Aufsatz(elektronisch)16. November 2022

Digitale Souveränität und relationale Subjektivität: Neue Leitbilder für die Medienpädagogik? Editorial

In: Merz Medien + Erziehung: Zeitschrift für Medienpädagogik, Band 66, Heft 6, S. 3-12

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Abstract

Medienpädagogische Zielsetzungen und Menschenbilder sind stets Konjunkturen unterworfen und haben sich im Laufe der Zeit immer wieder gewandelt. Im Call for Papers für dieses Themenheft haben wir gefragt, ob wir heute wiederum an einem solchen Punkt stehen, und es angesichts von Datafizierung, algorithmischer Kultur und Künstlicher Intelligenz neuer, veränderter medienpädagogischer Leitbilder bedarf. Leitbilder können im klassischen Verständnis begriffen werden "als normierende Vorgriffe zur Steuerung der individuellen Lebensführung wie auch sozialer Prozesse" (Pongratz 2010 [1995], S. 165). Sie dienen im pädagogischen Kontext als gesellschaftlich legitimierte Blaupause zur "Verbesserung des Lebens" (ebd.), beanspruchen insofern normative Gültigkeit und dienen als Bezugspunkt theoretischer und praktischer Debatten. Angesichts der Omnipräsenz digital-medialer Veränderungsprozesse scheint es angebracht, die vorherrschenden Setzungen kritisch zu beleuchten und auf ihre Aktualität zu prüfen.
Insbesondere haben wir im Rahmen des Calls dazu eingeladen, den Begriff der Souveränität (neu) auszubuchstabieren und zu hinterfragen, da sich entlang dieses Konzepts aktuell eine ebensolche medienpädagogische Leitbilddiskussion aufspannt. Dabei war unsere Intention eine doppelte: Einerseits wollten wir den aktuellen, maßgeblich ökonomisch und technologisch signierten Diskurs (z. B. bitkom 2019) um 'Digitale Souveränität' medienpädagogisch betrachten und wenden. Andererseits wollten wir vor dem Hintergrund veränderter Mensch-Technik-Balancen mit dem Begriff der Souveränität verknüpfte Ideale wie Mündigkeit, Autonomie und Handlungsfreiheit befragen. Vereinfacht drückt sich in diesen Idealen die normativ erwünschte Fähigkeit sozialer Entitäten aus, durch Entscheidungen und Handlungen gestaltend Einfluss auf ihre Umwelten nehmen zu können, womit auch klassische pädagogische Ideale adressiert werden. Diese tradierte Souveränitätsfiktion, die demokratietheoretisch weiterhin der Idee von Bürgerschaft zugrunde liegt, wird sozialtheoretisch freilich seit langem als 'naiv' angezweifelt: Von kritischer Theorie bis Poststrukturalismus wurde in unterschiedlicher Form dargelegt, inwiefern Handlungsfreiheit immer schon als bedingt und innerhalb von Machtgefügen betrachtet werden muss. Medienbezogen zeigt sich Souveränität heute zunehmend aber auch empirisch angezählt: angesichts der gewachsenen Konkurrenz technischer Systeme und Plattformen, die für uns entscheiden oder uns Empfehlungen geben, die qua strategischer Intransparenz Dystopien des Souveränitätsverlusts nähren; angesichts digitaler Medienökologien, die aktuelles Medienhandeln mit Mustern vergangenen Handelns in Verbindung setzen und denen Prognosen künftigen Handelns eingeschrieben sind; sowie durch mediale Komplexität, die verunsichert und einen Bedarf nach Kontingenzreduktion evoziert.
