbürger an Mauer und Teilung aus dem aktiven Gedächtnis verdrängt und ein gesamtdeutsches Nationalgefühl auf die Vergangenheit, hier die 70er-Jahre, zurück projiziert, das in Sonnenallee aber der ostdeutschen Erfindung der ,DDR-Identität' gegenübersteht.
Soziokulturelle Funktionen von daytime Talkshows: Die den Untersuchungen zugrundeliegenden Annahme war, TV-Talkshows als Teil eines gesellschaftlichen Diskurses, als eine mit spezifischen Merkmalen ausgestattete Art der Sprachverwendung zu betrachten, die gerade als kollektive, gesellschaftliche Praxis determinierende Faktoren und spezifische Wirkungen hat. Ihre Manifestationen als Programm, Videoband oder (in reduzierter Form) als verschriftetes Transkript wurden als "Text" definiert, der innerhalb der soziokulturellen Ordnung bestimmte Aufgaben hat, und dessen Funktionen sich nicht allein als lokale Funktionen (die sich auf die unmittelbare Situation als gelenktes Gespräch im Studio vor Publikum beziehen) erklären lassen. Der gesellschaftliche Effekt (die Funktion?) der hier untersuchten daytime talkshows ist ein öffentliches In-Erscheinung-Treten und ein komplementär dazu wirkendes Wahrnehmen des Privatmenschen in seiner Alltäglichkeit, des Durchschnittsmenschen im Medium Fernsehen. Dieser alltägliche Durchschnittsmensch kann durchaus als "the nigger of tv" gesehen werden, denn außer seiner (bisweilen nackten) Haut - oder seinem Innenleben hat er dem Fernsehen nichts zu verkaufen, denn er ist ja gerade nicht prominent, attraktiv, glamourös oder aus anderen Gründen begehrenswert für ein Publikum. Doch zu der Bedingung, seine seelischen Defekte öffentlich vorzuführen, ist auch ihm jederzeit ein Platz im Glanz der Scheinwerfer gewiß. Daß sich so viele zu einer öffentlichen Innenschau entschließen können, hängt vermutlich mit einem medialen Narzißmus zusammen, der die Spiegelung im Blick des Anderen zum Beweis seiner Existenz braucht. In einer von den visuellen Medien, insbesondere dem Fernsehen durchdrungene Lebenswelt, ist das Bedürfnis des namenlosen, unscheinbaren Alltagsmenschen, ebenfalls als ein in dieser TV-Welt existierendes Subjekt wahrgenommen zu werden, möglicherweise verständlich. Dieses Subjekt der Talkshow wird jedoch erst durch Konventionen des Sprachgebrauchs und der Interaktion, durch gezielte Bildführung und Auswahl der Einstellungen, durch sozial signifizierte Formen von Makeup und Dresscodes, aber auch durch Zuschreibungen und Kategorisierungen sowie durch Möglichkeiten (oder Unmöglichkeiten) der zumeist konversationell narrativ realisierten Selbstdarstellung etc. konstituiert und als "Typus" entwickelt. Es ist ein Effekt des Talkshowspezifischen Diskurses. Gleichzeitig ist es Objekt dieses Diskurses, insofern sich alle Teilnehmer über dieses Subjekt (über sein Innenleben, seine Probleme, geeignete Korrekturverfahren etc.) unterhalten. Die soziale (nicht die individuelle!) Identität als Durchschnittsmensch in seiner öffentlichen, gesellschaftlichen Erscheinungsform wird in solchen TVDiskursen erst produziert, und historisch betrachtet ist sie noch eine junge Erscheinung: TV-Talkshows dieses Zuschnitts haben sich erst Ende der achtziger Jahre herausgebildet. Die Showproduzenten sehen explizit eine auf Selbsterkenntnis ausgerichtete, beratende, (alltags-)problemlösende Funktion ihrer Programme, "der Alltagsmensch in Not wird hier geholfen", so würde V. Feldbusch von Sat1 vermutlich formulieren. Als selbsternannte Fernsehvariante eines Ratgeberdiskurstyps ist das Alltagssubjekt aufgefordert, einen Diskurs über es selbst zu halten (Gestehen), Diskursen anderer über es selbst zuzuhören (Informiert-/Belehrt-/Ermahnt-Werden). In dieser Hinsicht ist die hier untersuchte Form von Talkshows auch als gesellschaftliche Praxis zu verstehen, die auf ihre triviale Weise ein "Wissen vom Subjekt" (über sog. subjektive, innere Verfaßtheit, psychische Eigenschaften) hervorbringt, täglich reproduziert und massenhaft verbreitet. Dieses weitgehend durch eine therapeutische Weltanschauung strukturierte, entblößende "Wissen" wird zwischen den Beteiligten jedoch in Formen verhandelt, die die Strukturen und Merkmale eines privates Gespräch simulieren. Das Sprechen über den Privatbereich wird formal auch als privates Gespräch simuliert, weist aber eine hybride Struktur zwischen Abfrageformat und informellem Gespräch auf. Dabei war festzustellen, daß die Teile des Hybrids den Teilnehmerkategorien GUE und HOST nicht zu gleichen Teilen zufallen, sondern die Moderatorin die Optionen informeller Gesprächsorganistationen und Merkmale nutzt, während den Gästen nur die Optionen des reaktiven Parts im Interviewrahmen zustehen und sie auch im Bereich der Lexis selten Gebrauch vom informellen Register machen . In einer merkwürdigen Umkehrung des Faktischen erweist sich die "Redeweise des Volkes" gerade ausschließlich als Option der Moderatorin, die eben nicht die Massen, sondern die Institution, das Medium verkörpert. Talkshowdiskurse formieren öffentlich wahrnehmbare, medial konstituierte soziale Subjekte, die jedoch nicht als Rollen und Statusträger oder Repräsentanten von Institutionen, auch nicht als "Popstars", sondern gerade als "einfache Durchschnittsmenschen" konstituiert werden. Diese Typisierung bzw. Konturierung einer öffentlichen Form des Alltagsmenschen erfolgt jedoch nicht allein über Bilder und Repräsentationen, sondern weitgehend, aber unmerklicher durch diskursive Praktiken, durch den Umgang mit dem Subjekt der Talkshow, durch Interaktionskonventionen und anderen Modalitäten des Sprechens wie Höflichkeitsstrategien oder bestimmte narrative Verfahren, die in selbstdarstellerischer Absicht Sprecheridentitäten artikulieren. Die je Talkshow spezifische Konfiguration solcher subjektkonstitutiver Praktiken auf verschiedenen Ebenen des Diskurses ergibt eine Kontur, einen durch die Talkshow produzierten und nur vermittels der Praktiken, nie jedoch explizit charakterisierten "Entwurf" des Alltagsmenschen (z.B. ohnmächtig, Autoritäten unterworfen, selbstermächtigt, einsichtsfähig, vereinzelt, einer neben vielen usw.). Diese Typisierung bzw. implizite Charakterisierung durch Konventionen des Sprachgebrauchs und der Gesprächsstruktur wird maßgeblich in der Differenz zu den Positionen der anderen Diskursteilnehmer (Experten, Studiopublikum, Moderatorin) herausgebildet. Diese Diskurssubjekte stehen in einem für den Diskurstyp je charakteristischen Verhältnis zum Diskurs, zu den Modalitäten des Sprechens und zu anderen Subjektpositionen, von denen aus gesprochen werden kann. Subjektpositionen sind die unabhängig vom jeweils auf dem Podium platznehmenden Individuum vorstrukturierten, mit bestimmten Möglichkeiten des Sprechens ausgestatteten, an bestimmte kommunikative Handlungen gebundenen, mit bestimmten interaktionellen Vorrechten ausgestatteten etc. transindividuellen Äußerungsmöglichkeiten, die, realisiert, ein typisches Exemplar dieser Subjektposition zur öffentlichen Erscheinung bringen. Insofern sind diskursiv positionierte (konstituierte) Subjekte bzw. Subjektpositionen gleichzusetzen mit den spezifischen Äußerungsmodalitäten des jeweiligen Diskurstyps. Unter der Perspektive einer kritischen Diskursanalyse werden diese Vorgänge als moderne Form von Machtausübung und Ideologie betrachtet. Der Fokus auf die diskursiven Praktiken, die unscheinbare Normalisierungs und Disziplinierungseffekte bewirken als explizite Repräsentationen und Repression, lenkt das Augenmerk auf das, was Foucault den technologischen Aspekt von Macht bezeichnet. Machttechnologien stellen über konventionalisierte Diskurspraktiken gesellschaftliche Ordnung und Dominanz her, regulieren über Kommunikationsverhalten die Masse der Bevölkerung bzw. reproduzieren diese (hegemoniale) Ordnung in unzähligen, alltäglichen Mikropraktiken zwischen Institutionen und ihrer Klientel. Nicht nur in Talkshows handelt es sich bei solchen Praktiken weitgehend um sprachlich strukturierte Praktiken. Auch sprachlich konstituierte Verhältnisse artikulieren Machtverhältnisse, sie strukturieren sich nach Gleichheit/Nähe oder Ungleichheit/Distanz. Subjektpositionen sind die Pole in diesem Verhältnis. Da jedoch Subjektpositionen von diskursiven Positionen, d.h., Sprecherpositionen bestimmt werden, gilt es die Formen und Möglichkeiten des Sprechens der unterschiedlichen Teilnehmerkategorien im Talkshowdiskurs genau zu analysieren: In welcher Form zu welchen Bedingungen kann wer was wem gegenüber wie artikulieren? Wer mit wem in welcher Form interagieren? Welche Implikationen hat das? Welche sprachlichen Strukturen und Prozesse strukturieren dieses Sprechen und inwiefern strukturieren die sprachlich diskursiven Formen das Verhältnis der Diskurspositionen? In welchen sprachlichen Formen wird das Subjekt/ive verhandelt, und vor allem: Welches Sprechen legitimiert den medial konstituierten Durchschnittsmenschen? Prämissen, Vorgehensweise und Ergebnisse Um sich der Problemstellung zu nähern und die Mikropraktiken des Sprachgebrauchs funktional zu erfassen, wurde eine systemischlinguistische sprachtheoretische Perspektive eingenommen, die die primären Funktionen von Sprache in eine repräsentationsorientierte, eine interpersonell ausgerichtete und eine textuelle Dimension gliedert. Da es galt, diskursive Praktiken hervorzuheben, die sich nur durch den Bezug auf Akteure und Handlungen zwischen diesen beschreiben lassen, lag der Schwerpunkt der Untersuchung auf den sprachlichdiskursiven Merkmalen, die die Verhältnisse zwischen den Diskursbeteiligten bzw. die der Teilnehmer zum Diskurs regulieren und artikulieren. Die Entscheidung, zwei unterschiedliche Talkshowreihen zu untersuchen, beruht auf der Annahme, daß erst der kontrastierende Blick es ermöglicht, wesentliche Merkmale und Spezifika des Diskurstyps zu erfassen. Oft rücken nur über vergleichende Analysen kennzeichnende Aspekte in den Mittelpunkt, die bei homogeneren Daten möglicherweise unterbeleuchtet blieben. So konnten unterschiedliche Optionen der Realisierung bestimmter funktional definierter Vorgänge (z.B. das Vorstellen, die Einführung, die Befragung usw.), die innerhalb ähnlich strukturierter Diskurstypen zur Verfügung stehen und für z.T. signifikante Unterschiede sorgen, präzisiert werden. Die Auswahl der zu untersuchenden Phänomene und Merkmale wurden durch dieses vergleichende Lesen der Transkripte erheblich beeinflußt. Der Reihe nach wurden mit sprachwissenschaftlichem sowie interaktionsanalytischem Instrumentarium die Gesprächsorganisation, die Fremddefinitionen und Kategorisierungen des Subjekts der Talkshow durch die Einführungs und Einleitungsverfahren auf verschiedenen (visuellen, graphischen und sprachlichen) Ebenen untersucht. Im Anschluß daran standen kommunikative Handlungen zwischen den Diskursteilnehmern im Mittelpunkt, mit dem Schwerpunkt auf Analysen von Fragehandlungen und Frageformaten der Moderatorinnen und persönlichen Erzählungen der Alltagsmenschen/Gäste. Implikationen der sprachlichen Organisation und der verbalen oder kommunikativen Strukturen für die Subjektpositionen der Beteiligten wurden herausgearbeitet. Sodann habe ich mich auf den Diskurs der Experten konzentriert und Strategien der Subjektkonstitution dargestellt. Dabei ging es vor allem darum, wie das "ExpertenWissen" in diesen Shows auf das Subjekt zurückwirkt, welche Formen der "Beratungs/Ratgeberdiskurs" annimmt und welche SubjektEffekte dies zeitigt. Dabei wurde deutlich, daß beide Showreihen unterschiedliche Subjektpositionen für den Fernseh Durchschnittsmenschen konstituieren, die sich aus den ebenfalls unterschiedlichen Strukturierungen und Differenzen zu den anderen Positionen (Experten, Moderatorinnen, Studiopublikum) ergeben. Um den Aspekt der Macht und die gesellschaftliche Funktion der Talkshowpraktiken in die Untersuchungen einzuführen, wurde auf das Konzept der Machttechnologien zurückgegriffen, wie von Foucault (z.B. 1977) skizziert. Er verweist auf zwei grundlegende Metastrategien, die ungeregelte "Masse Mensch" gesellschaftlich (staatlich, hegemonialkulturell) zu disziplinieren, zu steuern und letztenendes verwaltbar zu machen, auf seinen gesellschaftlichen Platz zu verweisen, indem sie zu Subjekten (gemacht) werden. Es handelt sich dabei um die Machttechnologien der Objektivierung und der Subjektivierung von Individuen, die sich jeweils durch verschiedene Verfahren auszeichnen, wie ein Wissen vom Menschen hervorgebracht wird, das dann von den Individuen als "ihre Wahrheit" bzw. als die Beschreibung ihres "wahren Selbst" von ihnen selbst angenommen und diskursiv reproduziert wird. Die Möglichkeiten, sich als Selbst wahrzunehmen, die Formen, in denen dies geschieht und die Repräsentationen, die damit verbunden sind, stehen daher immer in einem sei's konservierenden, sei's subversiven Verhältnis zu Macht. Die Kennzeichen beider Machttechnologien habe ich in Anlehnung an Ausführungen von Foucault (1977;1983) bzw. seiner Interpreten Dreyfus und Rabinow (1987) versuchsweise und relativ frei auf interaktionelle und diskursive Verfahren in den Talkshows übertragen, was mir allerdings unproblematisch erscheint, denn die "Strategien" sind in aller Regel in Verbindung mit Sprache realisierte Vorgänge. Insofern entspricht es nur einer Präzision auf konkreter sprachlicher Ebene (was Foucault schuldig bleibt). Es wurde also der Versuch unternommen, diskursive Korrelate zu den von Foucault nur sehr allgemein formulierten Merkmalen der Technologien zur Subjektkonstitution zu finden und gesprächsanalytisch erfaßbar zu machen. Als Objektivierungsprozesse lassen sich die Verfahren beschreiben, die die Diskursteilnehmer zu AusstellungsObjekten (des Blicks und der Rede) machen. Andererseits gibt es subjektivierende diskursive Verfahren, die die Teilnehmer als Subjekt konstituieren, indem sie zur relativ ungelenkten, freigewählten Diskursproduktion, d.h. zu längerem und ggf. auch eigenintitiativen Sprechen animiert werden, allerdings immer in Erwartung, ihr "wahres Selbst" der Öffentlichkeit auszustellen ("gestehen"), das im Anschluß daran von einer Experteninstanz ausgedeutet wird. Sprachlichdiskursiv realisierte Objektivierungsstrategien definieren sich z.B. durch Verfahren der (mit negativ konnotierten Werten beladenen) Identifizierung, Fremdkategorisierung, Aussonderung und Vereinzelung, die in überaus großem Maß in den Shows von Rolonda festzustellen sind. Das impliziert den Fokus auf das konkrete Individuum und den Einzelfall, der vor den Augen der Öffentlichkeit vorgeführt, belehrt und ermahnt wird. Durch Identifikation und Fremdkategorisierung wird das Subjekt der Talkshow zum Objekt der Rede gemacht, anstatt es selbst sprechen zu lassen. In dieser Hinsicht spielen vor allem die Untertitel, die Einleitungsdefinitionen der Moderatorin (v.a. in Rolonda) und der Gebrauch der Personalpronomen, insbesondere des persönlich gebrauchten, definiten "you" eine große Rolle, die als personalisierende Identifizierungspraktiken stark vereinzelnde Effekte haben. Kategorisierungen der Personen, die im Dienste der Show operieren und sie von vornherein auf bestimmte Wahrnehmungen festlegen, sind ebenfalls objektivierende Talkshowpraktiken: Reduktionen auf die "Eigenschaft" der Familienzughörigkeit, Subsumtion unter das Tagesthema und Definitionen in Abhängigkeit von selbstdefinierten Absichten der Showgestalter ("helfen, glücklich machen, bessern") klassifizieren das TalkshowSubjekt jeden Tag aufs Neue in den immer gleichen Mustern als unfähig zur Selbsthilfe, als Schädling und Problem für die anderen und als disziplinierungsbedürftig. In Rolonda fand sich zudem ein spezielles Aussonderungsverfahren, das in der Moderationsstrategie des inhaltlichthematisch definierten "Stehenlassens" der Fragerunden bei spektakulären Details besteht. Das hat den Effekt, ein grelles Schlaglicht auf das Individuum zu werfen, es in einem Detail bloßzulegen, ohne ihm im Anschluß weitere Relativierungen und Kommentare zu ermöglichen (da die Moderatorin schon zum nächsten Gast und nächsten Thema gewechselt hat). Dazu gehören die auf Lupeneffekte und Details ausgerichtete Frageführung der Moderatorin, die Hinführung der persönlichen Erzählungen auf MiniSzenen und affektiv aufgeladene Einzelmomente, die das Subjektive auf spektakuläre Ereignisse reduzieren und aus seinem lebensweltlichen Zusammenhang reißen. Spiegelvorhaltungstechniken als verdinglichende Disziplinierungsmaßnahme wurden ebenfalls identifiziert. In visuellen Repräsentationen soll das Subjekt sich spiegeln und wiedererkennen. Ein Verfahren in Rolonda ist es, den ZuschauerInnen das Alltagsleben der als Gäste eingeladenen Durchschnittsmenschen in Form eines pseudo dokumentarischen Filmclips zu präsentieren und sie im Anschluß daran mit dem (darin gezeigten) Fehlverhalten zu konfrontieren, sie zu veranlassen, es zu verurteilen und andere Stimmen zu diesen Spiegelungen Stellung nehmen zu lassen (in Form von Verurteilung, Tadel, Zurechtweisung). Ein weiteres Spiegelungverfahren (mit disziplinierender oder kathartischer Absicht) in Rolonda stellt die Strategie dar, das Fehlverhalten im Studio zu provozieren und live auf dem Podium in Szene zu setzen (z.B. der Streit zwischen Mutter und Tochter, der vorführt, daß die Mutter ihre Tochter nicht disziplinieren kann in Anger; Zornausbruch und Kommunikationszusammenbruch in der Auseinandersetzung von Jeremy und dem Mann im Publikum, wobie vorführt wird, daß Jeremy nicht in der Lage ist, seinen Frustrationen Ausdruck zu verleihen etc.). Dabei wird jedoch eher dem Publikum als den Gästen ein Spiegel vorgehalten, der vermutlich als Abschreckung dienen soll. Zum Objekt der Rede wird der FernsehPrivatmensch auch im Expertendiskurs, der seine Innenwelt analysiert oder ggf. korrigiert. Das Interaktionsarrangement in Rolonda ist dabei so, daß nicht GUE Dialogpartner dieser Analysen sind, sondern die Moderatorin. Das Subjekt wird so zum Gegenstand der Analyse eines Autoritätendiskurses, der aber mit anderen Autoritäten (nämlich mit der medienspezifischen Machtposition HOST) geführt wird. Durch Befragungstechniken und Frageformate wird die Innenschau auf das Subjekt möglich und seine diskursive Position gleichzeitig stark beschränkt und kontrolliert. Auf linguistischer Ebene korrespondiert dies mit Frageformaten in Deklarativformen, die inhaltlich aus vollständigen Propositionen bestehen, die nur noch bestätigt werden müssen. Dies schränkt den inhaltlichen wie den kommunikativen Spielraum der Befragten ein, weil es konversationell präferiert ist, eine Bestätigungshandlung im Anschluß zu produzieren, und weil es kommunikativ nur einer minimalen Antwort (ja/nein) bedarf, um die Replik zu vollziehen. Dadurch sind die Gäste, bereits schon in reaktiver Position durch den Interviewrahmen, abhängig von einer weiteren, expliziten Aufforderung, einen längeren oder einen inhaltlich konträren Redebeitrag zu liefern. Andererseits ist auf der interpersonellen Ebene eine Deklarativfrage der HOSTs prekärer als ein klassisches Frageformat mit Fragewort und Verbinversion. Denn HOST kann ihr (interaktionell definiertes) Gesicht verlieren, wenn sie eine unrichtige oder nur teilweise richtige Proposition formuliert. In dieser Hinsicht wurde die Präferenz für Deklarativfragen als Modus des informellen Sprechens definiert, weil eine gegenseitige Abhängigkeit entsteht, die in der Regel mit dem egalitär strukturierten ChatModus assoziiert wird. Es wurde festgestellt, daß HOST/Rolonda kaum, HOST/Winfrey jedoch häufig mit diesem Format operiert, sich also auch als gleichwertiger Interaktionspartner ihren Gästen gegenüber konstituiert. Normalisierung und Messen an Standards ist ein weiteres Merkmal der Machttechnologie durch Objektivierungspraktiken. Normalisierungsversuche verweisen das Subjekt auf seinen Platz, häufig im Zusammenhang mit Normgeboten, Aufforderungen zur Veränderung usw. Normalisierende Disziplinierungsdiskurse werden in Talkshows u.a. durch die Warnungen und Zurechtweisungen des Studiopublikums gegenüber den Gästen bzw. durch den kategorischen, einflußnehmenden Redestil der ExpertInnen realisiert. Das Subjekt wird immer wieder Gegenstand und Zielscheibe für disziplinierende Interventionen und Eingriffe. Ein Äquivalent zu den objektivierenden Teilungspraktiken, die durch klare Entweder/OderTrennungen Individuen bestimmten Klassen und Ordnungen zuteilen, findet sich in der emotionell aufgeheizten, und von HOST durch Unterlassen von Schlichtungshandlungen aktive unterstützten Frontenbildung bei Rolonda zwischen den Teilnehmerkategorien GUE und AUD (Saalpublikum). An der Grenze von objektivierenden zu subjektivierenden Praktiken liegen die Verfahren, die den SprecherInnen zwar Rede abverlangen, diese aber durch kommunikative Strategien und Dynamiken in den Beteiligunsstrukturen inhaltlich bereits vorgegeben ist. Hierzu gehören u.a. Selektion von und Präferenz für bestimmte Frageformate (in der grammatischen Form des Deklarativs) und Dynamiken des Zitierens der Rede der Gäste sowie das Suggerieren, Soufflieren und Vorsprechen dessen, was das zu erkennende Subjekt erwidern muß indem ihm die Wahrheit über sein Selbst bereits fertig in den Mund gelegt wird. Zu den subjektivierenden Praktiken in Talkshows, die die Teilnehmer zum freien Reden über sich selbst bringen und diskursproduktiv wirken, zählen besonders ChatMomente in den Shows. Passagen, in denen die Gäste auch längere Redebeiträge machen ohne vorstrukturierende Fragestellungen. Die Abwesenheit von Interviewtechniken bzw. sehr offen strukturierte Frageformate geben einen Hinweis auf solche Stellen im TalkshowDiskurs. Narrative Sequenzen, die nicht von Zwischenfragen unterbrochen werden verweisen in der Interaktion zwischen den Gästen (den Alltagssubjekten) und anderen TeilnehmerInnen auf subjektivierende Momente, genauso wie die Häufung bzw. Anwesenheit von Rückmelde und Hörersignalen der Moderatorinnen denn sie sind ein Signal zum Verlängern ihres Redebeitrags, das in keiner Hinsicht strukturierend oder einschränkend wirkt. Die Analysen der Subjektpositionen und Positionierungen geben so meines Erachtens den Blick frei für zwei unterschiedliche Möglichkeiten, Diskurse mit dem Durchschnittsmenschen über seine subjektive Verfaßtheit in der Öffentlichkeit zu führen (und ein Bild von ihm in der Öffentlichkeit zu zeichnen). Es stellt sich heraus, daß die beiden TalkshowReihen unterschiedliche Präferenzen und Gewichtungen der diskursiven Korrelate subjektkonstituierender Machttechnologien aufweisen. Objektivierende Praktiken fanden sich zahlreiche in der RolondaShowreihe, viele Verfahren ausschließlich dort (Spiegelungen, derogative Untertitel, auf Kommunikationsakte ausgerichtete Dressur etc.). Der Diskurs ist auch auf der sprachlichinteraktionellen Mikroebene stark von objektiverenden Praktiken des Aussonderns, Isolierens, dem spektakulären BlickFreigebens auf Details und des inhaltlichen Vorgebens bzw. Repetition der fremden Rede (Aufoktroyieren der fremden Perspektive) geprägt. Als Objekte der analytischen und interpretierenden Rede werden sie in ihrem Subjektstatus (z.B. als eigenständige Sprecher) reduziert und mit den Regeln und Normen eines Kollektivs konfrontiert. Durch diskursive Mikropraktiken werden auf verschiedenen Ebenen Machtgefälle konstruiert, die das Talkshowsubjekt unterordnen unter die Stimmen der Autorität und des Kollektivs, die fordernd und zurechtweisend auf den einzelnen einwirken und direkten Einfluß nehmen. Konfrontative Sequenzen führen auf interpersoneller Ebene zu einem hohen Gesichtsverlust für die Gäste, die gesichtsbedrohliche Sprechhandlungen in der Regel nicht parieren können, weil HOST ihnen keine Gelegenheit gibt und der Interaktion einen "zurechtstutzenden" Grundton gibt. Durch gesichtsbedrohende Akte wie Zurechtweisung und Ermahnung wird die Distanz zu den Gästen gering gehalten, was einem umgangssprachlichen "Zunahetreten" entspricht. Zudem zeichnet sich der Diskurs durch eine extrem dramatisierende Verlaufsform aus, die eine kommunikative Katastrophe (Zusammenbruch der Interaktionsordnung), einen Dressur bzw. Disziplinierungsakt durch eine Autorität (Expertin) und die Katharsis einschließen (Reue, von HOST evozierte, nach außen