Thesis2010

Euroskeptizismus in der Türkei: die Republikanische Volkspartei (CHP) und die Nationalistische Bewegungspartei (MHP) im Vergleich

In: MA-Thesis/Master

Abstract

Inhaltsangabe: Auf dem EU-Gipfel in Helsinki am 11. Dezember 1999 wurde die Türkei als Beitrittskandidat anerkannt. Diese Anerkennung war ein Wendepunkt in den Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei. Obwohl die Türkei mit der EU eine lange Geschichte bis hin zu der Unterzeichnung des Ankara-Vertrags im Jahr 1963 hat, hat sich der Einfluss der Europäisierung in der türkischen Politik erst nach dem Entscheid der EU in Helsinki gezeigt. Im Rahmen der Kopenhagener Kriterien begann ein tiefgreifender Wandel in der türkischen Politik und der Druck, die Türkei den EU-Normen anzupassen, verursachte eine Transformation im türkischen wirtschaftlichen und politischen Leben. Nach dem Entscheid auf dem Helsinki-Gipfel im Jahr 1999 stimmte die Türkei ihre Binnenmarkt- und Zollpolitik mit den EU-Regelungen ab und begann die politischen und rechtlichen Reformen für den EU-Beitritt zu verwirklichen. Ein nationales Programm für die Anpassung an den gemeinschaftlichen Besitzstand wurde von der türkischen Regierung im März 2001 lanciert. Dies war ein sehr breit gefächertes Programm zur Erfüllung der institutionellen, finanziellen und politischen Kriterien, und enthält 89 neue Gesetze und sah die Änderung der bestehenden 94 Gesetze vor, die in den 'Harmonisierungspaketen' erlassen worden waren. Im Dezember 2002 kündigte die EU an, dass die Entwicklung der Türkei zur Erfüllung der Kriterien bewertet und eine Richtung der Beitrittsgespräche im Dezember 2004 schriftlich festgelegt werden würde. Nachdem die EU-Kommission im Jahr 2004 entschied, dass die Türkei die politischen Kopenhagener Kriterien hinreichend erfüllt hatte, wurden die Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei im Oktober 2005 eröffnet. Die Anerkennung der Türkei als Beitrittskandidat auf dem Helsinki-Gipfel im Jahr 1999 hat im türkischen politischen System sowohl die Reformprozesse im Rahmen der Kopenhagener Kriterien beschleunigt, als auch euroskeptische Haltungen bei den politischen Akteuren entstehen lassen. Obwohl die türkischen Eliten behaupten, heute grundsätzlich eine pro-europäische Haltung zu haben, die nach dem Verständnis des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk als Verwestlichung verstanden werden könnte, verschleiert diese grundlegende pro-europäische Haltung nicht die Tatsache, dass die türkischen Eliten aus verschiedenen Gründen eine Skepsis gegenüber der Europäischen Union entwickelt haben. Infolgedessen kann festgestellt werden, dass der Europäisierungsprozess der Türkei nach der 'Post-Helsinki-Ära' auch im türkischen Parteiensystem nicht nur Enthusiasmus, sondern ebenso viel Skepsis auslöste. So trug der Helsinki-Gipfel zu einer Neuordnung des türkischen Parteiensystems bei. Das türkische Parteiensystem wird durch eine neue Konfliktlinie geteilt: Neben dem klassischen Rechts-Links-Schema unterscheiden sich die Parteien jetzt noch zusätzlich durch pro-europäische beziehungsweise euroskeptische Positionen. Die vorliegende Arbeit wird auf die linke sozialdemokratische Republikanische Volkspartei (CHP) und die rechte Nationalistische Bewegungspartei (MHP) begrenzt, die dem europäischen Integrationsprojekt entweder grundsätzlich oder in seiner gegenwärtigen Form skeptisch gegenüber stehen und sich infolgedessen mit ideologischen, institutionellen und strategischen Herausforderungen konfrontiert sehen. Es muss auch geklärt werden, warum eine Fokussierung auf die politischen Parteien in der Türkei notwendig ist: Die Wahrscheinlichkeit einer EU-Mitgliedschaft dient als ein starker Motor der Demokratisierung und des wirtschaftlichen Wandels in den Beitrittsländern. Obwohl die EU ein starker externer Faktor ist, der zum innenpolitischen Wandel führt, müssen zuerst die innenpolitischen Akteure den Anstoß für den Wandel