Wenngleich die Debatte um Zielrichtungen, Ideale und Menschenbilder nicht neu ist (siehe etwa merzWissenschaft 2017), so erscheint sie angesichts dieser Entwicklungen doch aktueller denn je. Sowohl im Hinblick auf die medienpädagogische Praxis als auch im Bereich der Forschung ergeben sich Herausforderungen, die eine (Neu-) Positionierung und ein Hinterfragen bestehender Prämissen erfordern. Insofern lässt sich diese Ausgabe der merzWissenschaft als Versuch verstehen, die laufenden Debatten aufzugreifen und fokussiert fortzuführen. Diese Einführung in das Themenheft ist insbesondere von einer Beobachtung geprägt, die wir aufgreifen und vertiefen möchten: In vielen der hier versammelten Beiträge spielen Semantiken des Relationalen eine Rolle, um die Herausforderungen gegenwärtiger Digitalmedien und Dateninfrastrukturen mit Blick auf Fragen der Souveränität adäquat zu beschreiben. Wie Neuberger in ihrem Beitrag treffend feststellt, berührt "der Diskurs um digitale Souveränität [...] auch die Frage nach dem Subjektbegriff in der Medienpädagogik, weil mit der Personzentrierung die Vorstellung mitgeführt wird, dass Subjekte Ursprung von Handlungen sind". In dieser Einführung möchten wir nun skizzieren, welche Konzepte relationaler Subjektivität hierbei entworfen werden und inwiefern in den Beiträgen ein relational turn zur Geltung kommt, der seit einiger Zeit auch in anderen Disziplinen und Fachbereichen diskutiert wird1. Darüber hinaus wird es auch darum gehen, an welcher Stelle tradierte Subjektkonzepte zum Tragen kommen und in welcher Form auch hier die Frage nach relationalen Verhältnissen von zunehmender Bedeutung ist.
Vom schwachen zum starken zum relationalen Subjekt?
Als Disziplin, die sich mit Lern-, Bildungs-, Sozialisations- und Erziehungsprozessen befasst, kommt die Medienpädagogik nicht umhin, ihre ontologischen Vorannahmen ebenso wie ihre normativen Zielsetzungen zu reflektieren (Swertz et al. 2017; Trültzsch-Wijnen 2017). Seit den späten 1970er Jahren bildet die Vorstellung des "starken Subjekts" (Taube et al. 2017; Wagner 2013) einen zentralen normativen Rahmen des medienpädagogischen Menschenbildes (Kammerl 2017). Das Doppeltheorem der kommunikativen Kompetenz (Baacke 1973) setzt eine empirische Souveränität der Subjekte voraus, verstanden als die ihnen gegebene Fähigkeit (medial) zu kommunizieren. Diese Fähigkeit wird mit dem normativen Erwartungshorizont verknüpft, die in ihren Grundlagen gegebene Kompetenz des Zeichengebrauchs im jeweils gegebenen kulturellen und gesellschaftlichen Kontext weiter auszubilden, entsprechend pädagogischer Zielsetzungen zu entfalten und zu fördern. Diese doppelte Klammer aus Befähigt-Sein und Befähigt-Werden ist zumindest für jenen Teil der Medienpädagogik, der sich als Handlungswissenschaft versteht, tief in das professionelle Selbstverständnis eingeschrieben (Schorb 2011).
Brüggen/Lauber/Schober erinnern in ihrem Artikel daran, dass diese Handlungsorientierung in den 1970er Jahren gegen den Mainstream der damaligen Bewahrpädagogik erkämpft wurde; nicht zuletzt in produktiver Wendung der bis dato dominanten, kulturpessimistischen Deutungen der Massenmedien als bloße Kulturindustrie und ohnmächtigen, schutzlosen Massenpublika. In den 1980er und 90er Jahren konnte sich die mit gewendetem Menschen- und Medienbild versehene handlungsorientierte Medienpädagogik zur sozialtheoretischen Avantgarde einer interaktionistischen Sozialisationsforschung zählen, die die 'Agency' der Subjekte – nach Jahrzehnten strukturalistischer Dominanz – sichtbar machte. 'Stark' waren diese Subjekte nicht, weil sie (mithilfe medienpädagogischer Intervention) alles konnten, wussten oder sich vollkommen frei von Handlungszwängen machen konnten, sondern weil ihnen theoretisch wie praktisch emanzipatorische Potenziale zugeschrieben wurden und weil der Glaube vorhanden war, durch individuelle wie kollektive Freisetzung von Gestaltungsmacht Veränderung zu bewirken, um zum Beispiel eine andere Öffentlichkeit herzustellen.