gekehrte Einsichtsbekundungen und Gutheißen der "Lektion"). Der dramatische Konflikt samt Eskalationen und Konfrontationen mit den kollektiven Forderungen wird dann erst mit Hilfe von anweisenden Autoritäten gelöst. Die Ermächtigung der Autoritäten geht einher mit Objektivierungen, der Degradierung zum Objekt von fremden Blicken, fremder Rede und fremden Regeln. Allerdings auch mit der Reduzierung der Position der Moderatorin, die sich gegenüber den Experten stark zurücknimmt. Die Übernahme von Wissen ("Lernen" und Erkenntnis gewinnen) wird artikuliert als Drill und Gefügigmachen (inklusive Dankbarkeit, vgl. HOSTFrage an GUE/Kathy: Are you happy now?), und baut nicht auf Einsicht. Vorhaltungen und negative Spiegelungen sollen zur Abschreckung und Besserung dienen. Das Subjekt muß zum Nutzen der Gemeinschaft erzogen werden und sich ihren Normen unterordnen. Der SubjektEffekt dieses Diskurses ist ein Autoritäten untergeordnetes Subjekt, das bei Fehlverhalten isoliert und "an den Pranger" gestellt wird, korrekturbedürftig ist und durch Drill (nicht Einsichtsfähigkeit) an die Forderungen einer größeren Gemeinschaft anzupassen ist. Das Verhältnis zu den Autoritäten und zur Gemeinschaft ist ein stark personalisiertes und das Individuum ist gleichzeitig extrem abhängig von diesen, aber auch durch die Detaillierung und die Fokussierung auf den Einzelfall stark überhöht. Diese Entwürfe vom Subjekt lassen sich mühelos in hierarchischautoritären Kontexten wiederfinden und könnten innerhalb eines traditionellen sozio politischen "RechtsMitteLinks"Schemas möglicherweise als Bestandteil eines recht(spopulistisch)en Diskurses betrachtet werden. Die Daten aus der WinfreyReihe zeichnen sich durch insgesamt weniger objektivierende Strategien aus und weisen an manchen Stellen Spuren von subjektivierenden Verfahren auf (die Gäste kommen ausführlicher und weniger als Ausgefragte zu Wort, haben bisweilen Möglichkeiten, sich als Partner in einem informellen Gespräch zu konstituieren etc.). Mehr noch als das Vorhandensein von subjektivierenden Techniken fällt das NichtVorhandensein vieler Objektivierungsstrategien auf. D.h., eine Vereinzelung und Ausrichtung auf das Subjekt im Besonderen ist nicht auffällig ausgeprägt (sie ist vorhanden und im Fernsehen auch medienstrukturell verankert). Viel eher findet ein verallgemeinernder Diskurs statt, der das Subjekt und seine Erfahrung als Ausgangspunkt für generalisierbare Erörterungen nimmt. In den Daten gab es kaum dissentive Sequenzen, wenn es zu spontanen Frontbildungen kam, wurden diese von HOST geschlichtet, die hier untersuchten Shows weisen keine dramatisch strukturierten Formen auf jedenfalls nicht im selben Maß wie die ihrer Kollegin. Natürlich kann man im Mikrobereich sicher ebenfalls Zuspitzungen finden. Aber im Gesamtablauf ist die Show zyklisch strukturiert. Hier erscheint eine zweite Option, wie durch die Praktiken einer "Show für den Privatmenschen in seiner Alltäglichkeit" dieser medial konstituiert wird. Der einzelne wird weder auffällig häufig zum Objekt, noch wirklich frei in seiner Rede, sondern vielmehr zum Ausgangspunkt für Verallgemeinerungen gemacht. Der im Vergleich relativ weitgehende Verzicht auf Aussonderung des konkreten Falls und die Bezugnahme auf den generellen Fall hat als diskursive Korrelate Möglichkeiten der Gleichheit zwischen den Diskursteilnehmern und die Relativierung der Stimme der Autorität (der Experten). Die Übernahme von Wissen und Erkenntnis wird durch die Abhandlung der Problembereiche als denkbare Fälle und Optionen fürs Handeln der Eigenverantwortlichkeit der Subjekte anheimgestellt (ohne evozierte Affirmation und Ausstellung von Akten der Einsicht). SubjektEffekte sind: der einzelne wird als wichtiger Träger von verallgemeinerbaren Erfahrungen konstituiert, allerdings auch als einer neben vielen anderen (vgl. auch die Funktion der AUD, die die Perspektiven der Aussagen erweiteren, keine Fronten zu GUE bilden), das Verhältnis zu den anderen Diskurspositionen, v.a. zu den Autoritäten ist distanzierter, gesichtsbedrohende Sprechhandlungen sind nicht direkt an GUE gerichtet usw. Das Subjekt wird als lernfähig durch rationale Einsicht konstituiert. Analog zur Einordung in ein gesellschaftspolitisches Spektrum, könnte behauptet werden, diese Subjektkonzeptionen reflektieren Normen eines neoliberalen Diskurses der bürgerlichen Mittelschicht über das Individuum, der sich über die Besetzung der Position "egalitär" bzw. "antiautoritär" und "eigenverantwortlich" in Opposition zu "hierarchisch", "autoritär" und fremddefiniert bzw. abhängig von übergeordneten Instanzen definiert. Insofern stehen die beiden Pole der Möglichkeiten der Subjektkonzeption (und medialen Konstitution des Durchschnittsmenschen als Subjekt) in direkter Abfolge hintereinander auf dem Programm USamerikanischer Fernseh Nachmittage. Eine Entscheidung darüber, ob der immense Erfolg von Winfreys neoliberalem Diskurs, der jeden für sich allein und individuell "verantwortlich" macht, oder die Absetzung der ReiheRolonda mit ihrem autoritären und explizit hierarchisch operierenden Diskursmodus Anlaß zur Hoffnung geben sollte, muß anderen medien und sozialkritischen Untersuchungen überlassen bleiben.
Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit war es, das theaterhistorische Phänomen des chinesischen experimentellen Theaters komparatistisch sowohl als das Ergebnis der Begegnung zweier sehr verschiedener kulturhistorischer Linien (China/ Europa) zu beschreiben als auch in den traditionellen Kontext chinesischer Theaterinnovationen einzuordnen und aus ihm heraus zu erklären. Behandelt wird u.a. der machtpolitische Kontext interkultureller Begegnungen. Es stellt sich die Frage, ob man auf einem "transzendentalen Hügel hockend" China beobachten kann. Man ist immer wieder mit der Frage konfrontiert, aus welcher Perspektive man bei der Untersuchung anderer Kulturen zu adäquaten Ergebnissen kommen kann. Soll man einen aussenstehenden Beobachterposten behaupten oder soll man anerkennen, dass die eigene Anwesenheit vor Ort den Beobachtenden bereits involviert in das zu Beobachtende oder soll man sich seiner eigenen Aktivität bewusst werden und den ohnehin fiktiven Objektivitätsstatus bewusst aufgeben? Ich konnte während der Arbeit an der Inszenierung "Leg deine Peitsche nieder - Woyzeck" in Peking künstlerische und Alltagskommunikation erleben und Einsichten gewinnen, die ohne diese Arbeit unmöglich gewesen wären. Die chinesische Kultur hat bereits frühzeitig Schriftsysteme und eine Schriftkultur ausgebildet. Dennoch haben meine Untersuchungen ergeben, dass die Bereiche der Wissensvermittlung (Lern- und Lehrverhalten), der darstellenden Künste und der sozialen Kommunikation bis in unser Jahrhundert hinein von einer Tradition oraler Techniken und Kommunikation geprägt sind. Ganz wesentlich ist z.B. traditionell der Aspekt der LEIBLICHKEIT bei der Wissensvermittlung. Das Leibwissen eines Lehrers wird durch ständiges Üben und Wiederholen durch den Schüler in dessen Leib inkorporiert. Die Schüler (im profanen, im religiösen oder künstlerischen Bereich) werden hauptsächlich in das WIE der Übungen, nicht aber in das WARUM eingewiesen, weil sich aus der Logik dieses Denkens ergibt, dass sich aus der ausgefeilten Qualität des Geübten mit der Zeit der Sinn dessen über den Leib des Schülers von selbst erschließt. Oralen Techniken von Wissensvermittlung ist es eigen, dass sie dem Wiederholen größeren Wert beimessen als dem Neuerfinden. Dies ist eine Traditionslinie, die noch heute für das chinesische Sprechtheater wirksam ist. Innovation im chinesischen Kontext bedeutet vor allem Detailinnovation, aufbauend auf ein gegebenes Modell. Die chinesische Gesellschaft verfügt über ein reiches Instrumentarium theatraler Kommunikation. Aufgrund der Sozialstruktur und des ausgeprägten Relationsdenkens verfügen die kulturell Kommunizierenden über "shifting identities" wie Jo Riley es für die Darsteller im chinesischen traditionellen Musiktheater feststellte und wie Rosemarie Juttka-Reisse ein adäquates Phänomen für die Praxis von sozialem Rollenwechsel in sozio-kulturellen Kommunikations- und Interaktionsprozessen nachwies. "Shifting identies" bedeutet, dass Kommunizierende in der Lage sind, spontan und flexibel auf neue Kommunikationskontexte mit dem entsprechenden performativen Instrumentarium zu reagieren. Dieser Umstand hat weitreichende Konsequenzen für die Rollengestaltung im chinesischen Theater. Zum Beispiel ist der Brecht'sche Begriff der Verfremdung aus diesem Grunde NICHT oder bestenfalls nur partiell auf das chinesische Theater anwendbar. Die Brecht'sche Verfremdungstheorie ist nicht dem chinesischen Theater abgeschaut, sondern auf das chinesische Theater projiziert. Im Zusammenhang mit dem Leiblichkeitskonzept steht eine spezifische Vorstellung der EINVERLEIBUNG von Wissen, auch nicht-chinesischen Wissens. Beispielsweise wird bis in die 1990er Jahre hinein immer wieder auf die VERDAUUNGSMETAPHER zurückgegriffen. Das Einverleibungsprinzip, welches in engster Verbindung mit dem chinesischen Ahnenkult steht, ist mindestens einmal einer Fundamentalkritik unterzogen worden. Kurioserweise geschah dies nach der Einverleibung westlichen Wissens, insbesondere der Fortschrittsidee und der Vorstellung evolutionärer historischer Weiterentwicklung. Lu Xun nämlich prägte die Metapher der Menschenfresserei, die sich auf die als reaktionär erkannte Einverleibung "feudalistischen" Wissens aus der alten, dem Westen unterlegenen chinesischen Gesellschaft bezog. Seither gibt es die "fortschrittliche" und die "reaktionäre" Verdauung, wobei der Diskurs um kulturelle Identität, um Erneuerung und Bewahrung immer wieder neu festzulegen versucht, was gegebenfalls nützlich oder nutzlos ist. Die Entstehung des chinesischen experimentellen Theaters ist ohne das Eingebettetsein in historische Linien der chinesischen Theatergeschichte nicht erklärbar. Aneignungsmuster in bezug auf die Aufnahme neuer Anregungen aus anderen Kulturen haben eine traditionelle Logik entwickelt, die man nur erkennen und einordnen kann, wenn man sich ausführlich den historischen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen von Theater in China widmet. Deshalb bin ich auf diese historischen Linien ausführlich eingegangen. Das experimentelle Theater in China setzt diese Linie fort. Deshalb kann man schlussfolgern, dass das chinesische Sprechtheater "eine Art Pekingoper mit anderen Mitteln" ist, und nicht ein bürgerlich-westliches Sprechtheater mit chinesischer Kolorierung. Das chinesische Theater hat sich über die langen historischen Zeiträume seiner Entstehung als sehr aufnahmefähig für interkulturelle Anregungen gezeigt. Man kann sagen, dass es das Ergebnis dieser Interaktionsprozesse ist. In diesem Sinne ist die Integration westlicher Theaterstile und damit auch die Entstehung des experimentellen Theaters als traditionelle Strategie im Umgang mit dem Fremden anzusehen. Es handelt sich tendenziell nicht (nur) um einen Ausdruck von Modernität, sondern von Tradition. Es ist in der chinesischen Theatergeschichte nicht um die Echtheit/ Authentizität des adaptierten ausländischen Materials gegangen, sondern hauptsächlich um die Anwendbarkeit im eigenen Kontext. Das wiederum führt folgerichtig zu dem Schluss, dass es z.B. keine "falsche" Rezeption westlichen Theaters in China geben kann, sondern nur eine chinesische. Der experimentelle Zugang zu neuen Formen innerhalb der chinesischen Theaterkultur ist ein historisch praktizierter. Die chinesische Praxis des Experiments ist historisch verbunden mit einer Praxis des Ausprobierens, Integrierens, Ausschmückens, einer Art Patchwork-Strategie. Im Gegensatz zum westlichen Begriff des Experiments ist diese Praxis nicht an abstrakte Hypothesenbildung und die systematische Beweisführung gebunden. Hauptinstrument neuer Erkenntnisse war die empirische Beobachtung. Die Entstehung des experimentellen chinesischen Theaters im 20. Jahrhundert, welches erstmals an verschiedene Begrifflichkeiten gebunden wird und nicht einfach als historische Praxis dem chinesischen Theater inhärent ist, deutet auf eine neue Qualität dieses Phänomens in der chinesischen Theatergeschichte hin. Die neue Qualität im Vergleich zur historisch-experimentellen Praxis besteht darin, dass die chinesische Kultur erstmals in ihrer Geschichte als Hochkultur Asiens mit einem ernstzunehmenden, hegemonial operierenden Feind konfrontiert war, der mit seinem ökonomisch-militärischen Potenzial die Qualität der chinesischen Kultur als Ganzes in Frage stellte. Nun sahen sich die chinesischen Eliten gezwungen, die westlichen Mittel zum chinesischen Zweck des Überlebens zu machen. Aus diesem Grunde wurden westliche Ideen und Praktiken, wie z.B. das bürgerliche Sprechtheater rezipiert. Dies musste als Praxis aber auch als Begriff umgesetzt werden. Aus diesem spezifischen Entstehungskontext ergibt sich eine unterschiedliche Richtung der Theateravantgarden in China und im Westen. Während die historische Theateravantgarde im Westen in ihrer Kritik am bürgerlichen Theaterkonzept und in ihrer Auseinandersetzung mit Industrialisierungs- und Technologiesierungsprozessen auf "Retheatralisierung" des Theaters drängte, gingen die chinesischen Theaterkünstler den entgegengesetzten Weg. Die neuen historischen Erfahrungen ließen sich in den volkstümlichen Geschichten und den historischen Analogien des traditionellen chinesischen Theaters und in ihrer stilisierten Theatralität nicht mehr adäquat darstellen. Plötzlich wurde ein neues Realismuskonzept, welches nach DETHEATRALISIERUNG drängte, wesentlich. Darüberhinaus gehört es zur historischen Linie des chinesischen Theaters, dass es stark profitierte sowohl von nicht-chinesischen Anleihen anderer Theaterkulturen als auch von den Volkskünsten der eigenen Kultur. Es waren zunächst Laiendarsteller und Amateurtheaterkünstler, die in den 1920er Jahren die vielfältigen Kategorien des chinesischen "experimentellen" Theaters erfanden und später in einen professionellen Status überführten. Neben den kulturellen Einflüssen des westlichen Imperialismus war China ebenfalls mit dem hegemonialen Bestreben insbesondere des sowjetischen Kulturimperialismus konfrontiert. Die sowjetische Kulturpolitik favorisierte das Stanislawski-Konzept. Dieses wurde dann zunächst, nach Gründung der VR China 1949, zu einem der Grundpfeiler der Idee eines neu zu entwickelnden chinesischen Nationaltheaters. Seit den 1980er Jahren wird es zunehmend kritisiert. Seitdem werden andere westliche Konzepte interessant. Dazu gehören die Konzepte der westlichen historischen Avantgarde ebenso wie die des absurden und weitestgehend postmodernen Theaters. Seit den 1990er Jahren sind zwei Haupttendenzen im modernen chinesischen Theater festzustellen. Zum einen unterliegt das Theater rigiden Kommerzialisierungstendenzen. Zum anderen sieht sich das Theater einer Vielzahl neuer Unterhaltungsmedien (TV, Kino, Karaoke, Shows etc.) gegenüber, die es veranlassen, sich verstärkt auf die spezifischen Möglichkeiten theatralen Ausrucks zu besinnen. Das führt dazu, dass nun sowohl das theatrale Potenzial des klassischen chinesischen Theaters interessant wird ebenso wie die Retheatralisierungsversuche der westlichen Avantgarde. Seit Mitte der 1980er Jahre ist eine erneute, hitzige Debatte über Begriff und Inhalt von experimentellem Theater im chinesischen Kontext zu beobachten. ; The starting point of this paper was both to describe the theatre-historical phenomenon of Chinese experimental theatre in a comparative way, as the result of the encounter of two culture-historical lines differing very much (China/Europe) and to put it in its proper historic context and thus to explain from its context. The power-political context of intercultural encounters is dealt with. The question arises whether one would be able to watch China at all " sitting on a transcen-dental hill". You are constantly facing the question from which perspective you can achieve adequate results when researching/ investigating foreign cultures. Should you maintain your (external) observer status or should you recognise that your own presence at the site involves the observer what he watches or should you consciously give up the anyhow fictitious status of objectivity. While staging "Put down your whip - Woyzeck" in Beijing at the State theatre called Central Experimental Theatre I could experience both artistic and every-day communication, without which this paper would and could never have been written. The Chinese culture has developed writing systems and a written culture early on in history. Nevertheless, my study has shown, that instruction (learner and teacher behaviour), performing arts and social communication have been highly influenced by the oral tradition of communication throughout the centuries. The aspect of corporality in instruction is essential. The teacher's incorporated knowledge is transferred to the student's body through permanent exercise and repetition/revision. The student (worldly, religious and artistic spheres) is taught HOW to do the exercise but not necessarily WHY because part of this thinking is the idea that the awareness of the meaning of the skill comes to the student through his body. This implies that it is a characteristic feature of oral instruction/information stresses repetition rather than innova-tion. This line of tradition has always been efficient for the Chinese spoken drama, even today. Innovation in a Chinese context means chiefly innovation of detail based on a model given. The Chinese society developed a rich variety of tools of theatrical communication. Due to the social structure and a well-developed relational thinking the cultural communicators have "shifting identities" as Jo Riley stated it in terms of the performers in the Chinese traditional music thea-tre. Rosemarie Juttka-Reisser confirmed an adequate phenomenon for the practice of switching social roles in processes of socio-cultural communication and interaction. "Shifting identities" means that communicators are capable of spontaneously and quickly responding to new communication contexts through adequate performative sets of instruments. This has an impact on the performance of roles in Chinese theatre. Therefore the Brechtian term of alienation, for instance, can not or only partly be applied to Chinese theatre. Thus, the Brechtian theory of alienation is not derived from Chinese theatre but rather projected to it. Linked to the concept of incorporation of knowledge is a specific image of incorporation of knowledge including the non-Chinese one. Up to the 1990s the metaphor of digestion had been used again and again. The principle of incorporation which is closely connected with ancestor cults underwent fundamental criticism at least once. Curiously enough, this happened after the incorporation of Western knowledge, in particular of the idea of progress and evolution/ revolution. Lu Xun coined the metaphor of cannibalism. This relates to the traditional incorporation of the so-called "feudal" knowledge based in the Chinese culture which has been understood as inferior to the West. Since then there has been "progressive" and "reactionary" digestion; discourse about cultural identity, about renewal and preservation of Chinese values has always been trying to re-determine what is useful or useless respectively. The appearance and existence of the Chinese experimental theatre can not be explained without it being embedded in the line of Chinese (theatre)history. Patterns of acquisition in terms of the perception of new stimuli from other/foreign cultures have developed a traditional logic which can only be recognized and categorized if you have a deeper understanding of the historic condition and the whole framework of theatre in China. Therefore I dealt with this historical line in detail. The experimental theatre in China continues this line to a certain extend. This results in the Chinese spoken theatre being "a kind of Beijing opera with a different approach" but not a bourgeois Western spoken drama with a Chinese touch. Throughout its history the Chinese theatre has always readily absorbed intercultural stimuli. So you can say that these processes of interaction have contributed to contemporary Chinese theatre. Thus you can regard the integration of Western theatre styles including the development of the experimental theatre a highly traditional strategy for encountering and dealing with the foreign element. This strategy is not an expression of modernity only but mainly of tradition. Chinese theatre history was not particularly interested in the authenticity of the adopted foreign material but in its application within the Chinese context. This has led to the conclusion that there cannot be any "wrong" perception of the Western theatre in China but only a Chinese. The experimental approach to new forms within the Chinese theatre culture has been used all the time. The Chinese experimental practice has indeed been linked with integrating, ornamenting and trying out resulting in a kind of patchwork. In contrast to the Western term of experiments this practice does not depend on abstract hypotheses and proofs systematically shown. This is partly due to Western sciences focussing on mathematics while Chinese sciences were concentrating on dealing with problems of relations (physics). Therefore they (have) preferred empirical observation to mathematical analysis in order to achieve new knowledge. In contrast, the experimental Chinese theatre in the 20th century, reflects a new quality in their approach to theatre which, for the first time, attempts to use concepts like in the Western theatre. The reason for this new approach resulted from the fact that for the first time in its history Chinese culture as an Asian high culture was faced with a serious hegemonially operating enemy that questioned the quality of the Chinese culture as a whole through its economic and military potential. The Chinese intellectual elite was forced to respond to the Western threat by using Western methods (including spoken drama) in order to survive: using a Western means to a Chinese end. These specific historical circumstances and power relations have led to different directions of avantgarde theatre movements in China and the West in the early 20th century. Western and Chinese theatre artists went opposite ways: while the former initiated the Re-theatralisation in their criticism of the bourgeois theatre concept and of industrialisation; the latter focused on De-theatralisation which had become a new concept, that of realism/ naturalism. The new experiences of the time could no longer be expressed in their folktales and historical analogies of the traditional Chinese theatre and its stylised theatricality. Amateurs (in particular students of big cities) were the first to invent the various categories of a Chinese "experimental" theatre and later transformed its status into a professional one. Apart from cultural influences of Western (including Japan) imperialism China faced the same problems with the Soviet cultural imperialism. The Soviet cultural policy favoured Stanislavsky's concept. This idea became the basis of a new Chinese national theatre which was to develop after the formation of the People's Republic of China in 1949. Since the 1980s it has increasingly been criticised. In addition other Western concepts have attracted attention including concepts of the Western historical avantgarde, the theatre of the absurd and post-modern theatre. Since the 1990s two major tendencies of modern Chinese theatre can be stated. On the one hand, the theatre is subject to rigid tendencies of commercialisation (which means that the state cut the subsidies), on the other hand, the theatre is confronted with a variety of new entertainment media (TV, cinema, karaoke, shows etc.) which make it remember its specific oppor-tunities of theatrical expression (now including traditional Chinese theatre forms). At the moment a new heated debate about the term and the content of experimental theatre is going on.