geben. Zudem ist die Analyse des innenpolitischen Prozesses in der Türkei wichtig, denn die institutionellen, politischen und normativen Rahmenbedingungen, die den Euroskeptizismus bei den politischen Parteien in der Türkei beeinflussen, unterscheiden sich von denen der europäischen politischen Parteien in erheblichem Masse. Obwohl in den letzten Jahren in der politikwissenschaftlichen Forschung den Parteipositionen gegenüber der europäischer Integration und der Europäischen Union immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde, bleibt der türkische Fall weitgehend unbeachtet. Die Positionen der türkischen politischen Parteien gegenüber der europäischen Integration und der Europäischen Union müssen detailliert betrachtet werden, denn sie sind die wichtigsten Akteure des Beitrittsprozesses der Türkei, da sie ihn direkt negativ oder positiv beeinflussen. In dieser Arbeit wird deswegen versucht, den bis jetzt wenig untersuchten parteibasierten Euroskeptizismus in der Türkei bei der MHP und der CHP im Zeitabschnitt 2004-2007 zu analysieren und die Gründe für die euroskeptische Haltung bei diesen Parteien festzustellen. Die Fragestellung dieser Arbeit lautet: Welche Ausformungen des Euroskeptizismus haben die CHP und MHP und welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede sind bei diesen Parteien hinsichtlich des Euroskeptizismus festzustellen? Was sind die Ursachen der Unterschiede und Gemeinsamkeiten bei den Haltungen der beiden Parteien? Die vorliegende Arbeit ist wie folgt gegliedert: In einem ersten Schritt werden beim theoretischen Teil der parteibasierte Euroskeptizismus und dessen Gründe vorgestellt. Dabei wird auf die wichtigsten Typologien des parteibasierten Euroskeptizismus zurückgegriffen. Im zweiten Schritt wird die qualitative Analyse nach Mayring und die Differenz- und Konkordanzmethode erläutert, die dazu dienen, eine systematische Analyse der Dokumenten zu ermöglichen und einen wissenschaftlichen Vergleich zwischen der CHP und der MHP zu ziehen. Danach werden die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei und die Geschichte der entsprechenden Parteien beleuchtet. Zudem werden die Positionen der Parteien nach dem Helsinki-Gipfel bis zu den untersuchten Zeitraum vorgestellt, damit eine Grundlage für deren Europarhetorik geschaffen werden kann. Im fünften Kapital wird in Anlehnung an die vierfache Typologie von Kopecky und Mudde ein Kategoriensystem erstellt und die Analyse der Parteiprogramme und der verschiedenen Dokumente, die zur Feststellung der Ausformungen des Euroskeptizismus und dem Vergleich beider Parteien dienen sollen, durchgeführt. Die Analyse gliedert sich in die Themenbereiche, die die Parteien in ihrem Europadiskurs am meisten thematisiert haben. Im sechsten Kapitel folgen der kontrollierte Vergleich des Euroskeptizismus beider Parteien mit der Differenzmethode von John Stuart Mill und die Review der Forschungshypothesen. Schließlich folgt das Fazit.Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis: 1.Einleitung3 2.Theorie6 2.1Weicher und harter Euroskeptizismus10 2.2Euroskeptizismus nach Kopecky und Mudde12 2.3Die Klassifizierung des Euroskeptizismus nach Flood und Usherwood15 2.4Die Frage der Kausalität: Gründe des Euroskeptizismus18 3.Methodisches Vorgehen22 3.1Qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring22 3.2Differenz- und Konkordanzmethode25 4.Türkei- EU-Beziehungen und die Geschichte der CHP und der MHP27 4.1Die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei27 4.2Die Nationalistische Bewegungspartei (MHP)29 4.3Die Republikanische Volkspartei (CHP)32 5.Analyse des Euroskeptizismus bei der MHP und der CHP (2004-2007)35 5.1Das Material und die Durchführung der qualitativen Inhaltsanalyse36 5.2Analyse des Parteiprogramms der MHP42 5.3Der Euroskeptizismus bei der MHP zwischen 2004 und 200743 5.3.1Die Zypernfrage46 5.3.2Menschenrechte und Minderheiten48 5.3.3Minderheitsstiftungen, Religions- und