The Maastricht Treaty and the future of Europe
In: The Washington quarterly, Band 15, Heft 4, S. 119-137
ISSN: 0163-660X, 0147-1465
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In: The Washington quarterly, Band 15, Heft 4, S. 119-137
ISSN: 0163-660X, 0147-1465
World Affairs Online
Blog: Rechtspopulismus
1. EinleitungAls im Frühjahr viele Menschen auf die Straße gingen, um gegen die von der Regierung beschlossenen Einschränkungen zur Eindämmung der Verbreitung des Coronavirus zu demonstrieren, fühlten sich nicht wenige an die Pegida-Proteste - beginnend im Dezember 2014 - erinnert, bei denen vor allem in Dresden, aber auch in anderen deutschen Städten tausende Menschen auf die Straße gegangen sind, um ihrem Unmut hinsichtlich der Einwanderungspolitik der Regierung Ausdruck zu verleihen.Den Teilnhemer:innen der Pegida-Proteste wird oftmals vorgeworfen, 'rechts' oder gar Neo-Nazis zu sein, während die "Querdenker" als Verschwörungstheoretiker:innen und Maskenverweigerer dargestellt werden. Entsprechend konnten einschlägigen Medien die folgenden Überschriften entnommen werden:Pegida-Teilnehmer beschimpfen Hotel-Gäste rassistisch (Abendzeitung am 03.08.2016) [1]Typischer Pegida-Anhänger ist 48, männlich und gut gebildet (Berliner Zeitung am 04.02.2020) [2]"Querdenker"-Demo in Leipzig: Journalisten angegriffen, Grünen-Politiker belästigt (Frankfurter Rundschau am 08.11.2021) [3]Angriff auf Reichstag: 40 mutmaßliche Randalierer bislang ermittelt (ntv.de am 16.01.2021) [4]Aber wer sind diese Leute wirklich, die auf die Straße gehen, welche Motive haben sie und wie rechts sind sie? Mit dieser Frage beschäftigten sich verschiedene Forscherteams, die mit Hilfe von Befragungen versucht haben, dies herauszufinden. In der vorliegenden Arbeit werden diese Studien aufgegriffen und miteinander verglichen. Da die Ereignisse, insbesondere die Pegida-Proteste, bereits einige Jahre zurückliegen, wird in einem ersten Schritt die Entstehung und Chronologie der Proteste beschrieben, bevor im zweiten Teil die Pegida-Proteste mit denen der Querdenker verglichen werden.Dabei beschränkt sich die hier vorliegende Arbeit darauf, die Querdenker-Demonstrationen und die Pegida-Proteste hinsichtlich der Teilnehmer:innen und den Motiven für die Teilnahme zu untersuchen und vergleichen. Zudem soll das rechtextremistische Potential analysiert werden. Bei den ausgewählten Kategorien werden die jeweiligen Protestphänomene zunächst getrennt voneinander betrachtet und in einem zweiten Schritt miteinander verglichen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. 2. Chronologie der Proteste2.1 Chronologie der Pegida-ProtesteVersetzt man sich in das Jahr 2014, dem Beginn der Pegida-Proteste zurück, ist in Deutschland und insbesondere in Sachsen eine anhaltende negative Stimmung gegenüber Geflüchteten zu beobachten. Immer wieder kommt es zu Protesten gegen geplante Unterkünfte für die temporäre Unterbringung von Flüchtlingen, wie beispielsweise im November 2013 in Schneeberg, wo sich rund 2000 Menschen versammeln, um gegen die Unterbringung von rund 250 aus Syrien geflüchteter Menschen zu demonstrieren (Röpke 2013; Antifa Reche Team Dresden 2016, S. 35).Von dieser allgemeinen Stimmung angeregt, gründete Lutz Bachmann später eine Facebookgruppe "Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes", woraus schließlich der eingetragene Verein 'Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes' kurz 'Pegida' hervorging (Geiges, Marg & Walter 2015, S. 19), welcher am 20. Oktober 2014 zu einem sogenannten Abendspaziergang in die Dresdner Innenstadt aufrief (Vorländer, Herold & Schäller 2016, S. 109).Unter der Bezeichnung 'Spaziergang' fanden diese Demonstrationen fortan jeden Montag in Dresden statt, um gegen Glaubens- und Stellvertreterkriege auf deutschem Boden sowie gegen die 'Islamisierung des Abendlandes' zu protestieren (Geiges, Marg & Walter 2015, S. 12), wobei am 8. Dezember 2014 zum ersten Mal die Marke von 10.000 Teilnehmenden überschritten wurde (Antifa Reche Team Dresden 2016, S. 35).In den darauffolgenden Wochen konnte ein weiterer Zustrom zu den wöchentlich montags stattfindenden Protesten beobachtet werden. Den Höhepunkt der Demonstrationen bildete der Spaziergang am 12. Januar 2015, der unter den Eindrücken des Anschlags auf das französische Satiremagazin 'Charlie Hebdo' stand und an dem sich nach offiziellen Angaben der Polizei rund 25.000 Menschen beteiligten (ebd.; Geiges, Marg & Walter 2015, S. 18).Angeregt von dem großen Zuspruch der Dresdner Spaziergänge gründeten sich in ganz Sachsen, aber auch in viel anderen Städten der Bundesrepublik, wie München, Würzburg, Kassel, Hannover und Bonn, Ableger, die allerdings mit wenigen Ausnahmen in Sachsen nicht annähernd so großen Zulauf hatten wie die Proteste in Dresden und an denen teilweise nur wenige Dutzend Menschen teilnahmen (Antifa Reche Team Dresden 2016, S. 36).Im Frühjahr und Sommer flachte, auch aufgrund anhaltender Konflikte innerhalb des Organisationsteams, der Zulauf zu den Demonstrationen merklich ab. Bisweilen versammelten sich nur noch weniger als 2.000 Menschen zu den Spaziergängen in Dresden. Jedoch fanden insbesondere im Umland von Dresden nahezu täglich Demonstrationen, organisiert von Pegida Ablegern, statt (Antifa Reche Team Dresden 2016, S. 47, Geiges, Marg & Walter 2015, S. 21).Auch unter dem Einfluss des anhaltenden Zustromes von Flüchtlingen konnte über den Sommer hinweg wieder eine Steigerung der Teilnehmerzahl beobachtet werden. Waren es im Juli noch rund dreitausend Teilnehmende, waren es Anfang September bereits über fünftausend, was sich bis Ende September auf neuntausend Teilnehmende steigerte (Antifa Reche Team Dresden 2016, S. 47). Zum einjährigen Bestehen von Pegida am 19. Oktober 2015 versammelt sich bei einer stationären Kundgebung in der Dresdener Innenstadt 15.000 bis 20.000 Menschen (ebd.).Bei den folgenden Kundgebungen konnte eine immer aufgeladenere Stimmung beobachtet werden, die zunehmend auch zu gewaltsamen Ausschreitungen führte. Beispielsweise wurden am Rand des Pegida-Weihnachtssingens am 21. Dezember 2015 gezielt Menschen von Nazis und Hooligans angegriffen, die sich unter die Pegida-Anhänger gemischt hatten (ebd.; Jacobsen 2015).Vorläufiger Höhepunkt sollte eine europäische Vernetzung der Pegida-Demonstrationen am 6. Februar 2016 sein, bei der in vielen europäischen Städten wie Graz, Amsterdam, Dublin und Antwerpen gleichzeitig Kundgebungen abgehalten und so die 'Festung Europa' symbolisiert werden sollte. Der Zuspruch blieb aber selbst in Dresden weit hinter den Erwartungen zurück (Antifa Reche Team Dresden 2016, S. 50; Zeit online 2016).Insbesondere in Dresden kam es dennoch bis weit ins Jahr 2017 hinein zu weiteren Protestkundgebungen mit bis zu zweitausend Teilnehmenden. Die bisher letzte größere Protestaktion fand anlässlich des fünfjährigen Bestehens der Organisation am 20. Oktober 2019 statt, bei der sich rund dreitausend Menschen versammelten, um erneut gegen die Migrationspolitik zu demonstrieren (Tagesschau 2019). 2.2 Chronologie der Querdenker-ProtesteErste Meldungen, nach denen in der Provinz Wuhan in China ein vermutlich tödliches, hoch ansteckendes Virus entdeckt wurde, konnten den Medien bereits Ende 2019 entnommen werden. Der erste bestätigte Fall wurde in Deutschland schließlich am 27. Januar 2020 in Bayern gemeldet (Imöhl & Ivanow 2021). Nachdem die Bundesregierung zunächst eher zurückhaltend reagiert und sich gegen striktere Maßnahmen ausgesprochen hatte, wurde schließlich beginnend mit dem 22. März 2020, zunächst befristet bis zum 19. April, der erste Lockdown verhängt, der mehrmals verlängert wurde und schließlich nach sieben Wochen am 7. Mai. 2020 endete (Bundesministerium für Gesundheit 2022).Unter dem Begriff der 'Hygienedemos' fanden bereits im April erste Protestaktionen gegen die von der Bundesregierung beschlossenen tiefgreifenden Einschränkungen des öffentlichen Lebens statt. Nachdem anfänglich ein Schwerpunkt der Proteste in Berlin beobachtet werden konnte, fanden bereits kurze Zeit später ähnliche Aktionen in anderen deutschen Großstädten und ebenfalls im ländlichen Raum statt (Frei & Nachtwey 202, S. 1).Die Proteste gewannen dabei schnell an Zulauf und breiteten sich immer weiter aus. Im Anschluss an eine Großkundgebung am 9. Mai 2020 in Stuttgart mit über 20.000 Teilnehmenden gründete sich schließlich unter der Federführung von Michael Ballweg die Initiative 'Querdenken 711' (ebd.). Hierbei wurde auch der Begriff 'Querdenken' geprägt (Bundesstelle für Sektenfragen 2021, S. 5).Bundesweit gründeten sich nach dem Stuttgarter Vorbild weitere Querdenken-Initiativen, sowohl in größeren Städten als auch im ländlichen Raum. Zudem gelang es den Organisatoren der Querdenker-Bewegung innerhalb kurzer Zeit, erhebliche finanzielle Mittel zu generieren, mit denen die Protestkundgebungen finanziert werden konnten (Holzer, et al., 2021, S. 21).Den Höhepunkt erreichten die Proteste Mitte Mai 2020, ehe mit Auslaufen des Lockdowns auch die Teilnehmerzahlen an den Demonstrationen wieder abflachte (Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen 2022, S. 12). Initiiert von der Querdenker-Bewegung unter der Führung von Michael Ballweg vernetzten und strukturierten sich die einzelnen Protestgruppen und es wurden bundesweit Kundgebungen organisiert (Holzer, et al., 2021, S. 13).Die größten Kundgebungen fanden am 1. und 29. August in Berlin, am 4. Oktober in Konstanz sowie am 7. November 2020 in Leipzig statt (Frei & Nachtwey 202, S. 1), ehe über den Winter hinweg der Zulauf erneut abflachte. Eine weitere Protestwelle konnte im Frühjahr 2021 beobachtet werden. Vor dem Hintergrund des zweiten Lockdowns, der am 6. Januar 2021 beschlossen wurde und bis in den Mai hinein anhielt, zogen wieder vermehrt Menschen auf die Straße, um gegen die Maßnahmen zu demonstrieren (Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen 2022, S. 12).In diesem Zusammenhang identifizierte der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen (2022, S. 12) eine positive Korrelation zwischen steigenden Infektionszahlen und Protestgeschehen. Der Bericht stellt zudem fest, dass im Lauf des Jahres 2021 eine Zunahme verbal aggressiven Verhaltens seitens der Teilnehmenden zu beobachten war und sich Ärzt:innen, Politiker sowie Wissenschaftler als Feindbild herausbildeten, die teilweise sogar angegriffen und bedroht wurden (Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen 2022, S. 16; S. 20).Mit Abflachen der Infektionswelle nahm auch das Protestgeschehen im Sommer 2021 zunächst merklich ab. Im Herbst veränderte sich schließlich die Form des Protestes. Die Querdenken-Organisationen verloren zunehmend an Einfluss und statt großer Kundgebungen war eine Verschiebung hin zu einer Vielzahl kleinerer Protestaktionen in kleineren Städten und ländlichen Gebieten zu beobachten (Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen 2022, S. 16; S. 20).Mit dem Auslaufen der meisten Corona-Maßnahmen konnte auch ein deutlicher Rückgang an Protesten gegen die Maßnahmen beobachtet werden. Zurzeit finden nach wie vor in vielen Städten noch regelmäßig Demonstrationen statt, wie beispielsweise am 13. August 2022 in Berlin ein Auto- und Fahrradkorso, um gegen das vom Bundestag beschlossene Infektionsschutzgesetz zu demonstrieren [5]. 