Die "Jabezgeneration": Auswirkungen sozialer Ungleichheit und die Folgen für einen Teil der nachfolgenden Generation
In: Diplomarbeit
Abstract
Aus der Einleitung: Ein kugelförmiger, künstlicher, sowjetischer Satellit namens 'Sputnik' (russ. 'Weggefährte') setzte den Westen 1957 unter Schock. Dieses Ereignis erhielt sogar einen Namen: 'Sputnik-Schock'. Die westliche Welt war erschüttert und bestürzt. Wie konnte ein so rückständiges Land wie die damalige Sowjetunion diese technologische Höchstleistung vollbringen? Fast fünfzig Jahre später kommt es wieder zu einem Schock-Erlebnis – dem 'PISA-Schock', obwohl es kein Schock hätte sein müssen, weil Bildungsexperten nicht aufgehört haben, auf Defizite im Bildungswesen hinzuweisen. Dieses Mal sind es deutsche Schüler/innen, die mit ihren Testleistungen, die Bildungs- und Erziehungsfachwelt, Eltern und sogar die Regierung schockieren. Deutschland liegt beim Bildungsranking auf den hintersten Plätzen, obwohl dieses Land seit ungefähr vierzig Jahren Bildungsexpansion betreibt, seine wirtschaftlichen Erfolge beachtlich sind. Wie konnte ein so fortschrittliches Land wie die Bundesrepublik Deutschland im Bildungssektor nur Mittelmaß und schlechter sein? Was läuft schief, woran krankt unsere Gesellschaft? Auf der Suche nach Erklärungen hat sich mir ein Argument, eine mögliche Erklärung erschlossen, die ebenso vom Deutschen PISA-Konsortium bestätigt wurde. Es sind die Bedingungen des Aufwachsens, die den Stand der erworbenen Kompetenzen beeinflussen. Nun sind die 'Bedingungen des Aufwachsens' ein weit gefasster Begriff, der jedoch eines impliziert – es geht um eine bestimmte Phase im Leben eines Menschen, die ihren Anfang mit der Geburt in eine Familie nimmt und mit dem Übergang in eine selbständige, von den Eltern unabhängige, souveräne Lebensphase zu Ende geht. Die Familie ist sozusagen der zentrale Ort, der Ausgangs- und Mittelpunkt des Aufwachsens, welcher jedoch mit dem Älterwerden des Menschen an Einfluss, nicht unbedingt an Wichtigkeit, verliert. 'Mit der Familie fängt für fast alle Kinder alles an. Sie ist das Betreuungszentrum, sie ist die basale Lernwelt, in der Kinder aufwachsen, in der sie jenes Urvertrauen entwickeln und jene elementaren Fähigkeiten und Fertigkeiten erlangen können, die sie befähigen, sich zunehmend eigenständig in der Welt zu bewegen. Damit kommt der Familie mit Blick auf die Bildung, Betreuung und Erziehung der Kinder eine ebenso zentrale wie lebensbegleitende Schlüsselfunktion zu.' Mit dem Eintritt in den 'öffentlichen' Bereich des Lebens, beginnend mit frühkindlicher Betreuung und Bildung sowie Erziehung in öffentlichen Einrichtungen, wie z. B. der Kindergarten (Elementarbereich) und anschließend die Grundschule (Primarbereich), der Sekundarbereiche I und II und des Tertiären Bereichs der beruflichen Ausbildung, gewinnen verschiedene Institutionen größere Bedeutung und Einfluss. Mit dem Übertritt in die Berufs- bzw. Erwerbsphase und der allmählichen Ablösung von den Eltern, der Gründung einer eigenen Familie und der Autonomie als vollwertiger Staatsbürger mit allen Rechten und Pflichten, kann vom Erwachsenen gesprochen werden. Die Phase des Aufwachsens ist vorbei. Welchen Einfluss und welche Wichtigkeit die Sozialisationsfelder der Aufwachsphase für Kinder und Jugendliche haben, wird Teilthema dieser Arbeit sein. Dem vorangestellt sind gesellschaftliche Gegebenheiten und Bedingungen, die in Verbindung mit den Sozialisationsbedingungen nach der Analyse der PISA-Ergebnisse einen erheblichen Einfluss auf die Integration der nachkommenden Generation haben. Wie kann es sein, dass es in einer demokratischen, freien, sozial- und rechtsstaatlichen, auf Wohlfahrt ausgerichteten Gesellschaft nur einem Teil der Mitglieder gelingt, das Beste für sich aus diesen Bedingungen