Gebetsfreiheit52 5.3.4Armenien54 5.3.5Artikel 30154 5.4Auswertung und Kategorisierung des Euroskeptizismus bei der MHP57 5.5Analyse des Parteiprogramms der CHP62 5.6Der Euroskeptizismus bei der CHP zwischen 2004 und 200764 5.6.1Die Zypernfrage65 5.6.2Menschenrechte und Minderheiten68 5.6.3Minderheitsstiftungen, Religions- und Gebetsfreiheit70 5.6.4Armenien71 5.6.5Artikel 30172 5.6.6Glaube an den doppelten Maßstab bei der EU74 5.6.7Vertrauensproblem mit der Regierungspartei AKP82 5.7Auswertung und Kategorisierung des Euroskeptizismus bei der CHP83 6.Vergleich des Euroskeptizismus bei der MHP und CHP und Review der Hypothese88 6.1Vergleich des Euroskeptizismus bei der CHP und bei der MHP89 6.2Review der Hypothesen95 7.Fazit96 Quellen- und Literaturverzeichnis98 Tabellen Tabelle 1Das vierfache Modell des parteibasierten Euroskeptizismus13 Tabelle 2Die Differenz- und Konkordanzmethode26 Tabelle 3Der Kodierleitfaden39 Tabelle 4Kritikpunkte der CHP hinsichtlich der zwei Dokumente75 Tabelle 5Vergleich des Euroskeptizismus bei der CHP und bei der MHP93 Anhänge Anhang 1Zeittafel106 Anhang 2Wahlresultate und Parlamentssitze108Textprobe:Textprobe: Kapitel 4, Türkei-Beziehungen und die Geschichte der CHP und der MHP: In diesem Kapitel werden zuerst kurz die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei dargestellt. Danach werden die Merkmale und die Geschichte der Parteien beleuchtet und es wird versucht, ihre generelle Haltung gegenüber der EU und der europäischen Integration nach dem Entscheid in Helsinki im Jahr 1999, wonach die Türkei als Beitrittskandidat nominiert wurde, aufzuzeigen. Die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei: Seit der Gründung der Republik der Türkei im Jahr 1923 ist es Staatspolitik, dass sich die Türkei politisch, ideologisch und institutionell zum Westen hin ausrichtet. Die Verwestlichung der Türkei hat sich unter dem Modernisierungsprojekt des Kemalismus beschleunigt. Der Staatsgründer Atatürk verordnete mit einer Revolution von oben den Türken eine europäische Identität und verwirklichte zahlreiche Reformen nach der Gründung der türkischen Republik, die dazu dienten, die Türkei an Europa anzunähern. Diese Reformen führten dazu, dass das soziale, wirtschaftliche und politische Leben in der Türkei nachhaltig verändert wurde. Für Atatürk bestand das Ziel der türkischen Nation darin, den Stand der westlichen, modernen Zivilisation zu erreichen. Nach dem Zweiten Weltkrieg integrierte sich die Türkei im Rahmen der Staatsideologie, des 'Kemalismus', in dem Westen, indem sie 1952 der NATO beitrat. Die Beziehungen der Türkei mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) begannen im Jahr 1959, als sich die Türkei um eine Mitgliedschaft bewarb. Dieser Antrag führte im Jahr 1963 zu einem Assoziierungsabkommen, dem so genannten Ankara-Abkommen. Der Vertrag sieht einen schrittweise funktionierenden Prozess der wirtschaftlichen Integration der Türkei in die EWG vor, der auf einer dreistufigen Übergangsperiode (Vorbereitungsstufe, Übergangsstufe, Endstufe) basierte. Der Artikel 28 stellte auch eine Mitgliedschaft der Türkei in der EWG in Aussicht. In Anlehnung an Steinbach (2004) kann argumentiert werden, dass der Abschluss des Assoziierungsvertrages im Jahr 1963 die formelle Aufnahme der Türkei in den Kreis der europäischen Staaten bedeutete. Das Ankara-Abkommen wurde 1970 durch ein Zusatzprotokoll ergänzt, das am 1. Januar 1973 in Kraft trat. In den sechziger und siebziger Jahren kam es in der Türkei zu einer ideologischen Polarisierung, was die Gesellschaft in einen radikalen linken und einen rechten Flügel spaltete. Die radikalen linke Gruppierungen wurden von der Türkischen Arbeiterpartei (Türk Isçi Partisi/TIP) vertreten, der rechte Flügel wurde durch die Nationalistische Bewegungspartei (MHP) und die islamitische Nationale Heilspartei (Milli Selamet Partisi/MSP) repräsentiert. Die radikalen linken und rechten Flügel lehnten einen Beitritt der