3. Vergleich der Protestphänomene3.1 Wer nimmt an den Protesten teil?3.1.1 Pegida-ProtesteMit der Frage, wer an den Protesten teilnimmt, beschäftigt sich insbesondere eine Studie von Vorländer, Herold & Schäller aus dem Jahr 2015, bei der durch "Face-to-Face-Interviews" (Vorländer, Herold & Schäller 2015; S 13) mit Teilnehmenden an Pegida-Demonstrationen in Dresden die soziodemografische Zusammensetzung sowie die zentralen Motive der Protesttierenden ermittelt werden sollten.Ergebnisse dieser Untersuchungen zeigen, dass die Befragten durchschnittlich 47,6 Jahre alt und von den 397 Teilnehmenden der Proteste eine Mehrheit von 74,6 Prozent männlich waren (ebd., S. 43f). Zudem wurde der letzte Bildungsabschluss ermittelt. Die Mehrheit der Befragten hat demnach die Schule nach der 10. Klasse verlassen (ebd. S. 45). Ebenfalls auffällig ist der hohe Anteil an Befragten, die einen Hochschulabschluss als letzten Bildungsabschluss angaben [6]. Mit 28,2 Prozent ist der Anteil im Vergleich zum Bundesdurchschnitt doppelt so hoch (ebd., S. 46). Des Weiteren gaben 5 Prozent einen Hauptschulabschluss, 16,4 Prozent die Hochschulreife und 8,6 Prozent einen Meisterabschluss als letzten Bildungsabschluss an (ebd.). Mit rund 47,6 Prozent waren die meisten der Befragten Arbeiter oder Angestellte, gefolgt von 20,4 Prozent Selbständigen und 17,6 Prozent Rentner (ebd., S. 47). Beamte, Studierende, Auszubildende, Schüler:innen und Arbeitslose machten lediglich etwas mehr als 10 Prozent der Protestierenden aus.Auch wurde nach der Parteiverbundenheit der Pegida-Anhänger gefragt. Eine große Mehrheit von 62,1 Prozent fühlt sich demnach zu keiner der etablierten Parteien hingezogen (ebd., S. 52). Betrachtet man die Ergebnisse, geben 16,8 Prozent der Befragten an, dass ihre Einstellungen am ehesten mit den Ideen der 'Alternativen für Deutschland' (AfD) übereinstimmen. Die anderen Parteien sind weit abgeschlagen: CDU 8,9 Prozent, NPD 3,7 Prozent, Linke 3,0 Prozent, SPD und FDP 1,2 Prozent, Grüne 1,0 Prozent (ebd.). Die Ersteller der Studie vermuten zudem eine große Schnittmenge zwischen dem hohen Anteil an Nichtwähler bei der Landtagswahl in Sachsen (50,9 Prozent) und dem Anteil der Befragten an den Pegida-Kundgebungen, die sich zu keiner der etablierten Parteien hingezogen fühlen (ebd., S. 53).Die Ergebnisse der Studie lassen darauf schließen, dass es sich um eine sehr heterogene Gruppe mit überdurchschnittlicher Bildung und überdurchschnittlichem Einkommen handelt, die sich vorwiegend aus Menschen in der 'Mitte der Gesellschaft' zusammensetzt (Kocyba 2016, S. 149f). Die hier verwendeten Daten müssen allerdings mit Vorsicht betrachtet werden, Kocyba (2016, S. 151) und Nachtwey (2016, S. 305) merken an, dass beobachtet werden konnte, dass viele der Demonstrierenden nicht an wissenschaftlichen Befragungen teilnahmen und dadurch nur ein verzerrtes Ergebnis hin zur Mitte der Gesellschaft abgebildet werden konnte.3.1.2 Querdenker-ProtesteBei den verwendeten Studien handelt es sich zum einen um eine Umfrage, die im Rahmen der sogenannte Erntedank-Demonstration Anfang Oktober in Konstanz durchgeführt wurde, die von der Initiative "Querdenken 753" organisiert wurde und bei der es gelungen ist, 138 Personen zu interviewen (Koos 2022, S. 68). Dabei wurden nach dem Zufallsprinzipe gezielt Protestierende auf der Demonstration angesprochen und per Handzettel zur Teilnahme an der Umfrage eingeladen (ebd.).Bei der zweiten Studie handelt es sich um eine im Herbst 2021 durchgeführte Online-Umfrage des Schweizer Forscherteams Frei, Schäfer & Nachtwey. Bei dieser nicht-repräsentativen Umfrage wurden die Einladungen zur Teilnahme in offenen Telegram-Gruppen von Protestorganisator:innen gepostet (Frei, Schäfer & Nachtwey 2021, S. 251). Dadurch konnten 1152 Umfrageteilnehmer gewonnen werden (ebd.).Beide Studien kommen zum Schluss, dass die Teilnehmer:innen an den Protesten durchschnittlich etwa 48 (47) [7] Jahre alt sind und vorwiegend über einen höheren Bildungsabschluss verfügen (Koos 2022, S. 71). Nachtwey, Schäfer & Frei fanden dabei heraus, dass rund 34 Prozent über ein abgeschlossenes Studium verfügen, 31 Prozent das Abitur als höchsten Abschluss angaben und 21 Prozent mindestens die Mittlere Reife. Damit sind unter den Demonstrationsteilnehmer:innen Personen, die mindestens das Abitur als höchsten Bildungsabschluss angaben, überdurchschnittlich häufig vertreten verglichen mit dem Durchschnitt der deutschen Bevölkerung (ebd.).Ebenfalls überrepräsentiert sind Selbständige mit 20 (25) Prozent der Teilnehmer:innen, während die Mehrheit von 46 Prozent sich selbst als Arbeiter oder Angestellte einstuften (ebd.). Rentner:innen, Hausfrauen, Student:innen bildeten zusammen rund 20 Prozent der Teilnehmenden (Nachtwey, Schäfer, & Frei 2022, S. 8). Beide Studien kommen entsprechend zum Schluss, dass sich die Teilnehmer:innen der Querdenker-Proteste meist der Mittelschicht zuordnen lassen (Koos 2022, S. 72).Eine Mehrheit von 61 Prozent bezeichnet sich den Umfragen zufolge als politisch interessiert (ebd. S. 80). Fragt man nach dem Wahlverhalten bei der Bundestagswahl 2017, gaben die meisten (23 Prozent) an, die Grünen gewählt zu haben, gefolgt von 'Die Linke' (18 Prozent), AfD (15 Prozent), CDU/CSU (10 Prozent), FDP (7 Prozent), SPD (6 Prozent) sowie 'andere Parteien' (21 Prozent) (Nachtwey, Schäfer, & Frei 2022, S. 10).Auf die Frage, welche Partei die Teilnehmer:innen heute wählen würden, antworteten 61 Prozent 'andere Parteien' (ebd.). Die AfD käme demnach auf 27 Prozent der Stimmen, FDP 6 Prozent, die Linke 5 Prozent, Grüne und CDU/CSU jeweils 1 Prozent und SPD 0 Prozent (ebd.). Es zeigt sich hier eine deutliche Verschiebung hin zu anderen Parteien und auch zur AfD, was darauf schließen lässt, dass sich eine Mehrheit der Befragten nicht ausreichend von den etablierten Parteien vertreten fühlt.Hierbei sei bemerkt, dass die Studie von Koos die Tendenzen hin zur AfD nicht bestätigen konnte. Zwar wurden auch hier 'andere Parteien' mit 55 Prozent am häufigsten genannt, es gaben jedoch lediglich 2 Prozent der Befragten an, die AfD bei der kommenden Bundestagswahl wählen zu wollen (Koos 2022, S. 81). Diese Diskrepanz könnte darauf zurückzuführen sein, dass Koos lediglich Personen befragte, die bei der Demonstration in Konstanz teilnahmen, während Nachtwey und Kolleg:innen auf Umfrageteilnehmer:innen aus ganz Deutschland zurückgriffen, entsprechend auch aus Regionen, in denen die AfD stärker vertreten ist (Sachsen: 28,4 Prozent [8]; Thüringen: 22 [9]) als in Baden-Württemberg (9,7 Prozent [10]), was darauf schließen lässt, dass dort unabhängig von Corona die AfD eher eine etablierte Wählerklientel aufweisen kann.3.1.3 Gemeinsamkeiten und UnterschiedeDer Vergleich der Pegida-Demonstrationen und der Querdenker-Proteste zeigt, dass sich die Teilnehmenden recht ähnlich sind. Vergleicht man die beiden Protestphänomene miteinander, ist zunächst das Durchschnittsalter mit 47-48 Jahren auffällig gleich. Auch hinsichtlich des Bildungsabschlusses und der Berufstätigkeit gibt es nur geringe Unterschiede. In beiden Fällen sind die Teilnhmer:innen eher überdurchschnittlich gebildet. Der Anteil von Angestellten und Arbeitern ist jeweils am höchsten. Außerdem ist auffällig, dass ein nicht unerheblicher Teil einer selbstständigen Tätigkeit nachgeht. Unterschiede gibt es hinsichtlich der Geschlechterverteilung. Während bei den Querdenker-Protesten die Verteilung nahezu gleich ist, sind männliche Teilnehmer bei den Pegida-Kundgebungen in der Überzahl.Schaut man sich das Wahlverhalten an, stellt man fest, dass die meisten der Befragten keine der 'etablierten' Parteien bei der nächsten Bundestagswahl wählen würden. Bei den jeweiligen Befragungen kommt keine der 'etablierten' Parteien über 10 Prozent der Stimmen. Vor allem Parteien aus dem linken Spektrum überzeugen nur wenige der Protestteilnehmer:innen. Dies spiegelt die große Unzufriedenheit der Befragten mit der Arbeit von Regierung und Politikern wider, auf die im folgenden Kapitel nochmals genauer eingegangen wird.Die Rolle der AfD ist etwas undurchsichtiger. Von den etablierten Parteien findet die AfD unter den Pegida-Anhänger die meiste Zustimmung, wenngleich der Wert mit etwas mehr als 16 Prozent recht gering ist. Bei den Querdenker-Anhängern kommen die Befragungen zu unterschiedlichen Ergebnissen: Bei der Online-Befragung würden 27 Prozent bei der kommenden Bundestagswahl die AfD wählen, während dies bei der Vor-Ort-Befragung in Konstanz nur zwei Prozent tun würden.Die hier aufgeführten Aspekte zeigen eine recht große Übereinstimmung hinsichtlich demographischer, sozioökonomischer und politischer Einstellungen der Protesteinehmerenden, die im folgenden Kapitel auch hinsichtlich ihrer Motive für die Protestteilnehme verglichen werden.3.2 Welche Motive haben die Protestteilnehmer:innen?3.2.1 Pegida-ProtesteDie Motive für die Teilnahme an den Pegia-Protesten in Dresden sind vielfältig. Generell lassen sich die Motive als allgemeine Unzufriedenheit mit politischen Entscheidungen und deren Kommunikation beschreiben (Vorländer, Herold, & Schäller 2015, S. 63). Bei der Umfrage des Dresdner Forscherteams Vorländer, Herold und Schäller gaben über 71 Prozent der Befragten dies als eines der Hauptmotive für die Teilnahme an den Pegida-Protesten an. Weitere wichtige Teilnahmemotive waren Kritik an Medien und Öffentlichkeit (34,5 Prozent), grundlegende Vorbehalte gegenüber Zuwanderern und Asylbewerbern (31,2 Prozent) sowie Protest gegen religiös oder ideologisch motivierte Gewalt (10,3 Prozent) [11] (ebd. S. 59). Sonstige Motive nannten 21,9 Prozent.Betrachtet man die Antwortengruppe 'Unzufriedenheit mit politischen Entscheidungen und deren Kommunikation' genauer, waren die am häufigsten gegebenen Antworten 'Unzufriedenheit mit der Asylpolitik' und 'Allgemein empfundene Diskrepanz zwischen Volk und Politikern' mit jeweils über 25 Prozent (ebd. S. 62). Zudem wurden häufig die 'Unzufriedenheit mit dem politischen System der Bundesrepublik', 'Unzufriedenheit mit Zuwanderungs- und Integrationspolitik', 'Allgemeine Unzufriedenheit mit der Politik' sowie 'Unzufriedenheit mit der Wirtschafts- und Sozialpolitik' genannt (ebd.).Daraus resultiert, dass rund 34 Prozent (bereinigt von Doppelnennungen) der Befragten allgemein mit der Integrations-, Asyl- oder Sicherheitspolitik der Regierung unzufrieden sind (ebd. S. 63). Generell scheinen grundlegende Vorbehalte gegenüber Zuwanderung, insbesondere aus dem islamischen Raum, eines der Hauptmotive für die Teilnahme zu sein.Wirft man einen genaueren Blick auf die Kategorie 'Grundlegende Vorbehalte gegenüber Zuwanderern und Asylbewerbern', geben 15,4 Prozent der Befragten an, allgemeine Vorbehalte gegenüber Muslimen bzw. dem Islam zu haben (Vorländer, Herold, & Schäller 2015, S. 69). Die Angst vor sozioökonomischer Benachteiligung, Sorge um hohe Kriminalität von Asylbewerbern und die Furcht vor eigenem Identitätsverlust und 'Überfremdung' werden ebenfalls häufig als zentrale Motive für die Teilnahme genannt (ebd.).In einem Positionspapier fordern die Organisatoren von Pegida entsprechend eine im Grundgesetz verankerte Integrationspflicht für Geflüchtete, um einer "Islamisierung des Abendlandes" und damit verbundenen "Glaubenskriegen auf deutschem Boden" entgegenzuwirken (Antifa Recherche Team Dresden 2016, S. 45).Laut Organisator:innen gibt Pegida all den Menschen eine Stimme, die sich "überfremdet, benachteiligt und in ihrer Identität bedroht fühlen" (ebd. S. 35), um zu verhindern, dass Asylsuchende Geld vom Staat bekommen, während ein Großteil der Bevölkerung sich das alltägliche Leben nicht mehr leisten kann. Hierbei gibt es Überschneidungen zwischen den Kategorien 'Unzufriedenheit mit der Wirtschafts- und Sozialpolitik' und der allgemeinen Angst, das eigene Leben nicht mehr finanzieren zu können, sowie der 'Angst vor sozioökonomischer Benachteiligung' durch Einwanderung.Obwohl rund 34 Prozent der Antworten das Themenfeld Integrations-, Asyl- und Sicherheitspolitik als Motiv für die Protestteilnahme angeben, wurde von lediglich 24,2 Prozent der Befragten explizit der Islam, Islamismus und Islamisierung als Grund genannt (Vorländer, Herold, & Schäller 2015, S. 72).Neben den Themen Zuwanderung, Asyl und Islam ist auch die kritische bis ablehnende Haltung gegenüber Öffentlichkeit und Medien, insbesondere gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk eines der Hauptmotive für die Teilnahme an den Pegida-Demonstrationen. Der Begriff der 'Lügenpresse' verdeutlicht die Wut und ablehnende Haltung gegenüber Vertretern der Medien und den Medien als Institution.21,2 Prozent der Befragten äußerten entsprechend eine allgemeine Unzufriedenheit mit der Berichterstattung der Medien und 18,4 Prozent kritisieren eine diffamierende Berichterstattung über die Pegida-Proteste (Vorländer, Herold, & Schäller 2015; S. 66.). Oft wird dabei pauschalisierend Kritik an der politischen Einstellung und an der Arbeit von Medienvertretern geübt (ebd. S. 67). Anhänger der Pegida-Bewegung bemängeln zudem, dass sie zu wenig im öffentlichen Diskurs gehört werden und die Sorgen und Ängste nicht ernst genommen werden. Zudem wird beklagt, dass der Öffentlichkeit Informationen vorenthalten werden (ebd. S. 68). Am Rande der Demonstrationen ist entsprechend eine aufgeladene Stimmung gegenüber Vertretern der Medien sowie eine Weigerung, mit Medienvertretern zu sprechen, zu beobachten.3.2.2 Querdenker-ProtesteSo vielfältig wie die Protestteilnehmer:innen sind auch die Motive für die Teilnahme. Trotz der Heterogenität vereint alle der zentrale Aspekt, gegen etwas zu sein (Frei, Schäfer, & Nachtwey 2021, S. 251). Ein Hauptgrund für die Teilnahme bilden die durch die Krise hervorgebrachten sozialen Ungleichheiten und die hierdurch verursachte wahrgenommene Benachteiligung in unterschiedlichsten Bereichen (Koos 2022, S. 73).Befragungen von Koos (2022, S. 73) bei der Demonstration in Konstanz im Herbst 2022 zeigen, dass weniger die persönliche Betroffenheit Grund für die Teilnahme ist, sondern vielmehr die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen der getroffenen Maßnahmen ausschlaggebend sind. Lediglich rund 20 Prozent der Befragten nannten unmittelbare finanzielle Auswirkungen als ein Teilnahmemotiv (ebd.).Hauptsächlich spielt die Sorge um die eigene familiäre Situation eine Rolle. 