Inhaltsangabe: Einleitung: In den vergangenen 18 Jahren musste der Wohnungsmarkt in den neuen Bundesländern eine einschneidende Trendwende erleben, die gleichermaßen Politik, Wohnungswirtschaft und Versorgungsunternehmen vor große Veränderungszwänge stellte und auch noch heute noch stellt. Im Zuge des Zusammenbruchs vieler Industriezweige der ehemaligen DDR wuchsen die Arbeitslosenzahlen in den 90er Jahren drastisch an. Fernwanderungsbewegungen setzten ein, da viele Menschen auf der Suche nach Arbeit Ostdeutschland verließen. Hinzu kam ab ca. 1995 eine starke Regionalwanderung, ausgelöst von Menschen, die sich beispielsweise ein Eigenheim im 'Speckgürtel' großer Städte wie Leipzig, Halle oder Dessau bauten. Eine dritte Entwicklung, die städtische Binnenwanderung hält bis heute an. Sie ist Ausdruck eines gewandelten Nachfrageverhaltens auf dem Wohnungsmarkt. Hierbei profitieren vor allem innenstadtnahe, rekonstruierte Altbauquartiere, die in der DDR-Zeit zu Gunsten der Errichtung von Plattenbauten vernachlässigt wurden. Alle drei Entwicklungen wirkten und wirken sich auf die Plattenbaugebiete der ostdeutschen Kommunen besonders negativ aus. Auch kommt als problematischer Fakt hinzu, dass die ca. 1,46 Mio. Plattenbauwohnungen die bis 1990 in der ehemaligen DDR gebaut wurden, meist (wie in Abbildung 1 zu sehen) als größere Wohnquartiere (Großwohnsiedlungen) punktuell verdichtet fast in jeder größeren Stadt der fünf neuen Bundesländer zu finden sind.1 Weithin bekannte Beispiele sind Berlin- Marzahn, Leipzig-Grünau, Halle- Neustadt oder Rostock- Lichtenhagen. Direkte Auswirkung der genannten Faktoren war der immer weiter zunehmende Leerstand in den Großwohnsiedlungen ab ca. 1996, wobei dabei die Tendenz zur allgemeinen Haushaltverkleinerung, also der Trend hin zu Singlehaushalten und kinderlosen Paaren, noch als verzögernde Stellgröße im Prozess wirkte. Erst die 2000 von der Bundesregierung einberufene Kommission 'Wohnungswirtschaftlicher Strukturwandel in den neuen Bundesländern' konnte dieses Thema auf die politische Agenda bringen. Wichtige Feststellungen waren u. a. dass bis 2010 in den neuen Bundesländern ca. 300.000 bis 400.000 Wohnungen durch Abriss vom Markt genommen werden müssen und dass dies erst die erste Welle der 'Schrumpfung' ist, da ab 2015 die geburtenschwache 'Nach- Wende- Generation' zu Haushaltsgründern wird und somit die Zahl der Haushalte ab dann rückläufig sein wird. In Folge des Berichtes sahen viele ostdeutsche Städte die Notwendigkeit des Stadtumbaues und gingen das Problem des Leerstandes konzeptionell an. An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass sich der Leerstand nicht auf die 'Platte' beschränkte, sondern auch in den Altbauvierteln vieler Innenstädte gravierend war. Durch die Verabschiedung von integrierten Stadtentwicklungskonzepten (ISEK) setzten sich alle beteiligten Akteure mit der von statten gehenden Entwicklung auseinander und schufen sich auf Basis dieser informellen Planung Ziele für den Stadtumbau. Auch wurde seitens der Länder und des Bundes das Problem erkannt, dass die Kommunen zum Stadtumbau finanzielle Hilfen benötigen, was zur Initiierung zweier Förderprogramme führte. Das erste Förderprogramm'Soziale Stadt' lief 1999 an und verfolgte vor allem das Ziel, in von Arbeitslosigkeit, Schrumpfung und sozialer Segregation betroffenen Stadtteilen neue Steuerungsmodelle zu finden, bei denen auch die Bürgerbeteiligung angeregt werden soll. Als zweites Programm wurde das Förderprogramm 'Stadtumbau Ost' ins Leben gerufen, welches bedrohte Stadtgebiete durch finanzielle Hilfen beim Abriss und bei der Wohnumfeldverbesserung stabilisieren soll. Vorreiter im Stadtumbau, besonderes aber im Umgang mit dem Leerstandsproblem in ihren Großwohnsiedlungen (GWS) sind Städte wie Schwedt (Oder) und Leinefelde in Thüringen. Schwedt setzt beim Stadtumbau beispielsweise auf eine Misch- Strategie von Aufwertung, Stabilisierung, Renaturierung und Aufforstung und erhielt für sein ISEK beim Bundeswettbewerb 'Stadtumbau Ost' 2002den 1. Preis. Auch Leinefelde geht neue Wege was den Stadtumbau betrifft und vereinbarte frühzeitig für den Stadtteil Leinefelde- Südstadt eine zukünftige Grundstruktur und leitete daraus die benötigten Wohnungskapazitäten ab, so dass für alle Akteure ein Höchstmaß an Planungssicherheit im Umgang mit Rückbau- und Aufwertungsflächen gegeben ist. Auch die in Sachsen- Anhalt gelegene Stadt Halle (Saale), welche 1990 nach dem Zusammenschluss mit Halle-Neustadt ca. 309.000 Einwohner hatte, verlor durch die umrissenen Entwicklungen bis Ende 2007 rund ein Viertel seiner Bevölkerung und zählt heute noch ca. 232.0006 Einwohner.7 Ein besonderer Faktor der die Schrumpfung in Halle noch begünstigte, war der weitgehende Zusammenbruch der südlich der Stadt gelegenen chemischen Industriekombinate 'BUNA' und 'LEUNA', die zu DDR- Zeiten jeweils mehrere 10.000 Menschen beschäftigten. In Halle hinterließ der DDR- Wohnungsbau zwei Relikte. Zum einen die vier ab 1964 errichteten Großwohnsiedlungen Halle- Neustadt, Südstadt, Silberhöhe und Heide- Nord und zum anderen eine durch den Bau der GWS`en vernachlässigte Baustruktur in Innenstadtlagen. 1990 lebten rund 50 % der halleschen Bevölkerung in Plattenbauwohnungen, was die Größenordung der durchgeführten Bauvorhaben im DDR- Wohnungsbau erahnen lässt.8 Durch die Abwanderung der Bevölkerung wuchs nach und nach in den GWS, wie auch in der halleschen Innenstadt der Leerstand. Im Zuge der Rekonstruktionsmaßnahmen an vielen Altbauten im Zentrum und der dadurch verstärkten innerstädtischen Wanderungsbewegungen wuchs der Leerstand in den GWS ab ca. 1997 immer gravierender an. Auch in Halle erkannten die betroffenen Akteure den Handlungsbedarf. Neben informellen Gremien, in den sich die Wohnungswirtschaft, die Stadtverwaltung und entsprechende Versorgungsunternehmen über die hallesche Stadtentwicklung verständigten, wurde 2001 auch ein erstes Stadtentwicklungskonzept verabschiedet.Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis: 1.Einleitung und Erkenntnissinteresse1 2.Schrumpfung in Ostdeutschland und deren Auswirkungen auf Halle (Saale)8 2.1Ursachen der Schrumpfungsprozesse8 2.1.1Politischer und wirtschaftlicher Wandel nach 19899 2.1.2Wanderungsbewegungen11 a) Ost-West- Wanderung11 b) Suburbanisierung12 2.2Zukünftige demografische Entwicklungen in Ostdeutschland13 2.3Folgen für die Großwohnsiedlungen der ostdeutschen Städte14 2.4Auswirkungen der Entwicklungen auf Halle (Saale)15 2.4.1Politisch- Administrative Folgen der Wende15 2.4.2Deökonomisierung und Schrumpfung einer Industriestadt16 2.4.3Selektivität der Schrumpfungsprozesse im Stadtgebiet17 3.Die aktuelle Situation in Halle-Silberhöhe18 3.1Historische Entwicklung des Stadtteiles bis heute18 3.2Individuelle Ursachen der Schrumpfung in der Silberhöhe21 3.2.1Lage21 3.2.2Wohnbebauung22 3.2.3Bevölkerungszusammensetzung vor 198924 3.3Akteure in Stadtteil Silberhöhe25 3.3.1Stadtverwaltung25 3.3.2Wohnungswirtschaft26 3.3.3Bürger des Stadtteiles Silberhöhe28 3.3.4Andere Akteure - Versorgungsunternehmen und Polizei31 3.4Reaktionen Stadtverwaltung32 3.4.1Initiierung von informellen Gremien32 a) Netzwerk 'Stadtentwicklung' (vormals Netzwerk 'Stadtumbau')32 b) Arbeitskreis Silberhöhe33 3.4.2Das Neuordnungskonzept für die Silberhöhe 200134 3.4.3Das Stadtentwicklungskonzept für das Stadtumbaugebiet Halle- Silberhöhe 200736 3.5Hilfen für den Stadtumbau aus Förderprogrammen37 3.5.1Bund- Länderprogramm Stadtumbau Ost37 3.5.2Bund- Länderprogramm Soziale Stadt39 4.Methode und Erhebung der Befragung und der Interviews39 4.1Episodische Interviews40 4.1.1Auswahl der Interviewteilnehmer41 4.1.2Art der Auswertung42 4.1.3Methodenkritik42 4.2Bürgerbefragung43 4.2.1Erhebungsort und Zusammensetzung der Zufallsstichprobe44 4.2.2Art der Auswertung44 4.2.3Methodenkritik45 5.Auswertung und Interpretation der Ergebnisse46 5.1Auswertung der narrativen Interviews46 5.1.1Bewertung des Stadtentwicklungskonzeptes durch die Interviewten46 a) Stadtumbau als gesteuerte Entwicklung oder flexible Reaktion46 b) Problemlösungspotential des Konzeptes in der Silberhöhe47 5.1.2Beurteilung der Zusammenarbeit zwischen den Akteuren49 a) Netzwerk Stadtentwicklung49 b) Arbeitskreis Silberhöhe50 c) Stadtteilkonferenzen51 5.1.3Mögliche Alternativen zur 'Waldstadt' Silberhöhe52 a) Kernstadtteillösung WK 1-452 b) Totalabriss53 5.1.4Mögliche zukünftige Entwicklungen in der Silberhöhe53 5.2Auswertung der Bürgerbefragung55 5.2.1Bewertung des Stadtteiles nach Vor- und Nachteilen55 5.2.2Bewertung des Stadtumbaues und des Konzeptes 'Waldstadt'57 5.2.3Temporäres Quartier oder Stadtteil mit Zukunft58 6.Fazit und Schlussfolgerungen59 7.Abbildungs- und Tabellenverzeichnis64 8.Literatur- und Quellenverzeichnis66 9.Anhang71 9.1Interviewverzeichnis71 9.2Interviewleitfäden*72 9.3Fragebogen zur Bürgerbefragung78 9.4Ergebnisse der Bürgerbefragung in Tabellenform80Textprobe:Textprobe: Kapitel 5, Auswertung und Interpretation der Ergebnisse: Nachdem nun in den vergangenen Kapiteln relevante Informationen über den Stadtteil und die am Stadtumbauprozess beteiligten Akteure gesammelt wurden, sollen diese nun mit Hilfe der aus den Interviews und der Bürgerbefragung gewonnenen Informationen geprüft werden. In einem zweiten Schritt werden die in der Einleitung formulierten Thesen dann auf ihre Richtigkeit geprüft. Auswertung der narrativen Interviews: Bewertung des Stadtentwicklungskonzeptes durch die Interviewten: Gerade die Beurteilung der selbst geschaffenen konzeptionellen Planung gibt einen Einblick, ob und in wie weit die Interviewten diese akzeptieren und für umsetzbar halten. Im Hinblick auf die zukünftige Notwendigkeit weiterer Abrissmaßnahmen (Hypothese 1) und die bewusste konzeptionelle Offenheit beim Stadtumbau (Hypothese 3) können aus den Antworten der Interviewpartner Rückschlüsse gezogen werden. Wird beispielsweise der Stadtumbau auf Basis von Stadtentwicklungskonzepten als Reaktion auf laufende Prozesse verstanden, so schließt dies klar eine planerische, auf die Zukunft ausgerichtete Komponente aus. a) Stadtumbau als gesteuerte Entwicklung oder flexible Reaktion Ob eine Entwicklung wie die Schrumpfung bewusst gesteuert werden kann oder man auf diese ausschließlich reagieren kann, hängt von der Größenordnung der entsprechenden Planungseinheit ab. Herr Dr. Busmann verwies auf diesen Fakt in Zusammenhang mit dem Begriff 'Steuerung' und stellte dabei heraus, dass es einfacher wäre, einen einzelnen Wohnblock zu steuern, als einen ganzen Stadtteil bzw. im Fall der Silberhöhe eine ganze Großwohnsiedlung.169 Daraus ableitend wäre die Steuerung der Stadtentwicklung auf Ebene der Wohnkomplexe leichter zu handhaben. Der Umfang der zu beplanenden Wohneinheiten wäre bei dieser Planungseinheit kleiner, der Leerstand nicht so heterogen verteilt wie im Gesamtstadtteil und die Zahl der im Wohnkomplex vertretenen Wohnungsunternehmen ist ebenfalls geringer, was Entscheidungsfindungen vereinfachen würde. Die anderen 4 Interviewpartner aus der Stadtverwaltung und der Wohnungswirtschaft sahen den Stadtumbau und das Stadtentwicklungskonzept zunächst als eine reaktive Maßnahme auf die stattfindenden Schrumpfungsprozesse. Hier galt es zunächst, die Folgen zu begrenzen und Lösungen für die hohen Leerstände zu finden.170 Die beiden Vertreter der Wohnungsunternehmen, Herr Sydow und Herr Ohm verweisen auf die abnehmende Geschwindigkeit des Prozesses und die damit verbundene Steuerbarkeit des Stadtumbaues.171 Ableitend daraus sind also rasant ablaufende Schrumpfungsprozesse, wie sie in der Silberhöhe Ende der 90er Jahre stattgefunden haben, nach Ansicht beider kaum steuerbar. Bezogen auf die in Hypothese 1 in Aussicht gestellte Notwendigkeit, auch zukünftig Wohneinheiten im Stadtteil rückzubauen, stellt sich die Frage, wie schnell diese Entwicklung verlaufen wird. Nur wenn der demografische Wandel die Silberhöhe langsamer trifft als die Abwanderung und die Suburbanisierung, kann also der Prozess teilweise gesteuert ablaufen. Damit könnte auch die im heutigen ISEK enthaltene Wohninselgliederung auf die Gefahr der zunehmenden Zersplitterung des Stadtteiles hin geprüft werden. In wie weit nun die Stadtentwicklung in der Silberhöhe steuernde bzw. reaktive Ausprägungen hat, versucht Frau Häußler mit dem Beispiel der aktiven, steuernden Stadtentwicklung in Heide-Süd zu erläutern. Dort entstand gezielt ein neues Stadtviertel.172 So effektiv kann man allerdings die Entwicklung in einem bestehenden Stadtteil wie der Silberhöhe nicht steuern. Instrumente der Steuerung sind dort Fördermittel und die Einrichtung komplexer Abstimmungsgremien. Folglich ist dort der Stadtumbau auf konzeptioneller Basis von ISEK`s sowohl als reaktives, wie auch als steuerndes Instrument anzusehen, da bestimmte Prozesse nicht beeinflussbar sind. Beispielsweise kann kaum in die zunehmende Segregation des Stadtteiles eingegriffen werden, da es nicht realisierbar ist, bestimmte Bevölkerungsschichten im Stadtteil anzusiedeln bzw. dort zu halten. Hier stoßen alle Akteure an die Grenze ihrer Möglichkeiten. Damit wird allerdings die in Hypothese 3 angesprochene Planung für die Zukunft obsolet, denn ohne gezieltes, steuerndes Eingreifen ist eine solche nicht umsetzbar, obwohl die Rahmenbedingungen der weiteren Bevölkerungsentwicklung zumindest auf die Gesamtstadt bezogen weitgehend klar sind. Herr Dr. Busmann sagte dazu im Interview als persönliches Fazit: 'Stadtumbau lässt sich nicht steuern.'. b) Problemlösungspotential des Konzeptes in der Silberhöhe: Wie in den vorangegangenen Kapiteln bereits erläutert, haben sich die Akteure auf eine Strategie des Rückbaus und der Freiflächengestaltung hin zu einer Waldstadt verständigt. Diese Strategie fand im Neuordnungskonzept wie auch im neuen ISEK ihre Berücksichtigung. Damit sollten und sollen drei Standortnachteile des Stadtteiles gemindert werden. Der erste Faktor, die verdichtete Bebauung, wurde bis zum heutigen Tage durch den Abriss der 11-geschossigen Bebauung quasi vollständig neutralisiert. Ein zweiter Faktor, der Leerstand, ist bis zum heutigen Tage trotz umfangreicher Rückbaumaßnahmen auf einem hohen Niveau. Der dritte Nachteil, die fehlende Freiflächengestaltung bzw. die Frage, was mit den durch Abriss entstehenden Freiflächen passiert, soll durch das Leitbild der Waldstadt gelöst werden. Bei den Interviews wurde deutlich, dass es Unterschiede in der Einschätzung der Problemlösungsfähigkeit des Stadtentwicklungskonzeptes gibt. Einzig das Waldstadtkonzept als Ansatz für eine qualifizierte Grünflächengestaltung und Freiflächennutzung wird durchweg positiv bewertet, da es äußerst flexibel auf den Schrumpfungsprozess anzuwenden ist und das direkte Wohnumfeld der verbliebenen Wohnquartiere verbessert.173 Herr Sydow und Herr Effertz, die Interviewpartner aus der Wohnungswirtschaft, verwiesen in diesem Zusammenhang auf das immer noch schlechte Image der Silberhöhe und die weitere Notwendigkeit zu handeln.174 Herr Sydow betonte im Gespräch dazu: 'Wenn man diesen Wechsel hinbekommt und sagt, hier ist ein entdichtetes Wohnen im Grünen möglich mit entsprechenden Versorgungseinrichtungen in der Nähe, dann hat dies doch schon einiges bewirkt'. Was die konzeptionelle Herangehensweise an das Problem des Leerstandes angeht, wird rückblickend die Verständigung auf einen Bestand an verbleibenden Wohnquartieren positiv eingeschätzt.176 Momentan scheinen die Leerstände seitens der Wohnungswirtschaft eher durch individuelle Konzepte angegangen zu werden, was Frau Neubert am Beispiel des Teilrückbaues durch die WG 'Freiheit' auf drei Geschosse im Wohnpark Elsteraue verdeutlichte.177 Herr Sydow und Herr Effertz vertreten diesen Ansatz für ihre Unternehmen nicht, sehen aber dennoch das wachsende Problem des Leerstandes in hohen Etagen. Insgesamt fällt bei der Beurteilung der Leerstandsproblematik durch die Wohnungswirtschaft eine abwartende Haltung.
Inhaltsangabe: Einleitung: Europas Wirtschaft wächst zusammen und mit ihr der Zahlungsverkehr zu einem einheitlichen europäischen Zahlungsverkehrsraum, kurz SEPA (Single Euro Payments Area) genannt. Jean-Claude Trichet, Präsident der Europäischen Zentralbank, beschreibt das Projekt wie folgt: '…, the SEPA project is - in ambition and size - comparable with the changeover to the euro banknotes and coins, although the logistics are quite different. SEPA could be seen as an important historical step in the unification of Europe after the introduction of the euro banknotes and coins'. Seit dem 28. Januar 2008 bieten Kreditinstitute ihren Kunden ein neues Zahlungsverkehrsinstrument, die SEPA-Überweisung, an. SEPA-Kartenzah-lungen und ein europaweit einsetzbares Lastschriftverfahren folgen als weitere Schritte. Was über mehrere Jahre durch Vertreter der Finanzbranche vorbereitet wurde, ist inzwischen der breiten Öffentlichkeit zugänglich. Ende Januar 2008 verkündete die Presse offiziell die Neuerungen, die die EU-Gremien und Fachkreise der Banken seit dem Jahrtausendwechsel zur Schaffung eines gemeinschaftlichen Standards im elektronischen Zahlungsverkehr diskutiert und beschlossen haben. Bis dahin waren kontinuierliche Informationen zur Thematik eher dem Fachpublikum vorbehalten als der Gesamtbevölkerung bestimmt. Neben den Banken und Unternehmen ergeben sich aus dem Projekt heraus auch für die Konsumenten Rationalisierungsmöglichkeiten. Verbraucher benötigen für ihre Zahlungen innerhalb Europas nur noch ein Bankkonto. Darüber hinaus sparen sie Zeit durch eine erleichterte Abwicklung und kürzere Ausführungsfristen der Transaktionen. Die Händler profitieren vor allem im Bereich der Kartenzahlungen durch steigende Wettbewerbsfähigkeit und sinkende Gebühren aufgrund standardisierter technischer Neugestaltungen. Für Unternehmen sollen über Zeit- und Kostenvorteile hinaus zusätzliche Services zur Optimierung der Zahlungen und bei der Rechnungsbearbeitung folgen. Um Zeit- und Kostenvorteile überhaupt generieren zu können, müssen sich die Unternehmen intensiv mit den anstehenden gesetzlichen bzw. regulatorischen Veränderungen auseinandersetzen und diesbezüglich ihre Strukturen und Arbeitsabläufe untersuchen. Während die bislang umgesetzte Neuerung für die SEPA-Überweisung aufgrund der Ähnlichkeit zur bestehenden EU-Standardüberweisung nicht als der entscheidendste Projektschritt anzusehen ist, sind es vor allem die Vertreter der Versicherungswirtschaft, die sich auf die bevorstehende Neueinführung der SEPA-Lastschrift vorbereiten. Als wichtigster Inkassoweg für deutsche Versicherungsunternehmen stellt das Lastschriftverfahren im grenzüberschreitenden Zahlungsverkehr eine echte Neuheit dar, denn bisher sind Lastschriften über die Ländergrenzen hinaus nicht möglich gewesen. Damit hält die Internationalisierung des Zahlungsverkehrs Einzug in die Versicherungsbranche. Der Aufwand, die heute genutzte Einzugsermächtigung auf so genannte SEPA-Mandate umzustellen, wird nach Untersuchung des GDV (Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V.) Kosten von 4,8 Mrd. Euro verursachen. Folglich kommt dem Projekt SEPA neben Themen wie zum Beispiel die Reform des VVG (Versicherungsvertragsgesetz), VAG (Versicherungsaufsichtsgesetz), IFRS 4 (International Financial Reporting Standard 4) oder Solvency II eine besondere Bedeutung zu. Im Hinblick auf die Vielzahl der unterschiedlichen Anforderungen zur Erreichung der allgemeinen Geschäftsziele, wie Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum, Effektivität und Effizienz, liegt 'der Schlüssel zur kontrollierten Veränderung in der Unternehmensorganisation und in der Beherrschung der Prozesse'. Um dem unaufhaltsamen Trend nach Schnelligkeit, Flexibilität und Automatisierung in der Versicherungsbranche gewachsen zu sein, wagen inzwischen die Versicherer einen Blick in Richtung Industrie und sind bereit, von den dort gesammelten Erfahrungen zu lernen. Häufig sind die Finanzprozesse der Versicherungsunternehmen von zahlreichen Medienbrüchen durch eine fehlende Prozessintegration geprägt. Die bisherige Annahme, dass Investitionen in die Informatik zwangsläufig zu signifikanten Kosteneinsparungen führen würden, hat sich nicht bewahrheitet. Diese Auffassung teilt auch der hier untersuchte Lebensversicherer und sieht für einen sinnvollen Mitteleinsatz bei IT-Investitionen die Notwendigkeit, Prozessbetrachtungen stärker in die Überlegungen einzubeziehen. Seit einiger Zeit gibt es ein Umdenken im Unternehmen, statt in Systemen soll verstärkt in Prozessen gedacht werden. Die ersten Aktivitäten konzentrierten sich vorwiegend auf den Antragsprozess für die Umsetzung zur VVG- Reform. Schrittweise sollen die weiteren Marktprozesse und Partnerprozesse im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen. Durch das Projekt SEPA müssen allerdings auch die Bestandsführungsprozesse, speziell die Buchhaltungsprozesse für die Kontoauszugsverarbeitung, das Beitragsinkasso und Leistungsexkasso analysiert werden. In einer Voranalyse zur Auswirkung des SEPA auf das Versicherungsunternehmen ist bereits festgestellt worden, dass hauptsächlich die aufgeführten Zahlungsverkehrsprozesse von den Neuerungen betroffen sind. Neben der Einbindung der regulatorischen Anforderungen bietet das Projekt gleichzeitig die Chance zur Optimierung der bestehenden Abläufe. Basierend auf einer Untersuchung der aktuellen Bearbeitungsschritte des Beitragsinkassos und Leistungsexkassos kann daraus abgeleitet ein neugestalteter, effizienterer und SEPA-fähiger Zahlungsverkehrsprozess entwickelt werden. Gang der Untersuchung: Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die Auseinandersetzung mit den Neuerungen, die ein einheitlicher europäischer Zahlungsverkehrsraum für die operativen Prozesse eines Lebensversicherungsunternehmens mit sich bringt. Neben den Überlegungen für die Einbindung der neuen Anforderungen soll durch das Projekt SEPA gleichzeitig die Chance zur Optimierung der bestehenden Abläufe hinsichtlich der Faktoren Zeit, Kosten und Qualität genutzt werden. Ziel ist, basierend auf einer Analyse der aktuellen Bearbeitungsschritte bei der Zahlungsverkehrsabwicklung, Vorschläge für einen effizienteren und SEPA-fähigen Zahlungsverkehrsprozess zu entwickeln. Dabei liegt das Augenmerk nicht auf der Ausarbeitung eines Konzeptes zur technischen Umsetzung. Nach der Einleitung werden im 2. Kapitel der Arbeit die theoretischen Grundlagen dargelegt. Ausgangspunkt der Erläuterungen bilden die Informationen zur Historie des SEPA-Gedankens und die damit verbundenen allgemeingültigen Neuheiten. Anschließend werden die wesentlichen Besonderheiten der Zahlungsinstrumente für die SEPA-Überweisung und SEPA-Lastschrift beschrieben, die bei einer Implementierung in die Prozesse und Systeme des untersuchten Lebensversicherungsunternehmens zu beachten sind. Doch bevor neue Anforderungen umgesetzt werden, sollten die bestehenden Abläufe analysiert werden. Dazu bedarf es eines strukturierten Vorgehens. Basierend auf dem Prozessbegriff sind im Kapitel 3 die notwendigen Methoden aufgeführt, die beispielsweise bei der Aufstellung einer Prozesskette sowie der darauf aufbauenden Analyse und Entwicklung von Optimierungsansätzen Unterstützung bieten. Während das Kapitel 4 das Beispielunternehmen vorstellt, beinhaltet Kapitel 5 das Kernstück der Arbeit. Im Rahmen der Situationsanalyse werden die SEPA-relevanten Prozesse identifiziert und als Prozessketten visualisiert. Innerhalb der Zahlungsverkehrsprozesse ist die Begleichung der eigenen Rechnungen nicht Gegen-stand der Untersuchung, da sich das Unternehmen hierbei eines konzerneinheitlichen Systems bedient, auf dessen SEPA-Aktivitäten der betrachtete Versicherer keinen Einfluss hat. Mit Hilfe der zusammengetragenen Ist-Daten bezüglich der Arbeitsabläufe und den daraus resultierenden Tätigkeitszeiten sowie Kosten können zur Vorbereitung auf die anstehenden zukünftigen Herausforderungen des SEPA Vorschläge zur Neugestaltung der bestehenden Zahlungsverkehrsprozesse unterbreitet werden. Im Kapitel 6 sind die Maßnahmen des betrachteten Lebensversicherungsunternehmens dargestellt, die erforderlich gewesen sind, um zumindest die passive SEPA-Fähigkeit für eingehende Überweisungen sicherzustellen. Darüber hinaus werden weitere Hinweise gegeben, die auf dem Weg zu einer aktiven SEPA-Fähigkeit für Überweisungen an Kunden und Dritte sowie bei der Umstellung auf die SEPA-Lastschrift zu beachten sind. Als Ergebnis sind die optimierten und SEPA-fähigen Zahlungsverkehrsprozessketten festgehalten. Ferner können die Ausführungen des Kapitels für Unternehmen, die sich bislang noch nicht mit der SEPA-Thematik beschäftigt haben, eine Hilfestellung für die Umsetzung bieten. Den Abschluss der Arbeit bilden die Kapitel 7 und 8, in denen die Verfasser einen Ausblick auf die Folgeaktivitäten geben und die wesentlichen Ergebnisse zusammenfassen.Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis: AbkürzungsverzeichnisV AbbildungsverzeichnisVI TabellenverzeichnisIX 1.Einführung1 1.1Relevanz der Thematik1 1.2Ziele der Arbeit und Vorgehensweise4 2.Single Euro Payments Area6 2.1Historie des SEPA-Gedankens6 2.2Grundlegende Neuerungen9 2.2.1IBAN und BIC9 2.2.2Technische Auswirkungen12 2.3Besonderheiten der SEPA-Überweisung16 2.3.1Rechtliche Grundlagen16 2.3.2Charakteristika17 2.4Die SEPA-Lastschrift als spezielle Herausforderung22 2.4.1Schaffung einer europaweiten Rechtsgrundlage22 2.4.2Das Lastschriftmandat24 2.4.2.1Ablösung der deutschen Einzugsermächtigung24 2.4.2.2Wesentliche Merkmale der Mandatsverwaltung25 2.4.2.3Umgang mit den bestehenden Einzugsermächtigungen28 2.4.3Abwicklung der SEPA-Lastschrift31 2.4.4Rückgabe der Lastschrift und Widerspruchsmöglichkeit des Zahlungspflichtigen35 3.Prozesse37 3.1Der Prozessbegriff37 3.1.1Definitionsfindung37 3.1.2Strukturierung der Prozesse40 3.1.3Prozessmodellierung mittels Ereignisgesteuerter Prozessketten42 3.2Die Prozessanalyse45 3.3Möglichkeiten der Prozessoptimierung48 3.3.1Aspekte zur Prozessverbesserung48 3.3.1.1Das 'Magische Dreieck'48 3.3.1.2Qualität50 3.3.1.3Zeit52 3.3.1.4Kosten55 3.3.2Prinzipien der Prozessgestaltung58 4.Die FLR Versicherung AG62 4.1Unternehmensvorstellung62 4.2Bedeutung des SEPA für das Unternehmen65 4.3Abgeleitete SEPA-Strategie68 4.4Rolle der Prozesse im Unternehmen70 5.Situationsanalyse des untersuchten Lebensversicherungsunternehmens72 5.1Datenerhebung72 5.2Identifikation der SEPA-relevanten Prozesse73 5.3Aufstellung der betroffenen Unternehmensprozesse74 5.3.1Kontoauszugsverarbeitung74 5.3.1.1Der Elektronische Kontoauszug der FLR Versicherung AG74 5.3.1.2Darstellung der Prozesskette78 5.3.2Beitragsinkasso84 5.3.3Leistungsexkasso90 5.4Ermittlung der Personalauslastung93 5.4.1Bearbeitung der Kontoauszüge93 5.4.2Beitragsinkasso/Leistungsexkasso96 5.5Prozesskostenberechnung98 5.6Entwicklung von Optimierungsansätzen für die FLR Versicherung AG100 5.6.1Zu berücksichtigende Rahmenbedingungen100 5.6.2Verbesserungspotenzial für die Kontoauszugsverarbeitung101 5.6.2.1Teilprozess: Nachbearbeitung Finanzbuchhaltung - Teil 1101 5.6.2.2Teilprozess: Nachbearbeitung Debitorenbuchhaltung104 5.6.2.3Teilprozess: Nachbearbeitung Finanzbuchhaltung - Teil 2107 5.6.2.4Zusammenfassung der Einsparpotenziale bei der Kontoauszugsverarbeitung109 5.6.3Möglichkeiten zur Reduzierung der Wartezeiten im Rahmen des Hauptinkassos110 5.6.4Wege für ein effizienteres Leistungsexkasso112 6.Vorschläge zur Neugestaltung der Zahlungsverkehrsprozesse116 6.1Passive SEPA-Fähigkeit zum 28. Januar 2008116 6.2Auf dem Weg zur aktiven SEPA-Fähigkeit119 6.2.1Abgeschlossene Vorarbeiten119 6.2.2Unterstützung durch die Hausbank123 6.2.3Einbindung von IBAN und BIC124 6.2.4Systemtechnischer Anpassungsbedarf125 6.3Überlegungen für den Einsatz der SEPA-Lastschrift128 6.4Optimierte und SEPA-fähige Zahlungsverkehrsprozessketten131 6.4.1Kontoauszugsverarbeitung131 6.4.2Beitragsinkasso/Leistungsexkasso134 7.Schlussfolgerungen und Ausblick137 8.Zusammenfassung140 AnhangsverzeichnisI LiteraturverzeichnisXIII Sonstige QuellenXVIII InternetquellenXXITextprobe:Textprobe: Kapitel 4.3, Abgeleitete SEPA-Strategie Aufbauend auf den Ergebnissen der Voranalyse aus dem Jahr 2007 ist in der Zwischenzeit für die FLR Versicherung AG eine SEPA-verantwortliche Mitarbeiterin benannt worden, die die aktuellen Entwicklungen des Projektes beobachtet und die Umsetzung der Mindestanforderungen sicherstellt. Ferner sind stets bei Optimierungsplänen und der Umsetzung weiterer gesetzlicher Vorgaben in anderen Bereichen die Abhängigkeiten von dem Zahlungsverkehrsvorhaben zu berücksichtigen. In einem Positionspapier des GDV zur Umsetzung der SEPA-Anforderungen ist ein kunden- und kostenorientiertes Zweistufen-Konzept zur Einführung der SEPA-Lastschrift vorgeschlagen worden. Während 'SEPA I' vorrangig die Optimierung der Kommunikationsbeziehungen zwischen den Versicherungsunternehmen und den Hausbanken beschreibt, behandelt 'SEPA II' die Beziehung zwischen den Versicherungsunternehmen und ihren Kunden. Demnach sollen zuerst die technischen Voraussetzungen für einen reibungslosen Ablauf geschaffen werden, bevor die Ausstattung der Kunden mit den SEPA-Lastschriftmandaten erfolgen kann. Darüber hinaus sind Kurzinformationen zur Einrichtung der passiven SEPA-Fähigkeit, d.h. die Verarbeitung eingehender SEPA-Zahlungen, dargelegt. Nach Ansicht der Unternehmensberater für Banken und Versicherungen Winfried Kärtner und Klaus-Peter Weiß können sich Unternehmen für ihre spezifische SEPA-Strategie an zwei gegensätzlichen Ansätzen, der Defensivstrategie bzw. der Offensivstrategie, orientieren. Die Offensivstrategie zielt auf die grundsätzliche SEPA-Fähigkeit ab und soll verhindern, bestehendes Geschäft oder zukünftiges Neugeschäft zu verlieren. Hingegen ist im Sinne der Offensivstrategie SEPA als Chance für Prozessverbesserungen, innovative Produkte und Marktanteilsgewinne anzusehen. 'Zwischen einer reinen Defensiv- und Offensivstrategie sind viele Abstufungen denkbar, von denen jede Versicherung individuell mit ihrer SEPA-Strategie eine festlegen muss.' Die Autoren weisen ausdrücklich darauf hin, dass 'auch mit einer Defensivstrategie die 'volle' SEPA-Fähigkeit gewährleistet sein muss, da Versicherungen die Nutzung von SEPA durch Kunden nicht verhindern können' . In Anlehnung an den Zeitplan der SEPA-Einführung, die aufgezeigten Empfehlungen der Unternehmensberater sowie des GDV und in Abhängigkeit der Angebote der Hausbank hat sich die FLR Versicherung AG für eine Umsetzung in drei Stufen entschieden: - Stufe 1 à Passive SEPA-Fähigkeit zum 28. Januar 2008 sicherstellen. - Stufe 2 à Aktive SEPA-Fähigkeit für die Überweisung. - Stufe 3 à Aktive SEPA-Fähigkeit für die Lastschrift. Seitens des untersuchten Lebensversicherungsunternehmens ist die Sicherstellung der passiven SEPA-Fähigkeit als Muss-Anforderung eingestuft worden. Aufgrund des hohen Automatisierungsgrades hat sich das Unternehmen nicht erlauben können, gut funktionierende Prozesse durch manuelle Korrekturarbeiten zu unterbrechen. Alle weiteren Tätigkeiten auf dem Weg zu einer aktiven SEPA-Fähigkeit stellen in den Augen des Versicherers so lange die 'Kür' dar, bis endgültige gesetzliche Vorgaben bzw. die Ablösung der nationalen Verfahren durch die Hausbank die FLR Versicherung AG zwingen, die Neuerungen einzuführen. Sofern es aus Unternehmenssicht sinnvoll erscheint bestimmte Tätigkeiten vorzuziehen, um durch Projekt SEPA Verbesserungen in den Arbeitsabläufen zu erzielen, werden diese durchgeführt. Aufbauend auf dieser defensiv orientierten Strategie, werden die aktuellen Entwicklungen zur Thematik beobachtet und sukzessive die aktive SEPA-Fähigkeit hergestellt. Dabei kommt dem Informationsaustausch über Erfahrungswerte der Konzerngesellschaften sowie des GDV und der Hausbank eine besondere Bedeutung zu. Rolle der Prozesse im Unternehmen: Die FLR Versicherung AG hebt sich vom Markt durch ihre schnelle, flexible und an Kundenwünsche angepasste Produktentwicklung ab. Um den geschaffenen Standard für individuelle Anforderungen der Kunden zu erhöhen, war es in der Vergangenheit erforderlich, unkomplizierte Maßnahmen zu treffen, die Realisierungen innerhalb von maximal drei Monaten überhaupt möglich machten. Mit expandierendem Geschäft wuchs das Lebensversicherungsunternehmen auch personell. Dieser Umstand und die Fülle der verschiedenen abteilungsübergreifend zu bearbeitenden Themen erforderten ein Umdenken im Unternehmen. Im Vordergrund soll zukünftig nicht mehr das Denken in Systemen, sondern in Prozessen stehen. Ziel ist es, eine Institution einzurichten, die den Gesamtblick wahrt und die Abhängigkeiten sowie Gemeinsamkeiten der verschiedenen Anforderungen erkennt und koordiniert. Die Schnelligkeit und Flexibilität der FLR Versicherung AG werden durch die flachen Hierarchien und kurzen Wege mit hohem Informationsfluss im Unternehmen verstärkt. Diese Organisation auf Basis flacher Hierarchien eignet sich sehr gut zur Prozessorientierung. Dagegen ist in anderen Unternehmen das Prozessdenken häufig mit der Forderung nach einem Hierarchieabbau und Schnittstellenreduzierungen verbunden. Aktuell findet ein Abstimmungsprozess im Hause des Versicherers statt, wie das Prozessmanagement in die Aufbauorganisation des Versicherers eingebunden wird. Einzelne Mitarbeiter haben bereits erste Aufgaben zur Prozessintegration übernommen und eine Einteilung der Prozesse für die FLR Versicherung AG erstellt. Hauptaugenmerk für die weiteren Tätigkeiten liegt auf den wertschöpfenden Prozessen. Im Zuge des Projektes zur VVG-Reform ist der Antrags- und Neugeschäftsprozess analysiert und neu dokumentiert worden. Auch wenn die Zahlungsverkehrsprozesse nicht zu den primär wertschöpfenden Aktivitäten zählen, stehen diese Prozesse aufgrund der SEPA-Thematik und den damit verbundenen zeitlichen Vorgaben der EU-Kommission auf dem Prüfstand. Stützend auf diesen dokumentierten Prozessen und deren Verknüpfung zu zielgerichteten Aktivitäten im Unternehmen, kann der eigentliche Mehrwert zur Unterstützung von Geschäftszielen erreicht werden. Mit der Einführung der Prozessorientierung in der FLR Versicherung AG agiert das Lebensversicherungsunternehmen aus einer Wachstumsphase heraus. 'Häufig werden Prozessverbesserungen erst durchgeführt, wenn betriebswirtschaftliche Verluste die Notwendigkeit zur Verbesserung anzeigen.' Dieses Umdenken des Versicherers soll für die Zukunft die effiziente Verwaltung der überdurchschnittlichen Steigerungsraten der Neugeschäftsprämien und daraus abgeleitet eine hohe Bestandsqualität sichern. Denise Behlert, Bankkauffrau, aktuell berufsbegleitendes Studium zur Diplom-Kauffrau (FH) an der AKAD - Die Privat-Hochschulen. Derzeit tätig als Koordinatorin im Team Betriebswirtschaft eines Lebensversicherungsunternehmens. Andreas Neubert, Bankkaufmann, aktuell berufsbegleitendes Studium zur Diplom-Kaufmann (FH) an der AKAD - Die Privat-Hochschulen. Derzeit tätig als Teamleiter im Bereich Operations einer Kapitalanlagegesellschaft.
Ziel der Arbeit war, das Baugeschehen am Wurzner Dom in der Zeit zwischen seiner Gründung 1114 bis zur äußerlichen Vollendung um 1515 genauer als bisher geschehen kunsthistorisch einzuordnen. Eine wichtige Voraussetzung dafür stellt einerseits die bisherige kunsthistorische Forschung zur Baugeschichte dar, vor allem aber auch die zwischen den Jahren 2010-2014 durchgeführten Bauforschungen am Dom. Diese Bauuntersuchung wurde vom Teilprojekt D des ehemaligen SFBs 804 der TU Dresden, vertreten durch die Verfasserin, in Zusammenarbeit mit dem Landesamt für Denkmalpflege Sachsen durchgeführt. Mit Hilfe dieser Grundlagenforschung wurde es möglich, die Baugestalt des Domes von Romanik bis zur Spätgotik weitgehend zu rekonstruieren. Folgende Hypothesen waren in der Dissertation zu erörtern: Welchen Grund- und Aufriss besaß die romanische, die gotische und die spätgotische Kollegiatstiftskirche St. Marien in Wurzen? Welche Reste lassen sich konkret aus den verschiedenen Bauphasen nachweisen? In welchen kunsthistorischen Kontext ordnen sich die Bauphasen ein? Lassen sich über den Betrachtungszeitraum hinweg charakteristische Tendenzen feststellen? Was kann über die mittelalterliche Ausstattung gesagt werden? Was lässt sich zur Lage der Kollegiatstiftsgebäude herausfinden? Der Wurzner Bau bietet sich exemplarisch für eine solche Forschung an, weil er als Kollegiatstiftskirche zwischen den großen Dombauten und den Kloster- und Pfarrkirchen in der Peripherie eine interessante Mittelstellung in der Sakralarchitektur Mitteldeutschlands einnimmt. Die heterogene Baugestalt St. Mariens ist ein Zeugnis des mittelalterlichen Baubetriebs und erlaubt einen Blick auf dessen Strukturen. Der romanische Bau der Kollegiatstiftskirche lässt sich durch seinen rekonstruierten Grundriss in die Reihe frühstädtischer Kirchen einordnen. Man orientierte sich beim Bau in Wurzen weder an den frühen Dombauten noch an dem von Klosterkirchen, die alle eher einen langgestreckten Grundriss aufweisen. Seine schlichte Bauart zeugt von der damals im Meißner Bistum in ihrem Formenrepertoire kaum durchgebildeten Architektursprache. Eine Hauptaufgabe der Meißner Bischöfe bestand in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts darin, dass neukolonialisierte Gebiet, hier an der Westgrenze zum Bistum Merseburg, zu sichern und auszubauen. Um 1200 bietet sich ein völlig anderes Bild; Bauten wie die Klosterkirche in Wechselburg oder der Freiberger Dom werden allgemeingültige architektonische Vorbilder für alle Typen von Sakralbauten. Auch die Mauertechnik wird in dieser Zeit exakter als an den erhaltenen Resten der Wurzner Kirche. Entsprechend zum Grundriss des heutigen Langhauses handelte es sich bei der romanischen Kirche um einen fast quadratischen Bau von 16m x 17m. Die Breite des Langhauses liegt bei 8m, die Arkadenspannweite bei 5m. Die steinerne romanische Kirche war eine Pfeilerbasilika ohne Querhaus und Westturm. Über die Lage und Form der ehemaligen Apsis lassen sich ohne weitere Grabungen nur Vermutungen anstellen. Die kunsthistorische Einordnung der Kirche wird von der Frage nach der Baueinheitlichkeit der beiden Chorflankentürme begleitet. Nach der Bauuntersuchung 2010-2014 und der Auswertung der archäologischen Dokumentationen ist anzunehmen, dass beide Türme im aufgehenden Mauerwerk hochgotischen Ursprungs sind. Es gibt bisher keine Befunde, die das Vorhandensein romanischer Türme belegen. Mit dieser Aussage ist eine Hauptfrage der Bauforschung mit einiger Klarheit beantwortet worden. War der romanische Bau in seinen Maßen und architektonischer Gestalt eher bescheiden, muss er dennoch als ein wichtiges Zeugnis früher romanischer Architektur in Obersachsen in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts angesehen werden. Die bisherige Datierung der romanischen Bauteile der Wurzner Kirche im Zusammenhang mit dem Weihedatum 1114 konnte genauer gefasst werden; sie ist zwischen 1114-1160 anzunehmen. Um einiges detailreicher als der romanische Bau zeigt sich der gotische Neubau des Langchors. Der erhaltene hochgotische Langchor der Wurzner Kollegiatstiftskirche wurde von der Kunstgeschichte bisher völlig übersehen. Sein rekonstruierter Grundriss als langgestreckter, flachgeschlossener Kastenraum mit queroblongen Jochen sowie die Kapitelle, Konsolen und abgekragten Dienste zeigen deutliche Bezüge zu Mendikantenarchitektur und zu derjenigen der Zisterzienser und Zisterzienserinnen. Die Genese des modernen flachgeschlossenen Chores ist für die Einordnung des Wurzner Chores von Bedeutung. Weiterhin konnte ein böhmischer Einfluss auf die Gestaltung der romanisierenden Gliederungsarchitektur nachgewiesen werden. Als charakteristische Teile sind beispielhaft das hohe Gebälk, die auskragenden Deckplatten oder die schildartigen Deckplattenaufbauten zu nennen. Zur Einordnung der Architekturglieder wurde eine vergleichende Übersicht zur hochgotischen Architektur Obersachsens und Böhmens erarbeitet. Die unterschiedliche Herkunft der "Leitbauten" in beiden Ländern, der bischöflichen Dome in Mitteldeutschland und der von der zentralen Herrschaft des böhmischen Königs beeinflussten Architektur von Klöstern und Burgen in Böhmen, ist für die Erforschung der Verbreitung gotischer Formen wichtig. Für den Wurzner Chor spielt das vor allem hinsichtlich seiner Einordnung in eine größere Gruppe böhmisch beeinflusster Kirchen in Obersachsen und seine Datierung eine Rolle. Bisher wurde der Chor um 1260 datiert. Zum Anhand der böhmischen Vergleichsbeispiele, wie der Burgkapelle von Klingenberg (Zvikov), der böhmisch beeinflussten Vergleichsbauten in Grimma, Zittau und Görlitz sowie durch die Einordnung des Grundrisses innerhalb der Zisterzienserarchitektur und der Bettelorden kann für den Wurzner Langchor eine Bauzeit um 1250 angenommen werden. Dafür spricht auch der enge architektonische Bezug Wurzens zur Klosterkirche Schulpforta, der sich in der Gestaltung der "federnden" Dreipässe, im Dekor der Kapitelle sowie bei der Form der Ostfenster feststellen lässt. Die Einordnung des Kapitelldekors zeigte, dass man sich in Wurzen bemühte, modernen Strömungen zu folgen, die aber eher allgemein "gotisch" waren und keinen eindeutigen Leitbau erkennen lassen. Der gotische Bau der Kollegiatstiftskirche war sehr anspruchsvoll geplant. Man muss neben dem erhaltenen Langchor auch weitere nicht zur Ausführung gekommene Planungen für das Schiff bedenken. Die erhaltenen Wölbungsanfänger und die Befunde im Dach weisen auf eine einheitlich geplante, reiche gotische Wölbung der Kirche hin. Für den Bau der gotischen Kirche waren sowohl Kloster- als auch Stadtkirchen vorbildhaft. Mit dem Langchor in Wurzen ist ein wichtiges Bindeglied der frühen gotischen Architektur Obersachsens überliefert. Er steht zeitlich zwischen dem Bau der Klosterkirche in Schulpforta und dem des Meißner Doms. Deutlich wird, dass es neben der "klassischen" Gotik, die an den großen Bischofs- und der Klosterkirchen der Zisterzienser zu Tage tritt, lokale Spielarten gotischen Bauens gegeben hat. Von Bedeutung ist auch die Erkenntnis, dass in der Mitte des 13. Jahrhunderts die Architekturströmungen nicht ausschließlich von West nach Ost verliefen, sondern, wie im Falle von Wurzen, Grimma, Zittau und Görlitz dargestellt, auch von Ost nach West. Mit Hilfe der Bauforschung konnte der Querschnitt des Langhauses der gotischen Kirche in zwei verschiedenen Phasen, einmal als Basilika und später als einhüftige Halle, rekonstruiert werden. Das eventuell zur Wurzner Kollegiatstiftskirche gehörende farbige Glasfenster in der Burgkapelle von Falkenstein sowie die Rekonstruktion des Lettners vervollständigen das Bild der gotischen Kirche. Dazu gehört auch der wiederentdeckte hochgotische Eingang der Kapitulare in den Langchor im heutigen sogenannten Kaminraum. Die Baueinheitlichkeit der doppelgeschossigen Sakristei mit dem Langchor konnte bewiesen werden. In der Spätgotik wurde die Kollegiatstiftkirche durch Bischof Johann VI. von Salhausen, der in Wurzen residierte, umgestaltet. Aus dieser Zeit stammt das bis heute erhaltene Ensemble von Schloss und der zweichörigen, nunmehr als "Dom" bezeichneten Kirche. Von der Neugestaltung der Stiftsgebäude an der Südseite der Kirche ist kaum etwas erhalten. Dennoch lässt sich anhand von Befunden und Aktenvermerken die Anlage des spätmittelalterlichen Kreuzganges ungefähr rekonstruieren. Der spätgotische Wurzner Kirchenbau besitzt Merkmale der damals modernen Architektur. Bischof Johann VI. von Salhausen ließ sich ehrenvoll als "zweiter Fundator" im Westen der Kirche eine Grablege einrichten und mit Figuren der Bistumspatrone und des Bistumsgründers von Meißen ausstatten. Außerdem inszenierte er die "altehrwürdigen" Bauteile von Schiff und Langchor mit den beiden Chören im Osten und im Westen kontrastierend. Die Grablege des Bischofs im Westen der Kirche steht im Kontext mit der anderer bischöflicher Grablegen, beispielsweise in Magdeburg oder Merseburg. Vorbildlich wirkte die Fürstenkapelle des Meißner Doms. Eine kunsthistorische Analyse der Zellengewölbe in den Chören erbrachte deren Anbindung an das nahegelegene Wurzner Schloss und damit auch mit dem Bau der Meißner Albrechtsburg. Die weitgespannten, segelartigen Grate der Wurzner Chöre lassen sich stilistisch besonders gut mit den Gewölben in den Torgauer Kirchen von Hans Meltwitz vergleichen. Der Umbau der Kirche muss im Zusammenhang mit dem Neubau des Schlosses in Wurzen betrachtet werden. Das Ensemble zeigt, dass die Anlage den Vergleich mit anderen bischöflichen Residenzen nicht scheuen muss und damals modernsten Vorbildern folgt. Eine Besonderheit des Wurzner Doms stellt die malerische Ausgestaltung der Bischofskapelle im Obergeschoss des Nordturms dar. Stil und Ausprägung der figürlichen Ausmalung ist in die Zeit um 1500 in Mitteldeutschland zu verorten und von besonderer Qualität. Vor allem die italianisierende Gestaltung des Raumes mit Arkaden ist ungewöhnlich. Für die Skulpturen steht eine Anbindung zur Schule Tilman Riemenschneiders außer Frage. Die exklusive Qualität der Ausgestaltung von Schloss und Dom in Wurzen wurde in der Forschung bisher nie hervorgehoben. Anlass für den Bau des Ensembles war der Rückzug des Bischofs von Meißen bzw. Stolpen nach Wurzen. Die Formensprache des Schlosses und der auf die romanischen Dome rekurrierenden doppelchörigen Kirche sind in jedem Falle symbolisch zu deuten. Sie stellen den Anspruch des Bischofs, Reichsfürst gleichwertig neben den Wettinern zu sein, dar. Durch die Bauuntersuchungen konnte neben der bereits erwähnten vermutlichen Anlage eines Kreuzganges auch der Eingang in das ehemalige Kapitelhaus nachgewiesen werden. Auch die Erschließung der Kirche vom Schloss her wurde rekonstruiert. Um 1515 verband aller Wahrscheinlichkeit nach ein Gang das Schloss mit der Bischofskapelle. Spätestens ab 1559 konnte man vom Kornhaus aus über die durch eine Inschrift datierte Brücke den Westchor der Kirche erreichen. Die Bauphasen der Kollegiatstiftskirche zeugen von Einflüssen sowohl aus der Peripherie wie aus den Zentren der Architektur. Der gotische und vor allem der spätgotische Bau sind für die Architekturgeschichte besonders bedeutsam, weil hier eine eigene Architektursprache gefunden wurde, die Impulse in die Umgegend vermittelte. Im Resultat erweist sich der Wurzner Doms als ein Schlüsselbau für die Erforschung mittelalterliche Bau- und Kunstgeschichte in Mitteldeutschland.:1. Einführung S. 8 1.1 Zur Literatur- und Quellenlage S. 10 2. Historische Einführung zum Ort Wurzen und zum Kollegiatstift S. 14 2.1 Die mittelalterliche Stadt und die frühen Kirchenbauten S.16 2.2 Die mittelalterliche Anlage des Kollegiatstiftes S. 18 2.2.1 Das mittelalterliche Kapitelhaus und die Rekonstruktion des Kreuzgangs S. 20 2.3 Zur Geschichte von Kollegiatstiften S. 21 2.4 Das Kollegiatstift Wurzen im Laufe des Mittelalters S. 24 2.4.1 Die Gründungsurkunde S. 24 2.4.2 Zur personellen Zusammensetzung des Kollegiatstiftskapitels in Wurzen sowie zu den Präbenden und Vikarien S. 26 2.4.3 Zur Organisation des Kollegiatstifts in Wurzen S. 30 3. Das Bauforschungsvorhaben im Dom zu Wurzen 2010–2014 S. 31 3.1 Die Voraussetzungen S. 31 3.2 Herangehensweise an das Bauforschungsvorhaben S. 33 3.3 Die Befunddokumentation S. 33 3.4 Die Bestands- und Rekonstruktionspläne S. 35 4. Die Farbfassungen des Wurzener Doms S. 36 4.1 Die Farbigkeit im Langchor S. 37 4.2 Die Farbigkeit im Ostchor S. 39 4.3 Die Farbigkeit im Schiff S. 39 4.4 Zur barocken Fassung der Kirche S. 41 4.5 Zur Farbigkeit der Schlusssteine S. 41 4.6 Die Farbigkeit im Westchor S. 42 4.7 Die Farbigkeit der Bischofskapelle S. 43 4.8 Die Farbigkeit in der Halle des Nordturms S. 44 4.9 Die Farbigkeit in den Notenarchiven I und II S. 44 4.10 Zusammenfassung zu den Farbfassungen in der Kollegiatstiftskirche S. 45 4.11 Kunsthistorische Einordnung der Farbfassungen S. 46 5. Der romanische Bau S. 51 5.1 Rekonstruktion des romanischen Kirchenbaus S. 52 5.1.1 Die Seitenschiffswände des Langhauses S. 54 5.1.1.1 Die Südwand des Langhauses S. 54 5.1.1.2 Die Nordwand des Langhauses S. 55 5.2 Romanische Sakralarchitektur Obersachsens bis zur ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts im Überblick S. 56 5.3 Die Datierung der romanischen Arkaden im Langhaus S. 59 6. Die Türme – Bauglieder zwischen Romanik und Gotik? S. 60 6.1 Baubeschreibung der Türme S. 60 6.1.2 Der Südturm S. 61 6.1.3 Der Nordturm und der Wendelstein S. 62 7. Die gotischen Bauteile der Kollegiatstiftskirche S. 64 7.1 Baubeschreibung der gotischen Bauteile S. 64 7.2 Die Sakristei S. 66 7.3 Die Architekturgliederung des Langchores S. 68 7.4 Zur gotischen Sakralarchitektur in Böhmen und Mitteldeutschland S. 70 7.4.1 Zur Kunst der "přemyslidischen Bauschule" unter Ottokar II. S. 71 7.4.2 Zur politischen Situation Markgraf Heinrichs des Erlauchten S. 74 7.4.3 Zur gotischen Architektur in Mitteldeutschland S. 76 7.5 Der gotische Langchor im Kontext mitteldeutscher Sakralarchitektur S. 79 7.6 Die Detailformen im Langchor S. 86 7.6.1 Die queroblongen Joche, die Dienste, die Konsolen und die Kapitellarchitektur im Vergleich mit Sakralbauten in Mitteldeutschland und Böhmen S. 86 7.6.2 Der Vergleich des Kapitelldekors Wurzens mit dem der großen Sakralbauten von Naumburg, Schulpforta und Meißen S. 89 7.6.3 Eine böhmische Baugruppe in Mitteldeutschland? Zu Form und Dekor der Architekturgliederung mittelalterlicher Sakralbauten in Zittau, Görlitz, Grimma und Wurzen S. 91 7.7 Die Anlage eines Lettners im gotischen Chor S. 94 7.8 Die gotischen Fenster S. 95 7.8.1 Die Fenster des gotischen Langchors S. 95 7.8.2 Das Sakristeifenster S. 98 7.8.3 Das Südfenster im Alten Archiv S. 99 7.8.4 Zwei Fenster im Nordturm S. 100 7.8.5 Das Ostfenster im Südturm S. 100 7.8.6 Das Fenster in der Westwand des südlichen Seitenschiffs S. 100 7.9 Ein farbiges Glasfenster aus der gotischen Kollegiatstiftskirche Wurzen? S. 101 7.9.1 Beschreibung und Einordnung des Glasfensters der Burg Falkenstein S. 102 7.9.2 Das farbige Glasfenster im baulichen Kontext der Wurzner Kollegiatstiftskirche S. 104 7.10 Zusammenfassung zur gotischen Architektur des Langchores S. 105 8. Die Wölbung der Kirche S. 106 9. Die spätgotischen Bauteile der Kollegiatstiftskirche S. 108 9.1 Einführung zu den spätgotischen Bauteilen und zur Person Bischof Johanns VI. von Salhausen S. 108 9.2 Der Westchor – Baubeschreibung S. 112 9.3 Der Ostchor – Baubeschreibung S. 114 9.4 Der Kaminraum im EG, das Archiv 2 im OG (Südliche Anbauten) sowie das Hauptportal – Baubeschreibungen S. 115 9.5 Die Nordempore sowie die Fenster und die Gewölbe der Bischofskapelle – Baubeschreibungen S. 116 9.6 Einordnung der beiden Chöre in die spätgotische Architektur Obersachsens S. 117 9.6.1 Zur Typologie der Kirche als Doppelchoranlage S. 117 9.6.2 Zur Entwicklung der spätgotischen Architektur in Obersachsen S. 118 9.6.2.1 Zur Albrechtsburg S. 118 9.6.2.2 Zu Salhausens Schlössern in Wurzen und Stolpen S. 121 9.6.2.3 Die Dompropstei, der Kreuzgang und das Kapitelhaus in Meißen S. 122 9.6.2.4 Zu den spätgotischen Sakralbauten in Obersachsen S. 123 9.6.3 Entwicklung der Details: Gewölbeanfänger, doppelte Rippenkehlung, Achtrautenstern, Zellengewölbe S. 130 9.7 Die spätgotischen Chöre im Kontext – Eine Zusammenfassung S. 134 9.8 Die architektonische Nachfolge des spätgotischen Ensembles von Dom und Schloss in Wurzen S. 135 9.8.1 Nachfolgende Sakralbauten S. 135 9.8.2 Nachfolgende Profanbauten S. 136 9.8.3 Die mögliche Nachfolge der Wurzner Zellengewölbe in Böhmen S. 136 9.9 Die Bischofskapelle im Obergeschoss des Nordturms S. 139 9.9.1 Baubeschreibung – Bauphasen S. 139 9.9.2 Zur Farbfassung und Ikonografie der Bischofskapelle S. 141 9.10 Die bischöfliche Grablege im Westchor und ihre Ausstattung S. 144 9.10.1 Zur äußeren Gestalt des Westchors in der Zeit um 1515 S. 145 9.10.2 Zur Innenausstattung des Westchors in der Zeit um 1515 S. 145 9.10.3 Das Bischofsgrab im Westchor S. 148 9.10.4 Schriftquellen zum Westchor S. 149 9. 11 Fürstliche Grablegen im Westen einer Kirche – Ein Vergleich S. 150 9.12 Eine Rekonstruktion der bischöflichen Grablege in Wurzen S. 153 9.12.1 Zur Anordnung der Figuren S. 154 9.12.2 Zur kunsthistorischen Einordnung der Stifterfiguren S. 156 9.12.2.1 Beschreibung der Figuren S. 156 9.13 Zur spätgotischen Ausstattung der Kirche S. 162 9.13.1 Altäre und Vikarien der spätgotischen Kirche S. 162 9.13.2 Spätgotische Totenschilde und Begräbnisse S. 164 9.13.3 Glocken S. 165 9.14 Fazit zur spätgotischen Umgestaltung der Kollegiatstiftskirche S. 166 10 Die Rekonstruktionen S. 167 10.1 Die Rekonstruktion der hochgotischen Kirche nach den Befunden der Bauforschung S. 167 10.2 Zum Architekturtypus der Hallenkirche S. 171 10.3 Zur Rekonstruktion der spätgotischen Kirche um 1515 nach den Befunden der Bauforschung S. 173 11. Zusammenfassung zur Baugeschichte der mittelalterlichen Bauteile der Kollegiatstiftskirche S. 174 12. Literaturverzeichnis S. 179 Dokumentation, Zeichnungen und Abbildungen 13. Die Bau- und Befunddokumentation 13.1 Verzeichnis der Zeichnungen und Anlagen 13.2 Kürzelverzeichnis 13.3 St. Marien, Dom in Wurzen. Bau- und Befunddokumentation des Landesamtes für Denkmalpflege Sachsen, Dresden zusammen mit dem Teilprojekt D "Die Kirche als Baustelle" des SFB 804 der TU Dresden 13.4 Anlagen 1 – 3 14. Bestands- und Rekonstruktionspläne 15. Abbildungen 15.1 Abbildungsnachweis
Pädagogische Qualität im deutschen Früherziehungssystem (familiär und außerfamiliär).