Türkei zur EWG ab. Die Linken sahen die EWG als ein imperialistisches Projekt, während die Islamisten sie als einen christlichen Club bewerteten, in dem die muslimische Türkei keinen Platz hatte. Die Nationalisten betonten, dass die EWG den europäischen Staaten ermöglichen würde, das Land zu spalten. Diese Parteien übten erheblichen Einfluss auf die mitte-rechts Gerechtigkeitspartei (Adalet Partisi/AP) und die Republikanische Volkspartei (CHP) aus und blockierten die Annäherung der Türkei an die EWG. Der antiimperialistische Diskurs der Linken gewann unter der Führung der CHP-Regierung an Bedeutung, wobei die Türkei im Oktober 1978 mit der EWG ihre Beziehungen einfror und ihre Verpflichtungen gegenüber der EWG einseitig suspendierte. So kamen die Beziehungen zum Stillstand. Im Jahr 1980 führte der dritte Militärputsch in der Türkei nach 1960 und 1971 dazu, dass die Beziehungen noch mehr geschädigt wurden. Das Militär schuf durch die Generäle ein militärisches Übergangsregime und errichtete den Nationalen Sicherheitsrat (NSR) als oberstes politisches Gremium. Nachdem der NSR ankündigte, alle politischen Parteien aufzulösen, beschloss die Europäische Gemeinschaft das Ankara-Abkommen ganzheitlich auszusetzen. Während der ersten Hälfte der 80er Jahre wurden die Beziehungen zwischen der Türkei und der Europäischen Gemeinschaft auf Eis gelegt. Unter Berücksichtigung dieser problematischen Rahmenbedingungen setzte sich der europäisch-türkische Assoziationsrat im September 1986 erneut zusammen. Im Jahr 1987 beantragte die Türkei die Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft (EG), der im Dezember 1989 bei der EG-Kommission abgelehnt wurde, weil der politische und wirtschaftliche Entwicklungsstand der Türkei als nicht weit genug fortgeschritten für eine Mitgliedschaft angesehen wurde. Am 1. Januar 1996 wurde zum ersten Mal zwischen der EU und einem Nichtmitglied der EU eine Zollunion eingeführt. Im Jahr 1997 lehnten es die Regierungschefs der EU auf dem Gipfel von Luxemburg ab, die Türkei als ein offizielles Beitrittskandidatenland anzuerkennen. Erst auf dem Helsinki-Gipfel im Jahr 1999 wurde die Türkei offizieller Beitrittskandidat. Zwei Jahre später, im Jahr 2001, bestimmte der EU-Ministerrat Ziele und Prioritäten für die Erfüllung der Beitrittskriterien, worauf die türkische Regierung mit der Verabschiedung eines 'Nationalen Programms' antwortete. Im Dezember 2002 wurde auf dem EU-Gipfel in Kopenhagen der Fahrplan zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen beschlossen, über die auf der Basis einer Empfehlung der Europäischen Kommission entschieden werden sollte. Im Oktober 2004 empfiehlt die EU-Kommission im Fortschrittsbericht die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen, worauf der EU-Gipfel von Brüssel bestätigte, dass die Beitrittsverhandlungen am 3. Oktober 2005 beginnen sollten. Der Verhandlungsrahmen wurde nach den Vorgaben des EU-Gipfels beschlossen und die Türkei aufgefordert, das Ankara-Abkommen auf die neuen Mitgliedstaaten auszuweiten. Am 3. Oktober 2005 werden die Beitrittsverhandlungen symbolisch eröffnet. Es wurde von den Außenministern der EU beschlossen, dass die Beitrittsverhandlungen mindestens 10 bis 15 Jahre dauern werden und danach geprüft werden wird, ob die Türkei die Beitrittskriterien erfülle. Dabei soll auch die Aufnahmefähigkeit der EU berücksichtigt werden. Am 12. Juni 2006 begann die EU konkrete Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Dr. Angelos Giannakopoulos, der Projektleiter des Forschungsprojekts 'Europäische Integration und kulturelle Denk- und Wahrnehmungsmuster. Kulturelle Aspekte des EU-Erweiterungsprozesses anhand der Beziehungen Europäische Union-Türkei', betont dass die Einführung einer Zollunion mit der Türkei im Januar 1996, die Anerkennung ihres Kandidatenstatus auf dem EU-Gipfel von Helsinki 1999 und die Entscheidung zur Aufnahme der Beitrittsverhandlungen auf dem EU-Gipfel von Brüssel 2004 einen