machen zu können? Einem anderen Teil aber bleiben nur Illusionen, bzw. realistische Zukunftspläne können gar nicht erst entstehen. Wie ist es möglich, dass sich zwar der Großteil der Jugendlichen an der Abfolge Pflichtschulbesuch – Berufsausbildung orientiert, aber einem Teil bleibt dieser Weg vorenthalten? Warum drehen immer mehr Jugendliche in Übergangsmaßnahmen ihre Warteschleifen, um mit einer mehrjährigen Verspätung eine Ausbildung oder eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen? Mit Blick auf diese Fragen wird im ersten Teil dieser Arbeit auf Strukturen sozialer Ungleichheit eingegangen. Dabei wird der Tatsache Aufmerksamkeit geschenkt, dass es einen Unterschied zwischen sozialer Differenzierung, Verschiedenartigkeit und sozialer Ungleichheit gibt. Mit letzterer sind ungleiche Lebens- und Arbeitsbedingungen verbunden, die durch die differente Entwicklung bzw. dem ungleichen Vorhandensein von Bildung, Einkommen/Vermögen, Macht und Prestige zu unterschiedlichen Lebenschancen, zu 'mehr oder minder vorteilhaften Lebens- und Handlungschancen' führen Der zweite Teil dieser Diplomarbeit befasst sich mit dem Teil unserer Gesellschaft, den die Folgen sozialer Ungleichheit am härtesten und nachhaltigsten trifft – die Jugend, die jungen Erwachsenen, die jede Entscheidung, die sie selbst oder andere für sie treffen, verantworten müssen. Dieser Teil benötigt ein stabiles Lebensfundament, vor allem Beständigkeit, Zuverlässigkeit sowie Sicherheit. Aber gerade diese Bevölkerungsgruppe ist im hohen Maß den strukturellen Veränderungen der Gesellschaft ausgesetzt, weil dieses Lebensfundament an Stabilität verloren hat. In einem dritten Teil der Diplomarbeit sollen an einem Beispiel aus der Praxis ein Übergangsmodell und Übergangsproblematiken der Teilnehmer/innen im Übergangssystem vorgestellt werden. Beim Bildungsträger BBQ – Berufliche Bildung gGmbH (2.) Reutlingen startete im September 2006 das erste Reutlinger Integrationsmodell (RIMO). Das Besondere und Neue bei dieser Starthilfe ins Berufsleben (2.1) zeichnet sich durch die regelmäßige, sehr individuelle und intensive Teilnehmer/innenbetreuung und Unterstützung bei der Ausbildungs- und Arbeitsplatzsuche durch ehrenamtliche Mentor/innen aus. Zum Abschluss werden Bilanzen zum Reutlinger Integrationsmodel (2.2) gezogen. Mit der Schlussbetrachtung werden im vierten Teil Möglichkeiten realistischer Zukunftschancen der heutigen jungen Menschen und konkret derer betrachtet, die durch begrenzte Möglichkeiten oft einen erschwerten Start ins eigenständige Leben haben, deren Handlungs- und Lebenschancen durch beschränkte Ressourcen, insbesondere der Ressource 'Bildung', eingeschränkt oder teilweise gar nicht wahrnehmbar sind.Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis: Inhaltsverzeichnis1 Vorwort1 I. Teil1 1.Einleitung2 2.Ungleichheit und Chancenverteilung - Begrifflichkeiten9 2.1Soziale Ungleichheit9 2.2Chancengleichheit12 2.3Die Sozialstruktur und ihre Veränderungen13 2.3.1Das Soziale Klassen- und Schichtenmodell13 2.3.2Soziale Lagen16 2.3.3Soziale Milieus und Lebensstile17 2.3.4Klassen/Schichten vs. Milieu/Lebensstil18 2.4Theorie der sozialen Ungleichheit nach BOURDIEU - Habitustheorie21 2.5Die Individualisierungsthese von BECK23 3.Dimensionen sozialer Ungleichheit26 3.1Bildung27 3.1.1Chancen(un)gleichheit - Bildungs(un)gerechtigkeit29 3.1.2Soziale Herkunft30 3.1.3Geschlechtsspezifischen Ungleichheit36 3.1.4Verhältnis Migration - Bildung37 3.2Einkommen, Vermögen und Besitz41 3.3Macht42 3.4Prestige43 3.5Arbeits-, Wohn- und Freizeitbedingungen44 4.Benachteiligte Randgruppen46 5.Zusammenfassung: Soziale Ungleichheit48 II.Teil49 1.Vorbemerkung49 2.Vom Jüngling zum Jugendlichen - ein historischer Blick50 3.Strukturwandel der Jugendphase54 3.1Vom 'normalen' zum 'außergewöhnlichen' Lebenslauf55 