NUBBEK bietet eine empirische Basis zur Erforschung der familiären und außerfamiliären Betreuung von zweijährigen (n = 1242) und vierjährigen (n = 714) Kindern. 27% der Kinder hatten einen türkischen oder einen russischen Migrationshintergrund. Die NUBBEK Studie orientierte sich an einer sozialökologischen Konzeption von Bildung und Entwicklung. Orientierungsqualität, Strukturqualität sowie Prozessqualität wurden weitgehend parallel sowohl für das Betreuungssetting Familie erhoben als auch für 567 Krippen-, Kindergarten- und Tagespflegegruppen.
Die Merkmale der Struktur- und Orientierungsqualität wurden über Fragebögen und Interviews mit Gruppenerzieherinnen und Einrichtungsleiterinnen sowie Tagespflegepersonen erfasst, teilweise auch durch direkte Beobachtungen. Als weitere Quelle dienten Angaben zu den (schriftlichen) pädagogischen Konzeptionen sowie zu persönlichen Merkmalen und Erziehungszielen der Pädagoginnen. Die pädagogische Prozessqualität wurde über die Integrierte Qualitäts-Skala (IQS) erhoben: in den Kindergartengruppen über die revidierte Kindergarten-Skala und ihre Zusatzmerkmale (KES-RZ) sowie über ihre speziell auf die Bildungsbereiche Literalität, Mathematik, Naturwissenschaft und interkulturelles Lernen zielende Erweiterung (KES-E); in den Krippengruppen über die revidierte Krippen-Skala (KRIPS-R), in den altersgemischten Gruppen über dieses gesamte Instrumentarium und in den Tagespflegestellen über die revidierte Tagespflege-Skala (TAS-R). Zusätzlich wurde in allen Betreuungssettings die Caregiver Interaction Scale (CIS) zur Erfassung des Interaktionsklimas sowie ein Aktivitätsfragebogen zu verschiedenen Aktivitäten mit den einzelnen Kindern (AKFRA) eingesetzt. Den Qualitätseinstufungen in den einzelnen Settings lagen jeweils mehrstündige Beobachtungen durch geschulte Beobachter zugrunde.
Analog zu den außerfamiliären Betreuungssettings wurde auch im Betreuungssetting Familie nach den Bereichen Struktur-, Orientierungs- und Prozessqualität unterschieden. Die Merkmale der Strukturqualität, wie Zusammensetzung der Familien, Bildungsstatus der Mütter, sozio-ökonomischer Status wurden über die Interviews in den Familien erfasst, Persönlichkeitsmerkmale der Mütter wie die Big Five, allgemeine Depressivität (ADS) über Fragebögen; ebenso wurden die Merkmale der Orientierungsqualität, wie Rolleneinstellungen der Mütter und Betonung bestimmter Erziehungsziele (Gehorsam, Autonomie, prosoziales Verhalten) über Mütterfragebögen erhoben. Merkmale der Prozessqualität wie das mütterliche Interaktionsklima mit dem Kind (CIS) und der Anregungsgehalt, den das Kind in der Familie erfährt (HOME), wurden über Beobachtungen der Erheber, Aktivitäten mit dem Kind (AKFRA) und die Mutter-Kind-Beziehung (PIANTA) über Fragebögen erfasst.
I. Kinddatensatz:
1. Erfassung des Anpassungsverhaltens (Vineland adaptive behavior scales II) in den Dimensionen Kommunikation (expressive, rezeptive und Schriftsprache), Alltagsfertigkeiten und Motorik (Grob- und Feinmotorik).
2. Erfassung der sozial-emotionalen Entwicklung des Kindes (z.B. Leistungsmotivation, Selbstbehauptung Folgsamkeit, Empathie, prozoziale Peerbeziehung (ITSEA, Social Scills Improvement System-Skala (SIS); Problemverhalten (Child Behaviour Checklist CBCL), Häufigkeit alterspezifischer sowohl motorischer als auch kognitiver Aktivitäten des Kindes im Familiensetting (AKFRA); Gesundheitszustand des Kindes: Geburtsgewicht und Geburtsgröße, geschätztes aktuelles Gewicht und Größe des Kindes; Geburtsschwangerschaftswoche, Reifegrad; Kind wurde oder wird gestillt; Lebensmonat bis zum dem gestillt wurde; Schwierigkeiten während der ersten Monate nach der Geburt; Bereitschaft zur Durchführung geforderter Impfungen; Schlafschwierigkeiten; Zufriedenheit mit den Schlafgewohnheiten; Kinderkrankheiten; Häufigkeit ausgewählter Erkrankungen in den letzen 12 Monaten; physische Gesundheitsbeeinträchtigungen bzw. psychische oder soziale Entwicklungsbeeinträchtigungen; Angaben zu erlittenem Unfall und stationärem Krankenhausaufenthalt; Beziehung zum Kind, Nähe und Konflikte: Mutter-Kind-Beziehung (Child Parent Relationship Scale nach Pianta); Erziehungsverhalten (Härte, Strafe, kindzentrierte Kommunikation, emotionale Wärme und autoritäre Haltung); Erziehungsverhalten (APQ); Erziehungsziele; Bildungsorientierungen- und Erwartungen: Bildungsaspiration für das Kind (Idealvorstellung und erwartet); Verantwortlichkeit für Bildung und Erziehung; Geschlechtsrollen-Orientierungen: Einstellung zur Berufstätigkeit von Frauen (Skala); Erziehungskonflikt-Skala (EKS); Partnerschaftsqualität; Lebenszufriedenheit: Zufriedenheits-Skalen für ausgewählte Lebensbereiche; Depressivität (allgemeine Depressionsskala (ADS); persönliche Selbstcharakterisierung (Big Five: Extraversion, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, geringe emotionale Stabilität, Offenheit für neue Erfahrungen).
Demographie: Geschlecht und Alter (in Monaten) des Zielkindes; Altersgruppe, Einrichtungsart; Gruppenart; Migrationsgruppe.
Zusätzlich verkodet wurde: Zielkind-ID, Einrichtungs-ID und Gruppen-ID (bei familienbetreuten Kindern: Familien ID; Person, die den Fragebogen beantwortet hat; Ausfülldatum (Tag und Monat).
3. Interview Gruppenerzieher: Bezugserzieher bzw. Erzieherin seit (Monat und Jahr); Sprachförderungsprogramm: Teilnahme an Sprachförderungsprogramm, Teilnahmedauer und Art des Förderungsprogramms; Verhalten und Fertigkeiten des Kindes: Entwicklungsstand des Kindes (Vineland Adaptive Behavior Scales, Second Edition (Vineland-II); soziale Kompetenz: Leistungsmotivation, Folgsamkeit, Selbstbehauptung, Kooperation, Empathie, prosoziale Peerbeziehung; Problemverhalten (Child Behaviour Checklist CBCL); Aktivitäten des Kindes (AKFRA); Einschätzung des allgemeinen, Gesundheitszustands des Kindes sowie des körperlichen und seelischen Wohlbefindens; Einschätzung des Wohlbefindens im Zusammenhang mit anderen Kindern sowie weiteren Betreuungspersonen; Beziehung zum Kind, Nähe und Konflikte: Beziehung zum Kind (Child Parent Relationship Scale nach Pianta); Familienbezug: ErzieherIn-Eltern-Beziehung (Parent-Teacher Relationship Scale II); Erziehungsziele; Depressivität (Allgemeine Depressionsskala (ADS); persönliche Selbstcharakterisierung (Big Five: Extraversion, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, geringe emotionale Stabilität, Offenheit für neue Erfahrungen).
Zusätzlich verkodet wurde: Ausfüll-Datum EPAPI.
4. Interview Mütter: Betreuungszeiten: bislang genutzte Betreuungsformen; Erfassung von Betreuungsort, Betreuungsform und Betreuungsgeschichte nach Altersspannen; aktuelle Betreuungszeiten: Erfassung der Betreuungsform für jeden Wochentag einer normalen Woche; jeweils für die Mutter und den Partner wurde erfragt: Berufstätigkeit, Arbeitszeiten einschließlich Wegezeiten, Schichtarbeit und Wochenarbeitszeit; durchgeführte Impfungen und Früherkennungsuntersuchungen; Körpergröße und Gewicht des Kindes zum Zeitpunkt der jeweiligen Früherkennungsuntersuchungen.
5. Soziodemographie: Einschätzung der verwendeten Zeit für ausgewählte Lebensbereiche (Beruf/Ausbildung, Hausarbeit, Freizeit, Partnerschaft, Kinder, Freunde); Familienstand; Familienstand seit wann (Monat und Jahr); Haushaltszusammensetzung; Vater des Kindes lebt im Haushalt; Haushaltsgröße; Personenzahl im Haushalt ab 18 Jahren und Alter dieser Personen; Stellung dieser Personen zum Befragten; Geschlecht und Alter der Kinder im Haushalt, leibliches /nicht leibliches Kind; Wohnfläche der Wohnung; Kinderzimmerzahl; Wohnstatus; jeweils für die Mutter und den Partner wurde erfragt: höchster Bildungsabschluss (ISCED-97), höchster Schulabschluss, Jahre des Schulbesuchs, Schulbesuch in einem anderen Land außer Deutschland, Anzahl der Schuljahre in einem anderen Land, Land des Schulabschlusses, Erwerbstätigkeit, derzeitige bzw. letzte berufliche Stellung, Arbeitstage pro Woche und Arbeitsstunden pro Arbeitstag (jeweils gesamt, Untergrenze und Obergrenze); persönlicher Bruttoverdienst und Nettoverdienst im letzten Monat; Bezug von Transferleistungen, Unterhaltszahlungen oder sonstiger Unterstützung und jeweiliger Betrag; Haushaltsnettoeinkommen; arm-reich-Einstufung der Haushalte des Wohnviertels und des eigenen Haushalts; präferierte Wochenarbeitszeit; Vater hat Elternzeit oder Erziehungsurlaub genommen; Dauer der Elternzeit oder des Erziehungsurlaubs; Berufstätigkeit Vollzeit oder Teilzeit vor der Geburt des Kindes; Unterbrechung der Berufstätigkeit nach der Geburt und Unterbrechungsdauer; beabsichtigte Erwerbstätigkeit und Zeitpunkt für die Aufnahme der Erwerbstätigkeit; Interesse an einer Vollzeit- oder Teilzeitbeschäftigung und gewünschte Stundenzahl; Anzahl Schuljahre von Vater und Mutter, Erikson, Goldthorpe & Portocarero Classification (EGP); Alter der Mutter.
Migration: Deutsche Staatsangehörigkeit bzw. zweite Staatsangehörigkeit und Geburtsland von Mutter und Partner; Geburtsland der Eltern; Türkischstämmigkeit der Mutter bzw. des Vaters; Geburtsland der Eltern des Partners; russischer bzw. türkischer Migrationshintergrund des Zielkindes; Alter des Befragten und des Partners bei Zuzug nach Deutschland und Gründe für die Zuwanderung; Aufenthaltsdauer im Herkunftsland in den letzten zwei Jahren; mit dem Kind und dem Partner in Deutschland gesprochene Sprache; vom Partner mit dem Kind und dem Befragten gesprochene Sprache; Selbsteinschätzung der türkischen, russischen und deutschen Sprachkenntnisse; Freude an der türkischen bzw. russischen Sprache; Wohlfühlen mit der türkischen bzw. russischen Sprache zuhause und mit Freunden; wichtig, mit dem Kind Türkisch bzw. Russisch zu sprechen; Wohlfühlen in einer Gruppe von Deutschen ohne Sprachkenntnisse in Türkisch bzw. Russisch; Freude an der deutschen Sprache; Wohlfühlen mit der deutschen Sprache zuhause und mit Freunden; wichtig, mit dem Kind Deutsch zu sprechen; Wohlfühlen in einer Gruppen Türken bzw. Personen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken ohne Deutschkenntnisse; Religionsgemeinschaft; Kirchgangshäufigkeit; Generationsstatus der Mutter und des Partners.
Kinderbetreuung: Alter des Kindes zum Zeitpunkt des Eintritts in außerfamiliäre Betreuung (Monate und Lebenshalbjahre); detaillierte Angaben zur Kinderbetreuung (Betreuungsperson, wöchentlicher Betreuungsumfang); Sorgerechtsregelung (wöchentliche oder seltenere Treffen), Stundenzahl pro Monat Betreuung durch den leiblichen Vater; nutzbare Betreuungsmöglichkeiten; Gründe für Familienbetreuung; Bereitschaft zur Nutzung einer Kindestageseinrichtung unter ausgewählten Voraussetzungen; Zeitpunkt der ersten Fremdbetreuung in einer Kindertageseinrichtung bzw. bei einer Tagesmutter; Gründe für die Fremdbetreuung; Zeitbudget für Erwerbstätigkeit, Ausbildung oder Studium und Aktivitäten vor der Betreuung und nach Betreuungsbeginn; Änderungen im Betreuungsumfang persönlich, Partner, Kinderfrau, Großeltern, andere Verwandte, Nachbarn, Freunde, andere Eltern; Änderung der Beziehung zu ausgewählten Familienmitgliedern; Schwierigkeiten, einen Platz in einer Kindertageseinrichtung bzw. einer Krippe oder bei einer Tagesmutter zu bekommen, Wartezeit und Wartedauer; Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Kindertageseinrichtungen; wichtige Kriterien für die Auswahl der Kindertageseinrichtung; Zufriedenheit mit ausgewählten Kriterien der Kindertageseinrichtung; Wechsel der Einrichtung (Anzahl, Zeitpunkt und jeweiliger Grund für den Wechsel); entsprechende Abfragen im Falle der Betreuung durch eine Tagesmutter; Höhe der Betreuungskosten; Essenskosten im Betreuungsgeld enthalten bzw. Betrag Essenskosten; Anzahl weiterer Kinder, die durch Kindertagespflege, Krippe, KITA oder Hort betreut werden; Höhe der Betreuungskosten und Essenskosten für alle Kinder; Veränderung des verfügbaren Haushaltsnettoeinkommens im Vergleich zum Zeitpunkt vor Eintritt in die Betreuung und Betrag der Änderung; Zeitaufwand des Befragten und des Partners für ausgewählte Alltagstätigkeiten und die Wegezeit vom Arbeitsplatz zur Betreuungseinrichtung; keine Fremdbetreuung des Kindes in den letzten 12 Monaten aufgrund seines Gesundheitszustands; Betreuungsperson in dieser Zeit; keine eigene Erwerbstätigkeit in dieser Zeit.
Gesundheit der Mutter: Zufriedenheits-Skalometer körperliche und seelische Gesundheit; Häufigkeit von Stress und Zeitdruck; Raucherstatus der Mutter und des Partners; Krankheitstage der Mutter und des Partners im Jahr 2009; gelbes Vorsorgeheft und Impfausweis des Kindes lagen vor; Lebenszufriedenheit (Skalometer).
Zusätzlich verkodet wurde: Fragebogen allein ausgefüllt bzw. gemeinsam mit Partner oder einem NUBBEK-Mitarbeiter; Ausfülldatum (Tag und Monat); Haushalts-Äquivalenzeinkommen (neue OECD Skala); SES Index (MIMIC-Modell); Interviewbeginn und Interviewende; Tag der Durchführung, Endzeit und Enddatum des Interviews; Unterbrechungen, Verständnisprobleme oder Störungen während des Interviews.
Erfassung erziehungsrelevanter Ressourcen (z.B. kind- und altersgerechtes Spielzeug, Bücher im Haushalt, sichere Wohnung und Wohnumgebung, gemeinsame Mahlzeiten), des Interaktionsverhaltens zwischen Mutter und Kind (z.B. positive emotionale Reaktionen, Lob, Schimpfen, Schläge) und kognitive Anregungen (HOME, Home Observation for Measurement of the Environment).
Zusätzlich verkodet wurde: HOME vollständig; HOME Kommentar des Interviewers.
Interviewereinschätzung des Klimas der Interaktion zwischen Mutter und Kind: Sensivität, Involviertheit, Akzeptanz gemäß Caregiver Interaction Scale (CIS).
6. Kindstestung (Verhalten und Fertigkeiten des Kindes): Sprachkompetenz des Kindes: passiver Wortschatz (Deutsch, Russisch, Türkisch) - Testinstrument: Peabody Picture Vocabulary Test (PPVT); Kompetenz im kognitiven Bereich: räumliches Vorstellungsvermögen, psychomotorische Koordination, Kombinationsfähigkeit, Flexibilität des Denkens, Problemlösungen mit Schwerpunkt auf serieller oder zeitlicher Anordnung der Reize - Testinstrumente: Hannover-Wechsler-Intelligenztest für das Vorschulalter - Experimentalform (HAWIVA) und Kaufman Assessment Battery for Children (ABC, deutsche Version).
Zusätzlich verkodet wurde: Testversionen PPVT und Vollständigkeit der einzelnen Versionen; Kommentare; Zeitdifferenz; Beginn und Ende (Stunden, Minuten) des Mosaiktests (HAWIVA); Versuche, Versuchszeiten und erreichte Punkte; Zeitdifferenz HAWIVA in Minuten; Bearbeitung und Vollständigkeit des Mosaiktests (HAWIVA); Kommentar; Beginn und Ende K-ABC; Handbewegung K-ABC vollständig; Kommentar; Zeitdifferenz; Bearbeitung K-ABC; Reihenfolge der einzelnen Testinstrumente.
Erfahrungsbericht zur Kindstestung: Motivation des Kindes; Befolgen von Anweisungen; auffälliges Verhalten; Kommentar zum auffälligen Verhalten; Versuche, einen oder mehrere Tests vorzeitig abzubrechen; Testabbruch (PPVT) durch allgemeine Aufmerksamkeitsprobleme bzw. mangelnde Sprachkenntnisse in Deutsch bzw. Russisch oder Türkisch; Kommentar zu sonstigen Abbruchgründen; Störung während des Tests; Kommentar sonstige Störung; Anwesenheit der Mutter oder anderer Personen während der Kindstestung; Kommentar Anwesenheit anderer Personen; Beeinflussung des Kindes durch anwesende Personen; Kommentar zur Beeinflussung des Kindes; Instruktion erfolgte in Deutsch, in Türkisch oder in Russisch; Einschätzung der Verwendbarkeit der Kindstests direkt nach Testung oder nachträglich; Einschätzungsdatum; Einschätzung der Verwendbarkeit der Testergebnisse der einzelnen Testinstrumente und Begründung; Durchführungsdatum der jeweiligen Testinstrumente.
Zusatzinformationen zum Ablauf der Erhebung: Datum und Dauer (Stunden, Minuten) des 1. und 2. Erhebungstermins.
7. Interviewerbefragung: Beginn und Ende der Erhebertätigkeit (Monat und Jahr); Funktion bei NUBBEK (als Interviewer in Familien, als Erheber in Einrichtungen oder Familieninterview und Erheber); Anzahl der Familieninterviews; Anzahl der Settingerhebungen; Vorerfahrung als Interviewer bzw. Erheber; Vorerfahrung Datenerhebung mit Kindern, mit Erwachsenen bzw. mit Setting; Interviewertätigkeit ausschließlich für NUBBEK; eigene Motivationsgründe für die Interviewertätigkeit und erfüllte Erwartungen; Evaluation der Interviews; Freude an der Interviewertätigkeit mit ausgewählten Personengruppen; Einschätzung der Vorbereitung; Bewertung der Teilnahmebereitschaft bei unterschiedlichen Geldbeträgen als Incentives; teilnahmesteigernde Wirkung durch Erhöhung der Incentives.
Demographie des Interviewers: Schulabschluss; Erwerbstätigkeit; berufliche Stellung; Studienfächer; Familienstand; Geburtsland; Muttersprache Deutsch; Interviewer ist in der Lage Interview in Deutsch, Englisch, Türkisch, Russisch zu führen; sonstige Fremdsprachenkenntnisse; Geschlecht; Alter (Geburtsjahr); Bereitschaft zu einer weiteren Tätigkeit für NUBBEK.
II. Gruppensetting
1. Einrichtungsfragebogen: Personale und räumliche Gegebenheiten in der Einrichtung: Erfassung des gesamten pädagogischen Personals der Einrichtung nach Ausbildung, Wochenarbeitszeit, Fortbildungsumfang in den letzten 12 Monaten, Qualifikation von spez. pädagogischem Personal und dessen Wochenarbeitszeit; Anzahl und Größe der Büroräume, der Aufenthaltsräume für Personal, der speziellen gruppenübergreifenden Räume, der multifunktionalen Flächen; Anzahl der Toilettenräume; Größe der Außenfläche und konkrete Ausgestaltung der Außenfläche (z.B. feste Fläche zum Fahren, Sandflächen u.a.).
2. Gruppenfragebogen: Alter (in Monaten) des jüngsten und des ältesten Kindes in der Gruppe; Öffnungszeiten für Gruppenarbeit, Mittagsschließungszeiten; Gruppenzusammensetzung: Alter und Geschlecht sämtlicher Kinder, Familiensprache Deutsch oder nicht-deutsch, geringe Deutschkenntnisse, Teilnahme an Sprachförderprogrammen, Behinderung, detaillierte Erfassung der üblichen Anwesenheitszeiten, Anzahl und Größe der Gruppenräume dieser Gruppe; Fläche einer zweiten Ebene; pädagogische Nutzung von Flur und Garderobenflächen und deren Größe; wöchentliche Nutzung von Innenräumen außerhalb der Einrichtung.
3. Fragebogen für die Kindertagespflege: Erfassung entsprechender Struktur-Merkmale von Tagemüttern: für bis zu neun betreute Kinder wurde erfasst: Geschlecht, geringe Deutschkenntnisse, Familiensprache, Behinderung, Jahr des Beginns der Betreuung, Art der Vermittlung, detaillierte Erfassung der Anwesenheits- bzw. Betreuungszeiten, Alter eigener Kinder und Art der Betreuung, Anzahl der betreuten Kinder insgesamt in den Jahren 2006, 2007 und 2008 und bis September 2009; Lage der Tagespflegeeinrichtung; Anzahl und Größe der Gruppenräume bzw. weiterer Räume; nutzbare Außenflächen; Entfernung des Spielplatzes in Gehminuten; Pflegetätigkeit allein; weitere an der Pflege beteiligte Personen; Anzahl der bisher betreuten Kinder insgesamt; Grund für Beendigung der Betreuungstätigkeit; kürzeste und längste Betreuungszeit eines Kindes; pädagogische Berufsausbildung; Interesse an einer pädagogischen Berufsausbildung; Angaben zur berufliche Tätigkeit vor Tagespflege: als Hausfrau, pädagogische Tätigkeit oder Selbständigkeit; höchster Bildungsabschluss; Grund für die Aufgabe der Berufstätigkeit; Teilnahme an einem Fortbildungskurs für Tagesmütter; Grund für den Beginn der Tätigkeit in der Tagespflege; Art der speziellen Vorbereitung; Zeitpunkt (Monat und Jahr) und Dauer (in Stunden) von Fortbildungskursen; schwierige Teilnahme an Fortbildungskursen; schriftliche Konzeption für Tagespflegestelle; Charakterisierung der Tagespflegetätigkeit anhand ausgewählter Aussagen (z.B. Zeitdruck, nicht abschalten können, finanzielle Probleme, gesundheitliche Probleme, Arbeitszufriedenheit; Zufriedenheit-Skalometer (z.B. berufliche und soziale Sicherheit, finanzielle Lage, Aufgaben als Tagesmutter, Arbeitszeiten, Anzahl der Überstunden, Weiterbildungsangebot, Ausstattung der Tagespflegestelle, Gestaltungsmöglichkeiten am Arbeitsplatz u.a.).
Demographie der Tagesmutter: Alter; Familienstand; Wohnsituation; Einstellung des Lebenspartners zur Tagespflegetätigkeit; monatliches Haushaltsnettoeinkommen; Wohnungsgröße; Haushaltszusammensetzung.
4. Fragebogen zur Gesundheit und Hygiene in der Einrichtung bzw. Tagespflegestelle: Hygienestandards: Betreuungsangebot für erkrankte Kinder in der Einrichtung; zur Verfügung stehende Beschreibungen über Symptome von Kinderkrankheiten, Anzeichen von Kindesmisshandlung oder Kindesmissbrauch und den Umgang mit Erkrankungen und leichten Verletzungen; Zeitpunkt der letzten Thematisierung von Hygienestandards in einer Teambesprechung; gute Sichtbarkeit von Notfallnummern; aktueller Impfstatus des Kindes als Aufnahmevoraussetzung; schriftliche Informationen für jedes Kind über Impfstatus und Gesundheitsinformationen z.B. Allergien; Räume für Kinder, die sich unwohl fühlen; zusätzliche personelle Unterstützung für in der Einrichtung erkrankte Kinder.
5. Erfassung der Prozessqualität in Kindergruppen mittels KES-R, KES-E und KES-Z (Kindergarten-Skala, revidierte, erweiterte Form und Zusatz) in sieben Bereichen Platz und Ausstattung, Betreuung und Pflege der Kinder, Sprachliche und kognitive Anregungen, Aktivitäten, Interaktionen, Strukturierung der pädagogischen Arbeit, Eltern und Erzieherinnen; neben den zuvor genannten Bereichen wurde mittels KRIPS-R (Krippen-Skala, revidierte Form) zusätzliche Merkmale erfasst. Im Bereich der Kindestagespflege wurde die TAS (Tagespflegeskala) zur entsprechenden Qualitätsfeststellung eingesetzt.