qualitativen Wendepunkt für die EU- Türkei-Beziehungen darstellen. Infolgedessen wird der Prozess von 3 Oktober 2005 an, an dem die Beitrittsverhandlungen offiziell begannen, von größter Bedeutung für die EU und die Türkei sein. Die Nationalistische Bewegungspartei (MHP): In diesem Teil wird die MHP vorgestellt und ein kurzer Blick auf die Position der MHP zur EU in der post Helsinki-Periode geworfen. Die Gründung der MHP geht auf das Jahr 1969 zurück. Von der Gründung 1969 bis zu ihrem Wahlerfolg 1999 stand sie unter dem Einfluss des Ideologen Alpaslan Türkes. Katy Schröder stellt in ihrem Buch fest, dass 'mehrmalige Regierungsbeteiligungen, die Infiltration der staatlichen Institutionen durch Anhänger der MHP und die Aktivitäten der parteieigenen paramilitärischen Untergrundorganisation, der 'Grauen Wölfe' die Rolle bestimmten, die die Partei in den siebziger Jahren, als bürgerkriegsähnliche Zustände in der Türkei herrschten, spielte.' Beim Militärputsch von 1980 wurde die Partei wie alle anderen politischen Parteien aufgelöst. Obwohl der Parteigründer Alpaslan Türkes politisches Betätigungsverbot hatte, gelang der Partei im Jahr 1985 unter dem Namen 'Nationalistische Arbeitspartei' Milliyetçi Çalisma Partisi (MÇP) und dann wieder unter dem Namen MHP die Reorganisation. Die wichtigsten Wendepunkte in der Parteigeschichte waren der Führungswechsel nach dem Tode von Alpaslan Türkes und der Wahlsieg 1999, nach dem als zweitstärkster Koalitionspartner an der 57. Regierung teilnahm. Ihr Vorsitzender ist seit 1997 der an Gazi Universität promovierter Finanzwissenschaftler Devlet Bahçeli. Önis behauptet, dass im historischen Rückblick Devlet Bahçelis Führung eine wichtige Rolle beim Kurswechsel der Partei in eine gemäßigt zentristische Richtung spielte. Seine Führung hat nach Önis dazu beigetragen, eine bestimmte Art von Gleichgewicht zu halten, unter schwierigen Umständen, zwischen den Anforderungen einer Massenpartei von nationaler Bedeutung auf der einen Seite und Erfüllung der Erwartungen der traditionellen Basis der Partei auf der anderen Seite. Nach seiner Ansicht verliess Bahçeli die archaische Rhetorik, die gegen jede Art der Integration mit dem Westen stand. Zudem war es Bahçeli gelungen, das Image der MHP von einer peripheren und extremistischen Gewalt im türkischen Parteiensystem zu einer modareten rechtsgerichteten Massenpartei umzuwandeln, die ihren ultranationalistischen Charakter verloren hatte. Die rechts positionierte MHP hat einen staatszentrierten Blick auf die nationale Sicherheit und verfolgt eine Politik der Nulltoleranz gegenüber ethnischem Separatismus. Sie war in den Jahren 1999-2002 in der Koalitionsregierung, in der Legislaturperiode 2002-2007 war sie nicht im Parlament vertreten und zwischen 2007-2009 war sie die zweitgrößte Oppositionspartei im Parlament. Von 1999 bis 2002 regierte das Land eine Koalition der Demokratischen Linkspartei (DSP), der MHP und der Mutterlandspartei (ANAP). Obwohl die DSP und die ANAP die Demokratisierungsreformen verwirklichen wollten, haben die Vorbehalte der MHP diesen Prozess verzögert. Trotzdem musste die Partei in der Dreiparteienkoalition viele Reformen akzeptieren. Die Koalitionsregierung verabschiedete wichtige Verfassungsänderungen und Gesetze im Rahmen der Kopenhagener Kriterien. Dies führte dazu, dass die MHP ein passiver Koalitionspartner war. Die Strategie der MHP in der Koalitionsregierung war ein ungeschriebenes Einverständnis, wobei die MHP eine stark opponierende Position zeigte, während sich die übrigen Koalitionspartner zusammenschlossen und die Reformgesetze verabschiedeten. Das Frühjahr 2002 war gekennzeichnet durch eine sehr erhitzte und kontroverse Debatte über die EU-Mitgliedschaft. Die Koalitionsregierung verabschiedete ein drittes Harmonisierungspaket im Juli 2002, um den Entscheid der EU auf dem Kopenhagener Gipfel über die Kandidatur der Türkei positiv zu beeinflussen, obwohl die MHP dieses Paket blockiert