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"Wie Privatjets dem Klima überdurchschnittlich schaden"Deutschlandfunk vom 16.01.2023"So viel trägt der Luftverkehr zum Klimawandel bei"Frankfurter Allgemeine vom 03.09.2020"Eine Flugreise ist das größte ökologische Verbrechen"Süddeutsche Zeitung am 31.05.2018Spätestens durch die Studie des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt aus dem Jahr 2020 ist klar, dass die Luftfahrt einen bedeutenden Anteil der globalen Klimaerwärmung ausmacht. Forschende belegten, dass der Anteil der globalen Luftfahrt an der Klimaerwärmung 3,5 Prozent beträgt (Deutsches Zentrum für Luft und Raumfahrt 2020). Entsprechend steht die Luftfahrtindustrie in Zeiten der wachsenden Sorge um den Klimawandel und den damit einhergehenden Auswirkungen auf den Menschen vor einer wesentlichen Herausforderung: Wie kann die Luftfahrt CO₂-neutral werden?Bislang stehen keine Technologien zur Verfügung, die eine solche Luftfahrt ermöglichen. Gleichzeitig ist eine – durch die Reisebeschränkungen während der Hochphase der Coronakrise nochmals verstärkte – hohe weltweite Nachfrage nach Flugreisen zu verzeichnen. Experten gehen davon aus, dass durch diese fatale Kombination zukünftig der Anteil des Luftverkehrs als Ursache von CO₂ weiter steigen wird (Bopst et al., 2019, S. 31). Deshalb müssen schnell Lösungen gefunden werden, um weitere negative Auswirkungen auf das Klima zu reduzieren.Im vorliegenden Blogbeitrag wird versucht, mögliche Wege der Luftfahrtindustrie hin zu einem klimaneutralen Flugverkehr zu skizzieren. Dazu wird zunächst die Ausgangslage beschrieben und ein Zukunftsszenario skizziert, bevor anschließend mögliche Technologien und politische Maßnahmen zur CO₂-Reduktion erläutert werden. Dabei werden neben technischen Neuerungen, wie nachhaltige Kraftstoffe und das Potenzial von Wasserstoff, die Möglichkeiten und Grenzen der betrieblichen Optimierung und einer staatlichen Regulation diskutiert. Die Ansätze werden dabei stets kritisch hinterfragt.Im zweiten Teil der Arbeit wird untersucht, inwiefern sich Airlines um eine nachhaltige CO₂-Reduktion bemühen. Als Beispiel wurde die Lufthansa Group ausgewählt. Die diesbezüglichen Maßnahmen werden ebenfalls zunächst dargestellt und anschließend kritisch betrachtet. Der Blogbeitrag endet mit einer Zusammenfassung, einer abschließenden Betrachtung der Ergebnisse und einem Verweis auf weitere Aspekte von Nachhaltigkeit beim Reisen.Eine klimaneutrale Luftfahrt – AusgangslageDer weltweite Luftverkehr hat in den vergangenen Jahrzehnten stark zugenommen. Im Jahr 2018 [1] wurde weltweit eine so hohe Zahl an Passagieren wie nie zuvor befördert. Deren Anzahl hat sich seit den 1990er-Jahren um mehr als 100 Prozent erhöht (Bopst et al., 2019, S. 17). Allein im Jahr 2018 stieg die Anzahl der Passagiere weltweit um 6,7 Prozent und in Europa um 6,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahr (International Civil Aviation Organization (ICAO) 2019, S. 1). In Deutschland hat sich die Zahl der Fluggäste seit 1991 verdreifacht und erreichte 244 Millionen im Jahr 2018 (Bopst et al., 2019, S. 17).Trotz des Einbruchs im Flugverkehr aufgrund der Coronapandemie in den Jahren 2020 bis 2022 wird spätestens im Jahr 2025 mit einer vollständigen Erholung des Luftverkehrs gerechnet. Es gibt auch Modelle, gemäß denen davon ausgegangen wird, dass sich die Luftfahrt bereits bis 2023 vollständig erholt und bis 2025 das Vorkrisenniveau weit überschritten wird. Je nach Szenario wird bis 2040 mit einem jährlichen Wachstum von 2,8 bis 3,5 Prozent gerechnet, was einen Anstieg der Passagierzahlen auf bis zu 9,4 Mrd. Passagiere weltweit bedeutet (Gelhausen 2021; vgl. EASA at al. 2019, S. 15).Das Wachstum des Luftverkehrs in den vergangenen Jahren hat mehrere Ursachen. Eine zentrale Rolle spielen dabei sinkende Kosten auf der Angebotsseite, insbesondere durch den Rückgang von Produktionsfaktoren wie dem Kerosinpreis um mehr als die Hälfte in den letzten zwanzig Jahren (Bopst et al., 2019, S. 17f.). Auch Lohn- und Beschaffungskosten für Luftfahrzeuge sanken. Durch die steigende Treibstoffeffizienz, eine höhere Auslastung und eine höhere operative Leistung der Flugzeuge sowie die Bildung von Airline-Allianzen wurde diese Entwicklung unterstützt.Neben dem Passagierverkehr verzeichnete auch der Frachtverkehr erhebliche Zuwachsraten in den letzten Jahrzehnten. Die jährliche Frachtmenge in Deutschland ist seit 1991 um 243 Prozent auf 4,9 Mio. t im Jahr 2017 gestiegen (ebd., S. 21).Die steigende Nachfrage im Personen- und Frachtverkehr führt dazu, dass in Zukunft deutlich mehr Flugzeuge benötigt werden. Airbus prognostiziert eine Verdopplung der weltweiten Flotte bis 2036 (Bopst et al., 2019, S. 21). Trotz technischer Weiterentwicklungen und gesteigerter Effizienz bei gleichzeitiger Reduktion umweltschädlicher Schadstoffe trägt die Luftfahrt in einem bedeutenden Ausmaß zur Umweltbelastung bei. Flugzeuge sind zwar energieeffizienter geworden, aber die jährliche Effizienzsteigerung hat in der laufenden Dekade abgenommen und wird in der kommenden Dekade voraussichtlich im Durchschnitt bei 1,4 Prozent pro Jahr liegen (ebd.).Trotz dieser Fortschritte kann durch Effizienzsteigerungen der prognostizierte Anstieg der Verkehrsleistung nicht ausgeglichen werden, was bedeutet, dass der Kerosinverbrauch und der Endenergiebedarf des Luftverkehrs in Zukunft weiter zunehmen werden (ebd., S. 25). Es wird erwartet, dass der weltweite Kerosinverbrauch im Jahr 2050 je nach Szenario zwischen 484 und 1096 Millionen Tonnen liegen wird (Cames et al., 2019).Der Treibstoff verursacht eine Vielzahl klimarelevanter Emissionen. Treibhausgase wie Kohlendioxid, Methan, Lachgas, halogenierte Fluorkohlenwasserstoffe, Fluorkohlenwasserstoffe, Schwefelhexafluorid und Stickstofftrifluorid beeinflussen die Strahlungsbilanz der Erde (Bopst et al., 2019, S. 26). Sie lassen die einfallende Sonnenstrahlung passieren, blockieren aber die von der Erdoberfläche abgestrahlte langwellige Wärmestrahlung. Treibhausgase absorbieren diese Wärmestrahlung und strahlen sie in alle Richtungen, einschließlich der Erdoberfläche, ab. Dies führt insgesamt zu einer höheren Strahlungsbelastung auf der Erdoberfläche.Zusätzlich zu den Treibhausgasemissionen, die direkt bei der Verbrennung von Kerosin im Luftverkehr entstehen, gibt es andere Emissionen, wie Partikel, Wasserdampf, Schwefel- und Stickoxide, die ebenfalls zur Klimaveränderung beitragen (ebd. S. 27). Diese Emissionen beeinflussen die Bildung von Aerosolen und Wolken sowie die Konzentration bestimmter atmosphärischer Gase und tragen dadurch ebenfalls zur Veränderung des Strahlungshaushalts bei.Die CO₂-Emissionen des zivilen Luftverkehrs in Deutschland betrugen im Jahr 2017 etwa 31,2 Mio. t CO₂, wovon 2,1 Mio. t auf Inlandsflüge entfielen (ebd. S. 30). Im Vergleich dazu betrug die Gesamtmenge der CO₂-Emissionen des zivilen Luftverkehrs in Deutschland im Jahr 1990 etwa 14,3 Mio. t CO₂ (Inlandsflüge: 2,2 Mio. t CO₂) (ebd.). Somit ist der CO₂-Ausstoß des Luftverkehrs in Deutschland innerhalb von 27 Jahren um 117 Prozent gestiegen. Global betrachtet trug der zivile und militärische Luftverkehr im Jahr 2015 etwa 875 Millionen Tonnen CO₂-Emissionen bei, was etwa 2,5 % der gesamten vom Menschen verursachten CO₂-Emissionen entspricht (ebd.). Ohne weitergehende Maßnahmen werden auch klimarelevante Emissionen zukünftig weiter ansteigen.Im European Aviation Environmental Report 2019 werden Prognosen für die zukünftigen CO₂-Emissionen des zivilen Luftverkehrs in Europa bis zum Jahr 2040 präsentiert. Die Prognosen basieren auf drei Szenarien, die sich in der Entwicklung der Verkehrsleistung unterscheiden. Beim wahrscheinlichsten Szenario, dem 'base traffic forecast' der ICAO, wird bis 2040 von einem Anstieg der weltweiten CO₂-Emissionen, verursacht von der Luftfahrt, auf 198 Mio. t bis 224 Mio. t ausgegangen, abhängig von der technologischen Entwicklung. Dies entspricht einem Anstieg von 21 Prozent bis 37 Prozent gegenüber dem Referenzjahr 2017 (EASA et al. 2019, S. 23).Folglich werden in den kommenden Jahrzehnten durch den zunehmenden Flugverkehr die bereits bestehenden Umweltbelastungen weiter verstärkt. Ferner ist mit einem überproportionalen Anstieg der auf den Luftverkehr zurückzuführenden Treibhausgasemissionen zu rechnen, da andere Sektoren, wie die Automobilindustrie und der Energiesektor, voraussichtlich früher und umfassender ihre CO₂-Emissionen reduzieren werden (Bopst et al., 2019, S. 31).Maßnahmen für die Erreichung einer klimaneutralen LuftfahrtAufgrund des zunehmenden Umweltbewusstseins ist auch die Luftfahrtbranche gezwungen, sich intensiv mit dem Thema Nachhaltigkeit auseinanderzusetzen. Entsprechend wurde in den vergangenen Jahren eine Vielzahl an Maßnahmen zur Steigerung der Nachhaltigkeit in der Luftfahrt umgesetzt bzw. befindet sich noch in der Umsetzung. Im Folgenden wird ein Teil dieser Maßnahmen exemplarisch erläutert.Nachhaltige und klimaneutrale AntriebsstoffeKernpunkt einer nachhaltigen Luftfahrt ist das Umstellen auf alternative Antriebsarten von Flugzeugen. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt gibt es allerdings keine Antriebskonzepte, die bei Autos, Schiffen oder Zügen funktionieren und größtenteils bereits etabliert sind und die auch bei Flugzeugen eingesetzt werden können. Daher wird in der Industrie vor allem auf drei zukunftsweisende Technologien gesetzt, den Einsatz von nachhaltigen Kraftstoffen, Wasserstoff als Antriebsmittel für Flugzeuge sowie elektronische Antriebsarten.In der Entwicklung am fortgeschrittensten und daher kurzfristig einsetzbar sind nachhaltige Treibstoffe für die Luftfahrt, konkret nachhaltige Flugkraftstoffe (engl.: Sustainable Aviation Fuels – SAF). Eine nachhaltige und CO₂-neutrale Luftfahrt erfordert den Einsatz von Flugkraftstoffen, die aus erneuerbaren Energiequellen und nachhaltig produzierten Rohstoffen hergestellt werden, um fossiles Kerosin zu ersetzen (Bundesregierung 2021).Durch den Einsatz von SAF entsteht ein Kohlenstoffkreislauf, der weitgehend geschlossen ist. Der eingesetzte Kraftstoff wird aus CO₂ gewonnen, das im Idealfall zuvor aus der Atmosphäre absorbiert wurde (Geffert 2022). Es entsteht ein Kreislauf, bei dem kein zusätzliches CO₂ produziert wird, sondern das in der Atmosphäre vorhandene Kohlendioxid wiederverwertet wird.Von der Bundesregierung besonders gefördert werden 'Power-to-Liquid'-Kraftstoffe (PtL), bei denen aus Strom, Wasser und CO₂ flüssige Kraftstoffe hergestellt werden. Diese Art von Antriebsstoffen wird auch als 'strombasierte Kraftstoffe' bezeichnet (Bundesregierung 2021). Um einen Beitrag zur Reduzierung von Treibhausgasemissionen zu leisten, ist es entscheidend, erneuerbare Energiequellen bei der Herstellung zu nutzen. Es wird als realistisch angesehen, dass bis 2030 im deutschen Luftverkehr mindestens 200.000 Tonnen Kerosin aus PtL verwendet werden (ebd.). Diese Menge entspricht etwa 2 Prozent des Kerosinverbrauchs in Deutschland im Jahr 2019 (ebd.).Die bis zum derzeitigen Zeitpunkt hohen Produktionskosten und die begrenzte Verfügbarkeit der PtL sind zentrale Herausforderungen für eine nachhaltige Luftfahrt (Flottau 2023). Um diesen zu begegnen, wurden von der Bundesregierung Maßnahmen zur Förderung der Produktion veranlasst. In einem gemeinsamen Papier der Bundesregierung und der Luftfahrtindustrie werden die Maßnahmen erläutert. Unter anderem plant die Bundesregierung, sich dafür einzusetzen, die Kostenlücke von SAF zu herkömmlichen Kraftstoffen zu schließen, die weitere Forschung und Entwicklung finanziell zu fördern (dazu zählen auch die Förderung und der Bau von SAF-Produktionsanlagen, um den Markthochlauf von PtL-Kerosin zu beschleunigen) sowie SAF bei der Flotte der Flugbereitschaft beizumischen, um als Vorläufer und Ankerkunde zum Markthochlauf beizutragen (Bundesregierung 2022, S. 5f.).Der bedeutendste Vorteil gegenüber anderen Antriebsmitteln und Technologien ist, dass SAF herkömmlichem Kerosin bis zu 50 Prozent beigemischt werden können, ohne dass es nötig ist, Anpassungen an Flugzeugen und Triebwerken vorzunehmen (Geffert 2022). Entsprechend hat die EU-Kommission im Frühjahr 2023 gesetzliche Regelungen für eine Beimischung beschlossen. Ab dem Jahr 2025 ist es erforderlich, dass alle Flüge, die von Flughäfen in der Europäischen Union starten, mindestens zwei Prozent nachhaltige Flugkraftstoffe beimischen (Flottau 2023; Europäische Union 2023). Bis 2030 wird die Quote auf sechs Prozent erhöht und schließlich bis zum Jahr 2050 schrittweise auf eine Beimischungsquote von siebzig Prozent angehoben.Beim Abflug von Flughäfen in der Europäischen Union dürfen Luftfahrzeugbetreiber zudem nur so viel Kraftstoff tanken, wie für den Flug tatsächlich benötigt wird, um zusätzliche Emissionen aufgrund von erhöhtem Gewicht zu vermeiden und um ein 'Tankering' zu verhindern (Europäische Union 2023). Durch Letzteres wird die absichtliche Mitnahme von zusätzlichem Kraftstoff beschrieben, um den Einsatz von nachhaltigen Kraftstoffen zu vermeiden.Neben den SAF als kurzfristig verfügbare Brückenlösung spielen die Entwicklung neuer emissionsfreier Antriebe eine zentrale Rolle. Als vielversprechender Ansatz gilt der Einsatz von regenerativem Wasserstoff als Antrieb, dessen Potenzial vor allem für den Einsatz in Brennstoffzellen, Gasturbinen und hybriden Lösungen untersucht wird (BDLI 2020, S. 4ff).Zwei Ansätze werden hierbei verfolgt. Zum einen wird beobachtet, inwiefern Wasserstoff, wie bei herkömmlichen Turbinen, direkt verbrannt werden kann und dadurch Triebwerken Schub verleiht. Bedeutend höheres Potenzial wird 'Flying Fuel Cells' zugesprochen, einer Brennstoffzelle, die flüssigen Wasserstoff in Strom umwandelt, der dann für den Antrieb des Flugzeugs genutzt werden kann (Weiner 2022; Geffert 2023).Gemein haben beide Technologieansätze, dass lediglich Wasser als Emission zurückbleibt, sofern Wasserstoff mithilfe regenerativer klimaneutraler Energien gewonnen wird (Geffert 2022). Bevor diese Technologien jedoch in hohem Umfang im Flugbetrieb zum Einsatz kommen können, bedarf es erheblicher Entwicklungsprozesse und Innovationssprünge. Neben der Entwicklung von Antriebstechnologien besteht die zentrale Herausforderung darin, das erheblich größere Volumen von verflüssigtem Wasserstoff im Vergleich zu Kerosin und damit notwendige größere Tanks in das Flugzeug zu integrieren (ebd.).Ebenfalls noch ungelöst sind Probleme, die im Zusammenhang mit Batterietechnik und Fliegen stehen. Die Verwendung von Batterien im elektrischen Flugverkehr hat zwar den Vorteil, dass sie während des Fluges keine Emissionen verursachen, einen hohen Wirkungsgrad aufweisen und es ermöglichen, eine hohe Energiemenge in kurzer Zeit abzugeben, aufgrund ihrer begrenzten Speicherkapazität sind derzeitige Batterien für den Einsatz in der kommerziellen Luftfahrt jedoch nicht geeignet. (BDLI S. 8).Auch wenn in den kommenden Jahren weiter Fortschritte hinsichtlich der Speicherkapazität zu erwarten sind, ist anzunehmen, dass elektrisches Fliegen sich vornehmlich auf die Bereiche kleine Motorsegler, Flugtaxis und Kleinflugzeuge für regionale Strecken beschränkt. Eine vielversprechende Option auf lange Sicht sind hybride Antriebe. Gasturbinen und elektrische Antriebe werden dabei so kombiniert, dass sie sich ergänzen und elektrische Antriebe besonders in Phasen mit hohem Energiebedarf die kerosinbetriebene Turbine unterstützen (ebd.).Effizientere Flugführung im europäischen LuftraumDurch die Fortentwicklung eines 'Single European Sky' kann ein maßgeblicher Beitrag zur aktiven Bekämpfung des Klimawandels geleistet werden. Bereits durch die Optimierung von Flugrouten im deutschen Luftraum konnte eine Reduzierung von Umwegen und somit eine Reduzierung des Treibstoffverbrauchs erzielt werden. Auf europäischer Ebene konnten beispielsweise seit 2014 durch die Einführung des 'Free Route Airspace' mehr als 2,6 Millionen Tonnen CO₂ eingespart werden. Dies entspricht etwa 0,5 Prozent der insgesamt durch den Luftverkehr verursachten CO₂-Emissionen innerhalb der Europäischen Union (BDL 2021).Um das vollständige Potenzial auszuschöpfen, wurden von politischer Seite weitere Maßnahmen zur Vereinheitlichung des europäischen Luftraums eingeleitet. Anhand von Untersuchungen wird deutlich, dass durch die Realisierung eines einheitlichen europäischen Luftraums pro Flug 250 bis 500 kg Kraftstoff bzw. 0,8 bis 1,6 Tonnen CO₂ eingespart werden können, indem optimierte und direktere Flugrouten genutzt werden (ebd.).Verbesserte Flugverfahren, wie kontinuierliche Sinkflüge und das Vermeiden von Warteschleifen, bieten weiteres Einsparungspotenzial von bis zu 325 kg Kraftstoff pro Flug (ebd.). Neben der Optimierung der Flugdurchführung gilt es auch, die Prozesse am Boden weiter zu verbessern. Kürzere Rollwege mit weniger Zwischenstopps bieten weitere Einsparungsmöglichkeiten von 38 bis 75 kg Kraftstoff (ebd.).CO2-neutraler FlughafenbetriebNeben den Flugzeugen selbst tragen Flughäfen und die damit verbundene Infrastruktur zu einer Belastung der Umwelt durch den CO2-Ausstoß bei. Entsprechend kann eine Optimierung der Flughafeninfrastruktur dazu beitragen, die Menge an Treibhausgasen zu reduzieren und so das Fliegen umweltfreundlicher zu gestalten. Zahlreiche Flughäfen haben bereits Maßnahmen ergriffen, um dies zu erreichen. Unterstützt werden sie in diesem Zusammenhang von der Bundesregierung, die eine Reihe von Projekten finanziell fördert (Bundesregierung 2022).Die Maßnahmen schließen folgende Bereiche ein: Energieversorgung der Flughäfen, Gebäudetechnik, Einsparungen im Bereich der flughafenspezifischen Anlagen sowie der Bereich Fuhrpark und Mobilität (vgl. BDL 2021). Im Kontext der Energieversorgung wird eine besondere Förderung für Projekte gewährt, die sich auf die lokale und ökologische Energieerzeugung konzentrieren. Hierbei liegt der Fokus entweder auf der Eigenproduktion von Energie, z.B. durch den Einsatz von Photovoltaikanlagen, oder auf der Nutzung regional gewonnener erneuerbarer Energien (ebd.).Zusätzlich werden Fördermittel für Projekte bereitgestellt, die auf die energetische Nachhaltigkeit von Gebäuden abzielen, wie durch den Bau von entsprechend konzipierten Neubauten oder durch die energetische Optimierung bereits bestehender Bauten. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Optimierung von flughafenspezifischen Anlagen. Beispielhaft ist hier die Umstellung der Vorfeldbeleuchtung auf LED-Leuchtmittel zu nennen. Besonders hohes Einsparpotenzial bietet ferner die Umstellung von für den Flugbetrieb nötigen Bodenfahrzeugen auf alternative Antriebsformen wie Elektromobilität und alternative Kraftstoffe.Vernetzung mit anderen VerkehrsträgernEine Vernetzung der Verkehrsträger trägt zu einer Reduktion der Treibhausgasemissionen bei. Dabei sollen Verkehrsträger miteinander vernetzt werden, um ihre verkehrlichen, wirtschaftlichen und ökologischen Vorteile am geeignetsten zu nutzen (BDL & DB 2021, S. 2). Ziel ist hierbei eine Verringerung des innerdeutschen Flugverkehrs auf ein Minimum. Dazu ist es allerdings unabdingbar, die Bahninfrastruktur weiter auszubauen und Flughäfen stärker an das bestehende Bahnnetz anzuschließen.Durch den umfangreichen Ausbau der Infrastruktur, die Bereitstellung leistungsstarker und attraktiver Angebote sowie die Verbesserung der gemeinsamen Services entlang der Reisekette können das Mobilitätsangebot attraktiver gestaltet und die Kundenzufriedenheit gesteigert werden. Hierbei liegt das Potenzial bei bis zu 4,3 Mio. Reisenden jährlich und einer damit verbundenen Reduzierung der CO₂-Emissionen um rund ein Sechstel im innerdeutschen Flugverkehr (ebd., S. 3).Prognosen zufolge wird der Luftverkehr innerhalb Deutschlands auf Kurzstrecken bis 2030 stark zurückgehen und nur noch auf längeren Strecken, wie zwischen Hamburg und München, profitabel sein. Bis zum Jahr 2050 ist zudem geplant, die Schieneninfrastruktur in Deutschland so weit auszubauen, dass nahezu alle innerdeutschen Flugverbindungen zwischen den großen Drehkreuzen und Ballungszentren durch Bahnfahrten innerhalb von vier Stunden ersetzt werden können (Bopst et al., 2019, S. 58). Durch die Einbindung der Flughäfen ins Schienennetz wird auch der Schienengüterverkehr profitieren. Die allgemeine Zielsetzung ist, dass bis 2050 schnelle Güterzüge im Nachtverkehr nationale Frachtflugverbindungen ersetzen können (ebd.).EmissionshandelDer Emissionshandel gilt als weiterer Baustein für eine klimaneutrale und nachhaltige Luftfahrt. Inwiefern der Emissionshandel zu mehr Nachhaltigkeit beitragen kann, wird bereits in verschiedenen Blogbeiträgen näher erläutert. An dieser Stelle sei daher insbesondere auf die Beiträge von Marion Stieger und Alexandra Knöchel verwiesen. Beide Autorinnen beleuchten, inwiefern der Emissionshandel zu einer Transformation der Wirtschaft hin zu mehr Nachhaltigkeit führen kann. Die in den Blogbeiträgen beschriebenen Prinzipien gelten selbstverständlich gleichermaßen für die Luftfahrt.Kritische Betrachtung der MaßnahmenObwohl es in den vergangenen Jahren zahlreiche Innovationen und technologische Fortschritte in der Luftfahrtindustrie gab, besteht weiterhin ein signifikanter Entwicklungsbedarf, um das Ziel der Klimaneutralität zu erreichen. Zur Nutzung von Wasserstoff als Treibstoff in Fluggasturbinen und Brennstoffzellen müssen zunächst zahlreiche neue Technologien entwickelt werden. Dies sind insbesondere Brennstoffzellen, Elektroantriebe und Tanks, die speziell für flüssigen -253 Grad kalten Wasserstoff konzipiert sind.Diese Technologien müssen anschließend wiederum in das Design und die Struktur des Flugzeugs integriert werden, was aufgrund des deutlich größeren Volumens von Wasserstoff im Vergleich zu herkömmlichem Kerosin eine Neukonstruktion des Flugzeugs erforderlich macht (Geffert 2022). Unter Berücksichtigung der langen Entwicklungszyklen von Flugzeugen, die zwanzig bis dreißig Jahre betragen, sind solche Technologien frühestens Mitte der 2050er Jahre verfügbar.Wie weiter oben beschrieben, setzen EU-Kommission und Fluggesellschaften daher auf SAF. Neben den bekannten Herausforderungen der hohen Kosten und begrenzten Verfügbarkeit stellt die Nutzung von SAF auch in ökologischer Hinsicht eine komplexe Problematik dar (Frankfurter Allgemeine 2022). Das bisher bedeutendste Problem ist die begrenzte Produktionskapazität von alternativem Flugtreibstoff, da momentan die Verfügbarkeit von Rohstoffen nicht ausreicht, um den tatsächlichen Bedarf an Kerosin zu decken (ebd.; vgl. McCurdy 2021).Außerdem wird dieser alternative Treibstoff mittlerweile auch in anderen industriellen Bereichen eingesetzt, was zu einem Wettbewerb zwischen der Luftfahrtindustrie und anderen Branchen um eine begrenzte Ressource führt. Ferner ist für die Produktion dieser Treibstoffe ein erheblicher Energieaufwand notwendig. Diese Energie müsste demnach ebenfalls nachhaltig gewonnen werden, um eine positivere Klimabilanz als herkömmliches Kerosin zu erreichen. Die Produktion von nachhaltigem Kerosin ist entsprechend vom Ausbau der nachhaltigen Energiegewinnung abhängig.Der Einsatz von PtL-Kraftstoffen in der Luftfahrt wird von einem Teil der Experten kritisiert, da die vermeintliche CO₂-Reduktion durch diese Treibstoffe nicht auf einer tatsächlichen Einsparung von CO₂ beruht. Stattdessen wird das für die Herstellung der PtL-Kraftstoffe benötigte CO₂ zunächst der Umwelt entzogen und später bei der Verbrennung des Kraftstoffs wieder in die Atmosphäre freigesetzt. Dieser Ansatz führt zu einer scheinbaren Kompensation von CO₂-Emissionen, die jedoch letztlich darauf hinausläuft, dass die CO₂-Bilanz lediglich als ausgeglichen angesehen werden kann. Im günstigsten Fall sollte kein zusätzliches CO₂ bei der Herstellung und dem Transport anfallen. In diesem Fall ergibt sich ein Nullsummenspiel, das jedoch nicht zur Lösung des Klimaproblems beiträgt (McCurdy 2021).Kritik kommt auch von den Airlines, die insbesondere die deutlich höheren Preise von SAF und einen damit verbundenen Wettbewerbsnachteil kritisieren. Gemäß dem Bundesverband der Deutschen Luftverkehrswirtschaft (BDL) führt die Einführung von Quoten sowohl auf innereuropäischen Flügen als auch auf Langstreckenflügen, die von Drehkreuzen innerhalb der Europäischen Union starten, zu signifikanten Preissteigerungen.Berechnungen des Wirtschaftsprüfungsinstituts PricewaterhouseCoopers zufolge können durch den Einsatz von SAF Flugtickets um bis zu 16 Prozent teurer werden, wodurch ein erheblicher Wettbewerbsnachteil europäischer Airlines gegenüber außereuropäischer Konkurrenten entsteht (Frankfurter Allgemeine 2022; Flottau 2023). Laut den Berechnungen ist ebenfalls davon auszugehen, dass die genannten Kraftstoffe noch bis weit in die 2040er deutlich teurer als herkömmliches Kerosin aus fossilen Rohstoffen sein werden.Um einen dadurch entstandenen Wettbewerbsnachteil deutscher und europäischer Airlines zu minimieren, setzt sich die Bundesregierung dafür ein, durch Luftverkehrsabkommen mit Drittstaaten zu gewährleisten, dass sich Luftfahrtunternehmen aus Staaten außerhalb der Europäischen Union beim Über- und Einfliegen in das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland verpflichten, die nationalen und europäischen Umweltschutzvorschriften einzuhalten (Bundesregierung 2021).Nachhaltigkeitsstrategien der Lufthansa GroupIm ersten Abschnitt dieses Beitrags konnte dargelegt werden, inwiefern durch die Luftfahrt zu einer nachhaltigeren Lebensweise und zur Reduktion des CO₂-Ausstoßes sowie dem damit verbundenen, durch Menschen verursachten Klimawandel beigetragen werden kann. Dabei wurde vorwiegend die wissenschaftliche Perspektive eingenommen und über den aktuellen Stand der Forschung berichtet.Im folgenden Abschnitt soll eine Auseinandersetzung mit der Frage erfolgen, welche konkreten Maßnahmen von den Airlines, d.h. den Verursachern, zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes ergriffen wurden. Hierzu wurde die Lufthansa Group als eines der führenden Luftfahrtunternehmen weltweit ausgewählt.Vorstellung der Lufthansa GroupIm Jahr 2022 hat die Lufthansa Group 826.379 Flüge mit 710 Flugzeugen durchgeführt und etwa 100 Mio. Passagiere befördert (Lufthansa Group 2023a, S. 3). Um die Beförderungsleistung erbringen zu können, wurden 7.284.584.000 Tonnen Treibstoff benötigt, was wiederum zu einem Ausstoß von 22.946.441.000 Tonnen CO₂-Emissionen führte (ebd.) Durchschnittlich wurden 3,59 Liter Kerosin pro 100 Passagierkilometer verbraucht, wobei auch ein Ausstoß von 9 Kilogramm CO2 je 100 Passagierkilometer zu berechnen ist (ebd.). Je nach Entfernung eines Flugs variiert der Verbrauch. Im Vergleich zu Kurzstrecken- wird auf Langstreckenflügen lediglich rund die Hälfte des Treibstoffs verbraucht (3,32 l/100 pkm auf Langstrecken- im Vergleich zu 5,89 l/100 pkm auf Kurzstreckenflügen) (ebd., S. 17). Trotz des höheren Verbrauchs auf Kurzstreckenflügen entfallen vor allem aufgrund der längeren zurückgelegten Strecken rund 57 Prozent des Treibstoffverbrauchs auf Langstreckenflüge, womit diese den größten Anteil an CO2-Emissionen haben.Um die Wettbewerbsfähigkeit weiterhin zu stärken, wurde in den letzten Jahren der Fokus verstärkt auf die nachhaltige Ausrichtung des Unternehmens gelegt und Maßnahmen, insbesondere im Bereich der CO₂-Reduktion, wurden weiter verstärkt (Lufthansa Group 2023a, S. 6). Nach eigenen Angaben hat sich das Unternehmen das Ziel gesetzt, die Netto-CO₂-Emissionen im Flugbetrieb verglichen zum Jahr 2019 zu halbieren und bis zum Jahr 2050 einen CO₂-neutralen Flugbetrieb durchzuführen (ebd.). Zudem soll zumindest an den Heimatflughäfen (Frankfurt, München, Wien, Zürich, Genf, Brüssel und den Eurowings-Basen) der Bodenverkehr auf CO₂-neutrale Antriebe umgestellt werden (ebd., S. 8).Um die angestrebten Ziele zu erreichen, wurden die eingeschlagenen Maßnahmen 'Science-based Targets initiative' validiert (ebd.). Dieser Standard verpflichtet Unternehmen, sich kurz- bis mittelfristige Ziele (fünf bis fünfzehn Jahre) zur CO₂-Reduktion zu setzen, wobei genau festgelegt wird, wann wie viele Emissionen reduziert werden. Die Vorgehensweisen und Werte orientieren sich dabei an den Zielen des Pariser Abkommens und beziehen neueste wissenschaftliche Erkenntnisse ein. Im weltweiten Vergleich ist die Lufthansa Group erst die zweite Airline, die nach diesen Standards zertifiziert wurde (ebd.).Maßnahmen zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen der Lufthansa GroupDie Maßnahmen sind vielfältig und erstrecken sich vorwiegend auf die Bereiche Flottenerneuerung, nachhaltige Kraftstoffe und die erhöhte intermodale Vernetzung von Flug- und Bahnverkehr. Trotz einer erheblichen Steigerung der Transportleistung wurde in den vergangenen Jahren der Treibstoffverbrauch im Verhältnis deutlich gesenkt. Im Zeitraum von 1991 bis 2022 stieg die Transportleistung der Lufthansa Group um 290 Prozent (Lufthansa Group 2023a, S. 14). Beim Vergleich des Anstiegs des Treibstoffverbrauchs mit den Werten der Transportleistung ist im gleichen Zeitraum lediglich eine Zunahme um 133 Prozent zu verzeichnen. Im Vergleich zum Bezugsjahr 1991 ist dies eine Effizienzsteigerung von über vierzig Prozent (ebd.).Zurückzuführen ist dies auf eine kontinuierliche Erneuerung der Flugzeugflotte und dem damit verbundenen Einsatz effizienterer und kerosinsparender Flugzeuge (ebd.). Neue Flugzeuge, wie die Langstreckenmodelle Airbus A350-900 und Boeing 787-9, sowie die Kurzstreckenmodelle Airbus A320neo und A321neo haben einen im Vergleich zu den Vorgängermodellen reduzierten Treibstoffverbrauch von bis zu dreißig Prozent (ebd.).Auch zukünftig fördert die Lufthansa Group eine konsequente Erneuerung der Flotte und hat im Zuge dessen zahlreiche Flugzeuge der neuesten Generation bestellt. Allein bis Ende 2024 stoßen 24 neue Langstreckenflugzeuge zur Konzernflotte hinzu und ersetzen ältere Modelle, wie die mit vier Triebwerken versehenen Flugzeuge des Typs Airbus A340-300 und 747-400. Bis 2030 werden weitere 180 neue Flugzeuge ältere, weniger effiziente Flugzeuge ersetzen (ebd.).Die Lufthansa Group engagiert sich neben der Erneuerung ihrer Flotte für die Entwicklung und Erforschung nachhaltiger Kraftstoffe und neuer Antriebsmethoden für Flugzeuge. Bereits im Jahr 2022 konnten durch den Einsatz von modernen SAF rund 43.900 Tonnen CO₂ eingespart werden, wobei etwa 40.000 Tonnen auf die direkte Einsparung beim Verbrennungsprozess und etwa 4000 Tonnen auf vorgelagerte Prozesse, wie den Transport, zurückzuführen sind (Lufthansa Group 2023a, S. 16).Es wird angestrebt, den Anteil von SAF kontinuierlich zu erhöhen. Hierzu fördert die Lufthansa Group zahlreiche Projekte, die darauf abzielen, die Verfügbarkeit dieser Kraftstoffe zu erhöhen und ihre Produktionskosten zu senken. In diesem Rahmen wurde eine Partnerschaft mit einer der ersten Raffinerien zur Herstellung von SAF-Kerosin eingegangen und es wurde vereinbart, dass die Lufthansa Group eine garantierte Menge von mindestens 25.000 Liter dieses umweltfreundlichen Kraftstoffes abnimmt (Lufthansa Group 2022).Zudem haben das Unternehmen und der Energiekonzern VARO Energy eine gemeinsame Absichtserklärung über einen zügigen Ausbau nachhaltiger Treibstoffe unterzeichnet. Diese beinhaltet die Herstellung und Lieferung größerer Mengen von SAF ab 2026 an das Drehkreuz München (Lufthansa Group 2023b). Daneben wollen beide Unternehmen gemeinsam an "innovativen Verfahren" (ebd.) zur Herstellung von grünem Wasserstoff aus biogenen Abfallstoffen arbeiten.Die Erforschung des Potenzials von Wasserstoff als zukünftigen Antrieb für Flugzeuge ist auch Thema bei einer gemeinsamen Forschungsinitiative des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt, des Zentrums für Angewandte Luftfahrtforschung und des Hamburg Airport. Gemeinsam wollen die Partner Wasserstoff als potenziellen nachhaltigen Flugzeugtreibstoff erproben und haben dazu das Projekt A320 Hydrogen Aviation Lab entwickelt (Lufthansa 2023a, S. 15). Das Projekt umfasst die Konzeption und Erprobung von Boden- und Wartungsprozessen in Verbindung mit Wasserstofftechnologie.Lufthansa Technik unterstützt vor allem bei der Entwicklung zukünftiger Wartungs- und Reparaturtechniken sowie bei der Entwicklung eines auf -253 Grad Celsius kühlbaren Tanksystems für Wasserstoff an Bord von Flugzeugen (ebd.). Basierend auf dem derzeitigen Stand der Technik würde die Betankung eines Verkehrsflugzeuges mit Wasserstoff mehrere Stunden dauern (ebd.). Um den Betrieb mit diesem Kraftstoff wirtschaftlich realisieren zu können, ist es notwendig, Technologien zu entwickeln, die einen wirtschaftlichen Flugbetrieb ermöglichen.Weiterhin ist die intermodale Vernetzung mit anderen Verkehrsträgern, speziell der Bahn, erklärtes Ziel der Lufthansa Group. In den letzten Jahren ist der innerdeutsche Flugverkehr bereits erheblich zurückgegangen. Im Vergleich zum Jahr 2004 ist die Zahl an innerdeutschen Flügen um 22 Prozentpunkte gesunken (Lufthansa Group 2020).Um die Vernetzung weiter zu fördern, bietet Lufthansa Express Rail Passagieren aufeinander abgestimmte Zug-Flug-Verbindungen an. Dies beinhaltet neben einer Umsteigegarantie die Möglichkeit, das Gepäck direkt am 'AIRail-Terminal' einzuchecken (ebd.). Eine weitere Ausweitung des Lufthansa Express Rail-Netzes wird bei gleichzeitiger Verdichtung der Taktfrequenzen angestrebt.Zudem investiert das Unternehmen in eine Vielzahl kleinerer Projekte zur Reduzierung des CO₂-Fußabdrucks in der Luftfahrt. Die AeroShark-Technologie, die von der BASF und der Lufthansa Group gemeinsam entwickelt wurde, soll an dieser Stelle exemplarisch angesprochen werden. Dabei handelt es sich um eine bionische Klebefolie, die der mikroskopischen Struktur der Haut eines Haifischs nachempfunden wurde und an den Rumpf von Flugzeugen angebracht wird (Lufthansa Group 2022). Durch die aerodynamische Wirkung verringert sich der Luftwiderstand und der Treibstoffverbrauch wird gesenkt. Der erste Test an einer Boeing 777 der Swiss hat eine jährliche Treibstoffersparnis von bis zu 1,1 Prozent ergeben (ebd.). Dies entspricht etwa 4800 Tonnen Kerosin und 15.200 Tonnen CO₂-Ersparnis bei einer Ausweitung der Technologie auf die gesamte Boeing 777-Flotte der Konzerntochter (ebd.).Kritische Betrachtung der Nachhaltigkeitsbemühungen der Lufthansa GroupTrotz der erläuterten Bemühungen und Fortschritte der Lufthansa Group im Bereich der Nachhaltigkeit gibt es Kritikpunkte an den getroffenen Maßnahmen. Kritik kann besonders an der bestehenden Flotte der Lufthansa Group geäußert werden. Obwohl die Flottenerneuerung beschlossen wurde, um der steigenden Nachfrage gerecht zu werden und Kapazitäten zu erweitern, setzt das Unternehmen weiterhin auf eine Vielzahl älterer Flugzeuge.Im Vergleich zu anderen Fluggesellschaften hat die Lufthansa Group einen besonders hohen Anteil an vierstrahligen Flugzeugen im Einsatz, deren Effizienz und Treibstoffverbrauch schlechtere Ergebnisse als vergleichbare neuere Flugzeuge erzielen. Aktuell werden im gesamten Konzern noch 84 viermotorige Langstreckenflugzeuge betrieben (Lufthansa 2023b, S. 26). Gemessen an der Gesamtzahl von 194 Langstreckenflugzeugen entspricht das einem Anteil von 43,3 Prozent. Bei den europäischen Konkurrenten ist der Anteil deutlich geringer. Die Air France-KLM-Gruppe betreibt lediglich vier vierstrahlige Flugzeuge, was mit einem Anteil von 1,6 Prozent gleichzusetzen ist (Air France-KLM-Gruppe 2023, S. 55). Einen ähnlich niedrigen Anteil hat auch die International Airline Group, deren Anteil an vierstrahligen Langstreckenflugzeugen im Jahr 2022 bei 6,3 Prozent lag (IAG 2023, S. 104).Ein weiterer Kritikpunkt an der Nachhaltigkeitsstrategie ist, dass die Lufthansa Group sich vornehmlich bemüht, durch technische Lösungen den CO₂-Ausstoß zu senken, während eine Reduzierung des Flugverkehrs, insbesondere im innerdeutschen Verkehr, nicht konsequent umgesetzt wird. Die Partnerschaft mit der Deutschen Bahn in den vergangenen Jahren wurde zwar intensiviert, dennoch bietet die Lufthansa Group weiterhin auch Flüge an, bei denen der Zug eine gleichwertige und zugleich umweltfreundlichere Alternative darstellt.Eine solche Strecke ist unter anderem die Linie Stuttgart-Frankfurt. Im Sommerflugplan 2023 werden die beiden rund 200 Kilometer entfernten Städte weiterhin bis zu fünfmal täglich mit dem Flugzeug bedient, obwohl der ICE als umweltfreundlichere Alternative die Strecke in etwa einer Stunde und 15 Minuten ohne Umsteigen befährt. Die Verbindungen Düsseldorf-Frankfurt, Nürnberg-München und Nürnberg-Frankfurt sind ebenso kritisch zu beurteilen.In diesem Zusammenhang ist auch der fehlende Ausbau der Bahninfrastruktur an deutschen Flughäfen zu bemängeln. Am Beispiel des Flughafens München lässt sich dieser Mangel deutlich erkennen. Der zweitgrößte deutsche Flughafen ist nicht an das ICE-Netz der Deutschen Bahn angeschlossen und wird es nach einer Entscheidung des Bundesverkehrsministeriums auch zukünftig nicht werden (Süddeutsche Zeitung 2023). Eine Buchung von FlyRail-Verbindungen, wie dies in Frankfurt möglich ist, ist dort nicht umsetzbar, wodurch der Zug an Attraktivität verliert. Besonders die Strecken Stuttgart-München und Nürnberg-München könnten im Rahmen einer Fernverkehrsanbindung des Flughafens München eingestellt werden.Die Kompensationsmaßnahmen der Airline sind ebenfalls kritisch zu betrachten. Mit dem 'Green Fare' bietet die Lufthansa Group seit diesem Jahr Passagieren die Möglichkeit, durch den Kauf eines Tickets vermeintlich klimaneutral zu fliegen, indem die durch die Flugreise verursachten Emissionen kompensiert werden. Zwanzig Prozent der beim Flug verursachten CO₂-Emissionen werden dabei durch den Einsatz von SAF-Treibstoff und die verbleibenden achtzig Prozent durch Ausgleichsmaßnahmen kompensiert, indem an anderer Stelle CO₂ eingespart wird (Lufthansa 2023).Die Kompensation scheint jedoch nur vordergründig das Klima zu schützen. Die Stiftung Warentest bemängelt in diesem Zusammenhang die zu niedrig angesetzte zu kompensierende Menge, durch die nur etwa ein Drittel des ausgestoßenen CO₂ berücksichtigt wird (Stiftung Warentest 2022). Zudem liegt die Kompensation in den Händen der Passagiere. Lufthansa lässt sich entsprechend für die Kompensation und ihre Umweltbemühungen bezahlen. Ferner wird im Verhältnis zum gesamten CO₂-Ausstoß der Airline nur ein kleiner Teil kompensiert (ebd.).Auch Airline-unabhängige Anbieter von Ausgleichszertifikaten befinden sich auf demselben Niveau. Kritisiert werden speziell die Kompensation durch Ex-ante-Zertifikate, bei denen Einsparungen erst in Zukunft anfallen, und die mangelnde Transparenz (ebd.).Im Zuge der Rettung von Teilen der Lufthansa Group durch die Bundesregierung wurde oft die fehlende Verknüpfung der Milliardenhilfe mit Klimaschutzauflagen kritisiert. Besonders im Fehlen von Umweltauflagen, wie die Reduktion bzw. die Einstellung des Inlandsverkehrs und das Bekenntnis zur Emissionsreduktion, zeigt sich eine rein die wirtschaftlichen Interessen berücksichtigende Vorgehensweise (Forum nachhaltig Wirtschaften 2020). Die Coronakrise und die damit verbundene Reduktion des Flugverkehrs hätten stärker als klimapolitische Chance angesehen werden können, indem vermehrt Nachhaltigkeit und Klimafreundlichkeit in den Vordergrund gerückt worden wären (ebd.).ZusammenfassungDieser Beitrag beschäftigte sich mit der Frage, inwiefern sich die Luftfahrt in Richtung Klimaneutralität entwickelt. Dazu wurde zunächst die Ausgangslage beschrieben, dass die weltweite Luftfahrt stark wächst und auch – trotz