6. Leiterinneninterview zur Erfassung der strukturellen Bedingungen der Einrichtung sowie der persönlichen Merkmale der Leitung: Detaillierte Erfassung der Bereiche: Träger der Einrichtung, Öffnungszeiten und gruppenübergreifende Dienste, Anzahl der Gruppen/Kinder, Leitung bzw. Stellvertretende Leitung, Zusatzpersonal, Aus- und Fortbildungen, Berufserfahrung, Konzeption der Einrichtung.
7. Erzieherinneninterview zur Erfassung der strukturellen Bedingungen der Kindergruppe sowie der persönlichen Merkmale der Erzieherin: detaillierte Erfassung der Bereiche: Pädagogische Fachkräfte, die in der Gruppe arbeiten, Arbeitszeiten, persönliche Merkmale, Aus- und Fortbildungen der Erzieherinnen, Berufserfahrung der Gruppenerzieherin, Arbeitszeiten, Aus- und Fortbildungen der Erzieherinnen.
8. Fragebogen zur Erfassung des Personal-Kind-Schlüssels (Erfassung der Anzahl der anwesenden Kinder und pädagogischen Fachkräfte zu drei festgelegten Messzeitpunkten am Morgen, Mittag und Nachmittag entsprechend den Kernzeiten der Gruppe.
9. Interviewer/Erheber-Einschätzung des Verhaltens der Erzieherin gegenüber den Kindern mittels CIS (Cargiver-Interaction Scale)
Zusätzlich verkodet wurde: Einrichtungs-ID und Gruppen ID (bei familienbetreuten Kindern: Familien-ID; Ost/West; Erhebungsdatum der Testinstrumente.
Inhaltsangabe: Die Einheit Europas war ein Traum weniger. Sie wurde eine Hoffnung für viele. Heute ist sie eine Notwendigkeit für alle. Konrad Adenauer zitiert in: Weidenfeld, W. (2007, 13) Es scheint, als stünde es nicht gut um Europa. Insbesondere scheint es, als stünde es nicht gut um die Institution EU. Die Wahlen zum Europaparlament sind in den Köpfen der Menschen als diejenigen Wahlen verhaftet, denen man traditionell die geringste Aufmerksamkeit schenkt. Ja, sie werden mitunter sogar als Wahlen zweiter Klasse bezeichnet. Dementsprechend schien es kaum möglich, die immer schon niedrige Wahlbeteiligung noch einmal zu unterbieten. Doch genau das ist geschehen: im Jahr 2009 machte nicht einmal mehr jeder zweite EU-Bürger von seinem Recht gebrauch, für die Abstimmung über die zukünftige Zusammensetzung des Europäischen Parlaments an die Urne gehen zu können. Bedeutet nun eine Wahlbeteiligung von nur 43 %, dass die Menschen in der EU, ja vielleicht in ganz Europa, nichts von ihren Nachbarn wissen wollen? Dass sie die Europäische Union tatsächlich nur noch als lästige Notwendigkeit betrachten? Dass sie das Leben, die Kultur, ja schlicht der Alltag der anderen Europäer nicht im Geringsten interessiert? Umfragen zufolge ist genau das Gegenteil der Fall, was bedeutet, dass es zwar kein Desinteresse an Europa, wohl aber an seinen Institutionen geben muss. Gerade 'die EU' hat bei ihren Bürgern einen denkbar schlechten Ruf. Zu kompliziert sind die Entscheidungsprozesse, zu wenig nachvollziehbar so manche Vorschrift. Warum der Krümmungsgrad einer Gurke im exakt definierten Rahmen liegen muss, damit sie innerhalb der Europäischen Union im Laden verkauft werden darf, wollte so manchem einfach nicht einleuchten. Doch obwohl die legendäre 'Gurkenrichtlinie' 2008 nach zwei Jahrzehnten abgeschafft wurde, bleibt die EU in den Köpfen der Bürger ein bürokratisches Monster, das zu ergründen schier unmöglich scheint. Vielleicht, so spekuliert Weidenfeld, 'fehlt uns einfach der überzeugende Zugang zur Erklärung von Europa, weil wir den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen. (…) Wir tun uns schwer, Vertrauen zu solch einem System zu entwickeln, weil uns eine Beurteilungsgrundlage fehlt'. Das Fernsehen könnte vielleicht dabei helfen, durch entsprechende nachhaltige Berichterstattung eine solche Beurteilungsgrundlage zu schaffen und den Bürgern eine Orientierung in diesem Wald voller Bäume zu geben. Dazu bräuchte es einen Fernsehsender, der nicht überwiegend national ausgerichtet ist, sondern den Anspruch hat, mit einem von vornherein paneuropäisch angelegten Konzept an den Start zu gehen. Doch auch das Fernsehen in Europa ist einer Vielzahl von Regelungen der europäischen Institutionen unterworfen. Die legislative Umgebung, in der sich ein paneuropäisch ausgerichteter TV-Kanal bewegen müsste, gleicht einem Labyrinth, in dem sich zurechtzufinden nicht einfach ist. Gang der Untersuchung: In einem ersten Schritt versucht die vorliegende Arbeit daher, die einzelnen Vorschriften europäischer Regulierungspolitik im Bereich des Fernsehens zu ordnen. Danach folgt ein Überblick über die aktive Seite Europas in diesem Metier – von Fördermaßnahmen für audiovisuelle Medien über europaweite Fernsehinitiativen der Vergangenheit bis hin zu heute existierenden Sendern mit nicht rein nationaler Ausrichtung. Der sich anschließende empirische Teil soll die Frage erörtern, ob ein paneuropäisch konzipiertes Vollprogramm vom Publikum überhaupt gewünscht wäre und wenn ja, wie ein solcher Kanal inhaltlich aussehen müsste, um für den Zuschauer attraktiv zu sein.Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis: 1.Flimmerndes Labyrinth4 2.Einordnung der Arbeit und derzeitiger Forschungsstand6 2.1Einordnung6 2.2Forschungsstand zum Thema Fernsehen in Europa6 3.Was heißt hier 'Europa'? - Relevante Organe für die Regulierung des Fernsehens in Europa10 3.1Der Europarat10 3.2Die Europäische Union12 3.2.1Das Europäische Parlament14 3.2.2Die EU-Kommission16 3.2.3Der Rat der Europäischen Union ('Ministerrat')18 3.2.4Der Europäische Rat19 3.2.5Der Europäische Gerichtshof (EuGH)19 3.3Die einzelnen Staaten Europas21 3.4Die European Broadcasting Union (EBU)21 3.5Außereuropäische Institutionen23 4.Hier regelt Europa - Relevante Vorgaben für das Fernsehen auf europäischer Ebene25 4.1Regelungen des Europarates25 4.1.1Die Europäische Konvention für Menschenrechte (EMRK)25 4.1.2Die Fernsehkonvention (FsÜ)28 4.2Regelungen der Europäischen Union – im Rundfunkbereich überhaupt legitim?31 4.2.1Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und Fernsehen als Kulturgut31 4.2.2Fernsehen als Dienstleistung32 4.2.3Problematik der Kompetenzabgrenzung33 4.2.4Doppelnatur des Fernsehens als Kulturgut und Dienstleistung37 4.3Regelungen der Europäischen Union38 4.3.1Der EU-Vertrag (EUV)39 4.3.2Die EU-Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste (AVMRL)42 4.3.3Europa- bzw. Assoziierungsabkommen mit Beitrittskandidaten43 4.4Die EU-Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste unter der Lupe44 4.4.1Grundlage: Das Sendestaatsprinzip44 4.4.2Schwerpunkt Quotenregelung45 4.4.3Schwerpunkt Jugendschutz46 4.4.4Schwerpunkt Werbung und Sponsoring47 4.4.5Schwerpunkt Ereignisse von erheblicher gesellschaftlicher Bedeutung48 4.4.6Überwachung der Einhaltung und Konsequenzen bei Verstoß50 5.Hier spricht Europa! – Die aktive Seite des Fernsehens in Europa52 5.1Unterstützung für Film- und Fernsehschaffende sowie Journalisten53 5.1.1Fördermaßnahmen europäischer Institutionen in der Film- und TV-Produktion53 5.1.2Unterstützung von Journalisten bei ihrer täglichen Arbeit54 5.2Europäische Fernsehinitiativen in der Vergangenheit und ihre Probleme55 5.2.1ADAM und EVE55 5.2.2Eurikon56 5.2.3 Europa TV57 5.3Die Situation heute: Fernsehen der EU für die Bürger Europas60 5.3.1Euronews60 5.3.2Europarltv62 5.3.3EUtube63 5.3.4Zukünftiges Engagement im 'Plan D'64 5.4Fernsehen für Europa – grenzüberschreitend angelegte Programme anderer Initiatoren64 5.5Die Probleme paneuropäischen Fernsehens im Überblick66 6.Chancen für ein europäisches Fernsehen? – Untersuchungsanlage70 6.1Fragestellung70 6.2Methodik70 6.3Grundgesamtheit, Stichprobe und Rücklauf71 7.Chancen für ein europäisches Fernsehen? – Ergebnisse und Interpretation73 7.1Die Frage nach der Sprache für einen paneuropäischen Fernsehsender73 7.2Die Frage nach dem Interesse an einem paneuropäischen Fernsehsender77 7.3Die Frage nach den gewünschten Inhalten bei einem paneuropäischen Fernsehsender80 7.4Die Frage nach den Chancen eines paneuropäischen Fernsehsenders auf dem Markt86 8.Wenn man es nur wagte. Ein Weg aus dem Labyrinth?89 Anhang Quellenverzeichnis93 Fragebogen (deutsche Version)103 Diagrammverzeichnis110 Tabellenverzeichnis131Textprobe:Textprobe: Kapitel 5.2, Europäische Fernsehinitiativen in der Vergangenheit: Zur aktiven Seite europäischer Institutionen in Bezug auf das Fernsehen gehört auch Engagement hinsichtlich konkreter Fernsehprojekte. So hat sich in der Vergangenheit vor allem die Europäische Gemeinschaft schon früh um den Aufbau eines paneuropäisch agierenden TV-Kanals bemüht, war aber am Ende aus einer Vielzahl von Gründen nicht erfolgreich. 5.2.1, 'ADAM' und 'EVE': Bereits im Jahr 1980, noch bevor das Europäische Parlament überhaupt angefangen hatte, sich mit dem Thema Fernsehen zu befassen, beschäftigte sich die EBU mit der Möglichkeit eines Eurovisionskanals und sammelte erste Vorschläge zu dieser Thematik. Das Ergebnis waren zwei Papierplanspiele namens 'EVE' und 'ADAM'. Im Rahmen von EVE (Eurovision Experiment) versuchte man, ein Sieben-Tage-Programm zusammenzustellen, das hauptsächlich aus Beiträgen von 18 verschiedenen EBU-Mitgliedsanstalten bestehen sollte. In der Woche vom 11. bis 17. Mai 1981 sollten so verschiedene Sendungstypen von den Anstalten beigesteuert werden. Als mögliche Programmquellen kamen mehrere in Betracht. Zum einen dachte man daran, das nationale Programm der Funkhäuser in Auszügen zu übernehmen oder auch speziell für EVE Beiträge zu produzieren. Des Weiteren wollte man auf Rohmaterial der EVN zurückgreifen und daraus ebenfalls für EVE Berichte erstellen. Programmelemente von unabhängigen Produzenten waren auch damals schon vorgesehen. Und schließlich sollten auch nationale Programmideen wie z.B. Quizsendungen für ein europäisches Publikum adaptiert und in das EVE-Sendeschema übernommen werden. Insgesamt war das Programm mehr oder weniger als 'organisierte Wiederholung', das heißt als Zweitverwertung von bereits vorhandenem Material konzipiert, was Live-Berichterstattung de facto ausschloss. Dem Vorhaben lag ein klarer Public Service Gedanke zu Grunde, daher war insgesamt eine Mischung aus Information, Erziehung und Unterhaltung eingeplant, die sowohl ein Massenpublikum als auch Minderheiten erreichen sollte. Spielfilme und Werbung dagegen spielten in diesem reinen Papierplanspiel gar keine Rolle. ADAM (Alternative Dual Anticyclic Model) war ein weiteres theoretisches Konstrukt eines europäischen Fernsehkanals. Wie der Name schon sagt, war der Grundgedanke hinter ADAM, antizyklisch zu senden. Zu Uhrzeiten, in denen weniger Konkurrenz um die Zuschauer zu erwarten war, sollte ADAM Inhalte für Minderheiten senden. Die Primetime für ADAM war festgelegt auf den frühen Morgen und die Nacht, und es sollten überwiegend Sendungen laufen, die in das Programmschema herkömmlicher Vollprogramme nicht passten, z.B. Filme in Über- oder Unterlänge. Darüber sah die Planung vor, regelmäßig aber vorhersehbar zwischen verschiedenen Programmschwerpunkten zu wechseln, also beispielsweise die erste Woche im Monat mehr Unterhaltung im Programm zu haben, dafür in jeder zweiten Woche den Schwerpunkt auf Information zu legen. Die Programmstruktur von ADAM sollte wiederkehrenden Charakters sein, so dass der Zuschauer schon langfristig vorausplanen könnte. Dem antizyklischen Charakter zufolge sollte beispielsweise Sport nie am Wochenende laufen, sondern möglichst an Werktagen. Mit ein Grund für dieses Konzept war, dass man nicht in Konkurrenz zu den nationalen TV-Anbietern treten wollte. Obwohl es im Fall von ADAM und EVE bei reinen Theoriekonstrukten blieb, lassen sich einige der Vorschläge von damals in späteren Projekten wiederfinden. 5.2.2, Eurikon: Das erste paneuropäisch konzipierte Programm, das auch tatsächlich gesendet wurde, war 'Eurikon' im Jahr 1982. Koordiniert durch die EBU hatten sich fünf europäische Funkhäuser zusammengeschlossen, um die Durchführbarkeit eines solchen Projekts auszuloten. Mit Eurikon wollte man Antworten auf technische, organisatorische, finanzielle und inhaltliche Fragen finden, die sich bei den Überlegungen um ein europäisches Fernsehprogramm ergeben hatten. Von Mai bis November 1982 gestalteten die britische Fernsehdachgesellschaft IBA, der österreichische ORF, die italienische RAI, die niederländische NOS und die deutsche ARD ein Testprogramm, das über Satellit ausgestrahlt wurde. Zu sehen bekam es aber nur ein kleines Publikum aus Experten, vor allem Journalisten, Techniker und Programmdirektoren – aus urheberrechtlichen Gründen war das Programm der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Reihum war jede der beteiligten Anstalten immer eine Woche lang für die Zusammenstellung und Aufbereitung der Inhalte verantwortlich, die anderen Sender lieferten dann jeweils Material zu. Inhaltlich hatte man sich auf eine Mischung aus Unterhaltung, Information und Bildung geeinigt, welche man in einen europäischen Kontext setzen wollte. Ziel war eine möglichst große Publikumsresonanz, wobei die Definition der Zielgruppe ein wenig diffus war: Eurikon sollte sich an 'einen Zuschauer wenden, der sich für seine europäischen Nachbarn und deren Sprachen interessiert und gleichzeitig wenig Zeit hat'. Alle Sendungen wurden bei Eurikon in sechs Sprachen übertragen: Englisch, Deutsch, Französisch, Spanisch, Italienisch und Niederländisch. Generell wurden alle Programme in ihrer Originalfassung an diejenige Anstalt geliefert, die für die jeweilige Sendewoche verantwortlich war, und diese war dann für die Übertragung in die jeweils anderen Sprachen zuständig. Als ein wesentliches Problem erwies sich in diesen Zusammenhang die Vielsprachigkeit in Europa. Experimentiert wurde mit Videotext-Untertiteln, Dolmetschern und muttersprachlichen Moderatoren. All diese Versuche ernteten Kritik: das Testpublikum 'beurteilte das Angebot insgesamt zwar recht positiv, war aber weniger angetan von den verschiedenen Lösungen im Umgang mit der Vielsprachigkeit. Insbesondere simultane Übersetzungen kamen nicht so gut an, und die Einblendung von Untertiteln wurden als zu kurz kritisiert'. Schnell war klar, dass das Sprachproblem eine der größten Herausforderungen europäischen Fernsehens werden würde. Vor allem der hohe organisatorische, personelle und finanzielle Aufwand für die Übersetzungen war schwer zu bewältigen. Hinzu kamen bei Nachrichtensendungen Einbußen an Aktualität, da die Umsetzung in andere Sprachen ganz einfach Zeit brauchte. Darüber hinaus wurde gerade bei Nachrichtensendungen deutlich, dass es gar nicht so einfach ist, einheitliche Nachrichtenfaktoren für ganz Europa zu definieren – denn bis dahin gab es noch keinerlei Vorstellung davon, was als paneuropäische Perspektive zu definieren war und dementsprechend auch Zuschauer in ganz Europa interessieren könnte. Da sich die Zulieferungen den jeweiligen Rundfunkanstalten oft als zu national geprägt erwiesen, merkte man bald, dass eine europäische Nachrichtensendung eine eigene Infrastruktur mit eigenem Personal brauchte, das auf die paneuropäische Perspektive spezialisiert sein musste. Obwohl die Testzuschauer vor allem auch die Newssendungen als Einschaltgrund angaben, wurde das Programm insgesamt als zu seriös bewertet – viele Probanden wünschten sich explizit mehr Unterhaltung im Sendeschema. Alles in allem aber zog man aus dem Testbetrieb ein positives Fazit. Man wusste zwar nun um die Probleme, die paneuropäisches Fernsehen mit sich bringen würde, aber hatte auch wertvolle Erkenntnisse bezüglich seiner Organisation gewonnen. Dass das Testpublikum fast ausschließlich aus solchen Personen bestanden hatte, die sich aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit ohnehin stärker für das Fernsehen und eine europäische Perspektive interessierten, wurde mehr oder weniger ignoriert. Ebenfalls konnte keine Aussage über die tatsächliche Finanzierbarkeit eines solchen Projekts getroffen werden, da keine Vergütungen im Sinne des Urheberrechts gezahlt werden mussten und auch der Sendeplatz auf dem Satelliten kostenlos zur Verfügung gestellt worden war. Insgesamt aber kamen die Initiatoren zu dem Ergebnis, dass ein paneuropäisch konzipierter TV-Kanal durchaus machbar sei. 5.2.3, Europa TV: Auf Drängen des Europäischen Parlaments und im Anschluss an den Hahn-Bericht (siehe Kapitel 3.2.1) beschloss die Europäische Gemeinschaft, sich an einem neuerlichen europäischen TV-Projekt zu beteiligen. Im Jahr 1985 startete so wiederum unter dem Patronat der EBU 'Europa TV', ein paneuropäisch konzipierter Sender nach dem Vorbild von Eurikon. Die niederländische Regierung trug wesentlich zur Förderung bei, indem sie einen holländischen Satellitenkanal kostenlos zur Verfügung stellte und sich auch finanziell stark einbrachte. Dieses Engagement führt dazu, dass das Sendezentrum von Europa TV im niederländischen Hilversum eingerichtet wurde. Die beteiligten Fernsehanstalten waren die deutsche ARD, die niederländische NOS, die italienische RAI, die irische RTÉ und wenig später auch die portugiesische RTP. Aufgrund mangelnder Resonanz und finanzieller Probleme stellte Europa TV schon ein Jahr nach seinem Start den Sendebetrieb wieder ein. Inhaltlich war Europa TV als Vollprogramm nach öffentlich-rechtlichem Vorbild gedacht, das Elemente aus den Bereichen Unterhaltung, Information, Kultur, Sport und Bildung sowie auch Filme enthalten sollte. Es sollte auch frei sein von politischer wie kommerzieller Einflussnahme. Ähnlich wie schon das Planspiel ADAM wollte Europa TV nicht zu nationalen Veranstaltern in Konkurrenz treten, sondern als ein alternatives Programm verstanden werden, das den bestehenden Markt um eine europäische Perspektive erweitern sollte. Auch das Element der untypischen, azyklischen Sendeplätze (z.B. Sport nicht am Wochenende) und das Konzept der langfristigen Vorhersehbarkeit des Programmschemas für den Zuschauer wurden von ADAM übernommen. Problematisch war wie schon bei Eurikon die mehr als zwiespältig definierte Zielgruppe. Einerseits suchte man möglichst viele Menschen (Kinder, Jugendliche, Erwachsene) wie auch Minderheiten zu erreichen. Andererseits war es realistischer, eher diejenigen Bürger als Zuschauer zu gewinnen, die neben ihrer 'eigenen Tages- und Wochenzeitung auch schon mal zum Spiegel oder zur Financial Times greifen, für die andere Sprachen bzw. Untertitelung kein Problem darstellen, und die aus beruflichen und persönlichen [sic!] Interesse offen sind für Entwicklungen außerhalb der Landesgrenzen'. Genau diese Art Zuschauer fühlte sich aber von dem täglich fünfstündigen Programmangebot, von dem allein drei Stunden auf Kinder-, Jungend- und Sportsendungen entfielen, wohl eher weniger angesprochen. Das Organisationsschema war zentralistischer als noch bei Eurikon, die Schaltzentrale war beständig in Hilversum untergebracht und alle beteiligten Anstalten lieferten ihr Sendematerial dorthin – ebenso, wie sie Personal und Technik für die Produktion bereitstellten. Finanzieren sollte sich Europa TV auf lange Sicht im Wesentlichen durch Werbeeinnahmen. Um sich von privatwirtschaftlichen Anbietern abzugrenzen, betonten die Initiatoren, die Einkünfte aus den Werbeeinnahmen würden ausschließlich ins Programm investiert, ein Gewinn sollte nicht erzielt werden. Doch 'wo bereits die rein kommerziellen Satellitenprogramme Schwierigkeiten bei der Suche nach Werbekunden hatten, konnte sich Europa TV mit seinem nicht bloß auf Massenpublikum abzielenden Programm noch weniger Chancen auf reichlich Werbeeinnahmen machen'. Folglich ließ sich die beabsichtigte Eigenfinanzierung durch Werbung nicht innerhalb des angestrebten Zeitraums realisieren. Dies war ein wesentlicher Faktor für das frühzeitige Scheitern des ganzen Projekts. Hinzu kam das für alle Beteiligten 'enttäuschende Verhalten der Europäischen Gemeinschaft und des Europarats, die sich keineswegs um ein positives Bild von Europa TV in der Öffentlichkeit bemühten'. Ganz im Gegenteil – die EU-Kommission verweigerte schließlich sogar die Zahlung bereits zugesicherter Fördergelder. Rundfunkrechtlich bewegte sich Europa TV in einem 'Vakuum', da es für grenzüberschreitendes Fernsehen zur damaligen Zeit noch keine verbindlichen Regelungen bezüglich Werbung und Verbreitung, geschweige denn in Bezug auf inhaltliche Aspekte gab. Insbesondere kämpfte man also auch gegen nationale Regelungen, die Europa TV das Leben schwer machten. So sah die an sich dem Projekt ja sehr positiv gesinnte niederländische Regierung Europa TV als ausländischen Kanal an – und um die eigenen nationalen Sender vor Konkurrenz von außen zu schützen, war es damals noch verboten, fremdsprachige Sendungen mit niederländischen Untertiteln zu versehen – für einen vielsprachig angelegten TV-Kanal also ein großes Manko. Dem Problem der Multilingualität Europas begegnete man zum einen auf die schon im Zuge von Eurikon erprobte Weise, nämlich (außer in den Niederlanden) mit Untertiteln. Dazu kam der Einsatz der so genannten Voice-Over-Technik, bei der der Originalton im Hintergrund erhalten bleibt und ein Sprecher das Gesagte in der jeweiligen Landessprache überspricht. Auf Vollsynchronisation wurde verzichtet, womit man das Risiko einging, vor allem die Zuschauer großer TV-Märkte zu verlieren, die es seit jeher gewohnt waren, Produktionen aus dem Ausland vollständig synchronisiert vorgesetzt zu bekommen. Dennoch waren die Kosten für die Umgehung dieser Sprachprobleme sehr. Eine weitere Komponente, die zum vorzeitigen Scheitern von Europa TV beitrug, war die mangelnde Verbreitung. Da Mitte der 80er Jahre nur wenige Menschen direkt Satellitenfernsehen empfangen konnten, war der Kanal darauf angewiesen, dass man ihm eine analoge terrestrische Sendefrequenz zuteilte oder ihn in die – damals aber auch erst im Entstehen begriffenen – Kabelnetze einspeiste. Beides geschah nur sehr sporadisch, so dass die überwiegenden Mehrheit der Bürger Europas den Sender und sein Angebot nie zu Gesicht bekam. Aufgrund der geringen Reichweite und der kurzen Lebensdauer von Europa TV war es auch nicht möglich, die Akzeptanz des Programms beim Zuschauer adäquat zu evaluieren. Zwar wurden vereinzelt Bürger in Holland, Deutschland und Schweden zu ihrer Meinung über die Sendungen befragt, aber wegen des verschwindend geringen Anteils derjenigen, die das Programm überhaupt kannten, können diese Erhebungen nicht als repräsentativ gewertet werden. Die Publikumsresonanz konnte also nicht wirklich festgestellt werden. Ein Jahr nach Sendestart kam dann das Aus für Europa TV, denn das Startkapital war verbraucht und es hatten sich keine neuen Investoren auftreiben lassen. Daher war die niederländische NOS nicht länger bereit, 'unter den gegebenen wirtschaftlichen Verhältnissen des Senders dessen gesamte Infrastruktur bereitzustellen und den Betrieb aufrecht zu erhalten'. Trotz seines Scheiterns werteten die Macher von Europa TV das Projekt als Erfolg, da es erstmals bewiesen hatte, dass das Konzept eines multilingualen, länderübergreifenden Fernsehsender nach Vorbild der öffentlich-rechtlichen Anstalten gelingen kann – man führte das frühe Ende allein auf die Begleitumstände, nicht auf die Unmachbarkeit des Programmkonzepts zurück. In der Folge lösten sich Programmmacher wie auch Medienpolitiker allerdings von dem Gedanken an ein paneuropäisches Vollprogramm und konzentrierten sich mehr auf Spartenlösungen wie reine Sport- oder Nachrichtenkanäle.
Fraunhofer-Präsident Holger Hanselka zieht Konsequenzen aus der Affäre um seinen Vorgänger Reimund Neugebauer und schlägt eine umfangreiche Governance-Reform für die Forschungsorganisation vor. Kommt sie durch, verliert vor allem einer an Macht: Hanselka selbst.
Holger Hanselka, 62, ist Maschinenbauingenieur und seit August 2023 Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft. Vorher war er Präsident des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) und Vizepräsident der Helmholtz-Gemeinschaft. Bevor Hanselka 2013 nach Karlsruhe kam, leitete er das Fraunhofer-Institut für Betriebsfestigkeit und Systemzuverlässigkeit in Darmstadt. Foto: Markus Jürgens/Fraunhofer.
Herr Hanselka, am 13. Juni steht die erste große Bewährungsprobe für Sie als Fraunhofer-Präsident an. Eine maßgeblich von Ihnen erarbeitete Governance-Reform, vorgeschlagen von Vorstand und Senat, wird der Fraunhofer-Mitgliederversammlung zur Abstimmung vorgelegt. Im organisationseigenen Intranet verkünden Sie: "Fraunhofer geht mit dieser Reform einmal mehr voran." Mit Verlaub: Angesichts des mutmaßlichen Kontrollversagens in der Affäre um Ihren Vorgänger Reimund Neugebauer das notwendige Aufräumen gleich zur Vorreiterschaft zu erklären, ist das nur forsch oder schon frech?
Ich möchte nicht ins Detail gehen, was die Zeit vor meinem Amtsantritt angeht. Aber ja, es hat ein Versagen gegeben. Der Senat hatte bisher eine Beratungsfunktion und noch keine umfassende Aufsichtsfunktion, er muss als Aufsichtsgremium aber auch die operativen Geschäfte des Vorstands effektiv überwachen. In der noch gültigen Satzung ist diese Überwachungsfunktion mit entsprechendem Instrumentarium nicht hinterlegt. Diese Governance-Strukturen haben lange gewirkt, ohne dass es "gestört" hätte. Das geht bis zu dem Punkt gut, an dem es zu Konflikten oder Verstößen kommt. Erst dann beweist sich wirklich die Qualität einer Governance und ihrer Instrumente. Ich bin schon immer, auch unabhängig von der Situation bei Fraunhofer, der Überzeugung, dass eine Organisation am Ende nur so gut sein kann wie ihre Strukturen, ihre Abläufe und Regeln. Darum habe ich beim Karlsruher Institut für Technologie (KIT) mit viel Aufwand eine Reform der Governance vorangetrieben, darum habe ich es, in Zusammenarbeit mit der Senatsvorsitzenden Hildegard Müller, auch bei Fraunhofer als meine erste große Aufgabe gesehen, eine grundsätzliche Veränderung anzustoßen. Aber nicht von oben, sondern – und das ist mir besonders wichtig – partizipativ aus der Wissenschaft heraus. Dabei konnten wir auf eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen Senat, Vorstand, und dem BMBF zählen.
Was bedeutet das praktisch?