hatte. Diese Änderungen beinhalteten die Abschaffung der Todesstrafe, Rundfunksendungen für die ethnischen Gruppen in ihrer Muttersprache, die Einführung rechtlicher und administrativer Massnahmen, um den Einfluss des Militärs in der türkischen Politik zu begrenzen und die Schaffung von Sprachkursen für Minoritäten. Die Reformen infolge des 3. Harmonisierungspakets das politische System in Frage gestellt haben. Diese Reformen waren unvereinbar mit der staatszentristischen Ideologie der MHP und wurden vehement abgelehnt. Als die Reformen verabschiedet worden waren, gab es immer noch Bemühungen seitens der MHP ihre Umsetzung zu behindern. Während der Krankheit des Regierungschefs Ecevit im Jahr 2002 wurde eine vorgezogene Wahl für den 2. November 2002 festgesetzt. Die MHP habe nach Avci ihren Standpunkt gegen die EU verstärkt, um ihre nationalistischen Stimmen zurückzugewinnen; so blockierte sie die EU-Reformen. Gleichzeitig, am 3.August 2002, stimmte das Parlament über ein Gesetzespaket ab, um die Reformen bezüglich der Menschenrechte zu genehmigen, mit der Hoffnung, den Weg zur EU zu ebnen. Die MHP stimmte gegen alle Artikel des Reformpakets. Sie war sicher, dass die Regierungskoalition die Neuwahlen im November nicht überstehen würde und konnte deshalb eine kompromisslose Haltung annehmen und sich wie eine echte Oppositionspartei verhalten. Man kann also sagen, dass am Ende des Jahres 2002 die Haltung der MHP gegenüber der EU mehr zu einer Oppositionspartei als zu einer Regierungspartei in einer Koalitionsregierung passen würde. Die MHP war nicht mehr durch die Aufgaben der Koalitionsregierung begrenzt und konnte nun ihr gemäßigtes Bild in den Augen der Wähler wieder verändern. Während dieser Zeit nutzte die MHP jede Gelegenheit, um ihren Wählern zu beweisen, dass sie ihre Haltung zu kritischen nationalen Fragen nicht geändert habe. Die alten Vorwürfe traten wieder in Vordergrund; die EU sei ein christlicher Klub, der die Türkei niemals akzeptieren würde. Die Parlamentswahlen im Jahr 2002 führten dazu, dass die MHP wegen der Zehnprozenthürde nicht ins Parlament einzog. So wurde ihre Position noch euroskeptischer als sie während der Zeit als Koalitionspartner in der Regierung zwischen den Jahren 1999-2002 ohnehin schon war. Die Parlamentswahlen im November 2002 verursachten in der politischen Sphäre einen tiefen Wandel, indem die Dreiparteienkoalitionsregierung durch die AKP Recep Tayyip Erdogans abgelöst wurde. Zudem gelangte Baykals CHP als Oppositionspartei ins Parlament. Die AKP gewann 363 Sitze und formierte eine Einparteienregierung. Das wichtigste Ergebnis dieser Wahlen hinsichtlich der europäischen Integration war, dass sie mit der Einparteienregierung die Fragmentierung des türkischen politischen Systems beendete. Die pro-europäische AKP konnte nun ungehindert Reformen durchsetzen. Die euroskeptische MHP war nicht mehr im Parlament vertreten. Nachdem die AKP an der Regierung war, war ihre erste Priorität die europäische Integration. Sie verabschiedete zwei Demokratisierungspakete und Ministerpräsident Erdogan besuchte die Hauptstädte von vierzehn EU-Ländern und versuchte die Unterstützung der Vereinigten Staaten zu gewinnen. Devlet Bahçeli kritisierte die Harmonisierungsgesetze, die von der AKP-Regierung eingeführt wurden und bezeichnete sie als die Wiederbelebung des Sévres-Vertrags und die Verletzung des Vertrags von Lausanne. Die MHP blieb nicht nur außerhalb der Regierung sondern auch außerhalb des Parlaments. Da sie sich nicht mehr im Parlament befand, hatte die Partei Schwierigkeiten beim Erreichen der Öffentlichkeit und der Medien. Sie versuchte die Öffentlichkeit in Freiluftversammlungen zu erreichen und auf diese Weise dieser Benachteiligung entgegenzuwirken. Es ist auch wichtig zu betonen, dass bei einer Studie festgestellt wurde, dass 68 Prozent der Wählerschaft der MHP im Jahr 2003 für eine EU-Mitgliedschaft waren.

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