39 Prozent (der Studie von Nachtwey, Schäfer, & Frei [2022, S. 16] zufolge rund 34 Prozent) der Befragten gaben an, dass durch die getroffenen Maßnahmen zur Eindämmung des Pandemiegeschehens übermäßig hohe Belastungen für Familien entstanden sind (Koos 2022, S. 74). Dies ist auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass Nachtwey und Kollegen (2021, bei ihrer Umfrage eine 80-prozentige Zustimmung zur Aussage über die Willkürlichkeit der Corona-Maßnahmen ermittelten und dass rund 95 Prozent der Aussage, die Regierung dramatisiere oder übertreibe die Corona-Problematik,k zustimmten bzw. voll und ganz zustimmten (Nachtwey, Schäfer, & Frei 2022, S. 14f.).Größter Kritikpunkt an den Maßnahmen sind die temporären Einschränkungen der Grundrechte, wie Ausgangsbegrenzungen und Kontaktverbote. 80 Prozent der Befragten nannten die negativen Auswirkungen der Maßnahmen auf die eigenen Grundrechte als einen der Hauptgründe, sich an den Querdenker-Protesten zu beteiligen (Koos 2022, S. 75). Zudem stimmten 95 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass die Corona-Maßnahmen die Meinungsfreiheit und Demokratie bedrohen (Nachtwey, Schäfer, & Frei 2022, S. 17).Als Einschränkung der Grundrechte wird auch die Verpflichtung zum Tragen von Masken gesehen. Teilnehmer:innen behaupteten hierbei, dass es durch das Tragen der Maske zu Todesfällen in Deutschland gekommen sei (Gensing 2020). Entsprechend stimmen über 88 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass Maskenpflicht Kindesmissbrauch sei (Nachtwey, Schäfer, & Frei 2022, S. 18). Auch aufgrund der temporären Schulschließungen ist der Schutz von Kindern unter den Motiven der Demonstrationsteilnehmer:innen zu finden und rückte mit zunehmendem Verlauf des Corona-Protestgeschehens vermehrt in den Fokus der Debatte.Neben Kritik an den konkret aufgrund der Corona-Pandemie getroffenen Maßnahmen durch die Bundesregierung ist auch die allgemeine Kritik an Regierung und Parlament eine der Hauptmotivationen. So gaben 88 Prozent der Befragten an, kein Vertrauen in die Regierung zu haben (Koos 2022, S. 79). Gleiches gilt für den Bundestag. In das Parlament und die gewählten Abgeordneten haben nur 4 Prozent Vertrauen (ebd.). Eine Mehrheit von 77 Prozent hat dabei das Vertrauen in das politische System verloren (ebd. S. 80). Dennoch lehnen 94 Prozent eine Diktatur als möglicherweise bessere Staatsform ab (ebd.). Der Aussage, dass 'Medien und die Politik unter einer Decke stecken' stimmen rund 77 Prozent der Teilnehmer in der Befragung von Nachtwey, Schäfer, & Frei (2022, S. 17) zu.Entsprechend groß ist die Ablehnung gegenüber etablierten Medien (91 Prozent) (Koos 2022, S. 79). Die oftmals als einseitig empfundene Berichterstattung von den Corona-Protesten, vermeintlich tendenzielle Berichterstattung und das mutmaßliche Zurückhalten wichtiger Informationen werden oft als Hauptgründe für die ablehnende Haltung gegenüber etablierten Medien, insbesondere dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk genannt (Frei, Schäfer, & Nachtwey 2021, S. 225). Konkret wird den Medien 'Angstmacherei' vorgeworfen mit dem Ziel, die Menschen zu verunsichern. Die Teilnehmer:innen bezeichnen sich daher oftmals selbst als besonders kritische Menschen, die Dinge hinterfragen und gegen die "mediale Desinformation" (ebd. S. 256) vorgehen und aufklären wollen.Waren im Frühjahr und Herbst 2020 noch die von der Bundesregierung getroffenen Maßnahmen und deren Auswirkungen, wie Lockdown, Schulschließungen und Maskentrageverordnung, der Hauptgrund für die Teilnahme an den Querdenker-Demonstrationen, wandelten sich die Motive im Lauf der Zeit. Mit der Entwicklung von Corona-Impfstoffen, deren Zulassung und den anschließenden, im Frühjahr und Sommer 2021 groß angelegten Impfkampagnen, wurde vermehrt auch die Kritik an einer vermeintlichen Zwangsimpfung und die Diskriminierung Ungeimpfter zum zentralen Motiv (Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen 2022, S. 3).Entsprechend konnten sich 70 Prozent der Befragten vorstellen, dass einflussreiche Geschäftsleute die Menschheit zwangsimpfen lassen wollen, um so persönlich davon zu profitieren (Koos 2022, S. 77). Allgemein haben Verschwörungstheorien und eine darauf aufbauende "Realität" großen Einfluss, die Motive der Teilnehmer:innen betreffend. Unter den Befragten können sich 75 Prozent vorstellen, dass Wissenschaftler gezielt manipulieren, Tatsachen erfinden oder Beweise zurückhalten, um die Öffentlichkeit zu täuschen (ebd.).Zwar haben 37 Prozent der Befragten Vertrauen in die Wissenschaft, dieser vergleichsweise hohe Wert könnte aber auch darauf zurückgeführt werden, dass sich im Lauf der Pandemie eine Vielzahl selbsternannter Experten etabliert hat, deren Wissen und Expertise gleichgesetzt wurde mit Wissen von Experten, die dem etablierten Wissenschaftssystem zuzuordnen sind (ebd. S. 79). Hauptkritikpunkt ist dabei die Nichtproduktion eindeutiger Ergebnisse und die Anpassung von Empfehlungen aufgrund neuster Erkenntnisse, die oftmals zu Verwirrung und Irritationen führten.Es bleibt festzuhalten, dass sich berechtigte Kritik an den Corona-Maßnahmen mit inhaltlich diffuser Kritik (Frei, Schäfer, & Nachtwey 2021, S. 257) mischt, was zu einer wirren Verflechtung von Tatsachen mit Verschwörungserzählungen führt, die schließlich zur Teilnahme an den Querdenker-Demonstrationen führen.3.2.3 Gemeinsamkeiten und UnterschiedeZu den Gemeinsamkeiten beider Protestgruppen lässt sich zunächst herausstellen, dass beide sehr heterogen zusammengesetzt sind und eine Vielzahl von Motiven die Menschen zur Teilnahme an den Protesten veranlasst. In beiden Gruppen ist eines der Hauptmotive die allgemeine Unzufriedenheit mit Mandatsträgern und politischen Entscheidungen im allgemeinen.Beide Gruppen unterscheiden sich hinsichtlich des konkreten Anlasses für die Proteste. Während der Hauptauslöser für die Pegida-Proteste in der Asylpolitik der Regierung, der mangelnden Kommunikation bei der Unterbringung von Geflüchteten sowie in einer vermeintlichen Überfremdung Deutschlands liegen, resultierte die Unzufriedenheit bei den Querdenker-Protesten hauptsächlich aus den Grundrechtseinschränkungen, die die Corona-Pandemie eindämmen sollten, sowie später aus der vermeintlichen Diskriminierung von Ungeimpften.Auch wenn sich die konkreten Anlässe unterscheiden, ist der Auslöser für die jeweiligen Proteste eine aktuelle Gegebenheit, die aufgegriffen und instrumentalisiert wird. Die Proteste beziehen sich dabei nicht nur auf den konkreten Anlass, sondern lassen sich als allgemeine Unzufriedenheit interpretieren. Was beide Gruppen gemein haben, ist die generelle Ablehnung von Politik und der Vertrauensverlust in Politik und Politiker. Waren es bei den Pegida-Protesten rund 71 Prozent, die angaben, mit politischen Entscheidungen unzufrieden zu sein, nannten bei der Befragung bei einer Querdenken-Kundgebung in Konstanz 88 Prozent der Teilnehmer:innen dies als Grund für die Teilnahme.Hier zeigt sich eine Zunahme der Unzufriedenheit. Dies ist vermutlich auch darauf zurückzuführen, dass die Menschen aufgrund der Corona-Maßnahmen direkter von Regierungsentscheidungen betroffen sind und diese auch das tägliche Leben betreffen. Bei beiden Umfragen zeigt sich besondere eine ablehnende Haltung gegenüber politischen Mandatsträgern, die sich nach Ansicht vieler Befragter zu weit vom einfachen Bürger entfernt haben und nicht mehr im Sinne des Volkes handeln.Bei beiden Protestbewegungen konnte zudem eine ablehnende Haltung gegenüber etablierten Medien beobachtet werden. Dies zeigte sich zum einen in der Verweigerung, mit Medien zusammenzuarbeiten, als auch in verbalen und teilweise handgreiflichen Übergriffen auf Medienvertreter:innen. Sowohl bei Querdenker-Kundgebungen als auch bei Pegida-Demonstrationen hat sich der Begriff 'Lügenpresse', als Ausdruck einer kritischen Haltung gegenüber Medien etabliert. Häufig wird zudem eine tendenziöse, abwertende Berichterstattung von den Protestkundgebungen und ein absichtliches Zurückhalten von vermeintlich wichtiger Informationen für die ablehnende Haltung genannt.Sowohl bei den Protesten der Querdenker-Bewegung gegen die Corona-Politik als auch bei den Pegida-Protesten spielt die Angst vor einer sozioökonomischen Benachteiligung eine wichtige Rolle, wenngleich die Angst unterschiedlich begründet wird. Während dies bei Pegida-Anhängern durch die Zuwanderung von Menschen mit muslimischem Glauben und damit verbundener größerer Konkurrenz um Arbeitsplätze sowie der durch Einwanderung veränderten Verteilung der zur Verfügung stehenden Mittel auf mehr Personen begründet wird, argumentieren Anhänger der Querdenker-Bewegung dahingehend, dass mit den von der Politik getroffenen Maßnahmen, die das öffentliche Leben einschränken, die Lebensgrundlage wegfällt. Auch wenn viele der Teilnehmer:innen angaben, von den Maßnahmen nicht unmittelbar betroffen zu sein, zeigt sich die Angst besonders bei Selbständigen, die aufgrund der Maßnahmen ihrer Berufstätigkeit nicht mehr nachgehen können.Auch hinsichtlich des Glaubens an Verschwörungstheorien gibt es eine Schnittmenge zwischen beiden Protestphänomenen. Zentral ist die Idee einer geheimen Machtelite, die negativen Einfluss auf das Volk nehmen möchte. Bei den Pegida-Protesten wird dieses Narrativ untermauert von dem Glauben an eine "Umvolkung", also dem Austausch der Deutschen durch zugewanderte Flüchtlinge aus dem islamischen Raum. Von der Unterdrückung des Volkes durch die getroffenen Maßnahmen und die vermeintliche Absicht, die Menschen durch die Corona-Impfung zu reduzieren oder zumindest durch das Einpflanzen eines Computerchips unter die Kontrolle einer Machtelite zu bringen, sind zentrale Erzählungen bei Querdenker-Kundgebungen.Auch wenn sich die Protestbewegungen in ihren eigentlichen Auslösern unterscheiden, gibt es die Motive betreffend erstaunlich viele Überschneidungen. Die Einwanderung bzw. der Protest gegen die Corona-Maßnahmen sind in beiden Fällen ein allgemeiner Ausdruck angestauter politischer Unzufriedenheit, der sich im Kontext der konkreten Anlässe entlädt. 