Wir-Gefühle: Repräsentationsformen kollektiver Identität bei Jürgen Habermas
In: Mittelweg 36: Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Band 17, Heft 6, S. 12-32
ISSN: 0941-6382
Inwiefern jede Beschäftigung mit kollektiver Identität wertegeleitet ist oder sein muss, lässt sich, so der Verfasser, am Beispiel des bedeutendsten Sozialphilosophen der Bundesrepublik, Jürgen Habermas, zeigen. Habermas hat sich nicht nur bemüht, eine Vorstellung von kollektiver Identität in sein Theoriegebäude zu integrieren, sondern hat sich in seinen politischen Schriften - vor allem seit den 1980er Jahren - verstärkt mit der nationalen Identität der Deutschen nach 1945 auseinandergesetzt, im Spannungsfeld zwischen Sein und Sollen. Seine Beschäftigung mit der Identitätsproblematik wird in drei Schritten analysiert: Vor dem Hintergrund einer Darlegung von Habermas' Konzept einer Konstruktion 'vernünftiger Identität' werden zwei Sonderfälle kollektiver Identität, nämlich die Bundesrepublik und Europa thematisiert. Abschließend wird eine Kritik des Habermas'schen Begriffs von kollektiver Identität im Licht seiner politisch-publizistischen Interventionen zur Diskussion gestellt. Die Pluralität von Repräsentationen im öffentlichen Raum scheint, so die These, viel diffiziler und abgestufter zu wirken, als Habermas wahrhaben will - und es gibt auch keine Anzeichen dafür, dass das menschliche Bedürfnis nach komplexen Ausdrucksformen nachlässt, die das Uneindeutige über das rein Vernünftige hinaus fassen. Diese nicht nur soziologischen Befunde sollten sozial- und politiktheoretisch dazu führen, das Phänomen der "kollektiven Identitäten" nicht nur mit der Furcht vor regressivem "Gemeinschaftskult" zu betrachten, sondern als konstanten Ordnungs- beziehungsweise Bewegungsfaktor im sozialen und politischen Leben ernst zu nehmen. (ICF2)