Vor allem habe ich die ersten Monate sehr viel zugehört, was unsere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den Instituten umtreibt. Auch die Anmerkungen des Rechnungshofes…
…der mehrfach sehr kritisch über Fraunhofer berichtete, unter anderem zur mutmaßlichen Spesenverschwendung im von Reimund Neugebauer geleiteten Vorstand…
…haben natürlich eine bedeutende Rolle bei der Erarbeitung unseres Reformpakets gehabt. Zusammen mit der Senatsvorsitzenden Hildegard Müller habe ich eine Taskforce aufgestellt mit Vertreterinnen und Vertretern des Senats, der Politik – sprich der Zuwendungsgeber –, von Institutsleitungen und des Wissenschaftlich-Technischen Rats. Gemeinsam plädieren wir dafür, das Zusammenspiel der zentralen Gremien und Organe neu auszutarieren. Der Senat erhält nach dem vorgeschlagenen Modell ein Überwachungsrecht und die Überwachungsaufgabe sowie die dafür nötigen Kompetenzen – analog in etwa zum Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft. Dementsprechend muss der Vorstand Berichtspflichten haben, sauber differenziert in gegenüber dem Senat nur anzeigepflichtige Entscheidungen und andere, die einer Zustimmungspflicht unterliegen. Auch diese Berichtspflichten waren bislang nicht hinreichend in der Satzung definiert.
"Entscheidend ist, die für eine Überwachung durch den Senat notwendigen Instrumente zu schaffen."
Berichten kann man vieles.
Entscheidend ist darum als nächstes, die für eine Überwachung durch den Senat notwendigen Instrumente zu schaffen. Das soll zum einen der Rechnungsprüfungsausschuss sein, den wir gründen und mit hochkompetenten, unabhängigen Expertinnen und Experten besetzen wollen. Zum anderen soll es einen Ausschuss für Vorstandsangelegenheiten geben, der sich neben der Vorstandsbesetzung speziell mit Compliancefragen des Vorstands auseinandersetzt. Wichtig ist aber auch, dass das Kontrollorgan, der Senat, nach transparenten Regeln nachbesetzt wird – und dass der Vorstand inklusive des Präsidenten im Auswahlprozess klar außen vor ist. Diese Aufgabe soll in Zukunft der Nominierungsausschuss erfüllen. Aber natürlich umfasst unser Reformvorschlag viel mehr, unter anderem die genaue Gestaltung der Wechselwirkungen zwischen dem Vorstand und den Fraunhofer-Instituten über den Wissenschaftlich-Technischen Rat, die Verbünde und ihre Vertretung im Fraunhofer-Präsidium. Jetzt hoffen wir, dass unser Vorschlag die Zustimmung der Mitgliederversammlung findet, aber zusammen mit allen Stakeholdern, die daran mitgearbeitet haben, bin ich in der Hinsicht zuversichtlich.
Von wegen Vorreiterschaft: Einen Ausschuss für Vorstandsangelegenheiten und einen Rechnungsprüfungsausschuss hat etwa die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) schon seit 2019. Viele der von Ihnen erwähnten Punkte klingen eher nach einer Vergangenheitsbewältigung der Ära Neugebauer in mehreren Kapiteln.
Die Satzung der DFG empfinde ich als vorbildlich. Im Vergleich zur DFG hat Fraunhofer aber eine grundsätzlich andere Rolle im deutschen Wissenschaftssystem. Bei der Governance von Fraunhofer steht im Zentrum die Verbindung zwischen den Organen und dem operativen Forschungsgeschäft. Und hier ist ein bedeutsamer Punkt unseres Reformvorschlags die Rolle des Präsidenten. In der alten Fraunhofer-Welt hatte der Präsident per Satzung eine Richtlinienkompetenz, deren Abschaffung wir nun vorschlagen. Der Vorstand wird ein Kollegialorgan sein, und der Präsident bzw. die Präsidentin hat die Aufgabe, dieses zu moderieren. Darin kommt ein anderes Führungsverständnis zum Ausdruck. Der Vorstand haftet ja auch gemeinschaftlich für sein Handeln. Im Falle grober Fahrlässigkeit bis hin zu einer persönlichen Haftbarkeit. Wobei die Verfolgung und Ahndung mutmaßlicher rechtlicher oder sogar strafrechtlicher Verstöße nicht Aufgabe des Senats als Aufsichtsorgan ist, sondern des Rechtsstaats.
Weshalb derzeit die Ermittlungen im mutmaßlichen Spesenskandal auch von der Münchner Staatsanwaltschaft geführt werden.
Mit der Senat und Vorstand selbstverständlich vollumfänglich kooperieren.
Ist auch Teil der Reform, juristische Bedenken aufzugreifen, was die Besetzung des Senats mit Bundestagsabgeordneten angeht? Der angesehene Verfassungsrechtler Ulrich Battis sagte vergangenes Jahr: "Es ist ganz einfach: Vertreter der Gesellschaft im Aufsichtsgremium der Fraunhofer-Gesellschaft dürfen nicht zugleich für die Zuteilung staatlicher Gelder verantwortlich sein." Besonders kritisch sei das im Falle von Haushaltspolitikern, die im Bundestags-Haushaltsausschuss in dessen Schlussberatungen freihändig Geld verteilen könnten.
Die finanziellen Entscheidungen zum Einsatz der Grundfinanzierung finden nicht im Senat, sondern im Bund-Länder-Ausschuss statt. Die dortigen Vertreter sind andere als im Senat, darauf wird großer Wert gelegt. Dass die Legislative und damit der Staat im Senat ebenso vertreten ist, mit einer Minderheitenposition wohlgemerkt, halte ich für gerechtfertigt und ist unter anderem auch in anderen AUFs nicht ungewöhnlich. Fraunhofer ist in mehrfacher Hinsicht Teil der Gesellschaft. Wir handeln im Auftrag und Interesse des Bundes und der Länder, ein Drittel unseres Haushalts bestreiten wir immerhin über die staatliche Grundfinanzierung. Die Bundestagsabgeordneten vertreten das gesamtgesellschaftliche Interesse im Senat, dafür sind sie gewählt. Als Senatsmitglieder sind sie zugleich dem Wohl von Fraunhofer verpflichtet.
Genau das ist doch die problematische Doppelfunktion!
Bundestagsabgeordneten zu unterstellen, dass sie die Sinnhaftigkeit von Ausgaben nicht einschätzen können, halte ich für gewagt. Ordnungsgemäße Erledigung der Aufgaben des Senats erfordert geeignete Persönlichkeiten und diese müssen sicherstellen, dass Rollen nicht vermischt werden. Dafür sorgt der Nominierungsausschuss.
"Damit gibt der Präsident einen großen Machtfaktor in andere Hände. Im Geiste eines Vorstands als Kollegialorgan ist das genau das richtige Signal."
Wie sieht es eigentlich aktuell mit personellen Neubesetzungen im Vorstand aus? Derzeit ist der Posten des fristlos entlassenen Innovationsvorstands Alexander Kurz vakant und wird von Ihnen mitverantwortet. Gleichzeitig ist Elisabeth Ewen, Vorständin für Personal, Unternehmenskultur und Recht, noch im Amt, die zu schon zu Neugebauers Zeiten Personalchefin war.
Derzeit leite ich dieses Vorstandsressort kommissarisch. Das ist eine erhebliche Doppelbelastung und zugleich eine riesige Chance, über die Funktionen und Herausforderungen unmittelbar zu lernen. Und mit dem Gelernten dann den Neuzuschnitt zu gestalten. Der Senat hat in seiner letzten Sitzung auf meinen Vorschlag hin entschieden, die Verantwortung für Forschung, derzeit beim Präsidenten, und für Transfer in eine Hand zu legen, in einem neuen Vorstandsressort Forschung und Transfer. Damit gibt der Präsident übrigens einen großen Machtfaktor in andere Hände, denn am Forschungsressort hängt das größte intern zu verteilende Budget. Im Geiste eines Vorstands als Kollegialorgan ist das genau das richtige Signal. Der Findungsprozess läuft und ich gehe fest davon aus, dass der Senat, der für die Auswahl zuständig ist, in seiner Sitzung am 12. Juni eine hervorragend qualifizierte Persönlichkeit wählen wird.
Wer in der Neugebauer-Ära mit Whistleblowern sprach, hörte von fast genauso mächtigen Strippenziehern abseits des Vorstandes, und zwar an der Spitze verschiedener Institute und Verbünde, die ihren Einfluss gegenseitig absicherten. Der Begriff "Seilschaften" fiel des Öfteren. Gibt es jetzt zwar eine neue Figur an der Fraunhofer-Spitze, die Kosmetik betreibt, aber die darunter liegenden Machtstrukturen bestehen fort?
Natürlich gibt es immer Netzwerke von Menschen. Die kann, muss man aber nicht Seilschaften nennen. Als einer, der selbst 15 Jahre lang ein Fraunhofer-Institut geleitet hat, glaube ich allerdings, ziemlich genau zu wissen, wie Institutsleitungen ticken und was sie über Vorstand und Zentrale denken. Ich habe sechs Jahre lang einen Verbund geführt, ich kenne auch diese Metaebene zwischen Instituten und Vorstand. Natürlich existieren da informelle Kanäle. Diese Kanäle gilt es, im Interesse der Gemeinschaft zu bespielen. Aber an einer Stelle möchte ich keine Zweifel aufkommen lassen: Die Entscheidungskompetenz für alle unternehmensstrategischen und strukturellen Fragen liegt bei denen, die bei Fraunhofer die Haupt-Führungsverantwortung tragen. Und das ist der Vorstand und zum Teil der Senat. Natürlich kann ein Vorstand nicht überall und allwissend sein, er braucht Beratung aus der Gesellschaft und den Instituten heraus, und diese Beratung organisiert sich über die Verbünde und deren Vorsitzende, die alle Mitglieder des Fraunhofer-Präsidiums sind.
Nur Beratung?
Ein effektives Beratungsgremium, und da sind wir bei einer Kulturfrage, wird nicht immer nur Ja sagen, sondern idealerweise gelegentlich gegenhalten, hinterfragen, Gegenvorschläge präsentieren. Aber die Entscheidung auf der Gesamtebene trifft immer der Vorstand. Anders ist es, wenn wir über die Geschäftsverantwortung für die mehr als 10.000 Forschungsprojekte sprechen, die Fraunhofer pro Jahr durchführt. Von denen läuft kein einziges beim Vorstand, sondern alle laufen einzig und allein in der Verantwortung der Institutsleitenden. Die an der Stelle wie die Chefinnen und Chefs von Business Units innerhalb eines Unternehmens verfahren. Da aber die Institute bei uns rechtlich nicht eigenständig sind, unterliegen sie ebenfalls einer Berichtspflicht dem Vorstand gegenüber, der hier die Kontrollaufgabe hat.
"Ich muss das große Netzwerk Fraunhofer so offen und attraktiv machen, dass man dort mitspielen will."
Und was tun Sie dagegen, dass die informellen Seilschaften – Sie nennen sie "Netzwerke" – nicht zu mächtig sind?
Als Präsident bin ich gefordert, gemeinsam mit dem Vorstand eine Unternehmenskultur zu schaffen, die in die Breite kommuniziert und sich nicht auf zwei, drei Kanäle verlässt. Ich muss das große Netzwerk Fraunhofer so offen und attraktiv machen, dass man dort mitspielen will und sich proaktiv einbringt.
Die Versprechen von Kommunikation und Offenheit ziehen sich durch alle Ihre Äußerungen.
…..und genau so ist es auch gemeint……
Als Sie im vergangenen Sommer Ihr Amt antraten, haben Sie mit Blick auf Ihre Zeit am KIT gesagt: "Der Schlüssel zum Erfolg war und ist aus meiner Sicht der Dialog." Einige bei Fraunhofer nehmen Ihnen diesen Anspruch aber offenbar nicht ab. Er passe nicht zu Ihrem Handeln, schrieb der Co-Geschäftsleiter des Fraunhofer INT neulich. Dessen "kürzlich beschlossene und verkündete Übernahme in das Fraunhofer FKIE sei nicht vorab mit den beteiligten Instituten abgesprochen worden und auch nicht vom nach der Fraunhofer Satzung zuständigen Gremium, dem Senat, abgesegnet." Die gelieferte Begründung sei nach Analyse der Betroffenen nicht stichhaltig und "schon gar nicht hinreichend" gewesen. Ihre Antwort?
Das gehört zu einem Job wie dem meinen dazu: Lob kommt selten, Tadel hören Sie jeden Tag. Ich bin an meinem ersten Tag bei Fraunhofer in einen intensiven Dialog eingestiegen, mit den Institutsleitungen wie den Beschäftigten. Wir haben extra ein neues Gesprächsformat dafür entwickelt, "Vorstand vor Ort" heißt es. Die Vorstandsmitglieder und ich sind an sehr vielen Instituten gewesen. Wir lassen uns bei den Besuchen nicht nur schicke Hallen und moderne Versuchsstände zeigen, wir reden mit allen Leuten, ein, zwei Stunden, und dabei beantworten wir jede Frage. Alles darf gefragt werden. Wo wir keine Antwort geben können, sagen wir auch das offen. Das löst etwas aus bei den Menschen. Sie fangen an, auch untereinander zu reden. Das alles führt zu einer positiven, optimistischen Grundstimmung.
Sagen Sie.
Das wird mir von vielen Seiten so gespiegelt. Aber natürlich hat ein Vorstand nicht nur angenehme Entscheidungen zu treffen, im Gegenteil. Die meisten Themen, die zu uns hochkommen, sind solche, die andere nicht entscheiden können oder wollen. Damit sind wir bei den zwei strukturellen Veränderungen, die wir einleiten mussten. Eine betrifft das von Ihnen genannte Institut. Die wichtigste Botschaft in Sachen Fraunhofer INT lautet: Der Standort und das grundfinanzierte Budget bleiben erhalten, und die gesamte Mannschaft kann weitermachen. Was sich ändert, ist das Institutskürzel an der Tür, das mag schmerzvoll sein für Menschen, die da schon lange arbeiten, das kann ich nachvollziehen. Ich bin aber ebenfalls quasi seit meinem ersten Arbeitstag auch vom Institut selbst auf die dort vorhandenen Risiken angesprochen worden.
Die worin bestehen, wenn es sich laut Betroffenen beim INT um ein "finanziell gesundes und für die Zukunft fachlich sehr gut aufgestelltes" Institut handelt?
Das Institut ist eine Perle innerhalb eines sehr speziellen Marktes für das Verteidigungsministerium. Das Verteidigungsministerium kann, will und soll nicht auf das Fraunhofer INT und seine Kompetenzen verzichten. Gleichzeitig aber hatten alle unsere Institute, die Forschungsaufträge aus dem Verteidigungssektor bearbeiten, seit Jahren den Auftrag, zu diversifizieren und sich einen zivilen Geschäftsbereich aufzubauen, um resilienter zu werden. Beim Fraunhofer INT hat das bislang nicht in ausreichendem Maße geklappt, wir meinen aber, mit der Integration in das größere, komplementär aufgestellte Fraunhofer FKIE jetzt den nötigen Ausgleich herzustellen. Im Übrigen ist nichts ohne Beteiligung der beiden Institutsleitungen und nichts ohne Zustimmung des Senats gelaufen, denn die Zustimmung des Senats steht noch aus. Natürlich haben wir als Vorstand vorgefühlt, ob der Senat und die Zuwendungsgeber mitgehen würden, und die Signale waren so. Wir haben daraufhin beschlossen, schon zu diesem frühestmöglichen Zeitpunkt die gesamte Belegschaft des Fraunhofer INT persönlich zu informieren. Ich habe mich dort hingestellt und die Entscheidung des Vorstands persönlich verkündet. Aus der Motivation heraus, die Beschäftigten so früh wie möglich selbst zu informieren. Keinesfalls wollte ich dies einer zufälligen Kommunikation von Dritten überlassen. Mit dem Wissen, dass der Senat die Integration immer noch ablehnen kann. Das ist das Risiko, das ich trage. Weil ich dieses Vorgehen für fair und transparent halte. Mehr Offenheit und frühere Kommunikation gehen meines Erachtens nicht.
"Ich habe in der Zeitung gelesen, es existiere eine Liste von mehr als 20 Instituten, für die es Schließungspläne gebe. Eine solche Liste gibt es nicht, diese Berichterstattungen sind frei erfunden."
Sind die zwei Institute erst der Anfang? Der Rechnungshof fordert, die Zahl der Fraunhofer-Institute zu limitieren, der ehemalige BMBF-Staatssekretär Thomas Sattelberger fragte zuletzt im Research.Table, ob Fraunhofer-Institute oder Zweigstellen aus Gefälligkeit Politikern gegenüber gegründet worden seien – auf Kosten der wirtschaftlichen Tragfähigkeit.
Ich habe sogar irgendwo in der Zeitung gelesen, es existiere eine Liste von mehr als 20 Instituten, für die es Schließungspläne gebe. Eine solche Liste gibt es nicht, diese Berichterstattungen sind frei erfunden. Und um es noch deutlicher zu sagen: Die beiden Fälle, in denen wir jetzt handeln, sind lange bekannt, über viele Jahre herrschte allerdings statt Handlungsbereitschaft das Prinzip Hoffnung. Zu mir kamen in beiden Fällen im Vorfeld auch die Institutsleitungen mit Hinweisen zur kritischen Situation auf mich zu und baten um klare Zukunftsentscheidungen.
Während Sie Fraunhofer von innen sortieren, herrscht auch von außen immenser Erwartungsdruck. Auf die Berichte des Bundesrechnungshofs hin hat der Rechnungsprüfungsausschuss des Bundestages beschlossen, wegen der enorm hohen Rücklagen, die Fraunhofer angehäuft hat, einen Widerruf staatlicher Gelder aus der Corona-Zeit zu prüfen, weil Fraunhofer die nämlich gar nicht gebraucht habe. Drohen Ihnen demnächst Millionen-Rückforderungen?
Ich habe nach meinem Amtsantritt die Rechnungshofberichte alle gelesen und finde sie beeindruckend detailliert. Da stehen Details über Fraunhofer drin, exzellent zusammengefasst, die ich mir sonst sehr mühsam durch eigene Analysen hätte erarbeiten müssen. Fraunhofer hat in der Vergangenheit bestimmte Instrumente des Zuwendungsrechts nicht so bespielt, wie sich ein Zuwendungsgeber, also Bund und Länder, das möglicherweise wünschen würde. Auf der anderen Seite halte ich fest, dass Fraunhofer jedes Jahr geprüft wurde und dass die staatlichen Stellen jedes Jahr alles so abgenommen haben, wie es war. Insofern gilt es, das Zusammenspiel von Zuwendungsgeber und Zuwendungsempfänger zu renovieren. Ich bin Ingenieur und kein Experte für Haushaltsrecht, aber offenbar ist unter anderem die Abgrenzung zwischen den sogenannten Selbstbewirtschaftungsmitteln und den Kassenmitteln als unzureichend bemängelt worden. Ich bin seit acht Monaten bei Fraunhofer, und wir haben unseren Haushalt in der Hinsicht jetzt so aufgestellt, dass es daran nichts mehr zu meckern gibt. Hier gilt explizit das professionelle Handeln von Vorständin Sandra Krey zu betonen. Allerdings müssen wir parallel daran arbeiten, dem Außenraum, auch unseren Parlamentariern, das Modell Fraunhofer noch besser zu erklären.
Was müssen die Parlamentarier denn verstehen?
Die Besonderheit des Fraunhofer-Modells: Wir erhalten zwar eine staatliche Grundfinanzierung, diese deckt aber weniger als ein Drittel unserer Kosten ab. Unser Projektgeschäft, unsere Auftragsforschung, die wir für Unternehmen und öffentliche Auftraggeber durchführen, lag ursprünglich bei rund zwei Dritteln und macht inzwischen fast 80 Prozent aus. Das führt dazu, dass wir viel stärker Auftrags- und damit Finanzierungsrisiken ausgesetzt sind und mehr in die Vorfinanzierung gehen müssen. Wir liefern erst und bekommen unser Geld verzögert von unseren Auftraggebern, die je nach Projektgröße Zahlungsziele von mehreren Wochen bis zu einigen Monaten haben. Da entsteht eine Liquiditätslücke. Die Rücklage dient der Vorsorge für diese Ertrags- und Liquiditätsrisiken Sie bewegte sich in der Vergangenheit in einer Größenordnung von bis zu 400 Millionen Euro. Das findet der Rechnungshof zu hoch, woraus eine Diskussion entstand. Das Ergebnis ist, dass wir jetzt diesen Zweck und eine Obergrenze für die Rücklage mit dem Zuwendungsgeber festgelegt haben.
Und parallel werden Gelder zurückgefordert?
Eine Rückforderung soll geprüft werden, das ist ein Unterschied.
Sind Zahlungen falsch verbucht worden? Wenn ja, wird das korrigiert. Wir haben volle Transparenz über die abgerufenen und eingesetzten Mittel mit unseren Zuwendungsgebern.
"Es sind schwierige Zeiten, aber es ist auch ein Fraunhofer-Markt da draußen."
Wie aber wollen Sie das Grundproblem lösen? Der Anteil der Grundfinanzierung am Fraunhofer-Budget ist, Sie haben es selbst gesagt, rapide gesunken, das Projektwachstum wurde überdehnt. Gleichzeitig steigen die Gehälter rapide, die allgemeinen Preissteigerungen und gerade die bei Energie und Bau waren immens, und die Bundesregierung muss sparen.
Die Zeiten sind herausfordernd, die Zeiten sind mit Blick auf die internationale politische Lage teilweise sogar beängstigend. Gleichzeitig steckt in den aktuellen Veränderungen gerade für Fraunhofer ein riesiges Potenzial. Das Fraunhofer-Modell bedeutet ja nicht nur, dass die Grundfinanzierung ein Drittel beträgt, sondern der Rest zu je einem Drittel aus Aufträgen aus der Wirtschaft und zu einem Drittel aus öffentlichen Aufträgen besteht. In den vergangenen Jahren hat Fraunhofer für den Staat sehr viele Transformationsaufgaben übernommen, die allesamt öffentlich gefördert wurden. Die Industrieaufträge haben zwar auch zugenommen und absolut betrachtet ein Rekordhoch erreicht. Relativ aber sind sie langsamer gewachsen, so dass der Industrieanteil bezogen auf den Gesamthaushalt gesunken ist. Auch an der Stelle ist also etwas aus der Balance geraten. Jetzt deutet die Situation der öffentlichen Haushalte darauf hin, dass wir viele staatliche Aufträge nicht verlängert bekommen und weniger neue nachfolgen. Wir sind also stärker auf die Industrie angewiesen, und das ist gut so. Ob verteidigungsrelevante Technologien, Cyber Security, künstliche Intelligenz oder neue Produktionsverfahren in der Batterie- oder Chipherstellung: Wir haben die Kompetenzen und die Menschen, um uns auf die veränderte Nachfrage einzustellen. Es sind schwierige Zeiten, aber es ist auch ein Fraunhofer-Markt da draußen.
Womit wir endlich einmal bei Ihren eigentlichen Themen als Ingenieur sind?
Womit wir bei den Themen sind, die mich wirklich begeistern. Nehmen wir eines von vielen Beispielen: Die generative KI ist in aller Munde, ich sitze im Zukunftsrat des Bundeskanzlers und durfte das Dossier über die Entwicklungsperspektiven der generativen KI zusammen mit der Acatech und dem SAP-CEO Christian Klein schreiben. Dabei ging es insbesondere darum, wie wir in Deutschland schnell und sicher Generative KI in die industrielle Anwendung überführen können und dabei unsere Wettbewerbsfähigkeit und technologische Souveränität stärken. Fraunhofer entwickelt unabhängig und von Grund auf im Rahmen des Open-GPTX Projekts, bei dem auch das Forschungszentrum Jülich und die TU Dresden mitarbeiten, eigene große KI-Modelle. Da stecken schon jetzt Millionen Trainingsstunden insbesondere auf dem Juwels- Booster in Jülich drin. Dazu kommen weitere Millionen Trainingsstunden, die unsere Forschenden jüngst im Rahmen des EuroLingua-GPT Projekts am Mare Nostrum Cluster in Barcelona gewinnen konnten. Wir haben die Chance, basierend auf diesen Erfolgen, gemeinsam mit unseren Partnern eigene wettbewerbsfähige, große open-source Sprachmodelle in allen europäischen Sprachen "Made in Europe" zu entwickeln und damit bestimmte Industriemärkte zu bedienen. Ob KFZ, Automatisierungstechnik, chemische oder Bauindustrie, wir können unsere generative KI spezifisch darauf zuschneiden. Diese B2B-Ausrichtung ist eine große Stärke, die uns in Deutschland mit unserem starken Mittelstand unterscheidet von den USA. Wir haben da etwas Einzigartiges zu bieten, und das macht mich total optimistisch.