3.3 Das rechtsradikale Potential der Protestbewegungen3.3.1 Pegida-ProtesteAuch wenn die Studie von Vorländer, Herold & Schäller vermuten lässt, dass die Pegida-Teilnehmer:innen vorwiegend aus der Mitte der Gesellschaft kommen, stellt dies kein Grund zur Verharmlosung dar (Kokyba 2016, S. 149). Oftmals wird dieser Studie vorgeworfen, das rechtsradikale Potenzial der Protestbewegung zu unterschätzen. Als Hauptgrund wird angeführt, dass eine Vielzahl von Teilnehmenden sich weigern, an wissenschaftlichen Umfragen teilzunehmen, und dass diejenigen, die mit wissenschaftlichen Institutionen sprechen, eher der gemäßigten Mitte zuzuordnen sind und daher das Ergebnis in Richtung gemäßigter Ansichten verzerren.Als Indiz für eine rechtsradikale Gesinnung kann allein die Teilnahme an einer Kundgebung unter dem islamfeindlichen Motto 'Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes' angesehen werden (ebd. S. 152). Auch kann eine solche Gesinnung aus den Rednern und den Inhalten von Reden im Rahmen der Kundgebungen abgeleitet werden.Bei der Kundgebung zum einjährigen Bestehen von Pegida am 19. Oktober 2015 war Akif Pirinçci einer der Hauptredner. Pirinçci, der offen rechtspopulistische und islamfeindliche Positionen vertritt und zudem aufgrund diverser Äußerungen rechtskräftig verurteilt wurde, sprach bei der genannten Veranstaltung unter anderem von der "Moslemmüllhalde" Deutschland und warf Politikern vor, als "Gauleiter gegen das eigene Volk" zu agieren (Spiegel.de 2015). Wegen dieser Äußerungen und auch der Aussage "die KZs sind leider derzeit außer Betrieb" wurde die Rede schließlich nach 25 Minuten abgebrochen und Pirinçci im Anschluss wegen Volksverhetzung zu einer Geldstrafe verurteilt (ebd.).Offiziell grenzt sich Pegida zwar immer wieder von rechtsextremen Positionen ab, die Bewegung mobilisiert jedoch eine rechtspopulistisch rebellierende Bevölkerung, die sich aus der Mitte der Bevölkerung her rekrutiert und den Anspruch erhebt, das Volk zu repräsentieren (Nachtwey 2016, S. 210). Eine Studie von Daphi et al. (2015: S. 22f.) zeigt zudem, dass über 59 Prozent der Pegida-Anhänger bei der Landtagswahl in Sachsen 2014 der AfD ihre Stimme gegeben haben. Somit hat eine Partei, die zwar im Bundestag vertreten ist, aber in Teilen aufgrund von verfassungswidrigen Positionen vom Verfassungsschutz beobachtet wird, eine absolute Mehrheit unter den Pegida-Anhängern erzielen können.Vorländer, Herold & Schäller (2016, S. 116) stellen jedoch auch heraus, dass sich die rechtsradikale und ausländerfeindliche Einstellung der Pegida-Teilnehmer in Dresden nicht wesentlich von Werten in West- bzw. Gesamtdeutschland unterscheiden. Es bleibt festzuhalten, dass die Pegida-Bewegung keine "originär" (Nachtwey 2016, S 1) rechtsextreme Bewegung ist, jedoch das rechtsextreme Potenzial nicht unterschätzt werden darf.3.3.2 Querdenker-ProtesteDer Sonderbericht des nordrhein-westfälischen Innenministeriums bescheinigt der Querdenker-Bewegung, dass einzelne Personen und Bewegungen aus der rechtsextremistischen Szene Einfluss nehmen und die Bewegung für ihre eigene Agenda zu instrumentalisieren versuchen (Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen 2022, S. 34). Zudem wurden bei den Kundgebungen rechtsextremistische Inhalte geteilt, bei gleichzeitigem Bemühen, einen demokratischen und rechtsstaatlichen Anschein zu wahren (Stern 2021, S. 2).Der Bericht bezieht sich dabei auf eine hohe Ablehnung des Rechtsstaates, die sich jedoch laut der Umfrage von Koos (2022, S. 80) nur bedingt bestätigen lässt. 96 Prozent der Teilnehmenden widersprechen zumindest der Aussage, dass eine Diktatur eine möglicherweise bessere Regierungsform sei. Dennoch lässt sich bei den Kundgebungen eine gewisse antisemitische sowie anti-rechtsstaatliche Haltung finden, die sich vor allem in diversen Verschwörungserzählungen ausdrücken. Einer der Protagonisten in Berlin, Attila Hildmann, behauptete beispielsweise am Rande einer Kundgebung, jüdische Familien wollen die "deutsche Rasse auslöschen" (Leber 2020).Der Verfassungsschutz von Nordrhein-Westfalen schätzte im Dezember 2020 zudem, dass rund 10 Prozent der Demonstranten Rechtsextreme oder Reichsbürger sind (Grande, Hutter, Hunger & Kanol 2021, S. 22). Einer Umfrage von Grande et al. (2021, S. 22) zufolge sind 7,5 Prozent der Protestierenden dem rechten Rand zuzuordnen. Zwar ist dies nur eine Minderheit, die jedoch aufgrund ihres Mobilisierungspotentials nicht vernachlässigt werden darf, zumal 40 Prozent der Befragten rechtsextreme Positionen zustimmungsfähig finden (ebd.). Die Umfragen haben zudem gezeigt, dass sich das rechtsextreme Potenzial im Lauf der Zeit verstärkt hat. Vergleicht man die erste Protestwelle mit der zweiten, stieg der Zustimmungswert von knapp über 30 Prozent auf über 40 Prozent (Grande et al. 2021, S. 23).Dieses Potenzial zeigt sich auch, wenn Teilnehmer:innen mit Reichskriegsflaggen die Absetzung der Regierung fordern. Am Rande der Kundgebung in Berlin Ende August 2022 versuchte schließlich eine Gruppe von Corona-Gegnern, den Reichstag zu stürmen und die Regierung zu stürzen (Patenburg, Reichhardt, Sepp 2021, S. 3). Zudem sind häufig Forderungen zu hören, die Verantwortlichen für die Corona-Maßnahmen bei einer Neuauflage der Nürnberger Prozesse zur Rechenschaft zu ziehen (Virchow 2022). Diese und weitere aus der NS-Zeit abgeleitete Semantik ist ein weiteres Indiz für die Nähe von Querdenkern zu rechtsradikalen Positionen.Zu beobachten ist zudem, dass sich immer wieder bekannte Neonazis unter die Demonstranten mischen. Diese nutzen die friedlichen Demonstrationen, um unter dem Deckmantel 'Corona' rechtsradikale Thesen zu verbreiten. Hierbei besteht insbesondere die Gefahr, dass friedliche Menschen aus der Mitte der Gesellschaft für eine rechtsradikale Agenda missbraucht werden. Abschließend kann herausgestellt werden, dass der zunächst friedliche Protest zunehmend von Anhängern rechtsradikaler Bewegungen unterlaufen und zunehmend für rechte Zwecke missbraucht wurde.3.3.3 Gemeinsamkeiten und UnterschiedeSowohl die Pegida-Proteste als auch die Querdenker-Kundgebungen rekrutieren ihre Teilnehmer:innen aus der Mitte der Gesellschaft. Obwohl sie den Anschein einer bürgerlichen Protestbewegung haben, ist ein rechtsextremistisches Potenzial nicht zu unterschätzen. Forschungen zeigen, dass bei beiden Bewegungen eine rechtsradikale Minderheit unter den Teilnehmenden vertreten ist, die die Proteste für eigene Zwecke zu instrumentalisieren versucht. Entsprechend konnte bei beiden Bewegungen eine zunehmende Radikalisierung festgestellt werdenCharakteristisch für beide Bewegungen ist zudem eine allgemeine Ablehnung von Rechtsstaat und politischen Institutionen. Dies zeigt sich auch im Wahlverhalten. Bei beiden Protestphänomenen identifizieren sich nur wenige Teilnehmenden mit einer der etablierten Parteien und gaben an, bei der kommenden Wahl eine 'andere Partei' wählen zu wollen.Unter den im Bundestag vertretenen Parteien kann lediglich die AfD einen nennenswerten Stimmenanteil auf sich vereinen. Auch hierbei zeigt sich das rechtsradikale Potenzial der Proteste. Die AfD ist zwar im Bundestag vertreten, doch werden einzelne Mitglieder und Landesparteien vom Verfassungsschutz beobachtet. Diese Haltung zeigt sich teilweise auch in Verschwörungserzählungen, die oftmals als Rechtfertigung für die Proteste herangezogen werden. Zudem sind bei beiden Protesten nationalistische Symbole wie die Reichskriegsflagge zu beobachten und Reden eindeutig rechter nationalistischer Personen zu hören.Was beide Protestgruppen unterscheidet, ist die ursprüngliche Intention, mit der die Menschen auf die Straße gegangen sind. Während bei Pegida von vorneherein eine eindeutig nationalistische, auch rechtsradikale Positionierung zu erkennen war, war die ursprüngliche Intention der Querdenker-Demonstrierenden gegen die aus ihrer Sicht unsinnigen Corona-Maßnahmen zu demonstrieren. Erst später bildeten sich auch hier nationalistische und rechtsradikale Züge heraus. Hier kann als Höhepunkt dieser Entwicklung der 'Sturm auf den Reichstag' genannt werden. Es beliebt festzuhalten, dass sich bei beiden Protestgruppen legitime Anliegen mit rechtsradikalen Positionen vermischen, was die Proteste so gefährlich macht.4. Zusammenfassung und AusblickIn der hier vorliegenden Arbeit wurden die Querdenker-Proteste in Folge der Corona-Pandemie und die aus dem vermehrten Zuzug islamischer Flüchtlinge resultierenden Pegida-Proteste miteinander verglichen sowie Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufgezeigt. In einem ersten Schritt wurde die Chronologie der Protestbewegungen dargestellt und anschließend hinsichtlich dreier spezifischer Merkmale miteinander verglichen.Im Hinblick auf demografische und sozioökonomische Aspekte sowie dem Wahlverhalten sind sich die Teilnehmenden an beiden Protestphänomenen recht ähnlich. Die im Schnitt 48 Jahre alten Demonstrationsteilnehmer:innen sind zumeist Angestellte oder Arbeiter, wobei der Anteil an Selbständigen recht hoch ist. Politisch fühlt sich eine Mehrheit nicht von den etablierten politischen Parteien ausreichend vertreten und würde daher bei der kommenden Wahl eine 'andere Partei' wählen. Es konnte zudem gezeigt werden, dass bei Pegida- und Querdenker-Protesten die AfD als einzige der im Bundestag vertreten Parteien eine nennenswerte Wählerschaft anspricht.Auch in Bezug auf die Motive zeigte sich eine erhebliche Schnittmenge zwischen Teilnehmer:innen der Pegida- und Querdenker-Demonstrationen. Beide Phänomene nehmen aktuelle politische Entscheidungen als Demonstrationsanlass, die aber lediglich als Katalysator für aufgestaute Wut und Enttäuschungen wirken. Entsprechend wurde gezeigt, dass allgemeine Unzufriedenheit mit Politik, Regierung und Mandatsträgern ein zentrales Motiv für die Proteste ist.Hinzu kommt die Kritik an Medien, tendenziöse Berichterstattung zu betreiben und voreingenommen über die Proteste zu berichten. Zudem würden zentrale Informationen gezielt nicht weitergegeben, um so die Menschen gezielt zu täuschen und wahre Beweggründe politischer Entscheidungen zu verschweigen. Hier zeigte sich auch die Anfälligkeit der Proteste für Verschwörungstheorien, die auch Einfluss auf Wissensbasis und Motive haben.Abschließend wurde das rechtsradikale Potenzial der Bewegungen aufgezeigt. Beide Bewegungen haben sich dabei aus der Mitte der Gesellschaft hin an den rechten Rand bewegt, wobei die Pegida-Kundgebungen von Beginn an eher rechts zu verorten waren. Größtes Problem ist die Instrumentalisierung der Proteste durch rechte Gruppen, die unter dem Deckmantel friedlicher Proteste mit Menschen aus der Mitte der Gesellschaft rechtsradikale Propaganda gesellschaftsfähig machen wollen.Die hier untersuchten Kategorien bilden die beiden Protestphänomene bei weitem nicht vollständig ab. Es ist daher nötig, weitere Vergleiche anzustellen. Beispielsweise wäre es noch interessant zu ermitteln, inwiefern sich die Protestkundgebungen in puncto Wahrnehmung in der Bevölkerung unterscheiden oder inwiefern sich Politik und Regierung mit den Protesten auseinandergesetzt haben. Überdies sollte noch erforscht werden, wie die Teilnehmer:innen das Vertrauen in Politik zurückgewinnen können und was getan werden muss, um bei zukünftigen politischen Krisen ähnliche Protestbewegungen zu verhindern.Abschließend bleibt festzuhalten, dass wir uns zukünftig vermutlich häufiger mit solchen Formen des Protestes auseinandersetzen müssen. Im Zuge der Energiekrise, resultierend aus dem russischen Angriffskrieg und den Sanktionen gegen Russland, haben erste Verbände und Parteien dazu aufgerufen, den Unmut über Regierungsentscheidungen auf die Straße zu tragen und gegen die Regierenden zu demonstrieren. Es bleibt also abzuwarten, ob sich in den kommenden Monaten eine Protestbewegung, ähnlich wie die Pegida- und Querdenker-Proteste, entwickelt.5. LiteraturverzeichnisAntifa Recherche Team Dresden. (2016). Pegida: Entwicklung einer rechten Bewegung. In T. Heim (Hrsg.), Pegida als Spiegel und Projektionsfläche (S. 33-54). Wiesbaden: Springer VS.Bundesministerium für Gesundheit. 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Abgerufen am 12.08.2022 von https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-02/pegida-aktionstag-europa-fluechtlinge-dresdenFußnoten[1] https://www.abendzeitung-muenchen.de/muenchen/pegida-teilnehmer-beschimpfen-hotel-gaeste-rassistisch-art-354308[2] https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/studie-der-tu-dresden-typischer-pegida-anhaenger-ist-48-maennlich-und-gut-gebildet-li.24398[3] https://www.fr.de/politik/leipzig-querdenker-demonstration-eskalation-angriff-journalisten-gruene-gewalt-verletzte-news-zr-91099309.html[4] https://www.n-tv.de/panorama/40-mutmassliche-Randalierer-bislang-ermittelt-article22295508.html[5] Quelle: Demonstrationskalender der Polizei Berlin, abzurufen unter: https://www.berlin.de/polizei/service/versammlungsbehoerde/versammlungen-aufzuege/ (abgerufen am 13.08.2022)[6] Vgl. Mikrozensus 2013. https://www.destatis.de/DE/Themen/Querschnitt/Jahrbuch/statistisches-jahrbuch-2018-dl.pdf?__blob=publicationFile (zu beachten ist, dass die Daten aufgrund der zeitlichen Verschiebung nur eingeschränkt miteinander verglichen werden können, dennoch Tendenzen davon abgeleitet werden können.[7] Die Werte in Klammern beziehen sich auf die Studie von Nachtwey, Schäfer, & Frei 2022[8] Stimmanteil der AfD bei der Landtagswahl in Sachsen am 01. September 2019. Quelle:https://wahlen.sachsen.de/landtagswahl-2019-wahlergebnisse.php (angerufen am 14.08.2022)[9] Stimmanteil der AfD bei der Landtagswahl in Thüringen am 27. Oktober 2019 Quelle: https://www.wahlen.thueringen.de/datenbank/wahl1/wahl.asp?wahlart=LW&wJahr=2019&zeigeErg=Land (angerufen am 14.08.2022)[10] Stimmanteil der AfD bei der Landtagswahl Baden-Württemberg am 14. März 2021. Quelle: https://www.statistik-bw.de/Wahlen/Landtag/02035000.tab?R=LA (angerufen am 14.08.2022)[11] Die mehr als 100 Prozent sind auf Mehrfachnennungen der Befragten zurückzuführen.