Das Ideal einer souveränen Lebensführung bedeutete demnach, auf Basis und in Anerkennung des Bestehenden, fähig zu sein, eigene Positionen zu entwickeln, sich mithilfe von Medien Gehör zu verschaffen, sich in Debatten einzuschalten, kulturell etablierte Formen der Mediennutzung und -aneignung in den eigenen Alltag zu integrieren, sie dabei ab-zuändern, kreativ umzuprägen. Deutlich wird jedoch, dass die Vorstellung vom starken Subjekt oft eine individualtheoretische Konnotation aufweist, die etwa in einer kantianischen Theorietradition steht und das Subjekt über die dualistische Abgrenzung gegenüber dem Objekt definiert (Künkler 2014). In der Tendenz wird das Subjekt dabei als "Individuen-Entität" (Reckwitz 2012, S. 16) gefasst und gilt – je nach theoretischer Ausformung – beispielsweise aufgrund seiner Vernunftbegabung, seiner Körperlichkeit, seiner Reflexions- oder seiner Handlungsfähigkeit als generatives Zentrum von Sozialität.
Wenn vor diesem Hintergrund, im Sinne einer Neuorientierung des Leitbilds, nun Relationali-tät als Beschreibungskategorie betont wird, ist das begründungsbedürftig. Sowohl das 'starke' als auch das 'schwache Subjekt' sind nicht ohne das Beziehungsgeflecht zu denken, innerhalb dessen sie hervorgebracht werden. Aus unserer Sicht läuft daher die zu findende retrospektive Etikettierung tradierter medienpädagogischer Positionen als orientiert an rein monadisch-atomistischen Subjektverständnissen oder an Idealen vollständiger oder absoluter Souveränität fehl. Dennoch handelt es sich beim Plädoyer für einen stärkeren Relationalitätsbegriff um eine tatsächliche Verschiebung, um mehr als rhetorische Neuetikettierung. In der Kultur der Digitalität, so etwa Engel/ Mayweg/Carnap in ihrem Beitrag, sei Handlungsmächtigkeit "stets eine verteilte Mächtigkeit, sie findet als 'Effekt' verschiedener Akteur*innen und Aktanten statt." Mit Leineweber/ Zulaica y Mugica gesprochen geht es um eine "nicht-naive Reaktualisierung des Begriffs der Souveränität". Überblickend lässt sich ablesen, dass ein soziotechnisch informiertes Denken vielfach als besonders relevant erachtet wird. Eingearbeitet in das Subjektverständnis und die Vorstellung von Medienhandeln respektive Me-dienpraxis wird (metaphorisch und personifizierend gesprochen) die Figur eines Daten-Selbst, mit dem die Subjekte wissentlich oder unwissentlich beständig in Interaktion stehen (Schelhowe 2020; Cheney-Lippold 2019). Dieses Daten-Selbst präformiert und beeinflusst unsere Erfahrungsräume, unabhängig von den anderen sozialen und kulturellen Kontexten als Ebenen von Relationalität, die medienpädagogisch immer schon Beachtung fanden.
Bevor wir verschiedene Argumentationslinien skizzieren, die verdeutlichen, wie Relationalität und Subjektivität als relevante Bezugskategorien für Fragen der (digitalen) Souveränität in den Beiträgen aufscheinen, möchten wir eine historische Entwicklung sichtbar machen, die aus unserer Sicht Anhaltspunkte bietet, warum Relationalität als konzeptuelle Perspektive gerade jetzt paradigmatisch zu werden scheint. Unsere These ist hierbei, dass die technisch-medialen Umwälzungen und kultur- und sozialwissenschaftliche Re-Orientierungen bzgl. Subjektwerdung und humaner Handlungsmacht in der Gegenwart konvergieren. Anhaltende sozialtheoretische (Subjekt-)Kritik und faktische Technologisierung entfalten ihre persuasive Kraft also zusammen (Abb. 1). Besonders seit dem Aufkommen datenintensiver digitaler Plattformen erscheint es – nicht zuletzt aufgrund der opaken Konstitutivität von Mensch-Algorithmen-Verkettungen, wie Ernst in seinem Beitrag deutlich macht – zunehmend schwierig, unmittelbare Anknüpfungspunkte für medienpädagogisches Handeln zu finden, welches dem Idealbild des souveränen Subjekts anhängt (Eder et al. 2017). Medientechnologische Innovationen und zugehörige Prozesse, etwa der Datafizierung, sind damit ein wesentlicher Bestandteil der Bestimmung von Möglichkeiten und Grenzen pädagogischen Handelns. Im Zuge dessen scheint eine Infragestellung bewährter Subjektvorstellungen angebracht, welche implizit und teils auch explizit medienpädagogischen Diskussionen zugrunde liegen.