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Quo vadis, EU? Das Projekt, das zu Anfang für Frieden sorgen sollte, hat inzwischen so manches umgesetzt, was in der Gründungszeit, im Mai 1951, für visionär gehalten wurde. Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die zu Beginn aus sechs Staaten (Frankreich, Deutschland, Belgien, Niederlande, Luxemburg, Italien) bestand, entwickelte sich schnell weiter: Von einem Gemeinsamen Markt über weitere Mitgliedsländer bis hin zu einer gemeinsamen Währung transformierte sich die einstige Gemeinschaft zur heutigen Europäischen Union."Spill over"-Effekte sorgten dafür, dass ausgehend vom Gemeinsamen Markt auch gemeinsame Arbeitsbereiche außerhalb der Ökonomie entstanden: Das Wirtschaftsprojekt wurde zunehmend politisch und steht heute zwischen Supranationalismus und Intergouvernementalismus. Die EU, so wird gerne gesagt, ist ein System sui generis, weder ganz internationale Organisation noch ganz Staat. Doch gerade weil die EU in machen Belangen staatliche Züge angenommen hat, stellt sich die Frage, ob ihre demokratische Legitimation ausreicht. Angela Merkel drückte das in einer Regierungserklärung von 2006 folgendermaßen aus:"Kurz gesagt muss man feststellen: Europa steht bei den Europäerinnen und Europäern nicht so hoch im Kurs […]. Wir müssen […] den Stand des Projekts Europa kritisch überprüfen. Wir müssen den Bürger in den Mittelpunkt stellen" (Bundesregierung 2006, S. 3f.).Doch worunter leidet die demokratische Legitimation der EU? Und wie könnte man der Union zu mehr Demokratie verhelfen? Diesen Fragen geht der folgende Beitrag nach. Ausgehend vom Aufbau der EU wird das sogenannte Demokratiedefizit in institutioneller und struktureller Hinsicht erläutert. Abschließend werden mögliche Lösungsvorschläge vorgestellt und Kritikpunkte geäußert.Aufbau der EU und DemokratiedefizitDie Aufbau der Union wird häufig als abstrakt und kompliziert erachtet. Auch die ZDF-Satiresendung Die Anstalt greift den komplexen Aufbau der EU zusammen mit dem Demokratiedefizit in der Sendung vom 06.09.2015 auf. Um auf das Demokratiedefizit aufmerksam zu machen, beginnen die Satiriker Claus von Wagner und Max Uthoff so: Claus von Wagner (C.v.W.): "Die meisten Nutzer [gemeint sind hier die Bürger*innen der Europäischen Union] beschweren sich, dass unser Haus [gemeint ist die Europäische Union] nicht den demokratischen Anforderungen entspricht."Max Uthoff (M.U.): "Diese Leute sind doch gar nicht in der Lage, ein so komplexes Haus wie unseres zu verstehen."C. v. W.: "Aber sie sollen drin wohnen ... wie soll denn das gehen?! Vielleicht können Sie's mir erklären, schau'n Sie mal, wir haben da hinten doch den Grundriss von unserem Hotel [gemeint ist hier abermals die Europäische Union]."M. U.: "Ja ... ja, was suchen Sie denn?"C. v. W.: "Na, die Demokratie!"M. U.: "Ach Demokratie ... Demokratie ... was heißt schon Demokratie?"C. v. W.: "Na, das Regieren des Volkes durch das Volk für das Volk." (von Wagner/Uthoff 2016, 00:00:00 – 00:01:00). Wie Markus Preiß, Leiter des ARD-Studios in Brüssel, in seinem #kurzerklärt-Video erläutert, ist die Europäische Union "demokratisch mit Schönheitsfehlern" (Preiß 2019, 00:02:07-00:02:10) und sicherlich weit weg davon, undemokratisch zu sein. Doch über ihr Demokratiedefizit lässt sich schlecht hinwegsehen. Es fußt im Wesentlichen auf zwei Gründen: "zu wenig Bürgerbeteiligung infolge mangelnder Transparenz und eine[r] unzureichende[n] Legitimation der Institutionen der Europäischen Union" (Bollmohr 2018, S. 73). Doch politische Systeme sind auf Legitimation angewiesen, "um Herrschaft dauerhaft zu sichern" (Abels 2019, S. 2). Um dieses Demokratiedefizit besser verstehen zu können, ist eine Beschreibung des Aufbaus der Europäischen Union und ihrer Institutionen unerlässlich. Autor*innen, die die Europäische Union für demokratisierbar halten, begreifen die EU als als ein politisches System, das durch institutionelle und strukturelle Reformen verändert werden kann (vgl. Schäfer 2006, S. 354). Sie gehen hierbei von einem Demokratieverständnis gemäß der Übersetzung des Wortes Demokratie (= Volksherrschaft) aus. Wie in der Inszenierung der Anstalt angeklungen, wird von einer Auslegung des Wortes ausgegangen, das das Regieren des Volkes durch das Volk für das Volk als Grundlage nimmt und auf eine Aussage von Abraham Lincoln zurückgeht ("government of the people, by the people, for the people"). Die EU hat sieben Organe (vgl. Weidenfeld 2013, S. 116). Den Kern bildet dabei das "institutionelle Dreieck" bzw. nach der Inklusion des Europäischen Rates durch den Vertrag von Lissabon das "institutionelle Viereck", bestehend aus dem Europäischen Rat, der Europäischen Kommission, dem Europäischen Parlament und dem Rat der Europäischen Union. Zu den Organen gehört darüber hinaus der Gerichtshof der Europäischen Union, die Europäische Zentralbank und der Rechnungshof. Beginnend mit dem Europäischen Parlament werden nachfolgend alle Institutionen nach der Reihenfolge aufgelistet, wie sie im Vertrag von Lissabon stehen, und ihr Demokratie- bzw. Legitimationsdefizit erläutert. Europäisches Parlament In das Bewusstsein der europäischen Bevölkerung kam das Europäische Parlament (EP) erst mit der ersten Direktwahl im Jahr 1979 (vgl.: ebd.). Damit war "[d]er Schritt hin zu einem von den Bürgern legitimierten europäischen Einigungswerk […] getan" (ebd.). Seither gewann das EP an Befugnissen. So wurde beispielsweise mit dem Vertrag von Maastricht (1992) das Mitentscheidungsverfahren eingeführt, "welches das Parlament dem Rat im Gesetzgebungsprozess gleichstellt" (ebd.). Wahlen für das Europäische Parlament finden alle fünf Jahre statt (vgl.: Weidenfeld 2006, S. 65). Insbesondere hinsichtlich des Demokratiedefizits ist es wichtig festzuhalten, dass das EP die einzig direkt gewählte Institution der Europäischen Union darstellt. Als solche stellt sie "die unmittelbare Vertretung der Unionsbürger auf der europäischen Ebene dar" (Weidenfeld 2013, S. 116). Dabei werden die Sitze "degressiv-proportional" verteilt (ebd., S. 117). Dies führt allerdings dazu, dass "ein deutscher Abgeordneter mehr als 13 Mal so viele Bürger vertritt wie ein Parlamentsmitglied aus Luxemburg oder Malta" (ebd.). Von einer gleichen Wahl, wie es das Grundgesetz in der Bundesrepublik Deutschland für die Bundestagswahlen vorgibt, kann nicht gesprochen werden. Die Funktionen und Aufgaben des EP sind vielfältig. Es "fungiert zusammen mit dem Ministerrat der Union als Gesetzgeber" (ebd.) und stellt mit ihm die Haushaltsbehörde dar (vgl. ebd.). Gleichzeitig "kontrolliert [es] die Arbeit der Kommission" (ebd.). Generell kann von fünf Funktionen des EP gesprochen werden: Systemgestaltungsfunktion, Politikgestaltungsfunktion, Wahlfunktion, Kontrollfunktion und Repräsentations- bzw. Artikulationsfunktion (vgl.: ebd., S. 121ff.). Mit der Systemgestaltungsfunktion hat das Europäische Parlament einen, wenn auch geringen, Spielraum zur "konstitutionellen Weiterentwicklung des EU-Systems" (ebd., S. 121). Beispielsweise darf das Parlament "Entwürfe zur Änderung der Verträge [vorlegen]" (ebd.). Außerdem kann eine Erweiterung der Europäischen Union nur mit Zustimmung der Parlaments durchgeführt werden. Die Politikgestaltungsfunktion bezeichnet die Möglichkeit des EP, die Kommission auffordern zu können, eine Gesetzesinitiative zu starten (= indirektes Initiativrecht). Die Kommission muss dieser Bitte innerhalb von drei Monaten nachkommen oder andernfalls ihr Verhalten wohlbegründet erläutern. Das indirekte Initiativrecht teilt sich das EP mit dem Rat. Ebenso teilen sich beide Organe das Haushaltsrecht, wobei das EP in diesem Belang, zumindest auf Ausgabenseite, das letzte Wort behält (vgl.: ebd., S. 122). Die Wahlfunktion wird durch die Wahl des Kommissionpräsidenten erfüllt, der vom Europäischen Rat vorgeschlagen wird. Das EP ist auch an der Bestellung der Kommission beteiligt und muss der Zusammensetzung zustimmen. Die Repräsentations- und Artikulationsfunktion des Europäischen Parlaments wird kritisch gesehen. Aufgrund einer fehlenden europäischen Öffentlichkeit kann eine Repräsentation der europäischen Bürger*innen nicht in dem Maße stattfinden, wie es in nationalstaatlichen Parlamenten der Fall ist. Das Europäische Parlament arbeitet in Fraktionen, die sich nach der politischen Ausrichtung organisieren und sich aus den Mitgliedern des EP aus den verschiedenen Mitgliedsstaaten zusammensetzen. Im Gegensatz zu nationalen Parlamenten gibt es kein "Regierungs-Oppositions-Schema" (vgl.: ebd., S. 124) und es wird mit Ad-hoc-Mehrheiten gearbeitet. Wie Weidenfeld (2013) klarstellt, bietet diese Herangehensweise "immer wieder neue Möglichkeiten zur persönlichen Einflussnahme […]; [allerdings wird es] für die Öffentlichkeit […] dadurch schwierig, politische Verantwortung zuzuordnen" (ebd.). Auch wenn sich das EP durch verschiedene Vertragsreformen immer weiter an die "Rolle nationaler Parlamente angenähert" (ebd., S. 121) hat, besitzt es nicht alle Funktionen der Parlamente der Mitgliedsstaaten. Bezogen auf das EP werden "drei wesentliche Legitimationsmängel" (Bollmohr 2018, S. 99) aufgezeigt. Einer der Mängel ist der Wahlmodus, denn statt eines "kodifizierten Wahlrechts […] gelten nationale Wahlgesetze mit zum Teil erheblichen Unterschieden" (ebd., S. 86). Die Sitzverteilung im Europäischen Parlament nach der degressiven Proportionalität verstärkt die Ungleichheit der Wähler*innenstimmen bei der Europawahl. Zu erwähnen ist hierbei auch, dass es zur Europawahl, anders als bei nationalen Wahlen, kaum einen erkennbaren Wahlkampf gibt. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass es keine europäischen Parteien und deshalb kein parteienspezifisches Wahl- bzw. Parteiprogramm und kaum europäische Themen gibt (vgl.: ebd., S. 86f.). Auswirkungen hat das auf die Arbeitsweise des Europäischen Parlaments. Ohne Parteiprogramm können Mitglieder der Fraktionen lediglich fallbezogen "über Vorgänge beraten und abstimmen, die von der Europäischen Kommission vorgegeben werden", was den Prozess "unvorhersehbar" macht (ebd., S: 87). Ein weiterer Mangel ist die eingeschränkte Gesetzgebungsfunktion. Die Rechtsetzungsverfahren werden, trotz Aufwertung des EP, von den Räten dominiert (vgl.: ebd.). Wie Bollmohr (2018) auf Seite 99 feststellt, ist die Beteiligung an der Gesetzgebung mit unter zehn Prozent noch "zu gering". Zusätzlich wird der fehlende Austausch zwischen Unionsbürger*innen und den Abgeordneten des EP als Mangel gesehen. Das einzige von den Unionsbürgern direkt gewählte Organ hat zwar in den letzten Jahrzehnten an Kompetenzen gewonnen, ist aber in wichtigen Bereichen (Außenpolitik, Steuerpolitik) nach wie vor nicht gleichberechtigt mit den nationalen Regierungen im Rat. Europäischer Rat Der Europäische Rat besteht aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten der EU und entscheidet im Konsens. Er nimmt formal nicht am Gesetzgebungsprozess teil, sondern hat eine gewichtige Rolle bei der "Systemgestaltung und bei der Besetzung von Schlüsselpositionen" (Weidenfeld 2013, S. 127). Der Europäische Rat hat drei zentrale Funktionen: Lenkungsfunktion, Wahlfunktion und Systemgestaltungsfunktion. Die Lenkungsfunktion erlaubt es dem Europäischen Rat, allgemeine Leitlinien für die Politik der EU, vornehmlich für die Außenpolitik, zu erlassen. Er wählt mit dem Präsidenten des Europäischen Rats und dem Hohen Vertreter für die Außen- und Sicherheitspolitik die zwei wichtigsten "Vertreter der EU-Außenpolitik" (ebd.). Darüber hinaus nimmt er eine "Schlüsselstellung" in der Systemgestaltung ein (ebd.). Schließlich sind die Mitgliedsstaaten die Herren der Verträge und sie entscheiden, welche Kompetenzen sie an die europäische Ebene abgeben. Rat der EU/Ministerrat"Der Rat [der EU] besteht aus je einem Vertreter jedes Mitgliedstaats auf Ministerebene, der befugt ist, verbindlich für die Regierung zu handeln" (ebd., S. 129). Er ist nach Fachgebiet in Fachministerräte unterteilt. Zunehmend entscheidet der Rat mit Mehrheit. Halbjährlich wechselt die Präsidentschaft des Rates (vom 01.01.2023-30.06.2023 hat beispielsweise Schweden die Ratspräsidentschaft inne). Der Rat besitzt zentrale Befugnisse in der EU-Außen- und Sicherheitspolitik. Daneben ist seine Legislativ- und Exekutivfunktion entscheidend. Inzwischen teilt sich der Rat die Legislativfunktion, genauso wie das Haushaltsrecht, mit dem Europäischen Parlament. Beide Organe besitzen überdies das Recht, auf die Kommission zuzugehen und einen Gesetzentwurf vorzuschlagen. Die Exekutivfunktion nimmt der Rat wahr, "indem er Vorschriften zur Durchführung von Rechtsakten erlässt, die Durchführung selbst ausführt oder sie an die Kommission delegiert" (ebd., S. 132). Der Rat übernimmt gegenüber der Kommission darüber hinaus eine Kontrollfunktion.Die Räte, also der Europäische Rat und der Rat der Europäischen Union, beziehen ihre Legitimation durch die Nationalstaaten. Daraus entsteht dennoch ein Legitimationsmangel bzw. ein Demokratiedefizit, weil der Ministerrat maßgeblich am Gesetzgebungsverfahren in der EU beteiligt, aber nicht auf EU-Ebene legitimiert ist (vgl.: Bollmohr 2018, S. 99). Zusätzlich hält Bollmohr (2018) fest, dass der Rat (der EU) "zwar von den nationalen Parlamenten beeinflusst wird, aber da die qualitative Mehrheit im Rat auch Abstimmungsniederlagen für einzelne Länder nach sich ziehen kann, sind die Möglichkeiten der Parlamente begrenzt" (ebd.). KommissionWie Weidenfeld (2013) auf Seite 135 schreibt, ist die Kommission "vertragsrechtlich auf das allgemeine EU-Interesse verpflichtet und soll unabhängig von den nationalen Regierungen handeln". Während der Europäische Rat das prototypische intergouvernementale Organ darstellt, ist die Kommission die klassische supranationale Institution in der Europäischen Union. Das Kollegium, aus dem sich die Kommission zusammensetzt, besteht aus einem Kommissar pro Mitgliedsland. Es wird "in einem Zusammenspiel zwischen den Staats- und Regierungschefs und dem EP [bestimmt]" (ebd., S. 137). Der/die Kommissionspräsident*in und der Verwaltungsapparat ergänzen die Kommission. Der Europäische Rat schlägt ein*e Kandidat*in für das Amt der/des Kommissionpräsident*in vor, welche*r sich dann einer Wahl im EP unterziehen muss. Bei Ablehnung unterbreitet der Rat einen neuen Vorschlag, bei Annahme schlagen die Staats- und Regierungschefs mit dem/der Präsident*in die weiteren Kommissionsmitglieder vor, die ebenso der Zustimmung des Parlaments bedürfen. Eine Amtsperiode der/des Präsident*in dauert fünf Jahre. Außerdem hat das EP die Befugnis, die Kommission durch ein Misstrauensvotum ihres Amtes zu entheben. Hierfür ist eine Zweidrittelmehrheit notwendig. Die Kommission hat vier wichtige Funktionen: Sie fungiert sowohl als Exekutive als auch als Außenvertretung und hat die Legislativ- und Kontrollfunktion inne. Als Exekutive ist die Kommission für die Durchführung von Rechtsakten und die "Umsetzung und Verwaltung der Unionspolitiken verantwortlich, die vom Parlament und vom Rat verabschiedet wurden" (ebd., S. 138). Die Ausführung des vom Europäischen Parlament beschlossenen Haushalts gehört ebenso zu den exekutiven Aufgaben der Kommission. Die Legislativfunktion umfasst das Initiativmonopol. Die Kommission darf als einzige EU-Institution Gesetzesvorschläge einbringen. Sie ist "agenda-setter" (ebd., S. 139) und kann die EU-Integration vorantreiben. Als Hüterin der Verträge ist die Kommission für die Einhaltung des Unionsrechts verantwortlich und kann, bei Verletzung des Unionsrechts, ein Vertragsverletzungsverfahren eröffnen. Sie vertritt überdies die vergemeinschaftete Handels- und Entwicklungspolitik nach außen und nimmt "im Namen der EU an den Verhandlungen im Rahmen der WTO teil" (vgl.: ebd., S. 140). Die Mängel der Legitimation der Europäischen Kommission zeigen sich bei der Wahl der Mitglieder und der/des Präsident*in. Kandidat*innen werden von den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union vorgeschlagen und vom Europäischen Parlament bestätigt. Dies ist in den Verträgen zwar so festgehalten, "aber der Legitimationsglaube in die wichtigste Institution der EU ist gering" (Bollmohr 2018, S. 99). Schließlich ist "das EP durch das bestehende Wahlverfahren nur bedingt als legitimiert [anzusehen] […] und der Europäische Rat durch die Nationalparlamente nicht im Eigentlichen für EU-Fragen legitimiert" (ebd., S. 80). Zudem stellt die Kommission eine Art Exekutive, also Regierung dar. Diese ist momentan weder wähl- noch abwählbar. Doch genau das, eine wähl- und abwählbare Regierung, zeichnet eine Demokratie aus, weswegen das Demokratiedefizit der EU an dieser Stelle besonders zum Vorschein kommt. EuGH, Europäische Zentralbank und RechnungshofDer Europäische Gerichtshof mit Sitz in Luxemburg ist verantwortlich für die Wahrung und die Einheitlichkeit des Unionsrechts. Er wird dann aktiv, wenn eine Klage oder eine Anfrage vorliegt und agiert deshalb reaktiv. Gleichzeitig stellt er – wie die Kommission – ein supranationales Organ dar. Der Gerichtshof besteht aus einem Richter je Mitgliedsstaat, die von "den nationalen Regierungen im gegenseitigen Einvernehmen für eine Amtszeit von sechs Jahren ernannt [werden]" (Weidenfeld 2013, S. 143). Das Europäische Parlament spielt bei der Ernennung der Richter keine Rolle, was den Gerichtshof von anderen obersten Gerichten, wie dem Supreme Court oder dem Bundesverfassungsgericht, unterscheidet. Zusätzlich unterscheidet ihn vom höchsten Gericht der Bundesrepublik Deutschland, dass eine Wiederwahl der Richter möglich ist. Der Europäische Gerichtshof hat die Befugnis, gegenüber den Mitgliedsstaaten "bindende Urteile [zu] sprechen" (ebd., S. 143). Das hat zur Folge, dass seine Entscheidungen die Bevölkerung der EU direkt betreffen. Mit dem Vertrag von Lissabon wurden seine Kompetenzen von der supranationalen Säule zudem auf die Innen- und Justizpolitik erweitert (vgl.: ebd.). Entscheidungen fallen meist einvernehmlich oder per einfacher Mehrheit. Der Gerichtshof hat "in der Geschichte der Integration immer wieder eine Motorrolle übernommen" (ebd., S. 145). Seine Urteile fallen überwiegend integrationsfreundlich aus (in dubio pro communitate – (ugf.) im Zweifel für die Europäische Union). Die Europäische Zentralbank (EZB) mit Sitz in Frankfurt am Main wurde 1998 mit der Einführung der gemeinsamen Währung eingerichtet. Sie ist für die Geldpolitik der EU verantwortlich und hat als Organ einen supranationalen Charakter. In ihrer Arbeitsweise ist sie von anderen EU-Organen und von den Mitgliedsstaaten unabhängig. Bei der Währungspolitik arbeitet die EZB mit nationalen Zentralbanken zusammen. Ihr vorrangiges Ziel ist es, Preisstabilität zu sichern. Darüber hinaus unterstützt sie die Wirtschaftspolitik der Europäischen Union. Der Vertrag von Maastricht (1992) hob den Rechnungshof zu einem Organ an. Seine Aufgabe ist die Rechnungsprüfung der EU, was alle Einnahmen und Ausgaben betrifft. Er besteht aus einem Staatsangehörigen je Mitgliedsstaat, welche vom Rat ernannt werden. Hierbei verfügt das Europäische Parlament über ein Anhörungsrecht. Alle drei Organe, der EuGH, die Zentralbank und der Rechnungshof, werden nicht gewählt, sind aber dennoch in besonderem Maße am Integrationsprozess beteiligt. Dieser Umstand ist keine Besonderheit der EU, sondern auch in Nationalstaaten üblich. Dennoch gibt es Kritik und Reformvorschläge. Die Wiederwahl der Richter am EuGH gilt als besonders problematisch. Ebenso gibt es Forderungen nach mehr Transparenz in allen drei Organen.Die bisher genannten Defizite beziehen sich auf die Institutionen der Europäischen Union und werden deswegen institutionelle Defizite genannt. Daneben gibt es das strukturelle Demokratiedefizit, das die nach wie vor fehlende Kommunikations-, Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaft beschreibt, in der sich eine kollektive Identität herausbildet, etabliert und tradiert (vgl. Graf Kielmannsegg 2003, S. 57ff.). Oder einfacher ausgedrückt: Es mangelt an einer "Wir-Identität", denn es fehlt eine gemeinsame Sprache, es gibt kein gemeinsames Politikverständnis und kein einheitliches Rechtssystem (vgl. Bollmohr 2018, S. 74). Schließlich schafft ein auf Effizienz ausgelegter Gemeinsamer Markt noch keine Demokratie, geschweige denn einen gemeinsamen Demos. Darauf ist der Markt auch gar nicht angewiesen. Das strukturelle Demokratiedefizit macht sich beispielsweise bei den Europawahlen durch eine geringe Wahlbeteiligung bemerkbar (im Jahr 2009 lag die Wahlbeteiligung bei gerade mal 43%, vgl.: Decker 2017, S. 166). Diese Defizite sind nicht neu und seit der zunehmenden Politisierung der Europäischen Union bekannt. Seit Ende der 1980er Jahre ist man auf EU-Ebene bemüht, sie zu beheben (vgl.: Bollmohr 2018, S. 71). Doch wie könnten weitere Schritte in Richtung weniger Demokratiedefizit in einem "Mehrebenensystem ohne einheitlichen Demos […], ohne einheitliche Regierung […] und ohne nennenswerte intermediäre Strukturen" (ebd., S. 73) aussehen? Nachfolgend werden exemplarisch Lösungsvorschläge für das institutionelle und strukturelle Demokratiedefizit vorgestellt. Sie erheben nicht den Anspruch, die Gesamtheit aller Lösungsvorschläge abzudecken. Potenzielle Lösungsansätze für das institutionelle und strukturelle Demokratiedefizit der EUInstitutionelles DemokratiedefizitIn ihrem Beitrag "Neue Governance-Formen als Erweiterung der europäischen Demokratie" (2017) nennt Gesine Schwan eine bessere Zusammenarbeit von europäischen und nationalen Parlamentariern als Stellschraube für mehr demokratische Teilhabe. Die Überwindung des Gegensatzes zwischen "renationalisierender" und "supranationaler" europäischer Integration hätte einige Vorteile. Beispielsweise bewirke diese "verschränkte Parlamentarisierung" (S. 158), wie sie diese Form der Zusammenarbeit nennt, eine bessere Verständigung über die Perspektiven von nationalen und europäischen Abgeordneten. Außerdem führe der intensivere Austausch zu einer früheren Information der nationalen Parlamentarier über Debatten und Entscheidungen im Europäischen Parlament. Dies hat folgende, demokratiefördernde Konsequenzen: Einerseits gebe es dadurch eine breitere öffentliche Diskussion und eine daraus resultierende Legitimation. Andererseits eine verstärkte parlamentarische Kontrolle. Einen Einbezug von Wissenschaft und Medien hält Schwan für geboten. Zusätzlich fördere dies die grenzüberschreitende Kommunikation und Kooperation. Nach wie vor, bemängelt Schwan, existiere ein Mangel an intermediären Vermittlerstrukturen in der Europäischen Union, was beispielsweise Medien, Parteien und Verbände betrifft. Etwas konkreter wird Frank Decker in seinem Beitrag "Weniger Konsens, mehr Wettbewerb: Ansatzpunkte einer institutionellen Reform" (2017). Er benennt die seiner Meinung nach drei wichtigsten "demokratischen Stellschrauben" (S. 167), um das institutionelle Demokratiedefizit zu beheben. Er sieht im einheitlichen Wahlrecht, in der Wahl des Kommissionspräsidenten und der Bestellung der Gesamtkommission Potenziale, um die Europäische Union institutionell zu legitimieren.Decker moniert, dass gemäß dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV, Art. 223 Abs. 1) ein einheitliches Wahlrecht längst hätte erfüllt sein müssen (vgl. Decker 2017, S. 168). Nun gebe es die "paradoxe Situation" (ebd.), dass europäische Parteien zwar den Parlamentsbetrieb bestimmen, bei den Europawahlen aber nach wie vor nur die nationalen Parteien kandidieren (vgl.: ebd.). Eine Aufhebung dieser Tatsache sieht Decker in einer "Einführung eines europaweiten Verhältniswahlsystems mit moderater Sperrklausel" (ebd.). Diese wäre ein starker Anreiz dafür, sich als Parteien zusammenzuschließen, was einerseits der Fragmentierung im Europäischen Parlament entgegenwirken würde und andererseits förderlich für die Arbeitsfähigkeit des EP wäre. Diese Regelung würde zudem zu einer Vereinheitlichung des Wahlsystems innerhalb der Europäischen Union beitragen. Die Mitgliedsstaaten dürften weiterhin selbst entscheiden, wie das Wahlrecht genau geregelt ist und wie die Wahl durchgeführt wird. Unbedingt geboten sei hingegen eine Wahlpflicht oder alternativ eine Verteilung der Sitze nach der Wahlbeteiligung. So würde ein Anreiz für eine hohe Teilnahme geschaffen werden und die Wahlen für das EP könnten ihre Bewertung als Nebenwahl ein wenig verlieren. Jede*r EU-Bürger*in hätte nach wie vor eine Stimme, die er/sie bei der Verhältniswahl mit "starren Listen" vergeben darf (ebd., S. 170). Auf diese Weise, schlussfolgert Decker, könnte mit der heutigen Diskrepanz zwischen Parteiensystem auf der parlamentarischen und elektoralen Ebene gebrochen werden (vgl.: ebd.). Die Wahl der/des Kommissionspräsident*in ist eine weitere Stellschraube, mit der man Decker zufolge das institutionelle Demokratiedefizit der EU schmälern kann. Für zentral hält er die Frage nach dem Verhältnis zwischen Parlament und Regierung. Decker schlägt an dieser Stelle das präsidentielle System vor, mit der Begründung, dass die Bürger*innen selbst die Chance hätten, ihre*n Präsident*in direkt zu wählen. Ob der/die Kommissionspräsident*in mit relativer oder absoluter Mehrheit gewählt wird, müsste geklärt werden. Die Wahl des/der Kommissionspräsident*in auf diese Art zu verändern, würde zum einen dafür sorgen, dass "[d]ie europäische Politik […] endlich ein Gesicht [bekäme]" (ebd., S. 174). Zum anderen würde diese Änderung dazu führen, dass die EU eine wählbare Exekutive hätte, was einer Regierung im nationalstaatlichen Sinn gleichkäme. Ebenso sieht Decker die Bestellung der Kommissare kritisch. Momentan ist das Gremium durch den gleichberechtigten Vertretungsanspruch aller Mitgliedsstaaten zu groß, was negative Auswirkungen auf die Arbeitsweise hat (vgl.: ebd., S. 175). Daneben kann der/die Kommissionspräsident*in kaum Einfluss auf die Auswahl der Kommissare nehmen, was zur Folge hat, dass "[d]ie Zusammensetzung der Kommission […] insofern eher die nationalen Wahlergebnisse [reflektiert] als das Ergebnis der Europawahlen" (ebd.). Deswegen schlägt Decker vor, dem/der direkt gewählten Kommissionspräsident*in das Recht zu erteilen, die Kommissare selbst zu ernennen. Alternativ könnten die Wähler*innen befugt werden, neben dem/der Präsident*in noch die Kommissar*innen zu wählen (vgl.: ebd., S. 176). Dies, so Decker, würde die Kommission nicht nur weiter demokratisch aufwerten, sondern wäre auch ein Beitrag zur Europäisierung der Europawahlen. Antoine Vauchez geht in seinem Beitrag "Die Regierung der 'Unabhängigen': Überlegungen zur Demokratisierung der EU" (2017) auf die mangelnde Transparenz mancher Institutionen der Europäischen Union ein. Er merkt bezüglich der Demokratisierung an:"Um die Stellung dieser Institutionen [gemeint sind hier Kommission, Zentralbank und EuGH, Anm. A.B.] im politischen Prozess neu zu justieren, muss man an den drei Säulen rütteln, auf denen ihre Autorität in der europäischen Politik bislang beruhte: der vollständigen Souveränität in der Auslegung ihres Mandats, dem Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität in ihren Diagnosen und Urteilen und einem bestimmten Verständnis von Unabhängigkeit als Abgrenzung von den vorhandenen politischen und sozialen Interessen. Diese Trias bildet eine Blockade, die zu durchbrechen jede Demokratisierungsstrategie bemüht sein muss" (Vauchez 2017, S. 187f.). Vauchez prangert Kommission, EuGH und EZB als "Mysterien des Staates" (ebd., S. 188) an. Beispielsweise mische sich die EZB inzwischen in Bereiche wie "das Rentensystem, die Lohnpolitik, das Arbeitsrecht und die Organisation des Staatswesens" ein (ebd.). Ähnliches gilt für den Europäischen Gerichtshof. In diesen Institutionen liege damit auch Regierungsgewalt. Deren Mandate sollten politisch erweitert