Krisenkalkulationen: demographische Krisenszenarien und statistische Expertise in der Weimarer Republik
In: Die Krise der Weimarer Republik: zur Kritik eines Deutungsmusters, S. 209-240
Mit dem durch die Bevölkerungsstatistiker forcierten Rekurs auf das Modell der "Über-", vor allem aber der "Unterbevölkerung" wurde dem Kaleidoskop der Krisen und Krisenwahrnehmungen am Ende der Weimarer Republik noch eine weitere "existenzielle Bedrohung" hinzugefügt, die sich besonders für eine emotionalisierende politische Rhetorik eignete. Die Verfasserin zeichnet die Verwendung dieser demographischen Krisenszenarien im zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskurs nach. Die Beschäftigung mit der Bevölkerungszahl und den an ihre Veränderung geknüpften Szenarien bei den Statistikern und Nationalökonomen bildete, so wird gezeigt, einen eigenen thematischen Redezusammenhang, der sich vergleichsweise unabhängig von den im zeitgenössischen Diskurs als qualitative Bevölkerungspolitik bezeichneten eugenischen Argumentationen entwickelte. Anhand der Untersuchung von parlamentarischen Debatten wird die Verwendung dieser demographischen Krisenszenarien und die Rezeption wissenschaftlicher Daten im politischen Diskurs der Weimarer Republik herausgearbeitet. Am Beispiel der Gründung des "Reichsausschusses für Bevölkerungspolitik" wird abschließend die politische Nachfrage nach wissenschaftlichen Expertenmeinungen thematisiert. (ICE2)