3.2Entstrukturierung und Individualisierung als Folge der Abwendung vom Normallebenslauf56 3.3Sonnen- und Schattenseiten der Strukturveränderungen58 4.Jugendliche und ihre Zukunftsperspektiven61 4.1Hindernisse, Hürden und Begrenztheiten62 4.2Eingeschränkte 'Mitfahrgelegenheiten'64 4.2.1Die Herkunftsfamilie als Basis für Zukunftschancen65 4.2.2Selektionsentscheidungen im Bildungssystem68 4.2.3Hauptschule - Restschule für 'Zurückgelassene'71 4.3Kumulative Chancenungleichheit nach der Sekundarstufe I75 4.3.1Je höher die Qualifizierung, desto besser die Perspektive75 4.3.2Der Ausbildungs- und Arbeitsmarkt für Hauptschüler/innen77 5.Hilfesysteme allgemein und konkret79 6.Zusammenfassung - Veränderungen der Jugendphase und deren Auswirkungen auf sie82 III. Teil85 1.Vorbemerkung85 2.BBQ - Berufliche Bildung gGmbH86 2.1Starthilfe ins Berufsleben87 2.2Bilanzen zum Reutlinger Integrationsmodell90 IV.Schlussbetrachtung - Möglichkeiten realistischer Zukunftschancen93 Literaturverzeichnis100 Abkürzungsverzeichnis114 Anlagen115Textprobe:Textprobe: Kapitel 4, Jugendliche und ihre Zukunftsperspektiven: 'Im Zuge der Entstandardisierung des Normallebenslaufes und seinem Verblassen als biographisches Orientierungsmuster und Zukunftsversprechen, im Auseinanderfallen von institutionellen Lebenslaufvorgaben und subjektiven Perspektiven muss das 'eigene Leben' zunehmend selbst 'entworfen' werden. Dabei spielen Erwerbschancen und Arbeitslosigkeitsrisiko im Kontext dieser Arbeit mit Blick auf die junge Generation und auf soziale Ungleichheit eine entscheidende Rolle. Jugendliche werden nach HRADIL als 'Problemgruppe des Arbeitsmarktes' bezeichnet, '…die einem besonders hohen Risiko, arbeitslos zu werden…' ausgesetzt ist. Die neueste vorliegende Shell-Jugendstudie 'Jugend 2006' konstatiert auf Grund einer generellen Arbeitsplatzunsicherheit, des demographischen Wandels und der damit verbundenen '… wenig gesicherten Versorgung im Alter…', eine nachhaltige Verunsicherung der jungen Altersklasse. Es haben sich '…in den vergangenen Jahren die wirtschaftlichen Bedingungen in Deutschland tatsächlich verschlechtert, und die Jugendlichen müssen damit rechnen, nach ihrem schulischen Abschluss kurz- oder langfristig keinen Ausbildungsplatz zu erhalten, womit der Eintritt ins Erwerbsleben immer weiter nach hinten verschoben wird. Es besteht die Gefahr, dass Jugendlichen dadurch lange kein Eintritt in gesellschaftlich nützliche, produktive und bezahlte Tätigkeiten gewährt wird.' Unter welch trüben, unsicheren und brüchigen Bedingungen müssen die Jugendlichen und jungen Erwachsenen der heutigen Zeit ihrer Zukunft entgegen sehen? Sie stehen laut WALTHER unter einem 'Normalisierungsdruck', bei dem sich die jungen Menschen nicht ungezwungen und 'eigenwillig', im wahrsten Sinne des Wortes, für ihren Ausbildungsberuf interessieren und entscheiden können, ihren '…Übergang in die Arbeit nicht als einen Teil der Entwicklung und Verwirklichung eines subjektiven Lebensentwurfes gestalten können, sondern ihre Bemühungen nur darauf gerichtet sind, irgendeine Ausbildung zu beginnen und vielleicht zu beenden. WALTHER stellt in diesem Zusammenhang auch fest, 'dass Orientierungs-, Such- und Reflexionsprozesse entweder gar nicht erst zugelassen oder zu früh abgeschnitten werden.' Wie bereits festgestellt, führt diese Begrenztheit der Entscheidungsmöglichkeiten zu einer neuen Art der Wiedereinbindung bzw. Reintegration in die Gesellschaft. Außer dem Zwang sich für etwas zu entscheiden (z. B. welcher Beruf), sind die Entscheidungsmöglichkeiten durch gesellschaftliche Institutionen auch noch begrenzt (z. B. Arbeitsmarkt, Besuch bestimmter Bildungseinrichtungen). Hinzu kommt, dass '…entsprechende Karrieren bereits im Kindes- und Jugendalter vorprogrammiert und … das Resultat