werden, um dem Demokratiedefizit entgegenzuwirken. Antoine Vauchez vertritt deswegen die Ansicht, dass Themen, die in diesen Institutionen behandelt werden, "das Produkt öffentlicher Debatten und Auseinandersetzungen […] in einer Vielzahl nationaler und transnationaler Arenen [sein sollten]" (ebd.). Er nennt als Beispiel das Europäische Parlament, schließt aber andere politische Mittel, um EuGH und EZB zu überprüfen, wie beispielsweise das Frühwarnsystem, das mit dem Lissabonner Vertrag eingeführt wurde, nicht aus. Hierbei können "[e]ine Mindestzahl von einem Drittel der nationalen Parlamente […] den Entwurf eines Gesetzgebungsaktes vor die Kommission bringen, wenn er die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit missachtet" (ebd., S. 189). Die Kommission sollte die Möglichkeit haben, Entscheidungen von EZB und EuGH für nichtig erklären zu können, sollten "diese den von der Union zu vertretenden 'Werten, Zielen und Interessen' [entgegenstehen]" (ebd.).Um der Intransparenz der Arbeitsweise dieser EU-Institutionen entgegenzuwirken, schlägt Vauchez zudem vor, der Öffentlichkeit Zugang zu Archiven, Daten, vorbereitenden Dokumenten und Beratungsprotokollen zu verschaffen. Auch hier hält er die Schaffung eines öffentlichen Forums für Dissens und Diskussion für notwendig (vgl.: ebd., S. 190). Abschließend hält es Vauchez für geboten, den repräsentativen Charakter der 'unabhängigen' Institutionen zu stärken. Damit meint er nicht nur die Repräsentanz aller Mitgliedsstaaten, sondern auch die Abbildung der Komplexität und Vielfalt der Bürger*innen der Europäischen Union in den Gremien und Ausschüssen der Institutionen. So, schlussfolgert Vauchez, stelle "man letztlich die Fähigkeit unter Beweis, ein europäisches Allgemeininteresse zu verkörpern" (ebd., S. 191). Institutionelle Reformen, wie sie hier gefordert werden, sind prinzipiell möglich. Doch kann mit ihnen allein das strukturelle Demokratiedefizit nicht behoben werden (vgl. Bartolini 2000, S. 156, zitiert nach: Schäfer 2006, S. 356). Strukturelles Demokratiedefizit Das strukturelle Demokratiedefizit beruht darauf, dass es kein europäisches Wir-Gefühl bzw. kein europäisches Volk im Sinne eines Staatsvolkes gibt. Dabei verfolgt die EU bereits seit geraumer Zeit eine Politik, die identitätsstiftend sein soll (vgl.: Thalmaier 2006, S. 4). Seit den 1970er Jahren haben Parlament und Kommission versucht, die EU-Bürgerschaft voranzutreiben und die europäischen Bürger*innen an europäische Themen heranzuführen (vgl.: Wiener 2006, S. 8). Diese Politik hat bisher jedoch nicht zu einem 'Wir-Gefühl' geführt (vgl.: ebd.). Doch möchte die EU ihr strukturelles Demokratiedefizit schmälern, ist sie auf ebenjenes 'Wir-Gefühl' angewiesen, denn eine Unterstützung wird von den Bürger*innen für die Europäische Union unbedingt gebraucht. Thalmaier (2006) unterscheidet hierbei zwischen spezifischer und diffuser Unterstützung. Während Bürger*innen ein politisches System spezifisch unterstützen, wenn es Ergebnisse hervorbringt, die den Interessen der Bürger*innen entsprechen, beschreibt die diffuse Unterstützung ein Vertrauen und eine Identifikation mit einem System, auch wenn die eigenen Interessen nicht immer durchgesetzt werden (vgl.: ebd., S. 6). Auf dieses grundsätzliche Vertrauen in das Handeln der Institutionen ist die Europäische Union als politisches System angewiesen. Eine kollektive Identität, die jedoch nicht mit einer nationalen Identität vergleichbar sein soll, ist dabei unerlässlich. Die Behebung des Öffentlichkeitsdefizit ist bei der Herausbildung einer kollektiven Identität erforderlich. Thalmaier schreibt deswegen, dass die "Ausbildung einer europäischen Identität […] entscheidend von der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit [abhängt]" (ebd., S. 10). Zu lange habe es eine mangelnde Dynamik in der europapolitischen Kommunikation gegeben. Eine "stärkere Politisierung europäischer Politik" ist geboten, um eine europäische Öffentlichkeit überhaupt herauszubilden (ebd., S. 12). Daneben soll die Identitätserweiterung für eine kollektive Identität sorgen. Sie soll nach Thalmaier über die Schließung von Wissensdefiziten und -lücken über die Europäische Union erreicht werden. Der Schule kommt hier eine tragende Rolle zu. Deren Lehrpläne sollen angepasst und europäisiert werden, sodass die Bildungsinhalte in Fremdsprachen oder auch in sozial- und geisteswissenschaftlichen Fächern die europäische Ebene beleuchten. Dadurch soll zusätzlich die Relevanz der Europäischen Union vermittelt werden. Das minimiere die Fremdheit der EU (vgl.: ebd., S. 10) und könne identitätsstiftend wirken. Schließlich, so Thalmaier, erreiche man eine Reduzierung des strukturellen Demokratiedefizits nicht ohne eine Schaffung von mehr Partizipationsmöglichkeiten für die Bürger*innen bei Themen, die die Politik der EU betreffen. Neben institutionellen Reformen, die in diesem Beitrag bereits thematisiert wurden, spricht sich Thalmaier für europaweite Referenden aus, beispielsweise bei Angelegenheiten, die das Primärrecht oder EU-Beitritte betreffen. Dazu gehöre ein intensiver Austausch mit den Bürger*innen der Europäischen Union. Bereits im Weißbuch der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2006 ist ein Austausch und Dialog in der Dienstleistungsrichtlinie festgeschrieben. Bisher wird sie jedoch wenig genutzt. Thalmaier schlägt deswegen vor, enger in den Austausch mit den EU-Bürger*innen zu gehen. Eine Begründung jedes Projekts in einem öffentlichen Interaktionsprozess sei geboten, genauso sollte um Zustimmung für jede politische Neuerung auf EU-Ebene gerungen werden. Neue Wege der Kommunikation und des Dialogs mit Bürger*innen seien dabei zentral. Mehr Interaktion und Kommunikation schlägt auch Antje Wiener in ihrem Artikel "Bürgerschaft jenseits des Staates" (2006) vor, um die EU-Identität zu stärken und das strukturelle Demokratiedefizit zu mindern. Insbesondere die "Kommunikation über europäische Rechte innerhalb der EU-Mitgliedsstaaten sowie intra- oder transeuropäisch in den entsprechenden institutionellen beziehungsweise medialen Kontexten, kurz jede Art von öffentlicher Diskussion zum Thema Rechte" (ebd., S. 11), trage dazu bei und mobilisiere auch das "Interesse am europäischen Projekt" (ebd.). Interaktion mit Institutionen, (EU-)Politiker*innen und Mitbürger*innen hätten das Potenzial, zu mehr "Staats- und Gemeinschaftsbildung" (ebd.) zu führen und die Bürger*innen enger an die EU zu binden. Durch Teilhabe und Teilnahme "im öffentlichen Diskurs soll eine zivile republikanische Identität geschaffen werden" (ebd.).Ähnliches fordert Ulrike Guérot, wenn es um die "Ausgestaltung einer europäischen Demokratie geht" (2018, S. 71). Damit "Europa" (ebd., S. 76) entstehe, brauche es Gemeinsames in der Europäischen Union über einheitliche bürgerliche und soziale Rechte. Sie argumentiert: "Es ist die Konvergenz von Recht, die Gemeinsamkeit entstehen lässt. In diesem Fall von Wahlrecht, Steuerrecht und sozialen Anspruchsrechten" (ebd.). Einigkeit und Einheitlichkeit seien auf dem europäischen Markt gegeben, bei den Bürger*innen sei Europa ihrer Ansicht nach aber noch zu fragmentiert. Solle sich daran etwas ändern, müsse mehr Gleichheit geschaffen werden, was am ehesten durch gemeinsame Rechte und Gesetze passiere. Guérot spricht hierbei von einem "Paradigmenwechsel" (ebd., S. 75) hin zu mehr Demokratie. Denn sollte einheitliches europäisches Recht eingeführt werden, wende man sich hin zu einer "Europäischen Republik, bei der die Souveränität bei den Bürger*innen Europas liegt […]" (ebd.). Kritik an diesen Ansätzen einer Demokratisierung der EU Kritiker*innen dieser Vorschläge sehen in einer "politisierte[n] EU eine Lähmung" der Europäischen Union (Schäfer 2006, S. 357). Für sie stellt die EU einen starren Verwaltungsapparat dar, "[e]ine Bürokratie, die sachlich und zielgerichtet arbeitet [und die] vom politischen Tagesgeschäft abgeschottet werden [muss]" (ebd.; Føllesdal/Hix, 2006, S. 538). Kritiker*innen sehen das Problem nicht in einem fehlenden Demos oder mangelnder Beteiligung der Bürger*innen, sondern in "vielfältigen Blockaden" (Schäfer 2006, S. 357) bei der Entscheidungsfindung und -durchsetzung. Ihrer Ansicht nach müsse die Europäische Union effizienter sein, um an Legitimität zu gewinnen, was nicht durch eine Demokratisierung erreicht werden könne (vgl.: ebd.). Schließlich müsse das Gemeinwohl über den Partikularinteressen der aktuellen Regierungen stehen. Für diejenigen, die einer Demokratisierung skeptisch gegenüberstehen, ist die Europäische Union bereits jetzt eine "aufgeklärte Bürokratie, die im Interesse der Bevölkerung entscheidet" (ebd./vgl.: Føllesdal/Hix, 2006, S. 546). Eine Demokratisierung bzw. "Politisierung der Europäischen Union liefe ihrem Aufgabenprofil zuwider" (Schäfer 2006, S. 357). Ebenso merken Kritiker*innen an, dass Macht in der EU geteilt werde und Entscheidungen durch Verhandlungen und nicht durch "Hierarchie" zustande kämen (vgl.: ebd., S. 360). Würde Macht in einem so fragmentierten Raum wie Europa zentralisiert, müsse das "für Minderheiten bedrohlich wirken" (ebd.). Zudem gründe der Erfolg des Konkordanzsystems der EU auf dem "Verzicht auf partizipatorische Entscheidungsverfahren" (ebd.). Gerade das Demokratiedefizit, so die Kritiker*innen, sei deshalb der wesentliche Faktor für den Zusammenhalt der Europäischen Union. Fazit und Ausblick Das sogenannte Demokratiedefizit existiert in institutioneller und struktureller Form. Das Problem ist dabei nicht unbekannt und es wird auf EU-Ebene durchaus versucht, es zu beheben. Reformvorschläge, beispielsweise von führenden Politikwissenschaftler*innen, gibt es zuhauf. Institutionell wird vorgeschlagen, dass sich verschiedene Organe der EU durch demokratische Wahlen legitimieren. Bei den Lösungsvorschlägen wird hierbei häufig auf die Kommission und die Wahl der/des Präsident*in und die Bestimmung der Beamten eingegangen. Eine (direkte) Wahl der/des Präsident*in und gegebenenfalls der Beamten würde das Interesse an der Europäischen Union stärken und das Demokratiedefizit schmälern. Andere Organe, wie beispielsweise der EuGH und die EZB sollten in ihrer Arbeitsweise transparenter werden, indem sie ihre Vorhaben/Gesetzesinitiativen vorab bekanntgeben, sodass sie in öffentlichen Debatten diskutiert werden können. Ein weniger auf konkrete Organe zugeschnittener Vorschlag ist ein engerer Austausch zwischen nationalen Parlamenten und dem EP. Um das strukturelle Demokratiedefizit zu beheben, ist eine europäische Öffentlichkeit, bzw. deren Herausbildung, von besonderer Bedeutung. Stellschrauben sind hier ein intensiver Austausch mit den EU-Bürger*innen und europaweite Referenden. Eine andere wäre die Europäisierung des Schulcurriculums. Damit könnte die Bedeutung der EU vermittelt und Wissenslücken über sie geschlossen werden. Tiefgreifender sind Forderungen nach gleichen Rechten und Pflichten für EU-Bürger*innen in allen Mitgliedsstaaten. Dies würde sicherlich zu einer höheren Identifikation mit der EU und den Mitbürger*innen führen – und somit zu einem Abbau des strukturellen Demokratiedefizits –, bräuchte jedoch weitreichende institutionelle Veränderungen und somit die Zustimmung der Mitgliedsstaaten zu einer EU in supranationalem Gewand.Kritiker*innen einer Demokratisierung der EU stellen sich deswegen die Frage, ob die EU überhaupt einen Demokratisierungsprozess durchlaufen soll. Für sie ist die Union bereits jetzt eine demokratisch legitimierte Gemeinschaft, die effizient und zielgerichtet arbeitet. Eine Demokratisierung, so die Kritiker*innen, laufe dem Aufgabenprofil der "aufgeklärten Bürokratie" (Føllesdal/Hix, 2006, S. 546) zuwider und ist zwecks Effizienzmangel deshalb gar nicht wünschenswert. Die Europäische Union steht vor einem Dilemma: Einerseits fehlt ihr demokratische Legitimität, wie sie in Nationalstaaten vorhanden ist, beispielsweise durch eine wähl- und abwählbare Regierung, gleiche Wahlen mit bedeutendem, europäischem Wahlkampf und Transparenz. Andererseits ist sie, qua Ursprung, eine effiziente Bürokratie, die dem Ziel des Wohlstandserhalts verpflichtet ist. LiteraturverzeichnisAbels, Gabriele (2020): Legitimität, Legitimation und das Demokratiedefizit der Europäischen Union. In: Becker, Peter/Lippert, Barbara (Hrsg.): Handbuch Europäische Union, SpringerVS: Wiesbaden, S. 175-193.(AEUV) Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (2009): Sechster Teil: Institutionelle Bestimmungen und Finanzvorschriften, Titel I: Vorschriften über die Organe, Abschnitt 1: Das Europäische Parlament (Art. 223). Abrufbar unter: https://dejure.org/gesetze/AEUV/223.html [zuletzt abgerufen am 23.01.2023].Andersen, Uwe (Hrsg.) (2014): Das Europa der Bürger. 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"Deutschlands wirtschaftliches und politisches Gewicht verpflichtet uns, im Verbund mit unseren europäischen und transatlantischen Partnern Verantwortung für die Sicherheit Europas zu übernehmen, um gemeinsam Menschenrechte, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Völkerrecht zu verteidigen" (Angela Merkel: Bundesministerium der Verteidigung 2016, S. 6) Obwohl Angela Merkel nicht mehr Bundeskanzlerin ist, sind die Leitlinien, die im Weißbuch 2016 für die Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands festgelegt wurden, weiterhin elementar – oder nicht? Aber wie lässt sich ihre Aussage im Jahr 2022 verorten? Zeigt Deutschland Verantwortung für die EU, transnationale Partnerschaften und Völkerrecht? In diesem Beitrag soll das Verhältnis zwischen Deutschland und den Vereinten Nationen (VN) in den Blick genommen werden: Mit dem Wegfall des West-Ost-Konflikts, der Dekolonialisierung, dem Beitritt weiterer Staaten und der Veränderung des Krieges hin zu "Neuen Kriegen" (Hippler 2009, S. 3-8) ergeben sich neue Handlungsfelder und Herausforderungen, die die Vereinten Nationen in den Blick nehmen müssen.Je nach Ansicht fällt der größten Weltorganisation eine mehr oder weniger bedeutende Rolle in der internationalen Politik zu (vgl. Gareis & Varwick 2014, S. 295). Allerdings sind maßgeblich die Mitgliedsstaaten für das Gelingen der Vereinten Nationen und für die notwendigen Reformen zuständig, da sie als "klassische intergouvernementale Organisation" (ebd., S. 295) bezeichnet werden können.Die Forschungsfrage lautet daher, wie sich die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik international, im Rahmen der VN, verortet. Die deutsche Politik formuliert hierfür Ziele, die noch genauer zu untersuchen sind. Als eine Maßnahme, um die Zielerreichung zu gewährleisten, kann der MINUSMA-Einsatz in Mali angesehen werden, unter deutscher Beteiligung und von den Vereinten Nationen geführt. Es wird herausgearbeitet, inwiefern die deutsche Partizipation als Erfolg angesehen werden kann. Hierfür wird zuerst der theoretische Rahmen der Internationalen Beziehungen - der Grundzustand der Anarchie - erklärt und weitere Prämissen der VN, des VN-Peacekeepings, der historischen Rahmung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Einsatz selbst beschrieben, um am Ende zu einer elaborierten Aussage kommen zu können. 1. Theoretische Rahmung – Grundzustand AnarchieGareis und Varwick (2014, S. 67) konstatieren einen allgemeinen Anforderungswunsch an die VN, die eine 'Lücke' in der Ordnung der Internationalen Beziehungen füllen sollen. Aber von welcher 'Lücke' wird hier gesprochen? In der Politikwissenschaft gibt es verschiedene Ansätze, um die Beziehungen zwischen Staaten und das Wirken von internationalen Organisationen zu beschreiben. Die Prämisse bildet der Grundzustand von Anarchie, der wie folgt definiert werden kann: "Unter Anarchie wird in diesem Zusammenhang die für Kooperationschancen folgenreiche Struktur der Herrschaftslosigkeit bzw. der Nichtexistenz einer den Staaten übergeordneten, zentralen Autorität mit Handlungskompetenz verstanden" (Gareis & Varwick 2014, S. 67) Es gibt verschiedene Denkschulen, die den Grundzustand unterschiedlich gewichten und bewerten (vgl. Schimmelfennig, S. 63ff). Darunter sind zum Beispiel der Realismus, der Idealismus, der Institutionalismus und der Konstruktivismus zu nennen (vgl. Gareis & Varwick 2014, S. 71). Um das Verhältnis zwischen den VN und Deutschland erklären zu können, ist es hilfreich, zu überlegen, an welcher Denkschule sich die Sicherheits- und Außenpolitik Deutschlands (schwerpunkt- und situationsbezogen) orientiert. Die Ansätze sind in ihrer Gesamtheit in diesem Beitrag nicht zu würdigen, daher werden einzelne Hauptdifferenzen geklärt, um für die Beantwortung der Forschungsfrage eine Richtlinie geben zu können. Die Beschreibung erfolgt idealtypisch: Im Realismus ist der Grundzustand besonders präsent und hauptsächlich staatliche Akteure sind für die Internationalen Beziehungen verantwortlich. Die Staaten haben ein starkes Eigeninteresse, das sich aus der Unsicherheit des Grundzustandes speist, und handeln nach eigenen Machterhaltungsvorstellungen. "In dieser Sichtweise erfüllen internationale Organisationen lediglich aus der Souveränität und den Interessen ihrer Mitglieder abgeleitete Funktionen" (ebd., S. 68). Damit wären Handlungsfelder und Möglichkeiten eng an die Vorgaben der Staaten gekoppelt. Frieden wird als Sicherheit-Erhalten verstanden und bedeutet, dass die Nationalstaaten durch Machtsicherung ihre Souveränität gewährleisten können. (vgl. ebd., S. 68 & 71) Im Idealismus soll der anarchische Grundzustand durch "Kooperationsformen" (ebd., S. 68) geregelt werden. Die Friedenssicherung läuft über einen stetigen Prozess über eine "universelle Gemeinschaft" (ebd., S. 69), die für alle Vorteile bringen kann. Damit wäre das Ziel, Konflikte nicht mehr mit Gewalt lösen zu müssen, anders als im Realismus, wo Krieg als natürliche Form besteht, durch die normative Regelung des Grundzustandes möglich. Internationale Organisationen können mit ihren Regelungen die Realisierung von Frieden darstellen. Damit sind nicht nur Staaten als Akteure zu sehen und statt Machterhaltungsvorgaben ist das Handeln auf ein Gemeinwohl konzentriert. (vgl. ebd., S. 69 & 71) In der Tradition des Institutionalismus sind internationale Kooperationen deutlich wahrscheinlicher als im Realismus. Außerdem ist ihr Einfluss auf Staaten bedeutend höher einzuschätzen. Demnach helfen sie zum Beispiel, Informationen über andere Staaten zu sammeln und können so beim Aufbau von Vertrauen mitwirken. (vgl. ebd., S. 69f) Die "Interdependenz" (Schimmelfennig 2010, S. 93) zwischen den Staaten wird als hoch angesehen und bedarf internationaler Regelwerke, die die Kooperationsmöglichkeiten regulieren. In diesem Sinne sind Staaten an friedlichen Lösungen interessiert und halten Krieg für nicht gewinnbringend bzw. sehen Machtkonzentration als weniger produktiv an als das Streben nach Gewinnen. Dadurch ist der Grundzustand der Anarchie zwar nicht auflösbar, allerdings soll im Laufe der Zeit eine Zivilisierung stattfinden. (vgl. ebd., S. 90) Der Konstruktivismus sieht den Grundzustand der Anarchie nicht als gegeben, sondern als eine Konstruktion von Wirklichkeit an. Dadurch ist es möglich, diesen Zustand zu verändern / aufzuheben. Damit sind die Akteure selbst für den Grundzustand verantwortlich. (vgl. Gareis & Varwick 2014, S. 70) Damit lautet eine Kernhypothese des Konstruktivismus: "Je größer die Übereinstimmung der Ideen von internationalen Akteuren und je stärker damit Gemeinschaft zwischen ihnen ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit von Frieden und internationaler Kooperation" (Schimmelfennig 2010, S. 185) Es wären bspw. Staaten gemeint, die eine freundschaftliche Beziehung pflegen und unabhängig von Machtkonzentration Vertrauen aufbauen. (vgl. ebd., S. 184f) In den Denkschulen sind relativ konkrete Vorstellungen gegeben, wie eine internationale Organisation Einfluss und Machtkonzentration entwickeln kann oder sollte oder bereits beinhaltet. Die Vereinten Nationen können auf einen Blick als größte Organisation im internationalen Spektrum angesehen werden, denn sie haben aktuell 193 Mitgliedsstaaten (Stand 2022) (vgl. Die Vereinten Nationen im Überblick: Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e. V., o. J.).2. Die Vereinten Nationen Bevor über die VN auf manche Aspekte schwerpunktmäßig eingegangen werden kann, ist knapp zu klären, was eine internationale Organisation wie die VN darstellt. Hierbei orientiert sich dieser Beitrag an Gareis und Varwicks (2014, S. 295) Konstruktion von einer "klassische[n] intergouvernementale[n] Organisation", deren Reformfähigkeit und Erfolge maßgeblich von den Mitgliedsstaaten abhängen – also auch von Deutschland. Es werden prinzipiell keine Souveränitätsrechte an die Organisation abgegeben, mit der Ausnahme, dass der Sicherheitsrat Zwangsmaßnahmen zur Friedenswahrung durchsetzen kann (vgl. ebd., S. 72).2.1 Grundlegende Kennzeichen der Vereinten Nationen Die Grundlagen der Vereinten Nationen können an zwei Hauptfaktoren exemplarisch aufgezeigt werden: Erstens ist der Friedensbegriff nicht nur als Abwesenheit von Krieg definiert, er schließt vielmehr das Wohlergehen der Menschen in den Staaten ein und geht somit über das Nationalstaats-Denken hinaus (positiver Friedensbegriff). Das zweite Konzept ist das System kollektiver Sicherheit, dadurch soll der erhöhte Druck, von allen Staaten bei einer Aggression automatisch angegriffen oder anderweitig verurteilt zu werden, die Friedensbedrohung reduzieren. (vgl. Gareis & Varwick 2014, S. 19-22 & 87-92) Dass das System der kollektiven Sicherheit nicht bedingt greift oder einigen Herausforderungen unterworfen ist, liegt bspw. an den neuen Kriegsformen (vgl. Hippler 2009, S. 3f). Gleichzeitig kann die aktuelle Invasion Russlands in die Ukraine (vgl. u.a. Russlands Angriff auf die Ukraine: Beckmann 2022) herangezogen werden, dass die Mechanismen bspw. für Supermächte weitere Schwierigkeiten in der Praxis aufzeigen (vgl. Gareis & Varwick 2014, S. 89f). 2.2 Generalversammlung und Sicherheitsrat – wichtigste Gremien der VN Die Vereinten Nationen sind mittlerweile zu einer undurchsichtigen Ansammlung an offiziellen und inoffiziellen Strukturen geworden und sind unter dem Begriff VN-System sehr weit zu fassen (vgl. Gareis & Varwick 2014, S. 21f). Allerdings sind nach wie vor zwei von sechs Hauptorganen hervorzuheben:In der Generalversammlung (GV) sitzen alle Mitgliedsstaaten und sind nach dem Prinzip der Gleichberechtigung mit jeweils einer Stimme ausgestattet. Hauptcharakteristikum ist, dass die Generalversammlung ein Forum für Gespräche bietet und somit als größtes Austauschforum auf der Welt bezeichnet werden kann. In sechs Hauptausschüssen vollzieht sich die meiste Arbeit der Generalversammlung, auf die hier nicht weiter eingegangen werden soll. Entscheidend ist der Unterschied zum Sicherheitsrat: Die GV hat keinen Sanktionskoffer parat und kann lediglich Empfehlungen aussprechen. (vgl. ebd., S. 45-47) Der Sicherheitsrat besteht aktuell aus 15 Mitgliedsstaaten, wobei zwischen ständigen und nichtständigen Mitgliedern differenziert werden muss. Die ständigen Mitglieder sind die sogenannten 'Big Five' und setzen sich aus Frankreich, Großbritannien, USA, Russland und China zusammen. Sie werden nicht wie die nichtständigen Mitgliedsstaaten von der Generalversammlung im Zwei-Jahres-Zyklus gewählt.Verkürzt dargestellt nimmt der Sicherheitsrat Aufgaben wie Friedensmissionen, Ausschüssen o. Ä. wahr. Die ständigen Mitgliedsstaaten haben historisch bedingt ein Veto-Recht, das eine große Rolle spielt und mehrfach zur Lähmung des SR führte. Der Sicherheitsrat ist das mächtigste Hauptorgan der Vereinten Nationen und ist berechtigt, zur Friedenssicherung weitreichende Sanktionen und militärische Maßnahmen zu ergreifen. (vgl. ebd., S. 47-49) 2.3 Das VN-Peacekeeping aus historischer Perspektive Die Geschichte der VN ist überaus vielschichtig und kann hier nur in den Grundzügen wiedergegeben werden. Im Jahr 1945 wurde die Charta von 51 Staaten unterzeichnet. In den ersten Jahren ihrer Arbeit (1945-1954) mussten organisatorische und strukturelle Systeme aufgebaut werden, die im West-Ost-Konflikt zugleich erste Einschränkungen erfuhren. Die erste große Herausforderung des kollektiven Sicherheitssystems betraf den Korea-Krieg: Nordkorea fiel 1950 in Südkorea ein und der Sicherheitsrat wurde durch Russland blockiert. Daraufhin entstand in der Generalversammlung die Uniting for Peace-Resolution, die Empfehlungen und militärische Interventionen beinhaltete, sollte der SR seiner Aufgabe, den Weltfrieden zu sichern, nicht nachkommen. Die erste inoffizielle Blauhelmmission stellt die UNTSO-Mission dar, die die Überwachung eines Waffenstillstandes 1948 zwischen Israel und arabischen Staaten beinhaltete. (vgl. ebd., S. 27-30 & 127) In den darauffolgenden 19 Jahren (1955-1974) verschob sich das Mächtegleichgewicht maßgeblich durch die Dekolonisation und die Entstehung unabhängiger Staaten im Süden. Hervorzuheben ist die Suez-Krise, in der der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser 1956 den Suez-Kanal verstaatlichte. Großbritannien, Israel und Frankreich gingen ungeachtet der Ablehnung des SR militärisch dagegen vor, verhinderten gleichzeitig mit ihren Vetos eine Deeskalation der Lage. Auf Grundlage der Uniting for Peace-Resolution wurde wieder versucht, den Konflikt auszusetzen und einen Waffenstillstand einzufordern. Die GV beschloss daraufhin die Etablierung der United Nations Emergency Force (UNEF I), um zwischen den Konfliktparteien eine neutrale Zone aufzubauen. Die Blauhelme nahmen hier ein erweitertes Aufgabenspektrum wahr und erhielten bspw. Kontrolle über Hoheitsgebiet. "Damit wurde das wohl bedeutendste Friedenssicherungsinstrument der Vereinten Nationen, die Blauhelmeinsätze, ins Leben gerufen" (ebd., S. 31). (vgl. ebd., S. 27-30 & 128) Im "Nord-Süd-Konflikt (1975-1984)" (ebd., S. 32) versuchten die VN weiterhin, in einigen Konflikten aktiv mit Blauhelmeinsätzen zu vermitteln und zeigten sich angesichts der Invasion der Sowjetunion in Afghanistan (1979) als handlungsunfähig. (vgl. ebd., S. 32f) Die letzte Phase reicht bis heute und beginnt ab dem Jahr 1985. Die Annäherung der beiden Großmächte USA und Sowjetunion und der Zerfall der Sowjetunion ergab Handlungsspielraum im SR. Allerdings entzündete sich auch eine Reihe an neuen Konfliktherden: "Innerhalb von rund 25 Jahren stieg die Zahl der Friedensmissionen von 14 auf nunmehr 68" (ebd., S. 33). Nötige Reformen rückten zuletzt durch den USA geführten Irakkrieg und die Terroranschläge am 11. September vermehrt in den Fokus. (vgl. ebd., S. 33-35) 2.4 Typologisierung und Reformansätze Wie in der historischen Rahmung aufgezeigt, entstand das Peacekeeping, weil das kollektive Sicherheitssystem nicht funktionsfähig war. Die Blauhelmeinsätze sind praxisnahe Formen zur Sicherung des Friedens, die sich zwischen dem Souveränitätsanspruch und den Zielen der VN bewegen. Die Ausgestaltung der Friedensmissionen sind vielfältig: Die VN typologisieren die Einsätze in vier Generationen:In der ersten Generation sind Einsätze hauptsächlich "zur Beobachtung und Überwachung von bereits beschlossenen Friedens- bzw. Waffenstillstandsabkommen […]" (Gareis & Varwick 2014, S. 126) gemeint. Missionen der zweiten Generationen sind durch "ein erweitertes Aufgabenspektrum" (ebd.) ausgezeichnet und meinen Einsätze nach 1988. In der dritten Generation liegt der Fokus nicht nur auf Friedenserhaltung sondern auch auf dessen Erzwingung. Zum Schluss kommen in der vierten Generation nicht-militärische administrative Funktionen hinzu.Jede Generation erforderte Anpassungen und ein mühsames Lernen, sodass die Bilanz des VN-Peacekeeping sehr gemischt ausfällt. Neuere Bestrebungen zielen daher darauf ab, aus den vergangenen Fehlern zu lernen. Zum Beispiel soll das Peacekeeping nur noch mit realistischem Mandat stattfinden und die individuelle, komplexe Konfliktsituation angemessen darstellen. Außerdem ist zu gewährleisten, dass die Blauhelme gut ausgerüstet sind und unter den Aspekten eines robusten Mandats alle neuen Perspektiven der Friedenssicherung wahrnehmen können. Diese beinhalten vereinfacht dargestellt die Konfliktvermeidung, das Konfliktmanagement und die Konfliktnachsorge. (vgl. ebd., S. 124-151) Nachfolgend ist zu klären, inwiefern sich der MINUSMA-Einsatz darin einfügt und welche Rolle Deutschland in dem Entwicklungsprozess des VN-Peacekeeping und des Einsatzes spielt.3. United Nations Multidimensional Integrated Stabilization Mission in Mali (MINUSMA) Der MINUSMA-Einsatz der Vereinten Nationen ist als Peacekeeping-Mission der vierten Generation zu charakterisieren. 