technischer Innovationen und schadstoffärmerer Flugzeuge – für einen immer höheren Anteil der weltweiten CO₂-Emissionen verantwortlich ist. Auf dem Weg zur Klimaneutralität werden verschiedene Pfade verfolgt, die teilweise geringe Erfolgsaussichten haben. Exemplarisch wurden die folgenden Möglichkeiten erläutert und anschließend einer kritischen Betrachtung unterzogen:der Nutzen und die Effektivität nachhaltiger Kraftstoffe, insbesondere SAF;eine effizientere Flugführung im europäischen Luftraum und die dadurch ermöglichten kürzeren Flugstrecken;Möglichkeiten eines CO₂-neutralen Flughafenbetriebs unddie intermodale Vernetzung mit anderen Verkehrsträgern, v.a. der Bahn.Trotz der Bemühungen und der vielfältigen Ansätze, die Luftfahrt in eine CO₂-neutrale Zukunft zu steuern, wird dies auf absehbare Zeit nicht möglich sein, da sich die Forschung noch am Anfang befindet und es noch Jahre bzw. Jahrzehnte dauern wird, bis das erste klimaneutrale Flugzeug serienmäßig gebaut werden kann.Am Beispiel der Lufthansa Group wurden schließlich Maßnahmen aufgezeigt, die Airlines ergreifen, um die Luftfahrt nachhaltiger und klimaneutral zu gestalten. Es zeigte sich, dass der Konzern vorwiegend auf den Einsatz nachhaltiger SAF setzt. Zudem wird die alternde Flotte schrittweise erneuert, wodurch die Effizienz gesteigert wird und der Kraftstoffverbrauch verringert werden kann. Auch die Vernetzung mit der Deutschen Bahn am Flughafen Frankfurt kann als positives Zeichen gewertet werden, wenngleich hierbei eine noch stärkere Partnerschaft wünschenswert wäre.Trotz aller Bemühungen der Lufthansa Group muss die Frage gestellt werden, inwiefern wirtschaftliche Interessen und Nachhaltigkeitsbemühungen in Einklang gebracht werden können. Häufig bleibt der Eindruck zurück, dass finanzielle Aspekte höher als Bemühungen um mehr Nachhaltigkeit gewichtet werden. Zahlreiche Aspekte deuten darauf hin, dass Nachhaltigkeit und Klimaschutz nur dann mit Nachdruck angegangen werden, wenn dies einen wirtschaftlichen und finanziellen Vorteil mit sich bringt oder von politischer Seite durch Reglementierungen Handlungsdruck erzeugt wird. Dies kommt auch in der ablehnenden Haltung gegenüber fixierten SAF-Quoten innerhalb der Europäischen Union zum Ausdruck.Auch als Kunden der Airlines dürfen wir uns nicht der Verantwortung entziehen, sondern müssen uns über die Konsequenzen unseres Handelns bewusst sein. Wenn wir von Frankfurt nach New York in den Urlaub fliegen, ist dies mit einer erheblichen Belastung für die Umwelt verbunden und die Kompensation der Flugemissionen trägt nicht dazu bei, das Klima nachhaltig zu schützen. Jeder Flug belastet das Klima erheblich, unabhängig davon, ob wir ihn kompensieren, was sich auf absehbare Zeit nicht ändern wird, wie aufgezeigt wurde. Die einzige nachhaltige Lösung ist demnach, den Flugverkehr radikal zu reduzieren, wenn das 1,5 Grad-Ziel noch eingehalten werden soll.Allerdings sollten nicht nur Flugreisen kritisch betrachtet werden, auch der zunehmende Tourismus in zahlreichen Städten und Regionen weltweit hat verstärkt negative Auswirkungen auf psychischer, sozialer, ökonomischer und ökologischer Ebene. An dieser Stelle möchte ich auf den Blogbeitrag von Lea Kopp verweisen, der sich mit dem Thema 'Overtourism' in Barcelona befasst und in dem dargelegt wird, wie die einheimische Bevölkerung und die Natur unter der steigenden Nachfrage nach Reisen in die spanische Metropole leiden. Kopp beschreibt, wie innerstädtische Gentrifizierungsprozesse negative Auswirkungen auf die dort lebende Bevölkerung haben und wie sich die Zufriedenheit der Einwohner:innen, aber auch der Tourist:innen in den letzten Jahren verschlechtert hat.Abschließend bleibt festzuhalten, dass die Reiselust der Menschen, an die ich mich anschließe, ungebrochen ist. Dennoch müssen wir uns über die Auswirkungen unseres Handelns bewusst sein. Möglicherweise gelingt es, zukünftig mehr Personen davon zu überzeugen, nachhaltig mit dem Zug statt mit dem Flugzeug zu reisen und Urlaub nicht in Übersee, sondern innerhalb Deutschlands zu machen, wodurch ein - wenn auch geringer - Beitrag zur klimaschonenden Zukunft geleistet werden kann.LiteraturBopst, J., Herbener, R., Hölzer-Schopohl, O., Lindmaier, J., Myck, T., & Weiß, J. (Hgs.) (2019). Umweltschonender Luftverkehr lokal – national – international. Umweltbundesamt.Bundesregierung (2021) PtL-Roadmap Nachhaltige strombasierte Kraftstoffe für den Luftverkehr in Deutschland. Verfügbar unter: https://www.bdl.aero/wp-content/uploads/2021/05/PtL-Roadmap.pdf (Zugegriffen: 16. Mai 2023).Bundesregierung (2022) Klimaneutrale Luftfahrt - Gemeinsames Papier der Bundesregierung, bmwk.de. Verfügbar unter: https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Downloads/J-L/220621-Klimaneutrale-Luftfahrt-Juni-22-Vfin-Anlage-BR.pdf?__blob=publicationFile&v=1 (Zugegriffen: 28. April 2023).Bundesverband der Deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie e. V. (BDLI) (2020) Nachhaltige und klimaneutrale Luftfahrt aus Deutschland für die Energiewende am Himmel. Verfügbar unter: https://www.bdli.de/sites/default/files/2020-09/TechStrategie_2020_3.pdf (Zugegriffen: 16. 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Verfügbar unter: https://www.sueddeutsche.de/muenchen/muenchen-flughafen-ice-bahnhof-1.5750545 (Zugegriffen: 15. Mai 2023).Stiftung Warentest (2022) CO2-Kompensation: Mit diesen Anbietern helfen Sie dem Klimaschutz, Stiftung Warentest. Verfügbar unter: https://www.test.de/CO2-Kompensation-Diese-Anbieter-tun-am-meisten-fuer-den-Klimaschutz-5282502-5928682/ (Zugegriffen: 15. Mai 2023).Weiner, M. (2022) DLR und MTU: Gemeinsam forschen für eine emissionsfreie Luftfahrt, aeroreport.de. Verfügbar unter: https://aeroreport.de/de/innovation/dlr-und-mtu-gemeinsam-forschen-fuer-eine-emissionsfreie-luftfahrt (Zugegriffen: 28. April 2023).Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU). (2016). Der Umzug der Menschheit: Die transformative Kraft der Städte. Hauptgutachten. WBGU.[1] Aufgrund der infolge der Coronapandemie eingebrochenen Passagierzahlen werden die Daten unmittelbar vor der Pandemie verwendet, um ein unverfälschtes Bild des Luftverkehrs zu bekommen.
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Kai Gehring leitet den Bundestagsausschuss für Bildung und Forschung – und will nach 20 Jahren nicht wieder für den Bundestag kandidieren. Was treibt ihn? Ein Interview über die Ampel-Bilanz, BMBF-Chefin Stark-Watzinger, die Forderung für nach einem neuen Bund-Länder-Programm für den Hochschulbau – und ungute Kopien amerikanischer Debatten.
Der Essener Kai Gehring, 46, hat Sozialwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum studiert und ist seit 2005 grüner Bundestagsabgeordneter. Foto: DBT/Inga Haar.
Herr Gehring, vor einigen Wochen haben Sie Ihren Abschied als Bundestagsabgeordneter zum Ende der Wahlperiode angekündigt. Nachdem Sie 2021 Vorsitzender des Bildungsausschusses geworden waren, hatten einige Sie als aussichtsreichen Ministerkandidaten auf dem Zettel. Warum wollen Sie raus aus der Politik?
Danke für das Kompliment, aber wo und wie ich 2026 beruflich anknüpfe, ist offen und Zukunftsmusik. Ich hatte fünfmal in Folge das große Privileg, in den Deutschen Bundestag gewählt zu werden. Das waren zwei ereignisreiche Dekaden, und wenn ich aufhöre, werde ich mit 47 weitere 20 Jahre bis zur Rente arbeiten. Ich habe für mich den Punkt gefunden, aufzuhören, wenn es am schönsten ist. Als Ausschussvorsitzender begleite ich viele politische Entscheidungen und wirke bei der Realisierung von Projekten mit, für die ich viele Jahre gekämpft habe.
Haben Sie für die Zeit nach dem Bundestag etwas im Sinn, das genauso spannend ist?
Ein paar Ideen habe ich, aber keine davon ist spruchreif. Ab 2026 heißt es also beruflich "auf zu neuen Ufern", doch bis zum Ende der Wahlperiode werde ich meine Aufgabe als Ausschussvorsitzender begeistert fortsetzen. Politisch bleibe ich, mein Erfahrungsschatz ist groß und meine Leidenschaft für Wissenschaft ist ungebrochen.
"Ich bin sicher, dass unsere Koalition in den Geschichtsbüchern viel besser dastehen wird, als es momentan erscheint."
"Aufhören, wenn es am schönsten ist", sagen Sie. Was ist im Augenblick an der Stimmung in der Ampel-Koalition schön?
Es hat in Koalitionen immer erhebliche Konflikte gegeben, nur waren die in der Ära Merkel weniger sichtbar nach außen. Natürlich würde ich mir auch für die Ampel wünschen, dass wir Konflikte weniger öffentlich austragen und dafür die öffentliche Kommunikation über unsere Erfolge verstärken. Ich bin sicher, dass unsere Koalition in den Geschichtsbüchern viel besser dastehen wird, als es momentan erscheint. Wir werden die Regierung sein, die das Land nach vielen verlorenen Jahren endlich auf Transformations- und Modernisierungskurs gebracht hat. Wir treiben die Digitalisierung und den Klimaschutz voran, wir haben die Bundesrepublik vom billigen Gas eines Diktators zügig unabhängig gemacht und unser Verhältnis zu China neu austariert. Wir haben die Internationalisierungsstrategie für die Wissenschaft neu aufgesetzt, Chancen mehr genutzt, die Risiken breiter gestreut und die Kooperation mit unseren Wertepartnern vertieft.
Wie wird man die gegenwärtige Bundesbildungsministerin in den Geschichtsbüchern bewerten?
Regieren ist Teamleistung und ein Gemeinschaftsprojekt: Als Koalition haben wir gemeinsam den größten BAföG-Booster in der Geschichte gezündet, unter anderem mit einer Erhöhung der Freibeträge um 27 Prozent. Mit dem Startchancen-Programm haben wir ein Instrument zur Chancengerechtigkeit, das es so noch nie gegeben hat. Eine Million Kinder und Jugendliche in benachteiligten Quartieren werden davon profitieren. Als ich es 2015 für meine Fraktion im Bundestag erstmals beantragt habe, wurde es noch belächelt und abgelehnt. Heute ist es eine Antwort auf eingetrübte Bildungsstudien und markiert den notwendigen Anfang einer Bildungswende. Wir haben die Bundesagentur für Sprunginnovationen (SPRIND) entfesselt und gleisen mit der Deutschen Agentur für Transfer und Innovation (DATI) etwas völlig Neues auf. Dass es die ganze Wahlperiode dauert, bis daraus etwas Bleibendes entsteht, war absehbar. Wir haben die missionsorientierte Zukunftsstrategie entwickelt und mit Leben gefüllt, wir haben den "Zukunftsvertrag Studium und Lehre stärken" dynamisiert, die Fortsetzung aller drei Wissenschaftspakte in haushaltspolitisch schwierigen Zeiten gesichert und investieren 500 Millionen Euro für die Forschung an HAWs und in das Programm "Junges Wohnen" für Studierende und Auszubildende. Also: Wir haben konsolidiert und stabilisiert. Wir haben Neues geschaffen. Und beim BAföG und für bessere Startchancen richtig große Sprünge hingelegt.
Das war eine Bilanz der Bildung- und Wissenschaftspolitik der Ampel, die man an manchen Stellen durchaus hinterfragen kann. Aber ich hatte nach der Bundesbildungsministerin gefragt, die mitten in der größten Affäre steckt, die das BMBF seit vielen Jahren erlebt hat.
Die Ministerin hat all die von mir genannten Projekte erfolgreich mit aufgegleist. Wir setzen gemeinsam um, was wir uns im Koalitionsvertrag vorgenommen haben. Als Ausschussvorsitzender sehe ich meinen Job nicht darin, Haltungsnoten zu verteilen. Das ist vorrangig die Aufgabe von Journalisten und der Opposition. Zugleich kontrollieren wir auch als regierungstragende Fraktionen, die Reaktionen sind intern und extern deutlich. Was die sogenannte Fördermittel-Affäre angeht, ist offenkundig, dass nach Bekanntwerden reagiert wurde, es aber zu den Vorgängen im Ministerium noch unbeantwortete Fragen gibt und die Krisenkommunikation nicht gelungen war. Als Grüner und Ausschussvorsitzender fordere ich, dass die Nachfragen der Opposition ernstgenommen werden. Es braucht vollumfängliche Aufklärung, vor allem damit derartige Gesinnungsprüfungen künftig unterbleiben und Wissenschaftsfreiheit garantiert bleibt. Und verloren gegangenes Vertrauen zwischen Hausspitze und Wissenschaftscommunity muss wieder aufgebaut werden.
Sie werden also der Forderung der CDU/CSU-Fraktion nachkommen und eine weitere Sondersitzung des Ausschusses zur Affäre ansetzen, in der neben Stark-Watzinger auch die entlassene Staatssekretärin Sabine Döring sowie der für Hochschulen zuständige Abteilungsleiter Jochen Zachgo erscheinen sollen?
Dem Wunsch der CDU/CSU-Fraktion vom 31. Juli, am 10. September eine Sondersitzung des Ausschusses durchzuführen, habe ich am selben Tag entsprochen. So sieht es die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags vor. Zu der Sitzung habe ich wie beantragt Frau Bundesministerin Stark-Watzinger eingeladen, die Entscheidung über die Teilnahme weiterer Personen obliegt auch der BMBF-Leitung.
"Es bleibt festzuhalten, dass es zwar das Risikoeines massiven Eingriffs in die Wissenschaftsfreiheit gegeben hat, dass dieser Eingriff nach Bekanntwerden aber ausgeblieben ist."
Wie groß ist der angerichtete Schaden wirklich, Herr Gehring?
Zunächst bleibt festzuhalten, dass es zwar das Risiko eines massiven Eingriffs in die Wissenschaftsfreiheit gegeben hat, dass dieser Eingriff nach Bekanntwerden aber ausgeblieben ist. Auch bin ich zuversichtlich, dass gerade die kritische Diskussion, die wir seit Wochen darüber führen, sicherstellt, dass in Deutschland Fördermittelentscheidungen auch künftig nach Exzellenz und Talent laufen und nicht nach politischer Gesinnung oder Sympathie oder Antipathie. Zugleich müssen fundierte Fragen, die in der Affäre noch offen sind, beantwortet werden. Wissenschaftsfreiheit ist kein "nice to have", sondern elementar wichtig für unser Forschungssystem und grundgesetzlich geschützt.
Es hat sehr lange gedauert, bis Kritik am Vorgehen der Ministerin auch aus den Reihen von SPD und Grünen geübt wurde.
Als Regierungsfraktionen üben wir unsere Kontrolle stärker nach innen als über die Medien aus. Trotzdem können Sie nachlesen, dass auch ich als Ausschussvorsitzender in den vergangenen Wochen mehrfach Aufklärung eingefordert habe. Es ist richtig, dass sich das BMBF für eine deutliche Haltung gegenüber Antisemitismus einsetzt und darauf hinweist, dass der Campus kein rechtsfreier Raum ist. Rektor*innen üben ihr Hausrecht verantwortlich in ihrer Hochschulautonomie aus und können Protestcamps und Besetzungen nicht unendlich lange dulden, weil auch die Freiheit zu Studieren nicht dauerhaft beeinträchtigt sein darf. Ein Ministerium muss die Meinungsfreiheit respektieren, die Wissenschaftsfreiheit, die Demonstrationsfreiheit. Protestierende, Randalierende und ihre Sympathisierenden wiederum das staatliche Gewaltmonopol und das Hausrecht. Was uns nie hilft, sind Schwarz-Weiß-Debatten. Auch beim Nahost-Konflikt gibt es viele Grautöne und unterschiedliche Auffassungen, die zulässig sind, ob ich sie persönlich nun gut finde oder nicht. Blanker Antisemitismus ist nicht hinnehmbar.
Als Leistung der Ampel haben Sie vorhin die neue Internationalisierungsstrategie genannt. Wie finden Sie es, dass eine grüne Außenministerin den Etat von Deutschem Akademischen Austauschdienst (DAAD) und Alexander-von-Humboldt-Stiftung (AvH) derart kürzen will?
Darüber bin ich sehr unglücklich, da müssen wir nachbessern. Mal plant das Auswärtige Amt, mal das BMBF zu kürzen – die Mittlerorganisationen benötigen aber Planungssicherheit. Wir hatten es als Parlamentarier in den vergangenen Haushaltsjahren nahezu geschafft, den im Koalitionsvertrag festgeschriebenen jährlichen Aufwuchs von drei Prozent für den DAAD zu wuppen. Nachbessern müssen wir aber auch bei der Finanzierung der Wissenschaftskommunikation. Es ist nicht in Ordnung, wenn wir als Regierungskoalition einen umfangreichen Antrag zu deren Stärkung beschließen und das BMBF dann bei den Mitteln runtergeht. Es ist bislang noch jedes Mal so gewesen, dass der Haushaltsausschuss des Bundestages zusammen mit dem Fachausschuss Korrekturen am Etat vornimmt. Ich bin zuversichtlich, dass wir unsere parlamentarische Kontrolle über den Haushaltsausschuss auch in diesem Jahr entsprechend ausüben werden.
"Ich würde mit solchen Finanzierungsschlüsseln nicht zu apodiktisch vorgehen, sonst fesselt man sich selbst."
Die Ampel-Koalition hat sich eine haushaltspolitische Selbstbeschränkung auferlegt, die gerade für Bildung und Wissenschaft eine große Rolle spielt. "Bei neuen Maßnahmen, mit denen der Bund die Länder unterstützt, wird der Anteil des Bundes bis maximal 50 Prozent betragen", so steht es auch im Haushaltsentwurf. Zu Recht?
Ich halte es nicht für falsch, über ein Fifty-Fifty zu sprechen, wenn etwa für Schulen und Hochschulen die Länder die Hauptverantwortung tragen und wir in gesamtstaatlicher Verantwortung Pakte vereinbaren. Ich würde nur auch mit solchen Schlüsseln nicht zu apodiktisch vorgehen, sonst fesselt man sich selbst. Am Ende braucht es immer politische Lösungen und Vereinbarungen mit denen beide Seiten, der Bund und alle 16 Länder, gut leben können. Der Bund hat auch eigene Interessen, will notwendige Schwerpunkte setzen, Anreize schaffen. Das war beim Hochschulpakt so, beim Digitalpakt Schule und jetzt beim Startchancen-Programm.
Und künftig?
Als nächstes wird der Bund gefragt sein beim klimagerechten Hochschulbau. Wenn Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen die Laboratorien und Kathedralen der Zukunft sein sollen, geht es nicht an, dass ihr baulicher Zustand an vielen Orten im Kontrast steht zu den globalen Nachhaltigkeitszielen. Erste Anreize zu mehr Klimagerechtigkeit sind gesetzt: Beim Förderprogramm "Innovative Hochschule" haben viele Anträge von Universitäten und HAWs mit ökologischen und Klima-Projekten gewonnen. Mit der Förderinitiative "Klimaneutrale Wissenschaft" fördern wir elf Forschungsverbünde mit 35 Hochschulen, die an Lösungen für klimaneutrale Hochschulen arbeiten. Eine Aufgabe der nächsten Bundesregierung wird darin bestehen, ein breiteres Bund-Länder-Programm aufzulegen. Zu smarten und grünen Städten gehören auch smarte und grüne Hochschulen – bestenfalls als Pioniere und Leuchttürme für Klimagerechtigkeit.
Also soll der Bund den Ländern noch stärker unter die Arme greifen? Und das ausgerechnet beim Thema Hochschulbau, aus dem sich der Bund nach der Föderalismusreform Mitte der Nullerjahre zurückgezogen hat – übrigens auch auf Wunsch der Länder? Wie passt diese Forderung dazu, dass die Länder aktuell ihre Schulden tilgen, während der Bund neue auftürmt?
Nochmal: Für mich ist nicht entscheidend, ob der Bund am Ende 30, 45, 55 oder 70 Prozent an einem zukunftsgerichteten Programm übernimmt. Aber Bedingung ist, dass es funktioniert, dass die Bundesmittel tatsächlich zusätzlich kommen und die Länder nicht im Gegenzug anderswo kürzen. Gegenseitiges Vertrauen, wechselseitige Verlässlichkeit und Berechenbarkeit über Ebenen- und Parteigrenzen hinweg sind wichtiger als starr festgelegte Prozentzahlen.
Von außen erscheint es so, als sei das Miteinander von Bund und Ländern in der Bildungs- und Wissenschaftspolitik an vielen Stellen einer demonstrativen Polarisierung gewichen.
Eine Polarisierung zwischen Bund und Ländern in der Wissenschaftspolitik hat es immer gegeben. Als Frau Stark-Watzingers Vor-Vorgängerin Johanna Wanka ankündigte, dass der Bund 100 Prozent der BAföG-Finanzierung übernimmt, wurde über Jahre gestritten, wofür die Länder die freiwerdenden Mittel verwenden dürfen. Und am Ende ist doch fast alles Geld in Bildungsbereiche gesteckt worden, angefangen mit den Kitas. Allerdings sollten wir uns gerade heute wirklich zweimal fragen, ob wir einen Bund-Länder-Finanzierungskonflikt öffentlich eskalieren oder hinter verschlossenen Türen verhandeln und lösen.
"Ich fordere die bayerische Staatsregierung auf, ihre Bedenken gegen die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips in der KMK aufzugeben."
Wie meinen Sie das?