Gerade in jüngeren Ansätzen relationaler Subjektivität kommt eine Wende dergestalt zum Ausdruck, dass den Relationen ontologischen Vorrang gegenüber den Relata eingeräumt wird (Künkler 2014, S. 27). Dieser Denkansatz – der unter anderem auf die Arbeiten des Soziologen Norbert Elias (1970) rekurriert, sich aber auch in jüngeren Debatten um posthumanistische Ansätze (Braidotti 2015) oder neomaterialistische Positionen (Hoppe/ Lemke 2021) findet – geht also nicht a priori von Entitäten aus, die in einer bestimmten Art und Weise zueinander in Beziehung stehen, sondern dreht dieses Verhältnis um und betrachtet zuallererst die "Beziehungsweisen und Bezogenheiten" (Krautz 2017). Diesen wird generative Kraft zugeschrieben, erst durch die spezifische Ausprägung der relationalen Verhältnisse werden Manifestationen möglich. Ein so verstandenes 'relationales Subjekt' darf nicht als substanzialistische Entität missverstanden werden, sondern lässt sich vielmehr als unabschließbarer Formierungsprozess heterogener Verwoben-heiten und unterschiedlicher Bindungsqualitäten mit der Fähigkeit zur temporären Stabilisierung durch Wiederholung begreifen (Seyfert 2019, S. 107 ff.). Die Beiträge in dieser Ausgabe weisen hier in unterschiedliche Richtungen: Einerseits wird Relationalität im Anschluss an klassische Subjektkonzepte als etwas beschrieben, innerhalb dessen Subjekte sich handelnd bewegen und entwerfen. Andererseits entwickeln manche Autor*innen Konzepte 'relationaler Subjekte', die sich – durchaus als Fortführung poststrukturalistischer Denklinien – deutlicher von traditionellen Vorstellungen des Subjekts lösen, indem sie Relationalität primär im Sinne einer Prozessontologie verstehen, sich von dualistischen und individualtheoretischen Ansätzen abgrenzen und wesentlich offensiver die Bedeutung hybrider Subjektivierungsweisen in den Vordergrund rücken.
Subjektivität, Digitalität und Souveränität: Drei Argumentationslinien
Mit den vorangegangenen Ausführungen wurde deutlich, dass für deskriptiv-analytisch wie für normativ ausgerichtete Fragen nach Souveränität die jeweils zugrunde gelegten Subjektverständnisse maßgeblich sind. In den Beiträgen sehen wir drei größere Argumentationslinien, die gemünzt auf konkrete Gegenstände durchaus ineinandergreifen. Die ersten beiden Argumentationslinien knüpfen dabei vielfach an bestehende medienpädagogische Orientierungen an, reagieren jedoch mit einer Verstärkung relationaler Sichtweisen auf die Diagnosen veränderter medialer Umwelten. Die dritte Argumentationslinie, noch eher im Status von Theorieentwürfen durchgespielt, nutzt die Diagnosen hingegen, um das Subjektverständnis selbst nachhaltig zu refigurieren.
Mitgestalten, stören, spielen: Handeln in relationalen Verhältnissen als Quelle der Unruhe
In der ersten Argumentationslinie steht der Anspruch, auch unter veränderten Spielregeln den Raum für Reflexion und Mitgestaltung möglichst weit offen zu halten, im Mittelpunkt. Im Grunde handelt es sich um die Verlängerung des medienpädagogischen Credos, Emanzipation und Mitbestimmung zu ermöglichen, und wo möglich, systemische Prädispositionen kreativ zu stören bzw. umzuarbeiten. Sich seiner Schwäche und digitalen Vulnerabilität bewusst, erschöpft sich das in relationalen Verhältnissen handelnde Subjekt auch unter der Bedingung permanenter Datafizierung und durchökonomisierter Medienumgebungen nicht in der Rolle passiv-aktiver Funktionserfüllung. Hier schimmert die "Sozialfigur des Hackers" (Funken 2010) durch, zu deren Souveränitätsfiktion gehört, innerhalb datenbasierter Umwelten humane Agency und Gestaltungskraft zu bewahren. In diese Argumentationslinie fallen zum einen Positionen, die die Gemachtheit technischer Systeme betonen, zuvorderst also: ihre Gestaltung durch Menschen, und entsprechend stark machen, dass diese Systeme potenziell anders beschaffen sein könnten und sollten. Anstatt also Ohnmacht zu akzeptieren, wird das humane Momentum und die individuelle und kollektive Verantwortung, für eine andere Medien- und Datenwelt einzutreten, scharf gestellt. Im vorliegenden Heft argumentieren beispielsweise Raffel, Allert und Richter in diese Richtung. In Relektüre von Ansätzen aus der informatorischen Bildung sowie von Critical Data Literacy leiten sie eine umfassende "Mitgestaltungskompetenz" ab. Hierbei betonen sie unter anderem die Bedeutung von Folgenabschätzungen, die "nicht-intentionale Effekte" sowie die "strukturelle Unbeherrschbarkeit von Software auch für jene, die sie produzieren" mitdenken.