3.1 Strukturelle Rahmung des MINUSMA-Einsatzes Das Departement of Peacekeeping Operations (DPKO) ist für die Umsetzung und Planung der Blauhelmmissionen verantwortlich. Mit Stand 2022 sind insgesamt 15 Einsätze zu verzeichnen (DPKO: Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V., o. J.). Die Mission in Mali gehört zu den jüngsten Einsätzen und begann im April 2013 (vgl. Gareis & Varwick 2014, S. 141).Sie gründet sich auf die Resolution 2100 (vgl. Security Council Establishes Peacekeeping Force for Mali Effective 1 July: United Nations 2013) vom 25. April und die Resolution 2164 (vgl. Security Council: United Nations 2014) des Sicherheitsrates und hat multidimensional den Schutz der Zivilisten, die Gewährleistung der Menschenrechte, die Etablierung einer Staatsmacht, die Stabilisierung der Region durch den Aufbau eines Sicherheitsapparates und die Aufrechterhaltung der politischen Dialogfähigkeit und Konsultation als Aufgabe formuliert (vgl. MINUSMA Fact Sheet: United Nations 2022).Damit stehen auch militärische Interventionen zur Verfügung und es kann von einem robusten Mandat gesprochen werden, das lediglich als Ausnahme die aktive Terroristenbekämpfung ausschließt (vgl. Mali: Konopka 2022). Stand November 2021 befinden sich insgesamt 18.108 Menschen im Einsatz und davon sind 13.289 dem militärischen Personal zuzuordnen (vgl. MINUSMA Fact Sheet: United Nations 2022). Dazu kommen zivile Einsatzkräfte und bspw. Polizeiausbildende (vgl. ebd.).Die größten teilnehmenden Länder mit militärischem Personal sind mit 1440 Chad, mit 1119 Bangladesch, Ägypten mit 1072 und auf Platz 10 folgt Deutschland mit 531 Angehörigen (vgl. ebd.). Die Verluste an Menschenleben werden bisher auf 260 (Stand 2021) beziffert (vgl. ebd.). Die Finanzierung wird über die Generalversammlung jährlich geregelt und betrug zwischen 2021 und 2022 1.262.194.200 Dollar (vgl. ebd.).Neuere Zahlen der Bundeswehr (Stand Februar 2022) geben an, dass Deutschland mit über tausend Soldatinnen und Soldaten in Mali im Einsatz ist (vgl. Personalzahlen der Bundeswehr: Bundeswehr 2022). Die Zahl stellt sich als irreführend heraus, weil die Bundeswehr alle Beteiligten zusammenzählt, auch die, die bspw. in Nachbarländern an Schlüsselstellen der Infrastruktur beschäftigt sind (vgl. Mali: Konopka 2022).Die aktuelle Resolution der VN (2584) trat am 29. Juni 2021 in Kraft und ist bis zum 30. Juni 2022 gültig (vgl. Mali – MINUSMA: Bundeswehr 2022). Durch das Ablaufen des Mandats in diesem Jahr ist die Forschungsfrage darauffolgend auszuweiten, inwiefern Deutschland sich weiterhin an der Mission beteiligen wird. Zuerst sollte aber kurz auf die Situation Malis eingegangen werden, um zu klären, warum Deutschland und viele weitere Staaten überhaupt intervenieren. 3.2 Mali – eine von Gewalt geplagte Region Die gesamte Komplexität dieser Krisenregion kann hier nicht dargestellt werden. Allerdings sind einige Aspekte zu nennen, um die Verortung und die Herausforderungen des Peacekeepings zu verdeutlichen. In Nordmali begann 2012, um die politische Unabhängigkeit zu gewährleisten, ein gewaltsames Vorgehen gegen die malische Regierung. Als fragiles Bündnis kamen dschihadistische Kämpfende hinzu, die jedoch nach den ersten Eroberungen der nordmalischen Städte 2013 die Oberhand gewannen.Der Süden Malis war ebenfalls von einem Militärputsch geschwächt und die malische Regierung bat um internationale Hilfe. Frankreich folgte der Bitte und eröffnete die Operation Serval. Afrikanische Länder griffen unter der Mission AFISMA ein. Den alliierten Kräften gelang schnell die Rückeroberung der Städte im Norden. Allerdings ging daraus eine asymmetrische Kriegsführung hervor, die die vom Sicherheitsrat legitimierten Einsatztruppen besonders in den Fokus der Attacken der Dschihadisten stellt.Ein Friedensvertrag von 2015 umfasste bspw. nicht alle Konfliktparteien. Im Allgemeinen ist eine Verschlechterung der Gesamtsituation zu verzeichnen, da Dschihadisten mittlerweile versuchen, auch die Nachbarländer Niger und Burkina Faso zu destabilisieren und sich die Gewalt besonders um Zivilisten zentriert. (vgl. Mali: Konopka 2022) Im Zentrum dieses Kapitels soll die asymmetrische Kriegsführung, auch unter dem Aspekt der 'Neuen Kriege' bekannt, und somit die problematische Lage der Mission im Mittelpunkt stehen. Die Kernfrage ist bereits auf das weitere Engagement Deutschlands ausgeweitet worden und ist realitätsnah zu prüfen: In Afghanistan gelang keine Stabilisierung eines afghanischen Staates. Hier kam nach jahrzehntelangen erfolglosen Gefechten die Terrorgruppe Taliban 2021 an die Macht, als allen voran die USA den Rückzug aus der Krisenregion vollzogen (vgl. Nach 20 Jahren: bpb 2021). 4. Die deutsche Außenpolitik – Schwerpunktsetzung VN Die deutsche Sicherheits- und Außenpolitik ist sehr komplex und selbst ein kursorischer Überblick kann hier nicht geleistet werden. Durch die Darstellung diverser Aspekte ist jedoch eine Verortung möglich. 4.1 Historische Perspektive der deutschen Sicherheits- und Außenpolitik Deutschland blickt auf eine bewegte Geschichte zurück. Ab 1945 wurde die Bundesrepublik enormen Veränderungen durch die Besatzungsmächte unterworfen. Während die DDR unter der UdSSR keine wirklich eigene Außenpolitik entwickelte, gelang es Westdeutschland allmählich, politische Spielräume zurückzugewinnen und eigene Ziele zu vertreten (vgl. Gareis 2021, S. 57). In der Zeit vor der Wiedervereinigung sind einige "konstante Handlungsmuster" (ebd., S. 58) zu erkennen, die bis heute ihre Wichtigkeit beibehalten haben. Darunter sind besonders vier Punkte zu nennen:"die Westintegration, durch welche die Bundesrepublik ihren Platz in den europäischen und transatlantischen Strukturen fand und einnahm die Entspannungs- und Ostpolitik, durch die sie ihre friedens- und stabilitätspolitische Handlungsspielräume erweitern konnte die Offenheit für einen breit angelegten, globalen Multilateralismus mit dem Ziel einer verlässlichen rechtlichen Verregelung und Institutionalisierung des Internationalen Systems die selbstgewählte Kultur der Zurückhaltung in machtpolitischen, insbesondere militärischen Angelegenheiten" (ebd., S. 58) Hervorzuheben sind die anfänglichen Bemühungen der deutschen Außenpolitik, um Frankreich von ihrer skeptischen Sichtweise auf die Wiederbewaffnung und Wiederaufnahme der deutschen Souveränität nach dem Zweiten Weltkrieg abzubringen. Die Bemühungen mündeten bspw. 1963 im Élysée-Vertrag, der die enge Partnerschaft merklich vorantrieb und als "deutlicher […] Motor der europäischen Integration" (ebd., S. 65) zu sehen ist.Eine Verankerung in Internationale Beziehungen vollzog sich somit bereits früh mit den Bemühungen Deutschlands, sich in Europa und in die NATO zu integrieren. In den Zeiten vor der Wiedervereinigung konnte Deutschland dennoch nicht gänzlich zu seinem Selbstvertretungsanspruch finden. Die Integration in internationale Organisationen, die die Machtkonzentration des teilnehmenden Landes einschränken können, wurde zwar innenpolitisch heftig diskutiert, kollidierte jedoch mit realen Erweiterungen der Souveränitätsansprüche Deutschlands und formte somit die Erfahrung dieser Ordnungen.Der Multilateralismus ist eine logische Konstante, weil der Wunsch nach Regeln im Internationalen System die eigene Sicherheit erhöhen soll und im Falle Deutschlands auch politische Freiheiten bedeutete. Das Engagement kann als ernsthaft beschrieben werden, weil die Bemühungen auch mit der Erreichung der eigenen Staatssouveränität bspw. in den Vereinten Nationen und dem europäischen Einigungsprozess nicht nachließ – im Gegenteil intensiviert stattfindet. (vgl. ebd., S. 57f & 61-65 & 70f) 4.2 Deutschlands Außen- und Sicherheitspolitik im 21. Jahrhundert - Verortung Im 21. Jahrhundert sind eine neue Vielzahl an nicht-staatlichen Akteuren, weitere Unwägbarkeiten und multidimensionale Problemfelder mit einer höheren Unsicherheit im Internationalen System verbunden, die die Zuverlässigkeit von internationalen Partnern einschränkt. Diese Problematik wird bspw. u. a. durch das Erstarken des Rechtspopulismus, dem Rückgang liberal-demokratischer Regierungen seit 2005, der neuen Risikobewertung und Qualität des transnationalen Terrorismus begründet. (vgl. Gareis 2021, S. 89f) Als aktuelle Referenz kann das Weißbuch 2016 die Sicherheitsinteressen Deutschlands aufzeigen. Darin sind, bedingt bspw. durch die russische Aggression gegenüber der Ukraine, wieder vermehrt nationale Interessen vertreten, die den Schutz der Bürger*innen und die Integrität der Souveränität Deutschlands ins Blickfeld nehmen. Allerdings sind auch internationale Bestrebungen zur vertiefenden Weiterarbeit in der Entwicklungspolitik, dem Völkerrecht und der partnerschaftlichen Zusammenarbeit in allen wichtigen Internationalen Organisationen wie NATO, EU und VN zu nennen. (vgl. Gareis 2021, S. 105)4.2 Deutschland und die Vereinten Nationen Ein ernsthafter Beitrag zur strategischen (Neu-)Kalibrierung der Sicherheits- und Außenpolitik, die in ihren anfänglichen vier Konstanten (s.o.) auch Diskontinuitäten erfuhr, ist die Münchner Sicherheitskonferenz im Jahr 2014 hervorzuheben, in der das Engagement für internationale Organisationsformen, die einen supranationalen Ordnungsrahmen darstellen können - wie die EU, NATO und VN - verstärkt in den Mittelpunkt gestellt worden. Die Konstante der 'Zurückhaltung' bricht also weiter auf und zeigt das "Leitmotiv der aktiven Übernahme größerer Verantwortung für Frieden und Internationale Sicherheit in einem umfassenden Ansatz […]" (Gareis 2021, S. 92) auf. (vgl. ebd., S. 91f) Für Deutschland stellen die Vereinten Nationen das Höchstmaß für Multilateralismus und Institutionalismus dar. Bestrebungen in den VN waren von der Gründung an ein wichtiges Anliegen der Bundesrepublik, um auf die internationale Bühne zurückkehren zu können. Insgesamt kann das Engagement Deutschlands in den VN als hoch angesehen werden: Aktuell ist Deutschland der viertgrößte Beitragszahler, unterhält über 30 VN-Organe im Land und ist um einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat bemüht und mindestens durch die häufige Wiederwahl (zuletzt 2019/20 – damit zum sechsten Mal) und eindeutigen Wahlergebnissen um einen nichtständigen Sitz als international anerkannt zu bezeichnen. Das Interesse beider Akteure ist als interdependent zu bezeichnen: Die VN brauchen in diesen schwierigen Zeiten einflussreiche Staaten und Deutschland hingegen internationale Kooperationsmöglichkeiten in vielfältigen Ressorts. (vgl. ebd., S. 193f) Deutschland beteiligte sich gleich nach der Wiedervereinigung an VN-Peacekeeping-Einsätzen – allerdings mit unbewaffneten Zivilkräften. Anfang des 21. Jahrhunderts stellte Deutschland nicht nur zivile sondern auch militärische Einheiten zur Verfügung. Das Engagement kann in ihren Anfängen als bescheiden beschrieben werden. Insgesamt bevorzugt Deutschland vom VN-mandatierte Einsätze, die anschließend von der EU oder NATO ausgeführt werden. Der MINUSMA-Einsatz ist somit eine Ausnahme und der zweitgrößte Auslandseinsatz der Bundeswehr. Der afrikanische Raum ist aufgrund seiner Fluchtbewegungen zu einem wichtigen sicherheitspolitischen Raum geworden. (vgl. ebd., S. 203f) Allerdings sind die Gründe für den Einsatz in Mali weiter auszuführen, da die Argumentation möglicher Fluchtbewegungen Lücken aufweist. (vgl. Mali: Konopka 2020) 5. Deutschland und der MINUSMA-Einsatz In den vorherigen Kapiteln sind die Bezüge der deutschen Sicherheits- und Außenpolitik zu den Vereinten Nationen bereits angeschnitten worden. Als Nächstes ist der MINUSMA-Einsatz aus einer politischen Perspektive unter Einbezug der Ziele Deutschlands zu charakterisieren und ein Ausblick auf das Ergebnis dieser Intervention zu geben. Die Bewertung des Einsatzes ist entscheidend, um den deutschen Einsatz nachzuvollziehen. 5.1 Motive für die Beteiligung am MINUSMA-Einsatz Die Intervention und Beteiligung Deutschlands am MINUSMA-Einsatz scheint sich nicht auf die Bekämpfung von Fluchtursachen zu beschränken (vgl. Mali: Konopka 2020 & Kaim 2021, S. 31). Weitere Motive sind aus Kapitel 4 abzuleiten und könnten, kombiniert aus dem Wunsch humanitäre Hilfe leisten zu wollen und die Position der Vereinten Nationen - und sich selbst im Internationalen System und den Multilateralismus - zu stärken, eine Begründungslage bieten. Sie wirkt jedoch unpräzise und bedarf genauerer Beschreibungen: Wie bereits beschrieben, ist Frankreich bereits 2013 dem Hilfegesuch der malischen Regierung gefolgt und musste anhand der realen Bedingungen ihre Ziele anpassen: Deutschland sollte dem engen Bündnis- und EU-Partner unter die Arme greifen. Die Bundesregierung gab zunächst lediglich unbewaffneten Kapazitäten Platz, ehe das Mandat langsam auf aktuell 1100 Soldat*innen aufgestockt wurde.Deutschland schien dabei die Vertiefung der Kooperation von EU-Staaten wie Frankreich und den Niederlanden als geeignete Gelegenheit. Ebenfalls ließ der Friedensvertrag auf weitere Stabilität im Land hoffen. Außerhalb der Bemühungen um die Partnerschaft ist für den Autor Konopka die Bewerbung Deutschlands für den nichtständigen Sitz im Sicherheitsrat (2019/20) ausschlaggebend gewesen.Die anfängliche Konzentration auf die europäische Mission EUTM Mali ging mit einer deutlichen Ausweitung auf die VN-Peacekeeping-Mission über. Außerdem, so der Autor, wäre Deutschland in der Bringschuld gegenüber den Teilnehmenden gewesen, da die Bundesrepublik in weiteren Missionen kaum bis gar keine Präsenz vorzuweisen hatte (bspw. EUMAM RCA oder EUTM RCA). (vgl. Mali: Konopka 2020) Kaim (2021) von der Stiftung Wissenschaft und Politik spricht von einem typischen Muster der deutschen Auslandseinsatzbereitschaft, erst durch Bündnisanfragen Einsatzkräfte zu mobilisieren. Aus dieser Sicht ist primär der Versuch, einen "europäischen Fußabdruck" (ebd., S. 12) im internationalen System zu hinterlassen, anzusehen. Allerdings wird auch hervorgehoben, wie die Bewerbung um den nichtständigen Sitz im Sicherheitsrat eine Intensivierung der deutschen Sicherheits- und Außenpolitik in den VN und besonders im afrikanischen Raum beinhaltete. (vgl. ebd., S. 12-20) Dadurch sind sechs Hauptmotive auszumachen, davon greifen manche weniger als andere: 1. Die Bündnistreue zu Frankreich 2. Die Ausgangslage durch die Münchner Sicherheitskonferenz (2014) 3. Das erweiterte Engagement Deutschlands in den VN 4. Der Versuch, eine europäische Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. 5. Die regionale Sicherheit in Mali zu gewährleisten 6. Terrorismusbekämpfung und die Eindämmung von Fluchtbewegungen (vgl. ebd., S. 27-31) Die Punkte 4, 5 und 6 sind als Hauptmotivlage nachrangig einzusortieren; Punkt 5 wird anhand der deutlichen Zunahme an Instabilität den MINUSMA-Einsatz generell und die deutsche Beteiligung gezielt infrage stellen. 5.2 Bewertung des Einsatzes Die bisherige Bewertung des Einsatzes ist auf Grundlage der festgestellten Motive zu leisten, die eine detaillierte Rahmengebung vorgeben. In die Bewertung fließen themenbedingt erste wichtige Aspekte für das Abschlusskapitel ein. 5.2.1 Die Bündnistreue zu Frankreich Die Unterschiede in der strategischen Bewertung des Einsatzes der beiden Länder zeigt deutlich auf: Während Frankreich mehr militärisches Engagement erwartet und die Terrorbekämpfung in den Fokus stellt, steht die Bundesregierung der Friedenssicherung unter VN-Mandat näher, die die Terroristenbekämpfung explizit ausschließt. Festzuhalten wäre, dass die unterschiedlichen Herangehensweisen in Mali zwischen Frankreich und Deutschland differente Zielvorstellungen aufweisen und das gemeinsame Handeln konterkarieren. (vgl. Kaim 2021, S. 27f) Daraus ist ebenso die Frage zu stellen, ob die Bundesregierung das auslaufende Mandat (vgl. Mali: Konopka 2020) ausweiten, beibehalten oder beenden wird. 5.2.2 Die Ausgangslage durch die Münchner Sicherheitskonferenz Deutschland ist bis heute im MINUSMA-Einsatz tätig (2013-2022) und ist dem Bündnis- und langjährigen EU-Partner Frankreich nachgekommen (vgl. Mali: Konopka 2020). Das Engagement ist bis jetzt ausgeweitet worden und von einer anfänglichen Symboltruppe stehen im direkten Einsatzgebiet in Mali ca. 500 (vgl. MINUSMA Fact Sheet: United Nations 2022) und im erweiterten Einsatz ca. 1000 Soldat*innen (vgl. Personalzahlen der Bundeswehr: Bundeswehr 2022).Die Steigerung der Fachkräfte im MINUSMA-Einsatz ist als Intensivierung zu werten (vgl. Kaim 2021, S. 28). Dies kann als Beleg für die vertiefende Arbeit international angesehen werden, wie es zuvor auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 skizziert wurde. Allerdings wären andere Erweiterungen der Tätigkeitsfelder im internationalen Raum und besonders in internationalen Organisationen denkbar und beinhalten nicht zwangsläufig die Intensivierung des MINUSMA-Einsatzes – gleichzeitig bietet das Einsatzgebiet ein robustes Mandat, also internationale Legitimierung, die für deutsche Auslandseinsätze mitentscheidend ist und einen multilateralen Raum, den die Sicherheits- und Außenpolitik favorisiert (vgl. ebd.).5.2.3 Das erweiterte Engagement Deutschlands in den VN Politisch und militärisch dürfte die Beteiligung Deutschlands am MINUSMA-Einsatz die Vereinten Nationen stärken (vgl. Kaim 2021, S. 28). Bei dieser Beteiligung ist mitunter auch deutlich, dass Deutschland nicht altruistisch, sondern auch im Sinne der im Kapitel 4.2 festgelegten Interdependenzen für den Erhalt der eigenen Sicherheit im Internationalen System handelt.Die Idee eines ständigen Sitzes im Sicherheitsrat gilt als unwahrscheinlich sowie der Reformvorschlag der 'Gruppe der Vier' (mit deutscher Beteiligung), der von den vielen Vorschlägen zur Veränderung des Sicherheitsrates zwar als angemessen erscheint, aber dennoch u. a. an den Veto-Mächten bisher scheiterte (vgl. Gareis & Varwick 2014, S. 308-311). Somit bleibt Deutschland lediglich die Kandidatur im SR als nichtständiges Mitglied, dem die Bundesregierung mit ähnlicher Argumentation und Engagement vermutlich in der nächstmöglichen Amtszeit nachkommen wird (vgl. Kaim 2021, S. 29). 5.2.4 Der Versuch, eine europäische Handlungsfähigkeit zu demonstrieren Die europäische Handlungsfähigkeit kann bereits unter Punkt 5.2.1 als inkonsequent bezeichnet werden. Außerdem sind europäische Kräfte an eigenen Missionen vor Ort gebunden und stellen im MINUSMA-Einsatz nicht die meisten Einsatzkräfte zur Verfügung (vgl. Kaim 2021, S. 29 & MINUSMA Fact Sheet: United Nations 2022). Von einer geschlossenen oder klaren europäischen Einheit kann nicht gesprochen werden, jedoch von einer klaren Beteiligung Deutschlands am Einsatz. 5.2.5 Die regionale Sicherheit in Mali zu gewährleisten Seit dem Friedensabkommen 2015 hat sich die Lage stetig verschlechtert und stellt die VN-Friedensmission insgesamt infrage. (vgl. Kaim 2021, S. 30) Weitere Problemfelder stellen gerade die Alleingänge der europäischen Länder an der MINUSMA-Mission dar, die bspw. auf die typischen Blauhelme und auf die VN-Farbgebung bei Fahrzeugen verzichten. Außerdem sind europäische Kräfte vornehmlich in als sicher geltende Einsätze gebunden und in anderen Stützpunkten als die restlichen Länder wie bspw. Ägypten untergebracht. (vgl. Mali: Konopka 2020) Das stellt die VN-geführte Friedensmission auch vor interne Probleme und kann die Handlungsfähigkeit sowie Moral der teilnehmenden Länder beeinträchtigen.5.2.6 Terrorismusbekämpfung und die Eindämmung von FluchtbewegungenDie Mission ist unter den Aspekten von Fluchtbewegungen bereits als vernachlässigbar (zumindest für Fluchtbewegungen nach Europa) klassifiziert worden (vgl. Kaim 2021, S. 30f). Außerdem wird wegen der Destabilisierung des Landes sogar mit weiteren Flüchtenden zu rechnen sein. Weiterhin ist die dynamische Situation in Mali undurchsichtig und schwer zu charakterisieren, inwiefern der Terrorismus Deutschland bedroht (vgl. ebd.) und inwiefern Dschihadisten mittlerweile als Hauptproblem angesehen werden können, wenn die malischen Sicherheitskräfte immer mehr in den Fokus von Korruption und Destabilisierung rücken (vgl. Mali: Konopka 2020). 5.3 Ausblick – Bleibt Deutschland im MINUSMA-Einsatz? Die Motive sowie deren Zielerreichung sind größtenteils als Fehlschlag zu werten und stellen als größten Erfolg die Arbeit in der internationalen Organisation, den Vereinten Nationen, heraus. (vgl. Kaim 2021, S. 31f) Dass nicht alle Ziele erreicht werden können, liegt mitunter an der multidimensionalen und dynamischen Situation vor Ort und an der Herausforderung, die den 'Neuen Kriegen' (vgl. Hippler 2009, S. 3-8) und das VN-Peacekeeping in der vierten Generation (vgl. Gareis & Varwick 2014, S. 119-127) kennzeichnen. Somit hängt das Engagement Deutschlands im MINUSMA-Einsatz von vielen Faktoren ab, die bspw. die öffentliche Meinung über Auslandseinsätze und die Beschaffenheit und Einsatzfähigkeit der Bundeswehr nach Etatkürzungen einschließen (vgl. Kaim 2021, S. 32). Wie die Einsatzkosten zeigen (s. Kapitel 3), sind das insgesamt beträchtliche Summen, die die Staatengemeinschaft – und anteilig Deutschland – aufbringen müssen.Während die Stiftung Wissenschaft und Politik noch von größeren Hürden diesbezüglich ausgeht (vgl. ebd.), ist durch den Einmarsch Russlands in die Ukraine ein Paradigmenwechsel mit ungeahnter Tragweite in der deutschen Sicherheits- und Außenpolitik möglich (vgl. Mehrheit unterstützt deutschen Ukraine-Kurs: Tagesschau 2022), der die Fortführung des VN-Peacekeepings neu bewerten wird. 6. Zusammenführung und Interpretation Unter dem Aspekt des VN-Peacekeeping wurden zuerst allgemeine Aspekte umrissen und die Forschungsfrage weiter ausgeweitet. Im Kern geht es um die Frage, wie Deutschland sich im 21. Jahrhundert mit seiner Sicherheits- und Außenpolitik im Internationalen System verortet und inwiefern dies als Erfolg angesehen werden kann. Letzteres ist nur unter bestimmten, einschränkenden Aspekten zu beantworten und ist mithilfe des MINUSMA-Einsatzes zu verorten. Deutschland positioniert sich offen und ernst zu den Vereinten Nationen und folgt dabei historisch gewachsenen Paradigmen und Erfahrungswerten (s. Unterkapitel 4.1): Daraus lassen sich die Bemühungen um einen ständigen oder nichtständigen Sitz im Sicherheitsrat und weiteres internationales Engagement wie im VN-Peacekeeping und somit die Beteiligung in Mali (MINUSMA-Mission) folgerichtig begründen.Deutschland hat ein nationales sicherheitspolitisches Interesse an einer Verregelung des anarchischen Grundzustandes, um die eigene Position darin zu stärken – Unsicherheiten also abzubauen (vgl. Gareis 2021, S. 58). Damit folgt die Politik nicht einer uneingeschränkten Idealismus-Denkschule und zeigt auch zweckrationale Positionen auf. Dennoch ist der MINUSMA-Einsatz in diesem Sinne als Misserfolg zu werten und zeigt besonders in den Bemühungen um Multilateralismus und einer Institutionalisierung des Internationalen Systems, hier in Form der Vereinten Nationen zu interpretieren, erwähnenswerte Erfolge auf (s. Kapitel 5).Die deutsch-französischen Beziehungen hingegen könnten insgesamt unter dem Konstruktivismus Betrachtung finden: Obwohl die strategische Ausrichtung beider Länder nicht immer im selben Verständnis verläuft (s. Kapitel 5), ist sehr wohl ein ernstzunehmender Konflikt zwischen den beiden großen europäischen Staaten nicht anzunehmen und die außerordentliche internationale Kooperation als erwähnenswert anzusehen. Aus der Ausarbeitung tritt ein Dilemma zutage, das wie folgt zu charakterisieren ist: Deutschland als Nationalstaat hat nur begrenzt Ressourcen und Möglichkeiten, die auch interessengeleitet begründet werden müssen. Deswegen ist ein Problem für Deutschland darin zu skizzieren und zu fragen, in welche internationale Organisation sie ihren weiteren Fokus legen wird. VN-mandatierte aber von NATO und EU ausgeführte Friedensmissionen werden bspw. bevorzugt, gleichzeitig wird eine Stärkung der Vereinten Nationen als Ziel formuliert (s. Kapitel 4).Investitionen in allen internationalen Organisationen bringen Deutschland in eine prekäre Situation, wie die Motivlage und die Ausgestaltung des MINUSMA-Einsatzes aufzeigt (s. Unterkapitel 5.2.5). Als Fazit ist festzuhalten, dass der MINUSMA-Einsatz einer oftmals bloßen Rhetorik zur Stärkung multilateraler Beteiligung grundsätzlich entgegenläuft und Deutschland zukünftig als ernstzunehmenden internationalen Akteur kennzeichnen könnte (vgl. Gareis 2021, S. 216). Prinzipiell kann zudem bestätigt werden, dass Deutschland am ehesten seine Fähigkeiten einbringen kann, wenn internationale Legitimation besteht (mit Blick auf das Grundgesetz und der eigenen 'Zurückhaltungs-Konstante'), Bündnis- und beteiligte Partner mit ihren Interessen zumindest kollidieren (vgl. ebd., S. 112) und Multilateralismus als Merkmal auftritt. Daraus lässt sich die Intensivierung in internationale Organisationen ableiten, weil es nachhaltig die Souveränität Deutschlands positiv beeinflussen kann (vgl. ebd.). So kann Gareis (2021, S. 93) zugestimmt werden, wenn er schreibt: "Sicherlich kann auch im Jahr 2020 festgestellt werden, dass Deutschland an seinen Bemühungen um eine Zivilisierung der internationalen Politik durch Regime und Institutionen festhält. Auch ist es seiner Bevorzugung von friedlicher Konfliktbeilegung und Kooperation vor der Machtpolitik sowie schließlich auch seiner grundsätzlichen Bereitschaft zur Übertragung von Souveränitätsrechten weitestgehend treu geblieben – wenngleich die mit dem Zivilmachtkonzept gern verbundene 'Kultur der Zurückhaltung' Ergänzungen durch die Verfolgung stärker nationaler Interessen erfahren hat." Der Ausblick ist jedoch unter der aktuellen Prämisse (s. Unterkapitel 5.3) unter Vorbehalt zu stellen und zeigt deutlich die Unsicherheiten auf, die der Grundzustand der Anarchie treffend formuliert und exemplarisch die angerissene Reformbedürftigkeit der Vereinten Nationen sowie die Handlungsunfähigkeit des Sicherheitsrats hervorhebt. Deutschland wird in jeglichem denkbaren Szenario eine größere Rolle in den Internationalen Beziehungen spielen: "Die Anforderungen an die multilaterale deutsche Außen- und Sicherheitspolitik werden also steigen, und neben dem vielbeschworenen Willen zur Übernahme von 'Verantwortung' wird auch die Bereitschaft zum personellen und finanziellen Engagement wie auch zur Übernahme ungewohnter politischer Risiken wachsen müssen" (Gareis 2021, S. 216) 7. Literatur Beckmann, H. (26.02.2022): Russlands Angriff auf die Ukraine. Europa hat einen neuen Feind. Online: https://www.tagesschau.de/ausland/europa/russland-krieg-europa-101.html [09.03.2022]. Bundesministerium der Verteidigung (2016): Weissbuch 2016. Zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr. Online: https://www.bmvg.de/resource/blob/13708/015be272f8c0098f1537a491676bfc31/weissbuch2016-barrierefrei-data.pdf [09.03.2022].Bundeswehr (21.02.2022): Personalzahlen der Bundeswehr. Wie lauten die Einsatzzahlen. 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