Womöglich bringt die eine oder andere Kontroverse etwas mehr öffentliches Interesse an der Bildungs- und Wissenschaftspolitik, grundsätzlich aber wird der Bildungsföderalismus schon jetzt nicht sonderlich geschätzt. Es gibt angesichts der dramatischen PISA- und IGLU-Ergebnisse den großen Wunsch in der Bevölkerung, dass Bund und Länder sich bildungspolitisch zusammenraufen. Daher auch meine Forderung, notfalls eine Sonder-Ministerpräsidentinnen- und Ministerpräsidenten-Konferenz mit dem Kanzler einzuberufen, um dieser großen Verantwortung, die Bildungs- und Fachkräftekrise zu lösen, gerecht zu werden. Auch müssen wir uns akut wappnen für den Fall, dass AfD oder BSW eine Schulministerin oder einen Schulminister stellen. Dafür müssen wir jetzt zusammenstehen, um zu verhindern, dass ein Bundesland alle anderen als Geiseln nehmen und beispielsweise Demokratieförderprogramme blockieren könnte. Auch aus diesem Grund fordere ich die bayerische Staatsregierung auf, ihre Bedenken gegen die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips in der Kultusministerkonferenz (KMK) aufzugeben. Der KMK muss die Reform ihrer selbst jetzt gelingen.
Was erwarten Sie sonst noch, wenn AfD und BSW in Regierungsverantwortung in den Ländern kommen?
Das Wichtigste ist, dass alle demokratischen Kräfte sich nicht zu sehr ablenken lassen durch immer neue Scharmützel von ganz rechts oder ganz links, sondern dass sie gelassen und robust für ihre eigenen Konzepte trommeln. Wir stehen insgesamt vor einer ernsten Bedrohung. Der Erfolg von AfD und BSW irritiert internationale Spitzenwissenschaftler, die nach Ostdeutschland oder generell nach Deutschland kommen wollen. Die AfD, diese neofaschistische und vom Verfassungsschutz in mehreren Ländern als gesichert rechtsextrem eingestufte Partei, ist eine Gefahr für uns als Wissenschaftsnation, genauso wie das BSW, bei dem die größten Putin-Versteher und Wissenschaftsskeptiker andocken können. Sowohl AfD als auch BSW spielen gesellschaftliche Gruppen permanent gegeneinander aus. Politik ist dann verantwortungsvoll, wenn sie der Versuchung widersteht, die niederen Instinkte der Menschen anzusprechen. Und wenn sie ihre Entscheidungen stattdessen auf der Grundlage wissenschaftlicher Fakten trifft. Auch solch eine Politik kann Menschen emotional berühren – populär, aber eben nicht populistisch.
Das müssen Sie genauer erklären.
Mich wundert schon, wenn selbst demokratische Kräfte wie die größte Oppositionsfraktion meinen, den Bundestag mit einer Aktuellen Stunde über einen Cancel-Culture-Einzelfall beschäftigen zu müssen. Mir scheint, als wollten manche amerikanische Polarisierungen importieren. Obwohl Erhebungen wie der "Academic Freedom Index" immer wieder belegen, dass Deutschland bei der Wissenschaftsfreiheit weltweit an der Spitze steht. Oder nehmen Sie das Thema Gender-Sprache, da führen AfD, BSW und die Union teils skurrile Debatten, die überflüssig sind. Wir sind die größte Volkswirtschaft auf dem Kontinent der Wissenschaftsfreiheit. Doch wir haben das Talent, unsere Stärken permanent selber schlecht zu reden, anstatt kritische Einzelfälle zwar zu diskutieren, sie aber auch als solche einzuordnen.
Was bringt uns denn Ihrer Meinung nach nach vorn?
Wir sollten uns auf die eigentlich wichtigen Themen konzentrieren. Wie machen wir unser Wissenschaftssystem resilienter angesichts der großen internationalen Krisen wie des Angriffs Putins auf die Ukraine? Was heißt das für die Wissenschaftsfinanzierung? Wie werden unsere Hochschulen digitaler? Wie geht es weiter, wenn ein Exzellenzcluster mehrmals erfolgreich war in der Exzellenzstrategie? Was lernen wir aus der Pandemie und wie bereiten wir uns besser auf die nächste vor? Wie beenden wir die einseitige Fokussierung auf China? Wie verbinden wir uns stärker mit anderen Staaten im Asien-Pazifik-Raum? Im Forschungsausschuss stellen, diskutieren und beantworten wir solche Fragen.
"Angesichts der Zeitenwende"bin ich daher überzeugt, dass wir neben ziviler Sicherheitsforschung mehr Verteidigungs- und Militärforschung brauchen."
Apropos einseitige Fokussierung auf China: Besteht umgekehrt nicht die Gefahr, dass wir das Kind mit dem Bade ausschütten, wenn deutsche Wissenschaftler das Gefühl haben, sich für jede Kooperation mit der bald wichtigsten Wissenschaftsnation rechtfertigen zu müssen?
Es war wichtig, die Wissenschaftsbeziehungen mit China kontrovers zu diskutieren, um eine notwendige Akzentverschiebung und Differenzierung hinzubekommen. "De-Risking" ist in der Außenpolitik gegenwärtig der "State of the Art", und wir müssen viel reflektierter mit China kooperieren. Besonders bei Hochrisikotechnologien ist Vorsicht geboten. Natürlich bestehen umgekehrt auch große Chancen, wenn Deutschland und Europa etwa in der Klima- oder Biodiversitätsforschung enger mit China kooperieren.
Bundesforschungsministerin Stark-Watzinger sagte in der WELT, hinter jedem chinesischen Forscher könne sich die kommunistische Partei verbergen.
Das sind Zuspitzungen, die nicht weiterhelfen. Die Blauäugigkeit der vergangenen Merkel-Jahre scheint überwunden, als in der Regierung und im Wissenschaftssystem viele nicht bemerken wollten, wie sie ausspioniert wurden und die bei uns entwickelten Know-How-Vorsprünge China – und anderen autokratischen Staaten – zugutekamen. Mein Eindruck ist, dass wir die richtige Balance zwischen Chancen und Risiken inzwischen gefunden haben, eine Mischung aus solidem Misstrauen und optimistischem Vertrauensvorschuss. Wir setzen auf stärker strategische, interessen- und wertegeleitete Internationalisierung. Wissenschaft ist eine kritische Infrastruktur und muss dementsprechend von uns behandelt und geschützt werden.
Muss die zivile Wissenschaft stärker für Militärforschung geöffnet werden?
Als Grüne passen wir unsere Positionen immer wieder an die neuen Notwendigkeiten und Zumutungen der multipolaren Welt an. Angesichts der "Zeitenwende" bin ich daher überzeugt, dass wir neben ziviler Sicherheitsforschung mehr Verteidigungs- und Militärforschung brauchen. Umgekehrt bin ich ein entschiedener Befürworter der Hochschulautonomie und der eigenständigen Entscheidung der Hochschulen, ob sie sich eine Zivilklausel geben oder nicht. Und leider waren und sind wir als Grüne die einzige politische Kraft in Deutschland und Europa, die parallel zusätzliche Investitionen in die Friedens- und Konfliktforschung fordern, weil sie präventives Wissen mehrt. Wir brauchen mehr Expertise zu multilateralen Machtkonstellationen. Und wir brauchen einen gezielteren Wissenstransfer aus der Konflikt- und Friedensforschung in die Außenpolitik hinein.
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Es ist ein wichtiger Tag für die deutschen Schulen: Bund und Länder sagen Ja zum Startchancen-Programm. Jetzt gilt es, schnell die Formalitäten und offenen Verfahrensfragen zu klären. Die zähen Verhandlungen verlagern sich währenddessen auf ein anderes Programm.
Foto: Anne, Flickr, CC BY-NC-ND 2.0.
ES WAR EIN FOTO-FINISH für die Startchancen. Noch am Mittwochabend wagte in den 16 Kultusministerien kaum jemand die Prognose, ob ihre Chefs am Freitag tatsächlich den finalen Haken setzen würden unter den Vertrag mit dem BMBF über dieses Milliardenprogramm zur Förderung benachteiligter Schüler. Obwohl alle wussten: Wenn es jetzt nichts wird, wäre die Blamage maximal. Für Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP), die bildungspolitisch seit langem fast alles auf die "Startchancen" setzte. Aber auch für die Kultusminister und den Bildungsföderalismus, der aktuell wieder einmal besonders unbeliebt ist.
Seit 2022 hatten die Länder untereinander und mit dem Bund verhandelt, ein beständiges Stop-And-Go, ein Vor und Zurück zwischen dem Feilschen um die großen Verteilungsmechanismen und die kleinen Details. Begleitet von Phasen, in denen es zwischen Bund und Ländern eher darum ging, sich gegenseitig mit Vorwürfen mangelnder Ernsthaftigkeit zu überziehen.
Den Termin zur digitalen Sondersitzung der Kultusministerkonferenz (KMK) am Freitagmorgen hatte man vor Wochen bereits vorsorglich gemacht, dazu den Auftritt gemeinsam mit Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) am Freitagnachmittag in der Bundespressekonferenz eingefädelt. Aber immer, und das trotz maximalen öffentlichen Erwartungsdrucks, unter Vorbehalt.
"Substanzielle Fortschritte" beim Digitalpakt als Voraussetzung?
Zuletzt hing die Entscheidung vor allem an einigen wenigen Ländern mit Unionsregierung, die zusätzliche Garantien forderten. Dafür, dass der Bund nach der Startchancen-Besiegelung noch genug Wille und Geld hat, um die Fortsetzung eines anderen Milliardenprogramms durchzuziehen: des Digitalpakts. Der aus Sicht aller Kultusminister genauso wichtig ist wie die Startchancen, nach Meinung etlicher sogar noch wichtiger. Wiederholte Bekenntnisse Stark-Watzingers in den vergangenen Monaten, sie setze sich mit Nachdruck für diesen Digitalpunkt 2.0 ein, hatten zumindest Bayern und Sachsen bis diese Woche nicht gereicht.
Am Mittwoch saß die Digitalpakt-Verhandlungsgruppe erneut zusammen. "Substanzielle Fortschritte" hatten die Länder vorab verlangt, und einige Unionsminister ließen diese auf den Digitalpakt bezogene Forderung immer noch wie eine Bedingung für die Startchancen klingen. Bis am Donnerstag im Anschluss an verschiedene Schaltkonferenzen auf Länderseite durchsickerte: Alle 16 Kultusminister machen mit. Auch Bayern und Sachsen.
Die Zustimmung der Länder sei letztlich auch deshalb möglich geworden, weil der Bund ein deutliches politisches Zeichen für den Digitalpakt 2.0 gegeben habe und auch hier substanzielle Fortschritte hätten erzielt werden können, sagte die neue Koordinatorin der CDU-Bildungspolitik in den Ländern, Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien, nach der Startchancen-Besiegelung am Freitag. Von einem "klaren Bekenntnis" zur Digitalpakt-Forsetzung, das die Länder vom BMBF bekommen hätten, sprach auch KMK-Präsidentin Christine Streichert-Clivot.
Unklar war allerdings zunächst, worin genau dieses deutliche politische Zeichen und Bekenntnis bestanden hatte. Zumal nicht alle von Priens und Streichert-Clivots Kollegen offenbar ein solches gesehen haben. So kritisierte Armin Schwarz, der neue CDU-Bildungsminister von Hessen, am Freitag, es werde ein neues Projekt aufgesetzt, ohne die Fortführung eines für die Zukunft entscheidenden Programmes geklärt zu haben: des Digitalpakts. Hier benötigten die Länder und die kommunalen Schulträger langfristige Planungssicherheit. "Dies wäre eine wirkliche, effektive Unterstützung, die ohne neue bürokratische Hürden umgesetzt werden könnte." Doch habe ausgerechnet "die selbsternannte Digitalpartei FDP beim Digitalpakt bisher alles blockiert".
Woraus man umgekehrt folgern könnte, dass Stark-Watzinger diesen Teil der politischen Geduldspiels mit den Ländern für sich hat entscheiden könnten. Zumindest ging sie am Freitagnachmittag auch in der gemeinsamen Pressemitteilung von BMBF und KMK mit keinem Wort auf die Digitalpakt-Fortsetzung ein, sondern hob allein die Bedeutung des Startchancen-Programms hervor, "das größte und langfristigste Bildungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland". In der Pressekonferenz sagte Stark-Watzinger laut Bildung.Table, sie wolle beim Digitalpakt zunächst über das Konzept sprechen, während Streichert-Clivot sagte, dessen Finanzierungsvolumen sei "noch offen".
Wobei das BMBF in internen Gesprächen gesagt haben soll, dass der neue Pakt mindestens das gleiche Volumen – eine Milliarde pro Jahr – haben soll wie bisher. Nur eben nach Vorstellung des Bundes mit einer anderen Kostenbeteiligung der Länder (50 statt zehn Prozent), was mit ein Knackpunkt bei den Verhandlungen ist. Doch gilt schon die BMBF-Aussage übers Volumen unter den meisten Ländern als das, was sie als "substanziellen Fortschritt" sehen, ebenso die Verabredung eines festen Zeitplans mit einer nächsten Klausurtagung im März und der Fertigstellung der Bund-Länder-Vereinbarung bis Mitte Mai – also genau dann, wenn der Digitalpakt 1.0 offiziell ausläuft.
"Wir brauchen eine bildungspolitische Trendwende", sagt BMBF-Chefin Stark-Watzinger
Zurück zur Startchancen-Einigung. Noch nie sei der Handlungsdruck so groß wie jetzt gewesen, sagte Stark-Watzinger. "Wir brauchen eine bildungspolitische Trendwende, und sie muss bei den Grundkompetenzen beginnen. Mit der Verständigung auf das Startchancen-Programm werden Bund und Länder den großen Hebel ansetzen: 20 Milliarden Euro in zehn Jahren für etwa 4.000 Schulen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler."
60 Prozent der geförderten Kinder sollen an Grundschulen sein. Der Fokus des liegt auf einer Stärkung der Basiskompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen und der Entwicklung der Schulen als Lernort. Der Bund zahlt eine Milliarde pro Jahr, die Länder beteiligen sich in gleichem Umfang – wobei ein Teil der komplizierten Verhandlungen sich zuletzt genau darum drehte: Was genau können die Länder als ihren Anteil einbringen?
Auch KMK-Präsidentin Streichert-Clivot, im Hauptberuf SPD-Bildungsministerin im Saarland, sagte, Bund und Länder unterstützten mit den "Startchancen" die Schulen im Transformationsprozess. "Mutig und mit vereinten Kräften können wir Schule verändern – mit wissenschaftlicher Begleitung, einem veränderten Ressourcen-Ansatz und multiprofessionellen Teams." Im Zentrum stünden dabei die Belange von Kindern und Jugendlichen. "Sie fordern zu Recht, dass wir stärker auf ihre Bedürfnisse eingehen und uns nicht in Kompetenzgerangel verlieren. Deshalb ist es unsere gemeinsame Verantwortung, diesen Bedürfnissen mit gezielter und individueller Unterstützung gerecht zu werden."
Karin Prien wiederum sprach von einem guten für gerechtere Bildung in Deutschland, "auch wenn es ein sehr langer und beschwerlicher Weg gewesen ist". Das Programm, das auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und guten Erfahrungen in einigen Ländern aufbaue, könne für die im Ergebnis aufwachsend 4000 Schulen "als ein Element" dafür sorgen, mehr Bildungsgerechtigkeit in Deutschland umzusetzen. "Ein Wermutstropfen ist auch in diesem Fall wieder die bürokratische Belastung, die Schulträgern und Schulen durch das Programm droht." Bevor Prien wieder einen Schlenker zum Digitalpakt 2.0 machte: Bei dem "müssen wir sehr darauf achten, die bürokratischen Hürden abzubauen und Verfahren zu vereinfachen." Und Prien forderte: Der zweite Digitalpakt dürfe sowohl vom Volumen als auch von der Aufteilung der finanziellen Belastungen nicht hinter dem ersten Digitalpakt zurückstehen.
"Jetzt fängt die Arbeit richtig an", sagt SPD-Bildungsministerin Hubig
Priens Konterpart Stefanie Hubig, Koordinatorin der SPD-Bildungspolitik in den Ländern, formulierte etwas überschwänglicher. Bund und Länder stärkten die Bildungsgerechtigkeit und Bildungsqualität in Deutschland und zeigten, dass sie gemeinsam handeln könnten. "Wir schnüren ein großes Paket für jene Kinder und Jugendliche, die unter schwierigen Bedingungen ins Leben starten." Noch immer hänge der Bildungserfolg zu sehr vom Geldbeutel oder vom Status der Eltern ab. "Mit Hilfe des Startchancen-Programms werden Schulen zu besseren Lern- und Lebensorten. Sie fügte hinzu: "Und jetzt fängt die Arbeit richtig an!“
In der Tat. Zumal das Startchancen-Vertragspaket formal noch längst nicht unterschrieben ist. Jetzt startet erst einmal der Ratifizierungsprozess in Bund und Ländern, im Frühjahr wollen Stark-Watzinger und Kultusminister dann zur rechtsverbindlichen Unterschrift antreten. Vielleicht ist ja genau das der Grund, warum Bayern und Sachsen sich am Donnerstag doch einen Ruck geben konnten? Schon in der Vergangenheit hatten CDU-Minister wiederholt darauf hingewiesen: Wirklich besiegelt ist das Programm erst, wenn alle 16 Länder rechtskräftig ratifiziert haben. Dient diese vermeintliche Formalie so als letztes im Hintergrund gehaltenes Druckmittel, bis der Digitalpakt 2.0 von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) im Haushaltsentwurf für 2025 verankert ist? Umgekehrt hat der Bund womöglich das noch bessere Druckmittel: den Lockruf des Geldes. Erst wenn alle 16 Länder unterschrieben haben, kann Lindner die laut Vertrag vorgesehene Änderung des Finanzausgleichsgesetzes für die Umsatzsteuerpunkte-Umverteilung (siehe unten) angehen.
Offiziell tun Bund und Länder jetzt ohnehin so (und müssen es), als sei das Programm auch formaljuristisch unter Dach und Fach, denn zum 1. August 2024 soll es starten. Ein wichtiger Aspekt dabei ist, was Prien in ihrem Statement andeutet: Auch wenn im Endausbau rund 4.000 Schulen in herausfordernder Lage und damit rund zehn Prozent aller Schülerinnen und Schüler in Deutschland unterstützt werden sollen, fängt es erstmal in kleinerem Rahmen an. Darauf haben sich Bund und Länder zuletzt verständigt. Ganz einfach, weil es nicht möglich sein wird, gleich zum Schuljahresanfang alle 4000 Schulen ausgewählt zu haben, und so kurzfristig überall das nötige zusätzliche Personal dafür eingestellt zu haben. Darum sollen es nun zunächst mindestens 1.000 Schulen im ersten Programmjahr sein, bis zum Schuljahr 2026/27 sollen dann alle 4.000 Schulen feststehen.
Das Besondere ist, dass die Höhe der Fördermittel, die ein Land erhält, auch die dortigen sozialen Rahmenbedingungen berücksichtigt, konkret den Anteil der Kinder und Jugendlichen aus armutsgefährdeten Familien und mit Migrationsgeschichte, darüber hinaus in geringerem Umfang die Wirtschaftsleistung pro Kopf der Bevölkerung. Der einst erhoffte ganz große Paradigmenwechsel in der Bildungsfinanzierung weg von der Gießkanne ist es aber nicht geworden, weil ein Großteil des Geldes doch nach üblichen Verteilungsmechanismen (Umsatzsteuerpunkte) in die Länder fließen soll.
Bildungspolitische Seltenheiten und zeitliche Herausforderungen
Weil die Länder das Geld wiederum an diejenigen Schulen verteilen sollen, die es besonders brauchen, müssen sie dafür laut Vereinbarung geeignete, wissenschaftsgeleitete Kriterien anlegen. Für die gute Hälfte der Länder, die bereits sogenannte Schul-Sozialindizes einsetzt, gut machbar. Solche Sozialindizes bilden den sozialen Hintergrund der Schülerschaft aller Schulen im jeweiligen Bundesland ab. Für die Kultusministerien, die Vergleichbares (noch) nicht haben, eine weitere zeitliche Herausforderung.
40 Prozent des Startchancen-Geldes gehen in die sogenannte Säule eins, bauliche Investitionen in eine bessere und damit lernförderlichere Infrastruktur und Ausstattung der Startchancen-Schulen. 30 Prozent können die Schulleitungen frei verfügbare "Chancenbudgets" in vor Ort passende Maßnahmen der Schul- und Unterrichtsentwicklung stecken (Säule zwei), etwa in die gezielte Lernförderung in den Kernfächern Deutsch und Mathematik. Die übrigen 30 Prozent dienen zur personellen Verstärkung der Schulsozialarbeit und mulitprofessioneller Teams (Säule drei), rein rechnerisch lässt sich laut BMBF und KMK allein mit den Bundesmittel eine volle zusätzliche Stelle pro Startchancen-Schule finanzieren.
In dieser Form immer noch eine bildungspolitische Seltenheit ist auch, dass die wissenschaftliche Begleitung und Evaluation als integrale Bestandteile des Programms vorgesehen sind, ebenso der Transfer der gewonnenen Erkenntnisse über die geförderten Schulen hinaus. Allerdings soll es jetzt auch bei der wissenschaftlichen Begleitung erst später losgehen.
"Reicht nicht, ein Elterncafé oder eine Bibliothek zu bauen"
Der bildungspolitische Sprecher der CDU-/CSU-Bundestagsfraktion, Thomas Jarzombek, sagte, es sei ein gutes Signal, dass sich der Bund nicht vollständig aus bildungspolitischen Fragen herausziehen werde. Doch löse das "Startchancen-Programm von Frau Stark-Watzinger" die drängenden Probleme der Schulen nicht. "Wenn die Kinder in die Schule kommen und kein Deutsch können, dann reicht es nicht, ein Elterncafé oder eine Bibliothek zu bauen." Dringend notwendig sei ein verpflichtendes, vorschulisches Programm für Kinder mit Förderbedarf im fünften Lebensjahr. "Stattdessen investiert die Bundesbildungsministerin vor allem in Baumaßnahmen und erhöht die Berichtspflichten für Schulleitungen und Lehrkräfte." Die Gelder für Baumaßnahmen würden vermutlich über Jahre nicht abfließen. "Und die weiteren Mittel vergibt der Bund nach Umsatzsteuerpunkten, ohne ihre Verwendung tatsächlich steuern zu können."
Stark-Watzinger habe sehr lange gebraucht, um ein verhandlungsfähiges Konzept für ihr "Prestige-Projekt" vorzulegen. Ab jetzt beginne für Länder und Kommunen ein sehr sportlicher Umsetzungszeitplan, fügte Jarzombek hinzu. "Das setzt nun alle Akteure unter erheblichen Druck, insbesondere die Kommunen, die wesentliche Elemente in kurzer Zeit umsetzen müssen und bis heute noch nicht darauf vorbereitet wurden."
Eine parlamentarische Anfrage der CDU-/CSU-Bundestagsfraktion hatte ergeben, dass es bislang nur ein einziges Gespräch des BMBF mit den kommunalen Spitzenverbänden hatte, und zwar auf Staatssekretärsebene. "Die Ministerin hat sich selbst überhaupt nicht eingebracht", kritisierte Jarzombek. Auch in den Verhandlungen zum Digitalpakt 2.0 brauche es jetzt einen echten Durchbruch und wieder mehr Planungssicherheit für Kommunen, Schulen und Lehrkräfte.
Von einem guten Tag für die Bildungsgerechtigkeit in Deutschland sprachen die Vorsitzende der grünen Bundestagsfraktion, Katharina Dröge, und Nina Stahr, die bildungspolitische Sprecherin der Fraktion. Das Programm werde besonders Schüle aus einkommensschwachen Familien erreichen. "Dies ist dringend notwendig, denn die jüngsten alarmierenden PISA-Ergebnisse belegen zum wiederholten Male, dass der Bildungserfolg in Deutschland viel zu sehr mit der sozio-ökonomischen Herkunft zusammenhängt". Über das Startchancen-Programm hinaus brauche es aber endlich auch eine gemeinsame bildungspolitische Strategie von Bund, Ländern und Kommunen mit gesamtstaatlichen Bildungszielen. "Als Gesellschaft und auch als Volkswirtschaft können wir es uns nicht leisten, weiter an der Bildung zu sparen. Deswegen erwarten wir auch eine zeitnahe Einigung beim Digitalpakt 2.0, dem zweiten großen bildungspolitischen Leuchtturmprojekt unserer Koalition."