Darüber hinaus wird diese Konzeption der Einbindung des Subjekts in relationale Verhältnisse auch nicht-technisch als reflexive und mitunter widerspenstige, unberechenbare Instanz diskutiert (siehe dazu auch merzWissenschaft 2021). Um in dieser Weise wirksam zu werden, braucht es allerdings Methoden, um die für digitale Medien und Infrastrukturen charakteristische Intransparenz und Opazität in Manifestationen zu überführen, welche für die Subjekte greifbar sind. "Digital doubles", so Herzig/Sarjevski/Hielscher in Rekurs auf Bode und Kristensens Studie zur Quantified Self-Bewegung, sind nicht nur Werkzeuge von Vermarktung und Überwachung, sondern auch potenzielles "Element der reflexiven Auseinandersetzung mit dem Selbst", das einen "kontinuierlichen Dialog" zwischen dem "Ich und dem anderen Ich" (der selbstbezogenen Daten, erfahrbar z. B. durch Visualisierung) ermögliche. Einige Beiträge in diesem Themenheft nehmen hierbei Anleihen aus der Ästhetiktheorie: Leineweber/Zulaica y Mugica werben auf Basis eines ästhetisch orientierten Verständnisses von Souveränität für eine Medienpädagogik, die hilft zu erkennen, dass das sozialtechnologische Versprechen, "die Welt durch Daten beherrschbar zu machen" nicht mehr ist als eine "ästhetische Choreografie des Souveränen durch digitale Berechnungen", deren Kern im Grunde an-ästhetisch ist, weil sie Reflexion, Reibung, Ungewissheit, Aushandeln, das Ringen um Begründung zum Erliegen bringt. Wiedel/Dietrich/ Knieper wiederum beziehen sich auf den Governance-Ansatz, um eine Vorstellung von "strategischer Autonomie" zu etablieren. Aufgabe der Medienpädagogik sei es, Subjekte zu befähigen, bestehende "Handlungskorridore situativ zu erkennen und darin selbstbestimmt sowie wertgebunden eigene Handlungsentscheidungen zu treffen.
Regieren, verbünden, quervernetzen: Relationalität als politisches Konzept
In der zweiten Argumentationslinie steht Relationalität für ein Konzept politischen Handelns, wonach Souveränität nur (noch) im Zusammenspiel verschiedener Instanzen zu erreichen ist. Für die Medienpädagogik bedeutet das in erster Linie, neue Allianzen zu formen und bestehende zu intensivieren, wie das im Wechselspiel mit politischer Bildung, informatorischer Bildung sowie Medienrecht/-politik bereits getan wird. Auch hier geht es nicht zwingend darum, das Subjektverständnis der Medienpädagogik im Vergleich zu früheren Ansätzen gänzlich in Frage zu stellen. Vielmehr heben die Autor*innen hervor, dass traditionelle Vorstellungen von Medienkompetenz Gefahr laufen, das Individuum ebenso wie die Medienpädagogik mit Ansprüchen zu überfrachten, die beide nicht einlösen können; und umgekehrt Verantwortung, die bei anderen Instanzen liegt, an das Subjekt zu delegieren. In diesem, negativen Sinn beschreibt 'di-gitale Souveränität' eine Subjektivierungsform, die im schlimmsten Fall vortäuscht, mit etwas Training und Qualifizierung wären die befürchteten Souveränitätsverluste schon irgendwie auszugleichen.