In: Aktuelle Analysen / Bundesinstitut für Ostwissenschaftliche und Internationale Studien, 1994,5
World Affairs Online
In: International affairs: a Russian journal of world politics, diplomacy and international relations, Heft 9, S. Special Issue, S. 1-142
ISSN: 0130-9641
World Affairs Online
In: https://freidok.uni-freiburg.de/data/7550
Forschungskonzept Das Nachhaltigkeitsleitbild der Agenda 21 und die damit verknüpften Rollenerwartungen an die Privatwirtschaft sind ein Bezugsrahmen der vorliegenden Doktorarbeit. Die Agenda 21, ein zentrales Dokument der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung (UNCED 1992), und Dokumente der Folgekonferenzen weisen der Privatwirtschaft eine zentrale Rolle bei der Verwirklichung nachhaltiger Entwicklung zu: Wirtschaftsunternehmen sollen Wertschöpfung auf der Grundlage umweltverträglichen Umgangs mit natürlichen Res-sourcen erreichen. Als verantwortungsvolle Unternehmen sollen sie die Interessen ihrer Anspruchsgruppen berücksichtigen, und diese Gruppen sollen ihrerseits die Privatwirt-schaft bei der Realisierung nachhaltiger Entwicklung unterstützen. Regierungsunabhängige Umweltorganisationen erwarten von der Privatwirtschaft umwelt-verträglichen Umgang mit natürlichen Ressourcen und üben entsprechend Druck auf Unternehmen aus. Die Literatur dokumentiert jedoch Konflikte zwischen dem Rollenver-ständnis der Privatwirtschaft und den Erwartungen internationaler Organisationen und zivilgesellschaftlicher Anspruchsgruppen. Seitens der Unternehmen bestehen Zweifel, ob die Anforderungen dieser Akteure angemessen sind und inwieweit sie die ihnen zuge-wiesene Verantwortung übernehmen sollen. Auf diese Problematik bezieht sich die vor-liegende, 2006 bis 2008 durchgeführte qualitative empirische Untersuchung. Das Ziel der Forschungsarbeit war, den Wissensstand zum Umgang kleiner bis mittelgro-ßer Produktionsunternehmen mit ihren Rohstoff liefernden natürlichen Ressourcen zu erweitern - ihrer Rolle in Marktketten, ihrer Beziehungen zu Stakeholdern und die Berück-sichtigung natürlicher Ressourcen durch ihr Management. Als Beispiel ausgewählt wur-den Holzmöbel erzeugende Unternehmen (Möbelhersteller), eine mittelständische Bran-che der holzverarbeitenden Industrie. Da Möbelproduktion hohe Wertschöpfung aus Roh-holz ermöglicht, erschien dieses Beispiel aufschlussreich im Hinblick auf die allgemeine Annahme der Agenda 21, hohe ökonomische Wertschöpfung aus Holz lasse Impulse für nachhaltige Waldwirtschaft erwarten. Die Untersuchung wurde in Regionen mit unter-schiedlichen gesellschaftlichen, volkswirtschaftlichen und insbesondere forst- und holz-wirtschaftlichen Rahmenbedingungen durchgeführt. Forschungsfragen waren: Wie stellt sich "Forst" aus der Sicht von Möbelherstellern dar? In welcher Beziehung stehen Möbelhersteller zu ihren Anspruchsgruppen und wie kom-munizieren sie "Forst" gegenüber diesen Gruppen? Wie berücksichtigen Möbelhersteller "Forst" in ihren Entscheidungen? Der Verfasser stellt diese Forschungsfragen unter den Oberbegriff "Forstrationalität". Das Konstrukt "Forstrationalität" umreißt, wie Entscheidungsträger in der Holzindustrie Wald-bewirtschaftung als ihre Rohstoffbasis wahrnehmen und in Entscheidungen einbeziehen. Es umfasst alle Aspekte der Wahrnehmung und Interpretation sowie des Verhaltens holz-verarbeitender Industrieunternehmen bezüglich ihrer Rohstoffquelle "Forst". Grundlagen hierfür sind Theorien der Ressourcenabhängigkeit (Pfeffer und Salancik 1978/2003; Steimle, 2008) und des Sensemaking (Weick 1995, 2001). Informationen zur Beantwortung der Forschungsfragen wurden in drei Zentren der Möbel-industrie mit unterschiedlichen gesellschaftlichen und forstlichen Rahmenbedingungen in Brasilien und in Deutschland gewonnen: in Rio Branco do Acre (RBA) im brasilianischen Amazonasgebiet; in São Bento do Sul (SBS) in Südbrasilien und in Nordrhein-Westfalen (NRW) in Deutschland. Die drei Regionen in zwei Ländern vergleichende Feldforschung stellte besondere Anforderungen an die Forschungsmethodik. Vorgehen und Aufbau der Erhebungsinstrumente waren in den drei Regionen identisch: Grundlegendes empirisches Wissen vermittelten Inhaltsanalysen von Fachzeitschriften der Möbelwirtschaft (1) sowie die Auswertung von Sekundärinformationen (2). Telefonische Leitfadeninterviews mit Ex-perten (3) beleuchteten die Unternehmensumfelder und gaben allgemeine Hinweise zum Verhalten von Entscheidungsträgern der Möbelindustrie. Das Spektrum der "Forstrationa-litäten" der Entscheidungsträger erschloss sich im persönlichen Kontakt bei Betriebsbesu-chen; in jeder Region wurden zwei Hersteller von Massivholzmöbeln und ein Hersteller von Möbeln aus Holzwerkstoffen ausgewählt (4). Ergebnisse der Fachzeitschriftenanalyse Die quantitative Inhaltsanalyse von Fachzeitschriften diente dazu, das Gesamtspektrum der für den Wirtschaftszweig Möbelindustrie relevanten Fachthemen kennen zu lernen und die relative Bedeutung der Themenfelder "Umweltschutz" sowie "Waldressour-cen/Forstwirtschaft" einzuschätzen. Zusammenfassend konnten folgende Schlüsse gezo-gen werden: 1. Die Themenfelder "Umwelt" und "Forst" interessieren in der Möbelindustrie, erhalten aber in der Fachpresse weniger Raum als Themenfelder wie Wirtschaft, Technologie und Wettbewerb. 2. Im Themenfeld "Umwelt" sind in Deutschland wie in Brasilien Aspekte des eigenen Produktionsstandortes (innerbetrieblicher Umweltschutz) die bedeutendsten Themen der Möbelindustrie. 3. In der brasilianischen Möbelindustrie stehen "forst"-bezogene Aspekte stärker im Fo-kus als in Deutschland. Ergebnisse der regionalen Fallstudien Ergebnisse der Untersuchungsphasen (2) bis (4) stellt die Dissertation in Form von drei regionalen Fallstudien mit identischer Gliederung vor: a) Rahmenbedingungen der Möbel-hersteller b) Nicht-marktliche Anspruchsgruppen c) Lieferanten von Holzprodukten d) Mö-belabnehmer e) Interaktion der Möbelhersteller untereinander f) Forst- und Umweltmana-gement. Die regionalen Fallstudien bestätigen die Einsicht aus der Fachzeitschriftenanalyse, dass die spezifische Situation des gesamten regionalen Sektors "Forst- und Holzwirtschaft" die brasilianischen Möbelhersteller stärker prägt als die in NRW. So fanden in RBA in jünge-rer Zeit einschneidende forst- und umweltpolitische sowie institutionelle Veränderungen statt, die neue Rahmenbedingungen für alle holzbe- und -verarbeitenden Unternehmen gesetzt haben. In der Region SBS beschäftigt "Forst" die Möbelhersteller ebenso wie an-dere Zweige der Holzwirtschaft wegen eingetretener oder in der Zukunft erwarteter Holz-knappheiten sowie angesichts staatlicher Kontrolle der Verwendung von Holz aus legaler Waldnutzung. In NRW werden hingegen die einheimische Waldbewirtschaftung ebenso wie die Verarbeitung von Vorprodukten aus nichttropischen Holzarten als unproblematisch wahrgenommen, forstliche Themen erscheinen nicht als kritisch im Makroumfeld der Mö-belindustrie. In NRW wie in SBS dominiert die Auseinandersetzung mit gesamt- und bran-chenwirtschaftlichen Kerndaten, mit nationalen und internationalen Markttrends sowie mit technologischen Entwicklungen die Agenda der Möbelhersteller. Die Möbelhersteller unterliegen der Aufsicht von Umweltbehörden. Die Kontrolle des in-nerbetrieblichen Umweltschutzes, zum Teil verknüpft mit Arbeitsschutz, zeigte sich in al-len drei Regionen als Schwerpunkt der Aktivität dieser Behörden. Anders als in Deutsch-land unterliegt in Brasilien die Holzbeschaffung durch holzbe- und -verarbeitende Betriebe behördlicher Kontrolle. Die Fachverbände der Möbelindustrie in allen drei Fallstudienregionen definieren als ihre zentrale Aufgabe die Vertretung der Interessen ihrer Mitgliedsunternehmen gegenüber Politik und Gesellschaft. In beiden brasilianischen Fallstudienregionen, in denen forstbe-zogene Probleme die Möbelindustrie intensiv beschäftigen, sehen die Möbelindustriever-bände forstbezogene Angelegenheiten auch als ihre Aufgabe. In RBA agiert der Verband mit dem Ziel, die behördliche Registrierung von Möbelproduzenten des informellen Sek-tors voranzubringen und diese zur Verarbeitung von Holz aus legaler Waldnutzung zu verpflichten. In SBS haben die Möbelfachverbände in Perioden der Holzknappheit der Entwicklung der regionalen Forstwirtschaft und der Holzversorgung der Möbelindustrie große Aufmerksamkeit gewidmet; zur Zeit der Untersuchung drängten andere wirtschaftli-che Probleme die Waldthematik in den Hintergrund. Die durch die Forschungsarbeit erfassten Möbelhersteller stehen selten in direktem Kon-takt mit privaten Umweltorganisationen. Sie nehmen jedoch wahr, dass diese Organisa-tionen die Rahmenbedingungen der Möbelindustrie durch Verbraucherkampagnen, An-forderungen an die ersten Stufen der Forst-Holz-Wertschöpfungsketten und durch politi-sches Lobbying indirekt beeinflussen. Die Abhängigkeit der Möbelhersteller von Holzproduktlieferanten variiert in den drei Un-tersuchungsregionen. In NRW ist diese Abhängigkeit schwach ausgeprägt, weil die Mö-belhersteller Vorprodukte regional wie überregional problemlos einkaufen können und weil auch große Holzlieferanten Ansprüche der Möbelindustrie etwa bezüglich der Qualität, Abmessungen und Vorfertigung von Schnittholz und Holzwerkstoffen berücksichtigen. In Brasilien stellt sich die Situation anders dar. In SBS haben große bis mittelgroße Möbel-hersteller wegen der Unsicherheit der Holzversorgung und der Qualität von Vorprodukten aus Holz Schritte zur Rückwärtsintegration unternommen (eigene Sägewerke, vereinzelt eigene Bewirtschaftung von Kiefern-Plantagen) oder alternative Vorproduktquellen ge-sucht. In RBA stellt die behördlich kontrollierte Forderung, nur Holz aus "ordentlicher Waldwirtschaft" zu verarbeiten, die zu einem großen Teil staatlich geförderten Möbelher-steller des formellen Sektors vor Probleme. Denn ein hoher Anteil des entsprechenden regional verfügbaren Tropenholzes wird in Form von Holzhalbwaren in andere Regionen Brasiliens verkauft oder exportiert. Für die Möbelhersteller in RBA sind die Einkaufspreise hochwertiger Holzvorprodukte, insbesondere wenn diese aus zertifiziertem Holz erzeugt werden, deshalb in den letzten Jahren stark gestiegen, während die Möbelpreise aufgrund der Konkurrenz zahlreicher kleiner informeller Produzenten, aber auch durch das Angebot kostengünstig produzierter Serienmöbel aus Südbrasilien unter Druck stehen. Nur wenige gut organisierte Möbelhersteller in RBA scheinen bislang tragfähige Strategien zu verfol-gen, um diesem Dilemma zu begegnen. Die Beziehung von Möbelherstellern zu ihren Abnehmern ist in allen drei Fallstudienregio-nen durch Abhängigkeiten der Möbelhersteller geprägt. In RBA hängen formell registrierte Möbelhersteller stark von öffentlichen Aufträgen ab. In SBS sind Möbelhersteller von der Serienproduktion für den Exportmarkt abhängig; vielfach geben Auslandskunden die Mo-delle vor und haben großen Einfluss auf die Möbelpreisbestimmung. Beim Möbelabsatz im Inland stehen die Hersteller in NRW wie in SBS großen Einkaufsverbänden oder Kon-zernunternehmen des Möbeleinzelhandels gegenüber. In allen drei Regionen erhält die Möbelindustrie von ihren unmittelbaren Möbelabnehmern wie von Endverbrauchern nur schwache "Forst"-Signale - die Herkunft des für die angebo-tenen Möbel verarbeiteten Holzes aus "legaler" oder "nachhaltiger" Waldbewirtschaftung ist allenfalls ein nachrangiges Einkaufskriterium bzw. ist sie nur in Marktnischen relevant. Eine Ausnahme bilden die öffentlichen Auftraggeber in RBA, deren Möbelbeschaffung explizit den Aufbau nachhaltiger regionaler Forst-Holz-Wertschöpfungsketten in Acre stüt-zen soll. Experten der drei Untersuchungsregionen bezeichneten die Interaktion von Möbelherstel-lern untereinander als wenig kollegial, sondern wettbewerbsgeprägt. Unternehmen koope-rierten primär in für den Wettbewerb wenig relevanten Bereichen (z.B. gemeinsame Mes-sebesuche im Ausland). Die Initiative zu intensiverer Kooperation gehe häufig von Ver-bänden oder staatlichen Organisationen aus. Die Unternehmensbesichtigungen und Gespräche mit Experten zeigten, dass die in die Untersuchung einbezogenen Möbelhersteller nicht über ein systematisch aufgebautes Umweltmanagement verfügen. Die Beschäftigung mit Umweltproblemen orientiere sich vorwiegend an den für sie relevanten umweltrechtlichen Vorschriften. In NRW befolgen die Möbelhersteller nach Experteneinschätzung durchweg die Umweltauflagen; ihre Pro-duktionsbetriebe unterliegen strengen Kontrollen der Umweltbehörden. In Brasilien um-fassen behördliche Umweltschutzanforderungen für Möbelhersteller zusätzlich zum inner-betrieblichen Umweltschutz auch die Auflage, die Holzherkunft aus legaler Waldnutzung nachzuweisen. Bezüglich der Umsetzung der Umweltschutzanforderungen auf betriebli-cher Ebene ergab sich in beiden brasilianischen Regionen ein differenziertes Bild. Theoriebezogene Ergebnisinterpretation Der Verfasser versuchte zu verstehen, wie Unternehmer und Manager in der holzverar-beitenden Industrie das eigene Umfeld wahrnehmen und deuten, wie sie Entscheidungen treffen und begründen. Im Fokus stand die Forstrationalität von Entscheidungsträgern in möbelerzeugenden Unternehmen. Von ihm verfolgte Interpretationsansätze waren: 1. die Unterscheidung von Anlässen forstbezogenen Verhaltens der Möbelhersteller; 2. die Unterscheidung von Verhaltensbezugsebenen und Zeithorizonten; 3. die Prüfung, inwieweit das spezifische Verhalten bezüglich der für die Möbelher-stellung beanspruchten natürlichen Ressource Wald generellen Verhaltensmu-stern von Entscheidungsträgern in Produktionsunternehmen entspricht. Zu (1) Anlässe forstbezogenen Verhaltens Gefragt werden kann nach der wahrgenommenen Dringlichkeit forstbezogener Signale, die ein Möbelhersteller aus seinem Umfeld erhält: Können Anspruchsgruppen aus seiner Sicht ein bestimmtes forstbezogenes Verhalten verlangen bzw. erzwingen? Die Fallstudi-en legen den Schluss nahe, dass Möbelhersteller Einflüsse von Produktketten-externen Anspruchsgruppen wahrnehmen und reflektieren. Die Intensität wahrgenommener An-sprüche ist jedoch offenbar nur selten so hoch, dass sie Reaktionen der Möbelhersteller auslöst. In der Untersuchung erkennbar waren aber Verhaltensänderungen brasilianischer Möbelhersteller nach Einführung der DOF-Dokumentation zum Nachweis der Beschaffung von Holz aus legalen Quellen. Im Umkehrschluss lässt sich vermuten, dass Möbelherstel-ler forstbezogene Themen aus ihren Umfeldern vorwiegend als Signale wahrnehmen, die sie ihrem Selbstverständnis entsprechend individuell bewertet mit ihren Strategien ver-knüpfen, die sie aber auch ignorieren können. Die Art der für die Herstellung eines Möbelstücks verwendeten Holzvorprodukte bzw. die Materialkombination lenkt die Aufmerksamkeit von Möbelkäufern mehr oder minder stark auf den Bezug zum "Forst", wodurch auch die Forstrationalität der Möbelhersteller beein-flusst wird. In der Untersuchung ergaben sich diesbezüglich Unterschiede des Selbstver-ständnisses