von strukturell angelegten Barrieren und/oder Verteilungsmustern [sind].' Hindernisse, Hürden und Begrenztheiten: Hindernisse, Hürden und Begrenztheiten lassen sich mit den Dimensionen sozialer Ungleichheit gut nachweisen. In Anlehnung daran soll im Weiteren der Focus auf die Ressource 'Bildung' gelegt werden. Erstens ist Bildung ein äußerst wertvolles Gut, das sich individuell besonders fördernd zur Gestaltung angenehmer Lebensbedingungen eignet und '…zur wichtigsten Grundlage für den materiellen Wohlstand moderner Gesellschaften geworden [ist].' Zweitens ist Bildung konvertierbar in andere Dimensionen sozialer Ungleichheit (z. B. Einkommen/Vermögen, Macht, Prestige) und drittens nimmt Schule, Berufsschule, Hoch- oder Fachschule bereits bis zu einem Viertel der Lebenszeit der jungen Generation ein. BRÜNDEL/HURRELMANN bemerken hierzu, '…dass die Schule im Zeithaushalt eines jungen Menschen bis zum Ende des zweiten Lebensjahrzehnts das zentrale Lebensfeld geworden ist. Der Schulbesuch ist das vorherrschende Merkmal der Jugendzeit; Jugend- und Schulzeit sind identisch. Was in der Schule passiert, ist deshalb äußerst wichtig für die gesamte persönliche Entwicklung.' Es besteht wie belegt zweifelsfrei ein Zusammenhang zwischen Bildung und Lebenschancen. Die Bildungsschranken von Kindern sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen haben sich nicht aufgelöst, wohl aber hat eine zunehmende Bildungsbeteiligung in allen Sozialschichten stattgefunden, die insbesondere die Bildungschancen für Mädchen erhöht hat. Gleichzeitig '…aber [ist] die sozialstrukturelle Homogenität in der Hauptschule gestiegen.' Insbesondere Kinder von un- und angelernten Arbeitern sowie von Ausländern und Migranten sind von dieser nachteiligen Entwicklung betroffen.' Dies betrifft die Sozialschicht bzw. die jungen Menschen, die auf Grund ihrer ungünstigeren familiaren Voraussetzungen in Bezug auf das ökonomische, kulturelle und soziale Kapital im Elternhaus sowohl kognitive Nachteile erfahren als auch die Bildungsentscheidungen der Eltern tragen und verantworten müssen. 'Ungleiche Bildungschancen (und Bildungsbeteiligung – M.T.) wurden dabei als direkte Abbilder gesellschaftlicher Hierarchien betrachtet.' Die Dreigliedrigkeit im Schulsystem findet somit ihre Entsprechung in der sozialen Schichtung. Im Folgenden soll auf diese Entsprechung und die Folgen für die 'Verlierer' oder 'Zurückgelassenen', wie SOLGA/WAGNER die Hauptschülerinnen und Hauptschüler nennen, eingegangen werden. Sie sind die sozial Benachteiligten. Trotz des Wissens, dass Bildung im Hinblick auf die Lebenschancen Jugendlicher von besonders großer Bedeutung ist, gilt für Deutschland: 'In kaum einer anderen westlichen Industrienation sind die Lernprozesse von Kindern und Jugendlichen so eng mit ihrer sozialen Herkunft verbunden wie in Deutschland.' Die Heranwachsenden werden schichtspezifisch auf die verschiedenen Schulformen verteilt. Soziale Herkunft hat zudem generationsübergreifend Auswirkungen auf die soziale Position in der Gesellschaft, das heißt, der soziale Status gekoppelt an die gesellschaftliche Position wird größtenteils 'weitervererbt'. Was sozusagen mit der Geburt seinen Anfang nimmt, zieht sich in den meisten Fällen durch das Leben der nachfolgenden Generation. 'Kinder aus sozial schwächeren Schichten haben damit geringere Chancen für den Zugang zu höheren Bildungsgängen als Kinder aus bildungshöheren Schichten und umgekehrt, Kinder aus bildungshöheren Schichten sind seltener in unteren Bildungsgängen anzutreffen als Kinder aus bildungsfernen Familien. Dies ist keine neue Erkenntnis mehr, lenkt jedoch die Aufmerksamkeit auf die 'Verlierer' der Gesellschaftsentwicklung und damit auf Problematiken der sozialen Ungleichheit.
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