Dem wird ein (politisches) Verständnis von Relationalität gegenübergestellt, das verschiedene Ebenen durchkreuzt und mehrere Instanzen kombiniert. Herzig/Sarjevski/Hielscher etwa argumentieren, dass algorithmische Entscheidungssysteme Formen der Intransparenz beinhalten, die Subjekte mit noch so großer Anstrengung allein nicht überwinden können. Darauf aufbauend beschreiben sie ein relationales Instanzen-Gefüge mit drei Seiten, bestehend aus kompetenten Nutzer*innen (transparency by education), um Transparenz und Nachvollziehbarkeit bemühte Softwareunternehmen (transparency by design) sowie um politische und rechtliche Institutionen, die regulativ eingreifen (transparency by regulation). Diese Stoßrichtung relationaler Semantik schreibt hier im Grunde fort, was Medienpädagogik insbesondere im Bereich des Jugendmedienschutzes schon lange versucht: ein konzertiertes Zusammenspiel aus Kompetenz- und Bildungsarbeit auf individueller Ebene, Eigenverantwortung und Selbstorganisation auf Seiten der Medienanbieter*innen (FSK, FSF, USK usw.) sowie rechtliche Rahmen und Durchsetzungsorgane bei Verstößen. Waldecker wiederum hält in seinem Beitrag fest, dass es begriffliche Alternativen braucht, um die "Verstrickung in datenbezogene Ausbeutungsverhältnisse" der Subjekte angemessen fassen zu können. In einer explorativen Studie zur Nutzung von Smart Speakern zeichnet sich in seinen Augen ab, dass das Konzept der Souverä-nität an Grenzen stößt, um die multiplen Abhängigkeiten angemessen erfassen und pädagogisch thematisieren zu können. Notwendig erscheint in diesem Sinne – um mit Wendt zu sprechen – "die Eigenlogik digitaler Strukturbildung zu reflektieren", um so Möglichkeiten zu finden, der Tendenz digitaler "Hyperindividualisierung" etwas entgegenzusetzen.
Subjektivieren, praxeologisieren, materialisieren: Relationale Subjektivität als sozialtheoretische Re-Orientierung
In der dritten Argumentationslinie steht die Figur des relationalen Subjekts für die Verschiebung sozialtheoretischer Prämissen. Hier mischt sich das lange Abarbeiten diverser kultur- und sozialwissenschaftlicher Strömungen am Erbe des idealistischen Subjekts der Aufklärungsphilosophie, mit den Zeitdiagnosen zu Digitalisierung, Technisierung und Mediatisierung. Für Riettiens etwa scheint es angesichts "einer postulierten Unhintergehbarkeit des Digitalen in der Gegenwart (...) geradezu produktiv, sich mit der Nicht-Souveränität auseinanderzusetzen, um die relationalen Bedingungen von subjektiver Handlungsfähigkeit in einer Kultur der Digitalität zu reflektieren." Engel/Mayweg/Carnap fragen nach angemessenen, postdigitalen Vorstellungen von Handlungsmächtigkeit "nach der Souveränität". Hervorgehoben werden veränderte Mensch-Technik-Balancen, die die Frage nach Handlungsmacht (Agency) neu stellen. Digitale Medien treten hierbei nicht mehr bloß als Werkzeuge, Gebrauchsgegenstände oder Repräsentationen auf. Vielmehr sind sie als epistemische Akteure mitzudenken, die über eigene Modi, die Welt zu 'erkennen', verfügen (Jörissen 2015). Korrespondierend dazu wird auf deutlich anders gelagerte Ansätze rekurriert, die – oft in Anlehnung an poststrukturalistische Positionen oder in jüngerer Zeit den material turn (Kalthoff et al. 2016) – von einer Dezentrierung des Subjekts ausgehen und eine relationale Position stark machen (z. B. Fenwick/Edwards 2010). Poststrukturalistisch inspirierte Ansätze, die Subjekte als Handlungsinstanz nicht voraussetzen, sondern das Gemachtwerden von Subjektivität in den Vordergrund rücken, werden als Ausgangspunkte gesehen, um adäquater mit der technologischen Komplexität umzugehen. Ausgehend vom Konzept der Subjektivation, lässt sich, so Schmidt/Böhmer, "eine unidirektionale Bildungsbewegung zur Steigerung der Mündigkeit (...) pädagogisch nicht mehr verfolgen". Andere Beiträge wie der von Müller/Petschner/Tischer/Thumel mobilisieren praxeologisches Denken und schlagen eine Analyseheuristik vor, anhand derer digitale Souveränität als situierte Praxis in den Blick genommen werden kann. Neuberger wiederum schließt unter anderem an Butler sowie die praxistheoretische Position von Alkemeyer an und wirbt – ebenfalls mit Verweis auf die Notwendigkeit empirischer Forschung – dafür, Subjektivierungsprozesse in machttheoretischer Hinsicht zu erschließen, um auf dieser Basis Aussagen über Souveränität treffen zu können.