und der Marketingkommunikation zwischen Herstellern von Möbeln aus Holzwerkstoffen und aus Massivholz, bei den letzteren wiederum bezüglich der Möbelher-stellung aus Tropenholz oder nicht-tropischen Holzarten. Hersteller von Massivholzmö-beln stellten häufig einen Bezug ihrer Möbel zur Natur oder zum Wald her. Dabei betonten Hersteller von Tropenholzmöbeln die Individualität einzigartiger Holzarten aus artenrei-chen Naturwäldern; Hersteller von Möbeln aus nicht-tropischen Holzarten hingegen hoben die Herkunft der Möbelhölzer aus nachhaltig bewirtschafteten "nicht-tropischen" Wäldern hervor. Hersteller von Holzwerkstoffmöbeln argumentierten "ökologisch" mit den Vorteilen hoher Holzausbeute bei der Herstellung und Verarbeitung von Holzwerkstoffen, wodurch Waldressourcen geschont würden. Die brasilianischen Möbelhersteller sehen sich mit Ungewissheiten der Holzversorgung konfrontiert; sie interpretieren diese unterschiedlich, auch innerhalb der beiden Fallstudi-enregionen. In allen drei Untersuchungsregionen bekannten sich die in die Untersuchung einbezogenen Möbelhersteller zur Verarbeitung von Holz aus unbedenklichen Quellen. Sie erwarten Absatzrisiken für den Fall diesbezüglicher Zweifel ihrer Abnehmer. Gegen-wärtig sei kritisches Hinterfragen der Herkunft von Möbelhölzern seitens der Möbelab-nehmer jedoch selten und beziehe sich vorwiegend auf Tropenholz. Zu (2) Verhaltensbezugsebenen und Zeithorizonte Waldbewirtschaftung ist nur in wenigen Fällen ein eigenes Tätigkeitsfeld von Möbelher-stellern. Mit ihrem forstbezogenen Verhalten ergreifen Möbelhersteller folglich in der Re-gel nicht unmittelbar forstwirtschaftliche Maßnahmen, sondern beeinflussen diese indirekt oder reagieren auf die von anderen Akteuren gesetzten Forstthemen. Dies erfolgt zum einen durch Auswahl der für die Möbelproduktion eingesetzten Materialien und deren Be-schaffung, also durch ein direkt an die Möbelproduktion gebundenes Verhalten. Zum an-deren geschieht dies durch den Umgang und die Kommunikation mit Anspruchsgruppen im unmittelbaren Umfeld und im Makroumfeld. Materialorientiertes Verhalten und die Be-ziehungen zu Anspruchsgruppen stehen jedoch nicht isoliert nebeneinander, sondern können miteinander verknüpft sein, etwa weil bei Materialwahl-Entscheidungen das Ver-trauen zu Lieferanten und Abnehmerpräferenzen berücksichtigt werden. Mit Blick auf die Zeithorizonte der Entscheidungen von Möbelherstellern machte die Ana-lyse deutlich, dass in deren Kurzfristperspektive Forstrationalität von untergeordneter Be-deutung ist und andere Aspekte der Unternehmensumfelder im Vordergrund stehen (z.B. Holzversorgung für das aktuelle Produktionsprogramm und Wettbewerb). In der mittel- und langfristigen Zeitperspektive hingegen erhalten forstbezogene Überlegungen und Maßnahmen (wie Einsatz alternativer Holzvorprodukte oder Verwendung von Holz aus zertifizierter Waldbewirtschaftung) größeres Gewicht. Zu (3) Spiegelt Forstrationalität generelle Verhaltensmuster? Etliche der in der Forschungsarbeit registrierten Ausprägungen von Forstrationalität der Möbelhersteller lassen sich allgemeinen Verhaltensmustern von Entscheidungsträgern in Wirtschaftsunternehmen zuordnen: Legitimation: Die in die Untersuchung einbezogenen Möbelhersteller in allen drei Unter-suchungsregionen hoben hervor, ihr eigenes forstbezogenes Verhalten, insbesondere die Wahl der verarbeiteten Holzvorprodukte, sei gesetzeskonform und ökologisch unbedenk-lich. Diesen Standpunkt vertraten sie unabhängig von ihren jeweiligen Möglichkeiten, die Rohstoffquellen der beschafften Materialien zu beurteilen und zu beeinflussen. Anpassung: Die Möbelhersteller reagieren auf Anforderungen aus ihren Umfeldern, etwa auf behördliche Vorschriften und Kontrollen, Kritik von Umweltschutzverbänden, Nachfra-ge von Verbrauchern oder veränderte Wettbewerbsbedingungen. Solche Reaktionen schließen auch das forstbezogene Verhalten ein, wobei Vermeidung (zum Beispiel Ver-zicht auf die Verarbeitung von Tropenholz) ein alternatives oder komplementäres Verhal-ten sein kann. Antizipation: Unternehmen entwickeln Antizipationsstrategien, um sich auf erwartete zu-künftige Herausforderungen, Risiken und Chancen frühzeitig einzustellen. Dieses Verhal-ten zeigten Möbelhersteller in allen drei Untersuchungsregionen, etwa in ihrem Umgang mit der Forst-Holz-Produktketten-Zertifizierung oder der Erprobung neuer Holzarten und Holzwerkstoffe. Innovation: Sie ist eine Form der Umsetzung von Anpassung und Antizipation, ist aber für die Massivholz-Möbelhersteller auch eine eigenständige Verhaltensform. Zum Teil haben sie dabei Aspekte der Waldbewirtschaftung (besonders deutlich bei den Möbelherstellern in SBS, die Plantagenbewirtschaftung als neues Geschäftsfeld integriert haben) und der Weiterentwicklung ihrer Rohstoffbasis von vornherein im Blick, zum Teil ergeben sich se-kundäre Effekte für die Forstwirtschaft. Die vorliegende Untersuchung zur "Forstrationalität" holzverarbeitender Unternehmen hat gezeigt, dass Möbelhersteller Stärken und Schwächen der Waldnutzung in ihrer Standort-region wahrnehmen und forstbezogene Entscheidungen reflektiert treffen. Wie sie ent-scheiden, hängt von den Rahmenbedingungen der Industrie, dem Verhalten ihrer An-spruchsgruppen, von den spezifischen Unternehmensstrategien, auch von Wertvorstel-lungen der Eigentümer und Manager ab. Ihnen stehen bestimmte staatliche und private Anspruchsgruppen mit Erwartungen gegenüber, die dem Konzept nachhaltiger Entwick-lung der Agenda 21 entsprechen. Die Unternehmensbeispiele der Fallstudien zeigen ein-zelne Ansatzpunkte für die Verwirklichung nachhaltiger Entwicklung in waldreichen Re-gionen durch die Herstellung von Möbeln. Jedoch erscheint das gegenwärtige forstbezo-gene Verhalten der Möbelhersteller nicht umfassend nachhaltigkeitsorientiert, sondern pragmatisch selektiv abgestimmt auf die Erfordernisse, Interessen und Handlungsmög-lichkeiten der Unternehmen. Potenzial der Möbelindustrie, höhere Wertschöpfung durch immaterielle Phasen der Produktion (ihr Marketing, speziell die Produktgestaltung) zu erreichen, ist vorhanden. Auf der Grundlage neutraler Nachhaltigkeitsüberprüfung in der Holzwertschöpfungskette durch anerkannte Forstzertifizierungs-Systeme könnten von Holzmöbelherstellern durchaus stärkere Impulse für die Entwicklung und Aufrechterhal-tung nachhaltiger Forstwirtschaft ausgehen. Abschließend seien die theoretischen Erklärungsansätze Ressourcenabhängigkeit und Sensemaking angesprochen, denen in dieser Forschungsarbeit gefolgt wurde. Der Zu-sammenhang zwischen beiden ist bereits aus Pfeffer (1978) ableitbar. Steimle (2008) stellt diesen Zusammenhang explizit her, um das Nachhaltigkeitsverhalten von Unter-nehmen theoretisch zu erklären. Auch der Verfasser kombinierte beide Ansätze: Das Konzept der Ressourcenabhängigkeit war hilfreich bei der Analyse der Umfeldeinbettung der Möbelhersteller und bei der Interpretation ihrer Beziehungen zu bestimmten An-spruchsgruppen; der Sensemaking-Ansatz erleichterte es, die Umfeldwahrnehmung aus Sicht der Entscheidungsträger in der Möbelindustrie und ihr forstbezogenes Verhalten zu verstehen. ; Research concept The guideline to sustainability provided by Agenda 21, and the associated expectations of private enterprise with respect to their role in sustainability, represent a frame of reference for the study presented in this Ph.D. thesis. Agenda 21, a central document of the United Nations Conference on Climate and Development (UNCED 1992), and documents pro-duced by the following conferences attribute a central role to private enterprise in the real-isation of sustainable development. Commercial enterprises are expected to create value on the basis of an environmentally acceptable use of natural resources. Responsible en-terprises should accommodate the interests of the respective stakeholder groups, and these groups should in turn support private enterprise in the achievement of sustainable development. Non-governmental environmental organisations' expectations of private enterprise revolve around the environmentally appropriate use of natural resources and, accordingly, they exert pressure on businesses to do so. Nevertheless, the literature documents conflicts between commercial enterprise's understanding of its role and the expectations of interna-tional organisations and civil stakeholder groups. From the perspective of enterprise, doubts exist over whether the demands of these actors are reasonable and over the ex-tent to which commercial enterprise should assume the responsibility attributed to it. The objective of this study was to deepen the knowledge of the use by small and medium sized enterprises (SMEs) of the natural resources providing the raw materials necessary for their production activities – their role in market chains, their relationships with stake-holders and the consideration given to the management of natural resources. Enterprises manufacturing wood furniture were chosen for the study, as a representative example of an SME branch within the wood processing industry. As furniture production facilitates high value creation from raw wood, this example was deemed to be revealing with respect to the general assumption of Agenda 21 that high economic value creation from wood generates impulses for sustainable forestry. The investigation was carried out in regions with contrasting social, economic and especially forest and wood industry framework con-ditions. The research questions were: How do furniture manufacturers perceive 'forestry'? What is the relationship between furniture producers and the corresponding stakeholder groups, and how do they communicate 'forestry' to these groups? How do furniture producers ac-count for 'forestry' in their decisions? The author posed these questions under the overarching concept 'forest rationality.' The 'forest rationality' construct outlines how decision makers in the wood industry perceive forest management as the basis of their raw material supply, and how they account for it within decision making. It incorporates all aspects of the perception and interpretation, as well as the behaviour of wood processing enterprises with respect to the source of their raw material, 'forestry.' The basis for this is theories relating to resource dependence (Pfeffer and Salancik 1978, 2003; Steimle, 2008) and 'sensemaking' (Weick 1995, 2001). The information used to answer the research questions was obtained from three centres of the furniture industry in Brazil and in Germany, each with different social and forestry framework conditions. The three centres were in Rio Branco do Acre (RBA) in the Bra-zilian Amazon, in São Bento do Sul (SBS) in southern Brazil and in Nordrhein-Westfalen (NRW) in Germany. The comparative data collection carried out in the three regions posed particular demands in terms of the research methods. The approach chosen and the design of the data collection instruments were identical in the three regions. Funda-mental empirical knowledge was provided by means of a content analysis of furniture in-dustry journals (1) and the evaluation of secondary information (2). Guided telephone interviews with experts (3) illuminated the environments in which the enterprises operate and provided general insights into the behaviour of decision makers in the furniture in-dustry. The spectrum of forestry reasoning of the decision makers was further developed through personal contact made during visits to companies. In each region two producers of solid wood furniture and a producer of furniture from derived timber products were se-lected (4). Results of the journal analysis The quantitative content analysis of industry journals served to provide information about the overall spectrum of issues relevant for the furniture industry, and allowed for an as-sessment of the relative significance of the issues 'environmental protection' and 'forest resources/forestry.' The conclusions may be summarised as follows: 1. The issues 'environment' and 'forestry' are of interest within the furniture sector, but receive less attention in the industry press than topics such as economics, technology and competition. 2. In the furniture industry in both Germany and Brazil, the most important themes under the heading 'environment' are aspects concerning the local production site (enterprise-internal environmental protection). 3. 'Forestry'-related aspects are the focus of greater attention within the Brazilian fur-niture industry than the German. Results of the regional case studies The results of the research phases (2) to (4) are presented in the dissertation in the form of three regional case studies with an identical structure, namely a) the framework condi-tions affecting furniture manufacturers, b) non-market stakeholder groups, c) suppliers of wood products, d) furniture consumers, e) interaction between furniture manufacturers, f) forest and environmental management. The regional case studies confirmed the view provided by the analysis of the industry press that the specific situation of the entire regional 'forestry and wood industry' affects the Brazilian furniture manufacturers more so than those in NRW. In RBA there have re-cently been drastic changes in forestry and environmental policy, as well as institutional changes, which have generated new framework conditions for all wood producing and processing enterprises. In the SBS region 'forestry' occupies furniture manufacturers as much as other branches of the wood sector due to existing or expected future shortages of wood, and as a consequence of state control over the use of wood from legitimate forestry. In NRW, on the other hand, native forest management and the processing of materials derived from non-tropical tree species are considered to be unproblematic, and forestry-related themes do not appear to be critical in the macro-environment of the furni-ture industry. In NRW and in SBS the issue of core economic data for the sector as a whole, and branches within the sector, of national and international market trends and of technological developments dominate the agenda of the furniture manufacturers. The furniture manufacturers are subject to restrictions imposed by environmental authori-ties. The control of enterprise-internal environmental protection, linked in part with work safety, was identified as a focus of the activities of these authorities in all three regions. Unlike in Germany, in Brazil the sourcing of wood by wood processing enterprises is sub-ject to official control. The representative associations within the furniture industry in all three case study regions define as their central task the representation of the interests of their member organisa-tions to policy makers and society. In both Brazilian case study regions, in which forestry-related problems greatly occupy the furniture industry, the furniture industry associations