Die stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Gyde Jensen nannte das Startchancen-Programm einen lange ersehnten "Paradigmenwechsel in der
Bildungsfinanzierung". Mit dem Ja zu dieser Kooperation bewiesen die Bundesländer Verantwortungsbewusstsein und den Mut, "endlich neue Wege in der Bildungspolitik zu wagen, um Bildungschancen von der Herkunft zu entkoppeln. Die großen Herausforderungen des Bildungsstandorts Deutschland werden endlich als gemeinsame Aufgabe erkannt." Die monatelangen Verhandlungen seien nicht immer einfach gewesen, doch zähle das Ergebnis. "Auf diesem Fundament der Zukunft unserer Kinder müssen Bund und Länder jetzt weiter gemeinsam und zielorientiert aufbauen."
Der Geschäftsführer der Wübben Stiftung Bildung, Markus Warnke, mahnte, mit der Einigung seien nun alle 16 Bundesländer in der Pflicht, die Schulen im Brennpunkt in ihrem Land zu identifizieren "und bis Sommer ein Programm zu entwickeln, das ihnen wirklich hilft. Das ist ein großer Erfolg für mehr Bildungsgerechtigkeit in Deutschland." Das Ziel, den Anteil der Schülerinnen und Schüler, die die Mindeststandards in den Fächern Mathematik und Deutsch nicht erreichen, innerhalb von zehn Jahren zu halbieren, sei ambitioniert", sagte Warnke. "Der Weg ist anspruchsvoll, das Ziel mit einer Kennziffer klar formuliert. Das ist für die deutsche Bildungspolitik ungewöhnlich und mutig."
Von den drei Programmsäulen aus Schulbau und -ausstattung, Chancenbudget sowie Personal für multiprofessionelle Teams sei das Chancenbudget wohl mit größten Erwartungen verbunden. "Hier haben sich die Länder einen großen Gestaltungsspielraum ausgehandelt", gab Warnke zu denken: "Eine noch deutlichere Fokussierung auf die Stärkung der Basiskompetenzen wäre wünschenswert gewesen. Es bleibt zu hoffen, dass das primäre Ziel des Programms auf der Ebene der Schülerinnen und Schüler die Richtschnur sein wird."
Die linke Bildungspolitikerin Nicole Gohlke sagte: "Den Enthusiasmus vieler eines angeblich bevorstehenden 'Paradigmenswechsels' in allen Ehren, aber dieses Startchancen-Programm ist angesichts der immensen Herausforderungen im Bildungssystem völlig unterdimensioniert und von einer Trendwende sind wir weit entfernt." Allein der Sanierungsstau der Schulen belaufe sich auf 50 Milliarden Euro. Das sei umso dramatischer, als dass das Startchancen-Programm durch keinerlei weitere Maßnahmen flankiert werde. Die Bundesregierung habe ebenfalls keine Strategie, woher die benötigten Fachkräfte kommen sollten. "Das hat heute Morgen auch die SPD-Parteivorsitzende eingesehen, die in der letzten Minute auf die Idee kommt, das Ganze müsse doch größer sein."
Am Freitagmorgen hatte Saskia Esken ihre Forderung aus dem November wiederholt, die Startchancen-Mittel zu verfünffachen. "Es wäre notwendig, das Programm auf zumindest die Hälfte der Schulen auszuweiten", sagte die SPD-Chefin dem Handelsblatt. Das seien zehn Milliarden Euro pro Jahr.
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DER NATURARZT 1895 Der Naturarzt (-) Der Naturarzt 1895 (1895) ([1]) 23. Jahrgang. (Nr. 1. Januar / 1895) (Nr. 1. Januar 1895.) ([1]) Aufruf. [des Bundesvorstandes, neue Vereine zu gründen] ([1]) Hermann Canitz. Aus der Gedächtnisrede von Adolf Damaschke. (2) Aufgegebene Fälle. (5) Aus vergilbten Blättern. Ueber den Gebrauch des kalten Wassers bei alten Geschwüren von Ferguson. (9) Ueber Blutungen bei chronischen Krankheiten. (12) Gegen das Diphtherie-Heilserum. [Auszug aus der "Berl. klinischen Wochenschrift" vom 10. Dezember, Vortrag von Dr. Hansemann] (13) Aus der Anatomie und Physiologie. Essen und Trinken. (18) Wie Dr. Emmet Densmore zur Forderung einer Ernährungsreform gekommen ist. (23) Sprechsaal. (26) Bundesnachrichten. Bundesvorstand. Zum Priessnitzfonds. Es sind vom Bundesvorstand mit dem Beirat die nachstehenden Satzungen festgesetzt, welche mit dem 1. Januar 1895 in Kraft treten. Verzeichnis. Vereine, für welche Aerzte gesucht werden. Aus den Vortragsgruppen. Aus den Vereinen. (26) Aus der Zeit. Eine Gedächtnisfeier für den langjährigen Vereinsarzt Hermann Canitz. Auch ein Beitrag zum Impfzwanggesetz. Freigesprochen. Niedriger hängen! [Inserat: Dr. Brüning, Dr. Bastian, Dr. Seebald verweigern Hülfe dort, wo eine "praktische Vertreterin der Naturheilkunde" "behandelt".] "Massnahmen behufs Verhütung der Weiterverbreitung der Lungenschwindsucht". Ein neues Berauschungsmittel. Vom Alkohol. Zur Sozialhygiene. "Elektrischer Sonnenstich". Berufskrankheiten. Was alles "issenschaftlich" war. Guten Appetit! Die "Freie Kranken- und Sterbekasse für Anhänger des Naturheilverfahrens". (32) Bücherschau. (36) Feuilleton. Spruch. Wer das Naturgesetz beobachtet (Hl. Schrift der Chinesen) (37) Das Naturheilverfahren im Altertum. Die Gymnastik. (38) Briefkasten. (40) 23. Jahrgang. (Nr. 2. Februar / 1895) (Nr. 2. Februar 1895.) ([41]) Aus Wissenschaft und Leben. Zur Behandlung von Tuberkulose. ([41]) Die Zusammensetzung von 177 verbreiteten Geheimmitteln. (45) Aus der Anatomie und Physiologie. [Über das Rauchen] Zur Diätetik des Essens und Trinkens. (53) Aus dem Kampfe um die Krankenkassen. (56) Was im Jahre 1894 in Berlin noch möglich war. (58) [3 Heilberichte.] (1 und 2) Heilung schwerer Nervenleiden durch das Naturheilverfahren. (3] Heilung einer Hodenvereiterung. (59) Sprechsaal. (62) Bundesnachrichten. Bundesvorstand. Verzeichnis. Aus den Vereinen. (63) Aus der Zeit. Dem Reichstage sind zwei Initiativanträge auf Beseitigung des Reichsimpfgesetzes zugegangen. Ein verständiger Landrat. In New-York. Die Gegner dier Vivisektion. Besteht ein Operations-Zwang? Ein Opfer des Korsetts. Freigesprochen. Schnaps-Reklame. Geisteskrankheit infolge von Trunksucht. Zur Schulhygiene. Zur Wohnungshygiene. Zur Sozialhygiene. Trauerkunde: Dr. med. Hacker in Frankfurt a. M. am 15. Januar gestorben (66) Bücherschau. (68) Feuilleton. Das Naturheilverfahren im Altertum. Die Massage. (70) Briefkasten. (72) 23. Jahrgang. (Nr. 3. März / 1895) (Nr. 3. März 1895.) ([73]) Prüfungskommission. ([73]) Aus Wissenschaft und Leben. Naturarzt Dr. med. J. B. Hacker. Ein Lebensbild von Paul L. Schray, Frankfurt a. M. ([73]) [Aus der Anatomie und Physiologie.] Der Blutlauf und seine Organe. (78) [Abb.]: Fig. 1. Stück von einem Haargefäße. Die platten Zellen zeigen längliche Kerne. (79) [Abb.]: Fig. 2. Haargefäßnetze sehr stark vergrößert. a) in einem Muskel, b) in einer Dramzotte. 1) eine kleine Arterie, die sich in ein Haargefäßnetz (2) auflöst; 3) eine kleine Vene, die daraus hervorgeht. (80) [Abb.]: Fig. 3. Schema des Blutkreislaufs. Die schwarzen Adern sind Arterien, die weißen Venen. Die Lungenarterien (17) sind weiß, die Lungenvenen (18) schwarz gezeichnet. Die Nummern 1-15 umfassen den sogenannten großen, 16-19 den kleinen oder Lungenkreislauf. (81) [Abb.]: Fig. 4. Querdurchschnitt durch die Mitte des Herzens. 1) linke, 2) rechte Herzkammer; 3) Zwischenwand zwischen beiden; 4) die starken Wände der linken, 5) die schwachen der rechten Herzkammer. Die "Fleischbälkchen" an der Innenwand sind zum Teil durchschnitten. (82) [2 Abb.]: (1)Fig. 5. Das Steigrohr einer Pumpe. Bei a geht der Kolben (3) hoch und das Bodenventil (2) öffnet sich; bei b ist der Kolben im Niedergehen begriffen, wodurch das Bodenventil geschlossen und das Ventil des Kolbens geöffnet wird. (2)Fig. 6. a) Die Vorkammer in der Systole, die Herzkammer in der Diastole; b) Diastolde der Vorkammer, Systole der Herzkammer. 1) Vorkammer; 2) Herzkammer; 3) Venen; 4) Zipfelklappe zwischen Vor- und Herzkammer; 5) Arterie. (83) [2 Abb.]: (1)Fig. 7. Schema des Blutlaufs aus den Vorkammern in die Herzkammern. Das Blut wirbelt beim Durchströmen hinter die Zipfelklappen und drückt sie nach innen, so daß die Oeffnung geschlossen wird. (2)Fig. 8. a) Mündung der rechten Vorkammer in die Herzkammer. b) Längsdurchschnitt durch die linke Herzkammer (84) [Abb.]: Fig. 9. a) das Anfangsstück der Aorta mit den 3 halbmondförmigen Klappen1, 2, 3. Herzkammer in der Systole: die Klappen öffnen sich für das durchfließende Blut. 4) Ausbuchtungen der Aorta, je einer Klappe entsprechend. c) Die Klappen (1,2,3) von oben gesehen, während sie sich bei der Diastole der Herzkammer mit Blut füllen und dadurch die Oeffnung verschließen. (85) [Abb.]: Fig. 10. a) eine aufgeschnittene Vene mit den taschenförmigen Klappen. b) Die Wirkung des fliessenden (1) und des zurückstauenden (2) Blutstromes auf die Venen- und Lymphgefäßklappen. (87) Heilung einer doppelseitigen Lungenentzündung. (88) [2 Briefe]: Zwei Aktenstücke zum Versammlungs-Recht. [Bei Versammlungen des Naturheilvereins, welche nur für Damen bestimmt sind, soll von einer polizeilichen Ueberwachung Abstand genommen werden. - Schamverletzung durch die Gegenwart einer männlichen Person.] (89) Zur Abwehr. (91) Fragekasten. (91) Bundesnachrichten. Bundesvorstand. Verzeichnis. Vereine, für welche Aerzte gesucht werden. Steuern. Aus den Vortragsgruppen. Aus den Vereinen. (92) Aus der Zeit. Aus dem 1894er Jahresbericht der Stiftung von Zimmermannsche Naturheilanstalt, Chemnitz. Aus dem 1894er Jahresbericht der Stahringerschen Naturheilanstalt, Grüna. Ein Gegner der Frauen [Gewicht des Gehirns]. Bleiwasser! Sechs Mässigkeits-Exempel [Rechenbeispiele: Wievielen Menschen ist ihr Leiden dem Alkohol zuzuschreiben? Wieviel Geld wird für Alkohol ausgegeben? Wieviel Lebensmittel könnte man dafür kaufen?]. Zur Hygiene der geistigen Arbeit. [Hilfreich für gute Einfälle: körperliche Frische, ruhiges Wohlgefühl, Gehen in der Natur. Alkohol schadet.] Sieg in Bern. (98) Bücherschau. (101) Kassen-Bericht 1894. Gewinn- und Verlust-Conto 1894. Bilanz am 31. Dezember 1894. (102) Feuilleton. [3 Gedichte, Denksprüche]: (1) Wie jung man auch sei . (2) Ein Augenblick, wo das Herz genießt . (3) Ein halber Mann . (104) Briefkasten. (104) 23. Jahrgang. (Nr. 4. April / 1895) (Nr. 4. April 1895.) ([105]) Aus Wissenschaft und Leben. Zur Entwicklungsgeschichte der Behandlung des Stotterübels. ([105]) Wie ist bei Einführung von Volks- und Jugendspielen schrittweis zu verfahren? (110) Aus der Anatomie und Physiologie. Der Blutkreislauf und seine Organe. Blut und Lymphe. Lymphdrüsen. Chylus. (112) [2 Abb.]: Fig. 11. Blutlauf unter dem Mikroskop. [rote und weiße Blutkörperchen]. Fig. 12. Weiße Blutkörperchen sehr starkt vergrößert. [ruhend, in Bewegung] (114) [Abb.]: Fig. 13. Schema einer Lymphdrüse, stark vergrößert. a) Gefäße, aus denen die Lymphe in die Drüse strömt, b) ein Gefäß, welches sie abführt. (115) Hygieinische Aufklärung über Zahnersatz. (116) Wie sollen Wasserheilanstalten, vom naturärztlichen Standpunkte aus betrachtet, eingerichtet sein? (117) Gestrickte Flaschenhüllen zu Dampfkruken. (119) Scrophulöses Lymphom durch das Naturheilverfahren geheilt. (120) Verbrennungen schwerer Natur. (120) Fragekasten. (121) Sprechsaal. (122) Bundesnachrichten. Bundesvorstand. Verzeichnis. Vereine, für welche Aerzte gesucht werden. Steuern. Aus den Vortragsgruppen. Aus den Vereinen. (122) Aus der Zeit. Ein "untrügliches Mittel gegen die Schwindsucht". Hat die Polizei das Recht, ein Kind zwangsweise zur Impfung zu führen? Freigesprochen. Den Grundstein, auf welchem das Gebäude der Zahnheilkunde aufgebaut ist, lernen wir jetzt endlich kennen. Dr. med. Max Böhm. Nasse Strümpfe. Heisse Speisen. (129) Bücherschau. (132) Feuilleton. Das Naturheilverfahren im Altertum. Die Bäder, Güsse, Umschläge und Ausspülungen. (133) Briefkasten. (136) 23. Jahrgang. (Nr. 5. Mai / 1895) (Nr. 5. Mai 1895.) ([137]) Aus Wissenschaft und Leben. Ausbildung von Naturärzten. ([137]) Ein Mediziner über Alkoholvergiftung. ([137]) Schmerzstillung durch Handgriffe. Erster Handgriff: Kopfstützgriff (Kopfstreckgriff). Zweiter Handgriff: Kofpknickgriff (Kopfbeugegriff). Dritter Handgriff: Zungenbeingriff. Vierter Handgriff: Magengriff. Fünfter Handgriff: Dehnung der Nerven. (142) [Abb.]: Fig. 1. Kopfstützgriff (Kopfstreckgriff) (142) [2 Abb.]: (1)Fig. 2. Kopfknickgriff (Kopfbeugegriff). (2)No. 3. Zungenbeingriff. (143) [2 Abb.]: (1)Fig. 4. Magengriff. (2)Fig.5. Dehnung der Nerven. (144) Aus der Anatomie und Physiologie. Wie erhalten wir uns gesundes Blut und einen regelrechten Blutlauf? (144) Ein Fall von chronischer Trionalvergiftung. (149) Aufgegeben -gerettet. (151) Von der Vorbereitung zur Aufnahme-Prüfung für den naturärztlichen Ausbildungs-Kursus (152) Fragekasten. Sprechsaal. (153) Bundesnachrichten. Bundesvorstand. Steuern. Vereine, für welche Aerzte gesucht werden. Verzeichnis. Aus den Vortragsgruppen. Aus den Vereinen. (153) Aus der Zeit. Aus dem 1894er Jahresbericht der Naturheilanstalt Sommerstein in Thüringen. Aus Leipzig. Wieder ein Zugeständnis. "Endlich geht man diesem Schwindel an den Leib!" [Kaltwasserbehandlung, Pfarrer Kneipp]. Zur Sozialhygiene. Auch zur Sozialhygiene. Die Schutzpockenlymphe gehört in das Gebiet der Nahrungsmittelchemie!! Vom Niedergang. Gegen die Vivisektion. Der Wirkl. Geh. Ober-Reg.-Rat Schneider [Die akademische Bildung ist nicht das einzige.] Aus der Schule der Zukunft. Vom Zuviel bei körperlichen Uebungen. (160) Bücherschau. (165) Feuilleton. Liebe und arbeite! [Beitrag zur Geistes-Hygiene, Sprüche, welche sich Georg von Gizycki selbst als seine Lebensregeln zusammengestellt hatte.] (166) Briefkasten. (168) 23. Jahrgang. (Nr. 6. Juni / 1895) (Nr. 6. Juni 1895.) ([169]) [Trauernachricht]: Graf Adolf von Zedtwitz ist tot! ([169]) Aus Wissenschaft und Leben. Ueber Frauenkrankheiten. (170) Ueber Ermüdung [Vortrag, gehalten in München von Herrn Obermedizinalrat Prof. Dr. Bollinger] (173) Aus der Anatomie und Physiologie. Die blutreinigenden Organe und ihre Thätigkeit. I. Die Atmungsorgane. (174) [2 Abb.]: (1)Fig. 18. Senkrechter Schnitt quer durch die Nasenhöhle (schematisch). a Nasenscheidewand; b, c, d obere, mittlere und untere Nasenmuschel; e Eingänge zu den Nebenhöhlen der Nase. (2)Fig. 19. Querschnitt senkrecht durch die Nasenhöhle. (-) [2 Abb.]: (1)Fig. 14. Die Luftröhre und ihre Verzweigungen (Lungenbaum). a und b der Kehlkopf; c die Luftröhre; d die Luftröhrenäste (Bronchien). (2)Fig. 15. Bronchiolen mit Lungenbläschen (sehr stark vergrößert). a feinste Luftröhrenästchen (Bronchiolen); b Lungenbläschen mit kugeligen Ausbuchtungen. (175) [Abb.]: Fig. 16 Ein aufgeschnittenes Lungenbläschen mit seinen kugeligen Ausbuchtungen (sehr stark vergrößert). Am Rande sieht man ein größeres Blutgefäß (a) sich in ein Netz von Haargefäßen auflösen, die das Innere der kugeligen Ausbuchtungen überziehen. (176) [Abb.]: Fig. 17. Brust- und Bauchhöhle bei der Einatmung (I) und Ausatmung (II). a Zwerchfell; b Brustraum; c Bauchraum; d Luftrühre. (178) [Abb.]: Fig. 20. Senkrechter Durchschnitt durch die Nasen-, Mund- und Rachenhöhle. a Mundhöhle; b Zunge; c weicher Gaumen mit dem Zäpfchen und den "Gaumenmandeln"); d Rachenhöhle; e Nasenhöhle (mit den Nasenmuscheln und -Gängen); f Eustachische Röhre (die aus der Rachenhöhle nach dem Ohre führt; g Rachenmandel; h Kehldeckel; i Kehlkopf; k Luftröhre. (182) Heilung einer chronischen Dickdarmentzündung. (183) Heilung einer Hüftgelenkentzündung. Fragekasten. (184) Bundesnachrichten. Naturärztliche Prüfung. Bundesvorstand. Verzeichnis Steuern. Vereine, für welche Aerzte gesucht werden. Aus den Vortragsgruppen. Aus den Vereinen. (185) Aus der Zeit. Sächsisches Kultusministerium, Lehrer und Naturheilkunde. An die Ständekammer Württembergs [Bitte, einen wissenschaftlich gebildeten Naturarzt ins Medizinal-Kollegium zu nehmen]. Zum Versammlungsrecht. Dr. med Max Böhm [zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt]. Wieder ein Zugeständnis. Gefühlsrohheit [Paris, Wettrennen von Krüppeln]. Alkohol und Entwicklung. Ueber weibliche Aerzte in Paris. (194) Bücherschau. (197) Feuilleton. Das Naturheilverfahren im Altertum. Ueber Wärmeeinwirkungen, Ausspülungen und Klystiere. (198) Briefkasten. (200) 23. Jahrgang. (Nr. 7. Juli / 1895) (Nr. 7. Juli 1895.) ([201]) Sollen wir ihn verleugnen? [Karl Wilhelm Diefenbach] ([201]) Der Ministerial-Erlass bez. der Lehrer im Königreich Sachsen. (206) Aus der Praxis. (Diphtherie und Wunden.) (208) Aus der Anatomie und Physiologie. Zur Pflege der Atmungsorgane. (210) [Abb.]: Fig. 20. [Haltung bei Übung zum Tiefatmen. a Hände auf die Hüften. b Hände an den Hinterkkopf] (213) [Abb.]: Fig. 21. [Übung zum Tiefatmen. "Atemhaltung" mittelst eines Stabes] (214) Zum Kampfe um den Impfzwang. (215) Aus der Ständekammer Württembergs. (216) Bundesnachrichten. Verzeichnis. Steuern. Vereine, für welche Aerzte gesucht werden. Aus den Vortragsgruppen. Aus den Vereinen. (221) Aus der Zeit. Aus dem Reichstag. Zur Sozialhygiene. Das Ende des Krebsserums. Ein Erfolg der Temperenzler. Vom Würgeengel der Städte. Den Ärzten Sachsen's droht ein neuer Zwang. Zum Irrenrecht. Volksvertreter und Alkohol. Auch ein Fotschritt. Zur Frauenfrage in Preussen [Zum ersten Mal wurde einer Dame die Erlaubnis erteilt, an einem Gymnasium das Abiturientenexamen abzulegen.] (228) Bücherschau. (231) Feuilleton. [Gedicht]: Luft und Licht. (232) Briefkasten. (232) 23. Jahrgang. (Nr. 8. August / 1895) (Nr. 8. August 1895.) ([233]) Ein lehrreicher Krankenkassenbericht. ([233]) Aus der Anatomie und Physiologie. [Zur Pflege der Atmungsorgane. Fortsetzung.] (237) Vom Zimmerturnen. I. Übunen mit den Armen. 1. Schulterheben. 2. Zurückbewegen der Schultern. 3. Armheben und Armschwingen seitwärts. 4. Armkreisen (Mühle). 5. Armschwingen in wagerechter Haltung. (240) [2 Abb.]: (1)Fig. 1. und (2)2. Zurückbewegen der Schultern. (241) [2 Abb.]: (1)Fig. 3. Armheben und Armschwingen seitwärts. (2)Fig. 4. Armkreisen (Mühle). (242) Arzneiliche Vergiftung vom Mastdarm oder von der Scheide aus und deren Verhütung. [Aus einem Artikel von Prof. C. Binz] (243) Die Massage bei chronischen Lungenaffektionen. (247) Ein Fall von vorzeitig beendeter (coupierter) Lungenentzündung. (248) Ein Heilbericht. [chronische Lungenentzündung, Hämorhoiden] (248) Zur Sozialhygiene. (249) An die Mitglieder des Altenburger Verbandes. (251) [Brief]: Berlin, 17. April 1893 [Bemühen um einen Weg der Einigung der Naturheil-Vereine] (252) Bundesnachrichten. Verzeichnis. Steuern. Vereine, für welche Aerzte gesucht werden. Bundesvorstand. Die Herren Lehrer in Sachsen [haben wegen Thätigkeit in den Naturheilvereinen auf disziplinarischem Wege eine Beeinträchtigung erfahren]. Aus den Vortragsgruppen. Aus den Vereinen. (253) Aus der Zeit. Thomas A. Edison [ist im Bezug auf alkoholische Getränke vollständig Temperenzler]. Der gesundheitsschädigende Einfluss der Nähmaschinenarbeit. Die v. Zimmermann'sche Naturheilanstalt in Chemnitz feierte Stiftungsfest. Betreffend die Zulassung von Nichtärzten zur Behandlung von Krankenkassenmitgliedern. Für Badegäste. Ueber das Heiraten früher tuberculös Erkrankter. Zur Schulhygiene. Weibliche Aerzte. Eine Riesen-Petition [7 500 000 Unterschriften für Verbot von berauschenden Getränken und Opium im ganzen britischen Reiche]. Zur Verdrängung des Alkohols. Wenn ein Spiel entartet! [Fussballspielzeit 1894/95 zwanzig Todesfälle, hunderte Schwerverletzte]. Von der freien Aerztewahl. Noch ein weiter Weg. "Jedem Deutschen wöchentlich ein Bad!", lautet die bekannte Forderung Pettenkofers. Der Central-Ausschuss für Jugend- und Volksspiele hielt seine diesjährige Versammlung ab. (258) Bücherschau. (261) Feuilleton. Das Naturheilverfahren im Altertum. Die Kleidung. Ruhe und Schlaf. Die geistige Pflege. (262) Briefkasten. (264) 23. Jahrgang. (Nr. 9. September / 1895) (Nr. 9. September 1895.) ([265]) Naturgemässe Behandlung der Gallensteine. ([265]) Vom Zimmerturnen. II. Rumpfübungen. 