So verschieden die Regresse und Argumentationen im Einzelnen sind, eint sie der Anspruch, dualistische Gegenüberstellungen – hier das Subjekt, dort die Struktur oder Objektwelt (Gesellschaft, Kultur, Medien) – zu überwinden. Anthropomorphe Kategorien wie Souveränität, Selbstbestimmung oder Autonomie stoßen in diesen Ansätzen schnell an Grenzen, da Sozialität nicht mehr in erster Linie von dem Menschen her gedacht wird, sondern viel stärker die Bedingungsgefüge in den Mittelpunkt rücken, unter denen Subjektpositionen erzeugt werden und Agency als Zusammenwirken menschlicher und nichtmenschlicher Größen entstehen kann.
Vor lauter Komplexität: Anschlussfähigkeit wahren
So inspirierend die Überlegungen sein mögen, Subjektivität, Relationalität und Souveränität in ihrer wechselseitigen Ko-Konstitutivität zu betrachten, so lassen sich durchaus auch kritische Fragen formulieren. Eine relationale Wende impliziert eine normative Selbstbescheidung, die angesichts veränderter Medienökologien geboten ist und zugleich die Gefahr birgt, emanzipatorische Orientierungen der Medienpädagogik zu verwaschen. Die theoretische Komplexitätssteigerung des zu erfassenden Gegenstands mag zwar Erkenntnispotenziale bieten und den medienpädagogischen Wissenschaftsdiskurs interdisziplinär anschlussfähig halten. Souveränität wird dabei aber zunehmend als 'moving target' konzipiert, das heißt, sie zeigt sich allenfalls situativ, in heterogenen Konstellationen als komplexe Assemblagen diverser miteinander interagierender Elemente, die gegebenenfalls in bestimmten Medienpraktiken verknüpft vorliegen. So nachvollziehbar und weiterführend die verschiedenen Argumentationsfiguren sind, so drohen die komplexe theoretische Modellierung und Möglichkeiten bzw. Anforderungen der medienpädagogi-schen Praxis und Forschung auseinanderzufallen. Wer über die (situierte) Agency von Algorithmen und technischer Materialität spricht, sollte im nächsten Schritt überzeugend aufweisen, wie diese (nicht zuletzt in ihrer Flüchtigkeit) zu beobachten sind. Wenn von komplexen Vorstellungen ineinandergreifender Handlungsmacht verschiedener Entitäten die Rede ist, sollte die Frage nach Konsequenzen für die unterschiedlichen medienpädagogischen Handlungsfelder nicht in Vergessenheit geraten.
Es bleibt zu klären, welche Möglichkeiten zur Etablierung alternativer Strategien und Praktiken sich anbieten, um entgegen hegemonialer Machtstrukturen individuelle wie kollektive Formen von Empowerment umzusetzen – ohne dabei in bewahrpädagogische Muster zurückzufallen, aber auch ohne sich überzogenen Freiheitsillusionen hinzugeben. Mit Pause gesprochen ließe sich beispielsweise fragen, wie die Medienpädagogik es schaffen kann, "einen Modus der Teilnahme zu etablieren, der aus etwas anderem resultiert als der Affordanzstruktur der Netzwerke selbst, und der nicht dazu führt, dass Nicht-Teilnahme automatisch in Nicht-Identität umschlägt". Das bekannte Vermittlungsproblem von Theorie und Praxis gestaltet sich in Anbetracht eines sich dynamisch entwickelnden Gegenstands- und Forschungsfeldes somit als wiederkehrende Herausforderung, die aber beständig aufs Neue reflektiert werden muss, wie die Beiträge in diesem Heft eindrucksvoll verdeutlichen.

Verlag

OAPublishing Collective

ISSN: 0176-4918

DOI

10.21240/merz/2022.6.1

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