also view forestry-related matters as being within their remit. In RBA the responsible as-sociation is seeking to advance the official registration of furniture manufacturers within the informal sector and to oblige them to process only wood obtained from legal sources. In SBS the furniture associations have focused considerable attention on the development of regional forestry and the supply of wood to the furniture industry in periods of wood shortage. At the time of this study, however, other economic problems had pushed the issue of forestry into the background. It was observed that the furniture producers studied as part of the research are rarely in direct contact with private environmental organisations. However, they are aware that these organisations indirectly influence the framework conditions affecting the furniture industry through consumer campaigns, by placing demands on the first links of the forest-wood value chain and through political lobbying. The dependence of the furniture producers on the suppliers of wood products varies be-tween the three study regions. This dependency is weak in NRW because the furniture manufacturers can source materials regionally and beyond without any difficulties, and because large wood suppliers take into consideration the demands of the furniture in-dustry with respect to quality, dimensions and the preparation of sawn wood and derived timber materials. This contrasts with the situation in Brazil. In SBS large to moderately large furniture manufacturers have taken a number of steps towards backward vertical integration (establishment of own sawmills, in some cases resorting to the management of pine plantations) or have sought alternative sources of pre-finished materials. The rea-sons for this are the uncertainty of the wood supply and the quality of the pre-finished wood products. In RBA the statutory requirement that only wood derived from 'legitimate sources' be used in manufacturing poses problems for the largely state-sponsored furni-ture manufacturers in the formal sector. A large proportion of the regionally available tropical wood is sold in or exported to other regions of Brazil in the form of part-wood goods. The prices paid by furniture manufacturers for high quality pre-finished wood pro-ducts, particularly those made of certified wood, have increased considerably in recent years, whereas furniture prices are under great pressure due to competition from numer-ous small, informal manufacturers and as a result of the supply of cheaply manufactured, mass produced furniture from southern Brazil. As yet, only a few well-organised furniture manufacturers in RBA appear to have adopted a strategy capable of countering this di-lemma. In all three regions the relationship between furniture manufacturers and their customers is characterised by dependencies of the furniture manufacturers. In RBA formally regis-tered furniture manufacturers are greatly dependent upon public contracts. In SBS furni-ture manufacturers are dependent upon mass production for the export market, with inter-national customers often specifying the models and exerting a considerable influence on price setting. In terms of national sales, the manufacturers in NRW and in SBS are pitted against the large purchasing associations and groups within the furniture retail industry. In all three regions the furniture industry receives only weak 'forestry' signals from its di-rect costumers and end users – that the wood used in the furniture provided is sourced from 'legal' or 'sustainable' forest management is, at best, a subordinate purchase cri-terion, or is only relevant in niches within the market. The public clients in RBA are an exception as their furniture acquisitions are explicitly intended to support the development of sustainable regional forest-wood value chains in Acre. Experts from the three research regions characterised the interaction between furniture manufacturers as competitive, with little cooperation evident. Any cooperation between the enterprises occurs primarily in those areas that are of little relevance for competition (e.g., visits to exhibitions abroad). Initiatives prompting intensive cooperation often stem from associations or governmental organisations. The visits to the enterprises in the three regions and discussions with the experts revealed that the furniture manufacturers involved in the study do not possess a systematically de-veloped system of environmental management. Consideration of environmental problems is oriented primarily towards the relevant environmental regulations. According to the ex-perts, in NRW the furniture manufacturers adhere to the rules. Their production facilities are subject to strict controls by the environmental authorities. In Brazil the statutory envi-ronmental regulations for furniture manufacturers include not only the enterprise-internal environmental protection stipulations but also the means to demonstrate that the wood used stems from legal sources. The implementation of the environmental protection re-quirements at operational level was found to be variable in the two Brazilian regions. Interpretation of the results in a theoretical context The author sought to understand how entrepreneurs and managers in the wood process-ing industry perceive and interpret their own environment; how they make and justify deci-sions. The focus was on the forestry reasoning exhibited by decision makers in furniture manufacturing enterprises. The interpretative approaches followed were: 1. The differentiation of motives for forestry-relevant behaviour displayed by furniture manufacturers; 2. The differentiation of behavioural planes of reference and time horizons; 3. The examination of the extent to which the specific behaviour with respect to the forest resource, as the principal source of the raw material used in the manufac-ture of furniture, corresponds to the general behavioural patterns of decision mak-ers in manufacturing enterprises. On (1) motives for forestry-related behaviour One might enquire as to the perceived urgency of the forestry-related signals that a furni-ture manufacturer receives from his environment: can, as far as the manufacturer is con-cerned, stakeholder groups demand or even force a certain forestry-related behaviour? The case studies suggest that furniture manufacturers perceive and take into consider-ation influences exerted by stakeholder groups external to the product chain. It would ap-pear, however, that the intensity of the perceived demands is rarely so high as to cause a reaction on the part of the manufacturers. Changes in the behaviour of Brazilian manufac-turers did become evident in the study after the introduction of the DOF documentation requiring that they be able to prove the wood they use is sourced legally. Conversely, it can be assumed that furniture manufacturers predominantly perceive forestry-related themes within their environment as signals, which they assess individually on the basis of their own beliefs and either integrate within their strategies or ignore. The type of pre-finished wood product – or combination of materials – used in the manu-facture of a piece of furniture serves to focus the attention of furniture buyers onto the relationship with 'forestry' to a greater or lesser extent, through which the forestry reason-ing of the manufacturers is also influenced. The investigation revealed differences in understanding and in marketing approaches between the manufacturers of furniture made of derived timber products and those of furniture made from solid wood; and in the latter case there was a further distinction between users of tropical and non-tropical tree spe-cies. The manufacturers of solid wood furniture often draw a link between their furniture and nature or the forest. Manufacturers of furniture made with tropical wood emphasise the individuality of unique types of wood stemming from natural forests rich in species. The manufacturers of furniture using non-tropical species, alternatively, accentuate the fact that their wood stems from sustainably managed 'non-tropical' forests. Manufacturers using derived timber products base their 'ecological' arguments on the advantages of the low levels of waste in the production and processing of derived timber products, as a re-sult of which forest resources are used more efficiently. The Brazilian furniture manufacturers are concerned by the uncertainties surrounding the supply of wood. The associated problems are perceived differently by different manufac-turers, even within the two case study regions. In all three study regions the furniture manufacturers involved in the study avowed the use of wood from legitimate sources, and expect risks to their sales if their customers were to have doubts in this regard. At present there is little critical scrutiny of the origins of the wood used in furniture by the consumer, however, and that which exists focuses predominantly on the use of tropical wood. On (2) behavioural planes of reference and time horizons In only very few cases is forest management an activity undertaken by furniture manufac-turers. The forestry-related behaviour of the furniture manufacturers does not involve di-rect participation in forest management operations, but rather in influencing these indi-rectly, or in reacting to the forest issues taken up by other actors. This is expressed in the choice of the materials used in furniture manufacture, and in their procurement; that is, through behaviour linked directly to furniture manufacture. It is also expressed in the communication with stakeholder groups situated in the enterprises' immediate surround-ings and in their macro-environment. Material-oriented behaviour and the relationship with stakeholder groups are not independent issues but may be linked; for example, because in decisions concerning material selection the manufacturer's trust in the supplier and the preferences of the consumers are taken into consideration. In terms of the time horizons of the decisions made by furniture manufacturers, the analy-sis made clear that forestry reasoning plays a subordinate role in their short term perspec-tive, and that other aspects are of greater importance for the enterprises in question (e.g., wood supply for the current production programme and competition). Forestry-related considerations and measures (e.g., the use of alternative pre-finished wood products or the use of certified wood) are afforded greater weighting in the medium to long term. On (3) whether forest rationality reflects general patterns of behaviour Many of the forms of forest rationality of the furniture manufacturers identified in the re-search can be matched to general behavioural patterns of decision makers in commercial enterprises: Legitimacy: The furniture manufacturers from all three regions involved in the study em-phasised that their own forestry-related behaviour complies with the law and is ecologi-cally sound, particularly the choice of pre-finished wood products. They adopted this posi-tion irrespective of their abilities to judge or influence the sources of the raw materials pro-cured. Adaptation: The furniture manufactures react to demands from their environment, such as statutory regulations and controls, criticism from environmental protection associations, requests from customers and altered competition conditions. Such reactions also incorpo-rate their forestry-related behaviour, with avoidance (e.g., avoiding the use of tropical wood) a possible alternative or complementary behaviour. Anticipation: Enterprises develop anticipation strategies in order to prepare in advance for expected future challenges, risks and opportunities. This behaviour was exhibited by furni-ture manufacturers in all three study areas; for example, in their manner of dealing with forest-wood product chain certification and in the testing of new wood types and derived timber products. Innovation: Innovation is a form of manifestation of adaptation and anticipation, but is also a distinct form of behaviour in the case of the manufacturers of solid wood furniture. They have, to a certain extent, aspects of forest management (particularly evident in the case of the furniture manufacturers in SBS that have integrated plantation management as a new area of operations) and the further development of their raw material base firmly in focus from the outset. There are also secondary effects for forestry. This study of the 'forest rationality' of wood processing enterprises shows that furniture manufacturers perceive the strengths and weaknesses associated with forest utilisation in their regions, and that they reflect carefully on forestry-related decisions. The decisions they make depend on the framework conditions within the industry, the behaviour of the associated stakeholder groups, the strategy of the specific enterprise and on the ideals of the owners and managers. They are confronted by the expectations of certain state and private stakeholder groups; expectations that correspond with the concept of sustainable development espoused by Agenda 21. The enterprises included in the case studies re-vealed individual starting points for the achievement of sustainable development in forest-rich regions through the production of furniture. However, the current forestry-related be-haviour of the manufacturers is not comprehensively geared towards sustainability. Rather it is pragmatically selective, tailored to the needs, interests and possible courses of action available to the respective enterprise. The potential for furniture manufacturers to achieve greater value creation in the non-material phases of the production process (marketing, and especially product design) exists. On the basis of neutral sustainability assessments in the wood value creation chain, carried out by recognised forestry certification systems, it is certainly possible for manufacturers of wood furniture to create greater impulses for the development and maintenance of sustainable forestry. Finally, to the theoretical approaches offering a potential explanation considered in the study, namely resource dependence and 'sensemaking.' The connection between the two could already be inferred from Pfeffer (1978). Steimle (2008) revealed the link between the two explicitly, in order to explain theoretically the sustainability behaviour of enter-prises. The author of this study also combined both approaches. The concept of resource dependence was helpful in the analysis of how embedded manufacturers are in their envi-ronment, and in the interpretation of their relationship with certain stakeholder groups. The 'sensemaking' approach rendered it easier to understand the perception by decision mak-ers in the industry of their business environment and their forestry-related behaviour.