6. Rumpfbeugen vorwärts und rückwärts. 7. Rumpfbeugen seitwärts. 8. Rumpfkreisen. 9. Rumpfaufrichten. (267) [3 Abb.]: (1)Fig. 5 [Rumpfbeugen vorwärts und rückwärts.] (2)Fig. 6. [Rumpfbeugen seitwärts.] (3)Fig. 7. [Rumpfkreisen.] (268) [Abb.]: [Fig. 8. Rumpfaufrichten.] (269) Über Sandbäder. (Aus einem Vortrag des Herrn Dr. med. Grawitz.) (269) Sägen! [allgemein und örtlich empfohlen, Erschütterung des betroffenen Körperbezirkes, um Schmerzen zu beseitigen] (272) Aus der Anatomie und Physiologie. Die Haut. Bau der Haut. Hautdrüsen. Haare. Nägel. (273) [2 Abb.]: (1)Fig. 22. Durchschnitt durch die Haut (schematisch). a, b Oberhaut (a verhornter, b weicher Teil); c Lederhaut; d Unterhautbind- oder Fettgewebe; k Fetttröpfchen darin; e Papillen; m Schweissdrüsen; l Mündungen derselben (Poren). (2)Fig. 23. Durchschnitt durch die Haut mit Nerven und Blutgefässen (sehr stark vergrössert). (275) [2 Abb.]: (1)Fig. 24. Zwei Papillen mit Blutgefässschlingen u Nerven (schematisch). (2)Fig. 25. Verästelungen eines Nerven (Netze, Fasern, Knöpfchen), sehr stark vergrössert. (276) [Abb.]: Fig. 26. Durchschnitt durch die Haut mit Talgdrüse und dem untersten Stück eines Haares (sehr stark vergrössert). a, b, c, d, e, k wie in Fig. 22. l Haar; o Haarbalg; m Haarwurzel (oder Haarzwiebel); n Haarpapille (die Nährmutter des Haares); f arterielles Haargefäss, das der Haarpapille Blut zuführt; g venöses Gefäss, das das Venenblut aus der Papille aufnimmt; h Durchschnitt einer Talgdrüse; i deren Ausführungsgang in den Haarbalg; p Muskelband. (277) Die sogenannten Beschäftigungsneurosen. (279) Ein Heilbericht. [Sturz vom Baum. Patient konnte sich nicht mehr auf die Beine stellen, hatte Probleme mit Blase und Darm.] (281) Sprechsaal. (282) Bundesnachrichten. Verzeichnis. Steuern. Vereine, für welche Aerzte gesucht werden. Aus den Vortragsgruppen. Aus den Vereinen. (284) Aus der Zeit. Aus Württemberg. Josefine Jurik tot! Kneipp und die Naturärzte. Zur Frauenfrage. [Die erste Gymnasial-Abiturientin in Preussen. Fräulein Ziegler hat das Abiturienten-Examen am Gymnasium zu Sigmaringen gut bestanden.] Auch zur Sozialhygiene. "Sind künstliche Gebisse aus Militärfonds herzustellen?" Ein Bischofswort. ("Der Kampf gegen den Missbrauch geistiger Getränke, Mahnwort der schweizerischen Bischöfe" 1894.) Es fehlt ein Naturheilverein. Was bedeutet die Naturheilmethode für die Landbevölkerung? Ein Märtyrer Tolstoj'scher Ideen. [Der Militärarzt Albert Skarvan, Freund und Anhänger von Leo Tolstoi, der den Militärdienst aus Gewissensgründen verweigert, wird degradiert und inhaftiert. "Er darf die ärztliche Praxis in der österreichisch-ungarischen Monarie . nicht ausüben."] Folgen der Trunksucht. Nachahmenswert. [gegen Missbrauch geistiger Getränke] Zur geistigen Sozialhygiene. (292) Bücherschau. (295) Feuilleton. [Gedicht]: De beste Dokter. (296) Briefkasten. (296) 23. Jahrgang. (Nr. 10. Oktober / 1895) (Nr. 10. Oktober 1895.) ([297]) Aus Wissenschaft und Leben. Die Moral der Serum-Therapie. Eine grundsätzliche Schlussabrechnung von Spohr, Oberst a. D., Giessen. ([297]) Vom Zimmerturnen. III. Beinübungen. 10. Fusswippen. 11. Kniebeugen und -wippen. 12. Knieanreissen. 13. Beinheben und -spreizen seitwärts. 14. Beinkreisen. 15. Beinwerfen vor- und rückwärts. (303) [4 Abb.]: (1)Fig. 9. Knieanreissen. (2)Fig. 10. Beinheben und -spreizen seitwärts. (3)Fig. 11. Beinkreisen. (4)Fig. 12. Beinwerfen vor - und rückwärts. (304) Aus der Praxis. (Ein schwerer Fall von Diphtherie.) (305) Selbst geholfen. [Erhaltung eines Fingers dank Wasserbehandlung] (309) Ein delikates Kapitel. Ein Wort für Frauen von Minna Wettstein-Adelt, Charlottenburg. (310) Die Naturheilkunde im österreichischen Herrenhause. [Auszug aus einer Rede von Graf Curt Zedtwitz] (312) Sprechsaal. (317) Bundesnachrichten. Bundesvorstand. Verzeichnis. Steuern. Vereine, für welche Aerzte gesucht werden. Aus den Vortragsgruppen. Aus den Vereinen. [Trauernachricht aus New York: Herr William G. Schimmank]. "Verein der ausübenden Vertreter der Naturheilkunde" [Hauptversammlung in Halle a. S.] (318) Aus der Zeit. Eine neue Modethorheit [breiter elastischer Gürtel]. Ueber die Verwendung schulpflichtiger Kinder zum Kegelaufsetzen. Vom Reichsgericht. Wie merkwürdig! Ein Sklave [des Alkohols]. Arzt und Kurpfuscher. Ueber die Steilschrift. Landluft und Stadtluft. "Schweizervolk besinne Dich!" [Thema Alkohol] Auch ein Genuss [Nicht gewaschen! Wir haben ja Ferien!] Das Gähnen als Kur. Millionäre als Temerenzler. Ueber den Grafen Samuel Kemeny. Die Sünden der Eltern. [Bei Kranken in der Idiotenanstalt Krankheitsursache: Trunksucht der Eltern]. Der Begriff einer Privat-Krankenanstalt. (322) Bücherschau. (326) Feuilleton. (327) [Gedicht]: Priessnitz-Festlied. (Melodie: "Ich bin ein Preusse.") (327) Lesefrucht. O. Funke (aus "Brot und Schwert".) [Branntwein, Morphium] (328) Briefkasten. (328) 23. Jahrgang. (Nr. 11. November / 1895) (Nr. 11. November 1895.) ([329]) Aus Wissenschaft und Leben. Altes und Neues aus der Mappe eines Naturarztes. I. ([329]) Vom Zimmerturnen. IV. Zusammengesetzte Bewegungen, deren Wirkungen sich über den ganzen Körper verbreiten. 16. Armwerfen rückwärts und vorwärts. 17. Armwerfen seitwärts. 18. Schnitterbewegung. 19. Sägebewegung. 20. Axthauen. (333) [2 Abb.]: (1)Fig.13. Armwerfen rückwärts und vorwärts. (2)Fig. 14. Armwerfen seitwärts. (-) [Abb.]: Fig. 15. Schnitterbewegung. (334) [2 Abb.]: (1)Fig. 16. Sägebewegung. (2)Fig. 17. Axthauen. (335) Wie man vor 200 Jahren gegen den Alkohol kämpfte. (336) Ein halbes Jahr unter der Herrschaft der physikalisch-diätetischen (Naturheil-) Methode. (337) Wieder ein Zugeständnis! (340) Ein delikates Kapitel. Zwei Ergänzungen. (341) Geistesstörung durch das Naturheilverfahren geheilt. (343) Ein Fall von Epilepsie. (344) Sprechsaal. (345) Bundesnachrichten. Aus der gemeinschaftlichen Sitzung des Bundesvorstandes und des Beirates. Verzeichnis. Steuern. Vereine, für welche Aerzte gesucht werden. Aus den Vortragsgruppen. Aus den Vereinen. (346) Aus der Zeit. Professor Rosenbach und die Massregelung unserer Aerzte. Zur Impffrage. Aus dem Reiche des Alkohols. An die deutschen Aerzte, welche Temperenzler sind. Weibliche Gesundheits-Inspektoren. Zur Sozialhygiene. Eine heitere Verspottung. (355) Bücherschau. (357) Feuilleton. (358) Der Berliner Tierschutz-Verein [giebt einen Kalender und ein Lesebüchlein heraus.] (358) Kneippianer. (359) [Abb.]: eine Bärenmutter mit zwei kleinen Bärenkindern (359) Briefkasten. (360) 23. Jahrgang. (Nr. 12. Dezember / 1895) (Nr. 12. Dezember 1895.) ([361]) Aus Wissenschaft und Leben. Die Behandlung von Frauenleiden durch Massage. ([361]) Vom Zimmerturnen. IV. Zusammengesetzte Bewegungen, deren Wirkungen sich über den ganzen Körper verbreiten. 21. Stabüberheben. 22. Stab auf- und übersteigen. 23. Armbeugen und -strecken im Liegestütz. (364) [Abb.]: Fig. 18 Stabüberheben. Einatmen beim Heben; Ausatmen beim Senken. (364) [2 Abb.]: (1)Fig.19. und (2)Fig. 20. Stabüberheben. (365) [3 Abb.]: (1)Fig. 21. und (2)Fig. 22. Stab auf- und übersteigen. (3)Fig. 23 a. Armbeugen und -strecken im Liegestütz. (366) [Abb.]: Fig. 23 b. Armbeugen und -strecken im Liegestütz. (367) Aus Wissenschaft und Leben. Altes und Neues aus der Mappe eines Naturarztes. II. (369) Fröhliche Frauen. (371) Aus der Praxis. (375) Sprechsaal. (376) Bundesnachrichten. Bundesvorstand. Verzeichnis. Steuern. Vereine, für welche Aerzte gesucht werden. Aus den Vortragsgruppen. Aus den Vereinen. (377) Aus der Zeit. Zur Impffrage. Auch ein Beitrag zur Impffrage. "Staatliche Anerkennung der Gleichberechtigung der Naturheilmethode mit der Schulmedizin". Ein Prozess gegen Dr. Voigt, Frau M. Voigt und Dr. Boden. Engherzigkeit. Auch ein Kassenarzt. Alkohol in Afrika. Für Buchdrucker. "Luftprüfer für Fabriken". Aus Zürich. (382) Bücherschau. (386) Feuilleton. (388) Auf der Reise. (388) Ein Tyrann. (391) Briefkasten. (392) Einband ( - ) Einband ( - )
Die Comparative Study of Electoral Systems (CSES) ist eine weltweite Kooperation von Wahlforschern. Teilnehmende Länder implementieren einen einheitlichen Fragenkomplex in ihre Nachwahlstudien. Die erhoben Daten umfassen das individuelle Wahlverhalten, politische Einstellungen und sozio-demographische Merkmale sowie Angaben zu den Wahlbezirken, den nationalen Wahlergebnissen und dem nationalen politischen System. Die einzelnen Länderstudien werden in einen gemeinsamen Datensatz integriert und stehen der Wissenschaft für vergleichende und länderübergreifende Untersuchungen frei zur Verfügung.
Das CSES-Projekt konzentriert sich auf das Verhalten und die Einstellungen von Befragten während einer nationalen Wahl, wobei der Schwerpunkt auf Abstimmung und Wahlbeteiligung liegt. Jedes CSES-Modul besteht aus einer national-repräsentativen Umfrage nach den Wahlen und zusätzlichen Variablen über den Kontext des Landes und des Wahlsystems, in dem sich die Befragten befinden. Alle fünf Jahre wird ein neues CSES-Modul mit einem anderen inhaltlichen Thema entwickelt, das für die Behandlung wesentlicher Fragen der Wahl- und Sozialwissenschaften ausgewählt wurde.
CSES Modul 5 konzentriert sich auf die Untersuchung der so genannten ´populistischen Einstellungen´ in der Bevölkerung und wie sie das Wahlverhalten beeinflussen. Es konzentriert sich auf die Messung von drei Kernthemen: Einstellungen gegenüber politischen Eliten, Einstellungen gegenüber repräsentativer Demokratie und Mehrheitsregierung sowie Einstellungen gegenüber Außengruppen.
Weitere Informationen zum Thema des Moduls 5 finden Sie in der theoretischen Erklärung zum CSES-Modul 5, die auf der CSES-Website verfügbar ist.
Themen:
DATEN AUF MIKROEBENE:
Identifizierungs- und Studienadministrationsvariablen: Gewichtungsfaktoren; Art der Wahl; Datum der Wahl der ersten und zweiten Runde; Zeitpunkt der Studie (Nachwahlstudie, Vor- und Nachwahlstudie, zwischen den Runden der Mehrheitswahl); Studienkontext (CSES als Teil einer größeren Studie oder als eigenständige Studie durchgeführt); Art des Interviews; Selbstauswahl Interviewmodus; Dauer des Interviews; Interviewer-ID; Geschlecht des Interviewers; Anzahl der Tage nach der Wahl für den Beginn der Datenerhebung; Dauer der Feldarbeit; Datum des Fragebogens; Anzahl der Tage, an denen das Interview nach der ersten und zweiten Wahlrunde durchgeführt wurde; Sprache der Fragebogenadministration; Fragebogenversion.
Demographie: Geburtsjahr und -monat; Geschlecht; Bildung; Familienstand; Gewerkschaftszugehörigkeit; aktueller Erwerbsstatus; Hauptberuf; sozioökonomischer Status; Beschäftigungsart - öffentlich oder privat; Haushaltseinkommen; Anzahl der Personen im Haushalt; Kirchgangshäufigkeit; Konfession; Sprache, die üblicherweise zu Hause gesprochen wird; Wohnregion; Rasse; ethnische Zugehörigkeit; ländlicher oder städtischer Wohnsitz; Hauptwahlkreis; Geburtsland; Migrationshintergrund.
Umfragevariablen: politisches Interesse; Interesse an der Politik in den Medien; innere Wirksamkeit; Einstellung zu politischen Eliten; Einstellung zu Außengruppen (Minderheiten sollten sich den Bräuchen und Traditionen des Landes anpassen, der Wille der Mehrheit sollte immer vorherrschen, Einwanderer sind im Allgemeinen gut für die Wirtschaft des Landes, die Kultur des Landes wird generell von Einwanderern geschädigt, Einwanderer erhöhen die Kriminalitätsrate); Kriterien für nationale Identität (z.B. im Land geboren, Abstammung, Landessprachen sprechen können, Bräuche und Traditionen des Landes befolgen); Verbreitung von Korruption; Regierungsmaßnahmen: Forderung nach Regierungsmaßnahmen zum Abbau von Einkommensunterschieden; Einstellung gegenüber Umverteilung; Bewertung der Leistung der Regierung im Allgemeinen; Parteien, die die Ansichten des Befragten vertreten; Partei, die die Ansichten des Befragten am besten vertritt; Zustand der Wirtschaft; Befragte hat bei der aktuellen und der vorherigen Wahl eine Stimme abgegeben; Wahl (Präsidentschafts-, Unterhaus- und Oberhauswahlen) bei der aktuellen und der vorherigen Wahl; Befragte hat bei der aktuellen Wahl eine Vorzugsentscheidung abgegeben; Stimmenwahl für die scheidende Regierung bei der aktuellen Hauptwahl; Unterschied, wer an der Macht ist und für wen die Menschen stimmen; Sympathie-Skala für ausgewählte Parteien und politische Führer; Bewertung von Parteien auf einer Links-Rechts-Skala und einer optionalen alternativen Skala; Selbsteinschätzung auf der Links-Rechts-Skala und einer optionalen alternativen Skala; Demokratiezufriedenheit; Nähe zu einer politischen Partei; Parteiidentifikation; Partei, der sich der Befragte am nächsten fühlt; Intensität der Parteiidentifikation.
DATEN AUF BEZIRKSEBENE:
Anzahl der im Wahlkreis/ bundesweiten Wahlkreis umkämpften Sitze; Anzahl der Kandidaten (Bezirk/ bundesweiter Wahlkreis); Anzahl der Parteienlisten (Bezirk/ bundesweiter Wahlkreis); Prozentsatz der Stimmen verschiedener Parteien (Wahlkreis/ bundesweiter Wahlkreis); offizielle Wahlbeteiligung im Wahlkreis/ bundesweiter Wahlkreis.
DATEN AUF MAKROEBENE:
Wähleranteil oder Bevölkerung im Wahlkreis / bundesweiten Wahlkreis; Wahlergebnisse der Parteien bei der aktuellen Parlamentswahl (Unterhaus/Oberhaus); Prozentsatz der Sitze im Unterhaus bei den Parteien bei der aktuellen Unterhauswahl/Oberhauswahl; Prozentsatz der Sitze im Oberhaus bei den Parteien bei der aktuellen Unterhauswahl/Oberhauswahl; Prozentsatz der Stimmen bei den Präsidentschaftskandidaten der Parteien bei den laufenden Wahlen; Wahlbeteiligung (in Prozent der registrierten Wähler/des Wahlalters der Bevölkerung); Wahlmanagement: Wahlverwaltungsmodell (unabhängiges Organ, Regierung, gemischt); obligatorische Wählerregistrierung; Art der Stimmabgabe; Partei des Präsidenten und des Premierministers vor und nach der Wahl; Anzahl der von jeder Partei im Kabinett gehaltenen Portfolios, vor und nach der letzten Wahl; Größe des Kabinetts nach der letzten Wahl; ideologische Parteifamilien; von Experten zugewiesene Links-rechts-Position der Parteien und alternative Dimensionen; Populismus nach Parteien; Populismus-Skala der Parteien; die wichtigsten Faktoren bei der Wahl; Fairness der Wahl; formelle Beschwerden über Ergebnisse auf nationaler Ebene; gemeldete Wahlunregelmäßigkeiten; geplantes und durchgeführtes Wahldatum; Unregelmäßigkeiten des Wahltermins; Ausmaß der Gewalt bei der Wahl und nach den Wahlen; geografische Konzentration der Gewalt; Protest nach den Wahlen; während des Wahlkampfes zulässige Wahlbündnisse; Wahlbündnisse in der Praxis; Bildung von Wahlbündnissen; Anforderungen an gemeinsame Parteienlisten; Möglichkeit der Anerkennung und Art der Anerkennungsvereinbarung; mehrheitliche Befürwortung der Abstimmung; abgegebene Stimmen; Abstimmungsverfahren; Abstimmungsrunden; Parteienlisten geschlossen, offen oder flexibel; übertragbare Stimmen; kumulierte Stimmen, wenn mehr als eine Stimme abgegeben werden kann; Pflichtabstimmung; Parteienschwelle; Einheit für die Schwelle; Freedom House Rating; Alter des derzeitigen Systems; Regime: Art der Exekutive; Anzahl der Monate seit der letzten Unterhauswahl und den letzten Präsidentschaftswahlen; Wahlformel für Präsidentschaftswahlen; Wahlformel in allen Wahlstufen (mehrheitlich, proportional oder gemischt); für Unter- und Oberhäuser wurde kodiert: Anzahl der Wahlsegmente; vernetzte Wahlsegmente; abhängige Formeln in gemischten Systemen; Subtypen der gemischten Wahlsysteme; Bezirksgröße (Anzahl der aus jedem Bezirk gewählten Mitglieder); Anzahl der sekundären und tertiären Wahlkreise; Anzahl der Sitze über dem ersten Segment (Unterhaus); fusionierte Abstimmung; Größe des Unterhauses; verfassungsmäßige föderale Struktur; Anzahl der Parlamentskammern; Anteil der Frauen im Parlament; Parteienfinanzierung: direkte oder indirekte öffentliche Finanzierung; Anzahl der an den Wahlen teilnehmenden Parteien; effektive Anzahl der Wahlparteien und Parlamentsfraktionen; direkte Demokratie (Referendum obligatorisch, optional, durch Bürgerinitiative, Referendumsergebnis verbindlich oder konsultiv); Freiheitsgrad des Freedom House im Land zu drei Zeitpunkten (Wahljahr, ein Jahr vor der Wahl und zwei Jahre vor der Wahl); Bewertung der Demokratie-Autokratie-Politik IV; Gini-Koeffizient des verfügbaren Einkommens im Jahr der Wahl; BIP-Wachstum (in Prozent pro Jahr - Weltbank); BIP pro Kopf; Inflation, BIP-Deflator (in Prozent pro Jahr); Verschuldung der Zentralregierung, insgesamt (in Prozent BIP); Human development index; Gesamtbevölkerung; Arbeitslosenquote (in Prozent der gesamten Erwerbsbevölkerung); Arbeitslosenquote für Personen im Alter von 15-24 Jahren (in Prozent der gesamten Erwerbsbevölkerung); Land unterliegt bei Wahlen der Konditionalität des Internationalen Währungsfonds; Transparency International Index für die Wahrnehmung der Korruption; Index für die Kontrolle der Korruption; Beurteilung des öffentlichen Sektors durch Experten: Unternehmen, die den Beamten die vorteilhaftesten Bestechungsgelder bieten; Angestellte des öffentlichen Dienstes und wie sie die Gesellschaft behandeln; Häufigkeit, mit der Angestellte des öffentlichen Dienstes Fälle unparteiisch behandeln und nach Einhaltung der Regeln streben; Nettomigrationsrate (2000-2005, 2005-2010, 2010-2015, 2015-2020); Bevölkerung nach Staatsangehörigkeit: Prozentsatz der Bevölkerung, die Bürger, Ausländer oder unbekannter Staatsangehörigkeitsstatus sind; sprachlicher Fraktionierungsindex; religiöser Fraktionierungsindex, ethnischer Fraktionierungsindex; Fragmentierungsindex des Gemeinwesens; Prozentsatz der Personen, die das Internet nutzen; Mobilfunkabonnements pro 100 Einwohner; feste Telefonleitungen pro 100 Einwohner; Parteiidentifikationscodes aus dem Manifesto Research on Political Representation Project (MARPOR/CMP); Parteiidentifikationscodes aus dem Parliament and Government Database (ParlGov) project.