BASE
Blog: www.jmwiarda.de Blog Feed
In Rekordzeit verändert KI den Schulunterricht, aber wer behält den Überblick? Ein Gespräch über wahre Durchbrüche, zweifelhafte Narrative – und Lehrerkollegien, die auf sich allein gestellt sind.
Herr Chammon, Herr Seitz, hätten Sie sich im Sommer 2022 vorstellen können, welche Fortschritte die Künstliche Intelligenz (KI) innerhalb eines Jahres machen würde?
Jacob Chammon: Das Thema war natürlich auch im Sommer 2022 schon da, aber irgendwie abstrakt. ChatGPT hat es auf einen Schlag greifbar gemacht. Was uns, glaube ich, dann alle
überrascht hat, war das Tempo, mit der KI-Anwendungen auch in den Schulen Einzug gehalten haben. Wie überaus positiv die Lehrkräfte reagiert – und wie begeistert sich die Schüler die neue Technik
angeeignet haben. ChatGPT war der Gamechanger, eindeutig.
Jacob Chammon ist Geschäftsführer der Telekom-Stiftung. Am heutigen Mittwoch veröffentlicht die Stiftung eine neue Studie zu "Schule und KI", erarbeitet vom Deutschen Forschungszentrum
für Künstliche Intelligenz und dem mmb-Institut. Die Studie soll "ein praxisorientierter Leitfaden" sein für den Umgang mit den neuen Technologien. Foto: Norbert Ittermann, Deutsche Telekom Stiftung.
Jürgen Seitz: Das konnte keiner vorhersehen, selbst die Entwickler von ChatGPT nicht. Vorher bestanden hohe Einstiegshürden in die Nutzung von Künstlicher Intelligenz, gerade in
Europa, ausgelöst schon durch Datenschutz-Vorgaben, die selbst Forschungsprojekte fast zu einem Ding der Unmöglichkeit machten. Und dann war da plötzlich ein Tool, ein neuartiges Modell der
KI-Sprachverarbeitung, das keine Eingabe persönlicher Daten erforderte, das einfach zur Verfügung stand, noch dazu gratis. Darum liegt für mich der eigentliche Durchbruch von ChatGPT in der
erstmals massenhaften Verbreitung einer KI-Anwendung. Ein vermeintliches Nischenangebot entwickelte sich zum am schnellsten wachsenden Technologieprodukt der Welt.
Womit die Erforschung von KI-Anwendungen im Schulalltag erst jetzt wirklich Sinn ergibt, Herr Seitz?
Jürgen Seitz forscht und lehrt zu Marketing, Medien und Digitaler Wirtschaft an der Hochschule der Medien Stuttgart. Mit Kollegen hat er im
Rahmen des Forschungsprojekts AI Education (AIEDN) die Nutzung eines neuartigen KI-Assistenten im Schulunterricht getestet. Der gerade veröffentlichte Forschungsbericht fragt: "KI als Tutor der Zukunft? Foto: Serdar Dogan.
Seitz: Bis vergangenes Jahr haben wir hauptsächlich dazu geforscht, wie KI zum Gegenstand von Schulbildung werden kann. Was müssen Schülerinnen und Schüler wissen, um die
Bedeutung dieser neuen Technologien einschätzen und verstehen zu können? Wie führen wir sie an KI-Anwendungen heran? Das hat sich komplett gedreht. Eine Umfrage unter unseren Studierenden
hat ergeben, dass 100 Prozent von ihnen ChatGPT nutzen, hier müssen wir niemanden mehr an KI-Technologien heranführen. Auch die breite Öffentlichkeit ist nun einfacher zu begeistern.
Schon das Ausprobieren von ChatGPT kann bei vielen Menschen diese Faszination wecken
und vertiefen. Dieses Momentum ist ein großes Geschenk, plötzlich fordern Schüler, Studierende und Lehrkräfte die Nutzung ein, und wir können im Unterrichtsalltag erforschen, was wie gut
funktioniert und was nicht.
Die Telekom-Stiftung veröffentlicht heute einen Leitfaden zu "Schule und KI". Warum braucht es den, Herr
Chammon?
Chammon: Tatsächlich ist es unsere zweite Publikation zu dem Thema. 2021 haben wir schon eine Studie bei denselben Partnern in Auftrag gegeben, dem Deutschen Forschungszentrum
für Künstliche Intelligenz (DFKI) und dem mmb Institut – Gesellschaft für Medien- und Kompetenzforschung. Wir hatten aber jetzt das dringende Gefühl, dass es ein Update braucht. Es geht um die
Klärung ganz grundsätzlicher Fragen: Was für Formen von KI gibt es eigentlich? Das ist ein so schwammiger Sammelbegriff, dass wir immer aufpassen müssen, worüber wir gerade reden. Welchen Nutzen
haben die unterschiedlichen Anwendungen? Wo liegen die Herausforderungen, die Gefahren? Was sind die Systeme und Technologien, deren Einsatz in den Schulen Sinn ergeben könnte? Wir halten es für
total wichtig, dass Lehrkräfte und Schulleitungen hier den Überblick behalten. Oder ihn überhaupt erst bekommen. Immer anhand von konkreten Anwendungsbeispielen für den Unterricht und für die
Schulverwaltung. Die Wahrheit ist doch: Momentan sind die Schulkollegien wieder mal auf sich allein gestellt. Es gibt bislang keinen bundesweiten rechtssicheren Rahmen. Den müsste die Politik
stecken.
Seitz: Genau an der Stelle setzt auch unser Forschungsprojekt an. Wir wollen herausfinden, wo die Potenziale von KI im
Unterricht liegen. Es existiert dieses starke Narrativ, dass der Einsatz generativer KI-Anwendungen zu einem Kompetenzverlust bei den Lernenden führt. Die Lehrkräfte beschweren sich, dass ihre
Schüler und Studierenden plötzlich Texte vorlegen, die frei sind von jedem Rechtschreibfehler. Weil diese Texte nicht mehr von ihnen selbst stammen, sondern von einer KI. Genau wie plötzlich
angeblich überall die perfekten Mathelösungen auftauchen.
Nach dem Motto: Die Anwendung von Künstlicher Intelligenz macht nicht schlauer, sondern dümmer?
Seitz: Wofür es keine empirische, dafür aber viel anekdotische Evidenz gibt. Darum haben wir uns mit dem Unternehmen thingsTHINKING und dem Mathe-Youtuber Daniel Jung
zusammengetan und den KI-Lernassistenten AIEDN kreiert, der Schüler bei der Lösung von Matheaufgaben unterstützt. Indem es anhand einer semantischen Suche sämtliche Videotutorials von Daniel Jung
analysiert und den Schülern die jeweils passende Stelle präsentiert. Und nicht nur präsentiert, sondern die wesentlichen Lerninhalte aus dem Video zusammenfasst und ergänzende Lerninhalte
empfiehlt. Die Schüler stellen der KI also per Texteingabe eine Frage, beschreiben das Problem, das sie haben, und die KI bietet ihnen genau die Hilfestellung an, die sie brauchen. Es gibt keine
Einstiegshürde, das Tool stellen wir Schülern und Lehrern im Netz kostenlos zur Verfügung.
Und das funktioniert?
Seitz: Technisch ja. Aber wir wollten ja wissen: Haben die Schüler langfristig etwas davon? Wir sind also an mehrere Schulen gegangen, Gymnasien und Realschulen, und haben die
teilnehmenden 275 Schüler unterschiedlicher Altersstufen in zwei Gruppen eingeteilt. Die eine Gruppe durfte die Youtube-Videos von Daniel Jung nutzen, aber ohne KI, musste sie also selbst
durchschauen. Die andere Gruppe hatte die Unterstützung durch den KI-Lernassistenten.
"Es darf auf keinen Fall der Eindruck entstehen,
wir nähmen durch den Einsatz von KI
den Menschen aus dem Loop."
Das ist aber ja nun wenig überraschend, wenn die Schüler mit KI-Unterstützung die Matheaufgaben besser lösen.
Seitz: Genau! Entscheidend war aber, dass wir nach zwei Wochen nochmal in die gleichen Schulen gegangen sind zu den gleichen Schülern und ihnen erneut Aufgaben gestellt haben.
Diesmal mussten alle sie ohne Hilfsmittel lösen. Und siehe da: Wir konnten einen anhaltend positiven Lerneffekt bei den Schülern nachweisen, die vorher die KI-Unterstützung hatten. Gerade in der
aktuellen Debatte finde ich das ein sehr schönes Ergebnis. Weil es zeigt, dass KI nicht nur ein Effizienztreiber ist, also das Bearbeiten von Problemen beschleunigt, sondern auch beim Lernen
selbst helfen kann.
Chammon: Das halte ich in dieser Erprobungsphase, in der wir uns gerade befinden, für besonders wichtig: dass wir Evidenz schaffen in der Zusammenarbeit zwischen der Schulpraxis
und der Wissenschaft. Allerdings: So spannend das Ergebnis von Herrn Seitz ist, so erwartbar ist, dass es für Kinder und Jugendliche motivierender ist, eine Lern- oder Prüfungssituation mithilfe
einer Technologie zu bewältigen als allein mit einem Buch. Die Frage, die sich mir stellt: Wie schaffen wir es, beim Einsatz neuer Technologien die Lehrkräfte mitzudenken, ihre Rolle und
Professionalität? Es darf auf keinen Fall der Eindruck entstehen, wir nähmen durch den Einsatz von KI den Menschen aus dem Loop, als bräuchte es die Lehrkräfte nicht mehr. Im Gegenteil: Die
Lehrkräfte müssen die Hoheit über die Didaktik behalten. Der Einsatz von KI in der Schule wird langfristig nur erfolgreich sein, wenn die Lehrkräfte sie als Partner sehen. In die Richtung zielt
unser Leitfaden ab.
Seitz: In der Hinsicht kann ich Ihnen auch Positives berichten. Uns ist bei unserem Untersuchungsdesign nämlich ein Fehler unterlaufen: Die Matheaufgaben, die wir für die unteren
Altersstufen ausgewählt hatten, waren zu schwer. Mit dem Ergebnis, dass der Lerneffekt durch die KI in diesen Klassen deutlich geringer ausfiel – einfach, weil die Schüler überfordert waren. Wer
hat das gemerkt und korrigiert? Die Lehrkräfte. Sie waren in der Hinsicht viel besser als wir mit unserem System. Zugegeben, das war damals nur ein innerhalb von drei Monaten gebauter Prototyp,
inzwischen funktioniert die Technologie besser. Aber das Beispiel zeigt, was passiert, wenn wir die Lehrkräfte, wie Sie sagen, aus dem Loop nehmen würden. An den Schulen, mit denen wir
zusammengearbeitet haben, waren sie außerordentlich motiviert, zugewandt und kritisch. Sie wollen das Potenzial von KI nutzen und maximieren, sie machen Verbesserungsvorschläge, sie behaupten
aber zugleich selbstbewusst ihre Rolle, sorgen für die didaktische Einbindung.
"Es ist die Aufgabe der Wissenschaft,
für die Lehrkräfte hilfreich zu sein."
Chammon: Darum ist es so wichtig, dass wir überall explizite Experimentierräume für neue Lerntechnologien schaffen. Wissenschaft und Praxis im Dialog, das ist auch der Claim der
"Kompetenzzentren lernen:digital", die vergangene Woche gestartet sind. Solche Experimentierräume eröffnen einen klar definierten Rahmen, um Neues auszuprobieren, auf freiwilliger Basis, auch
wenn manches scheitern wird. Und scheitern muss. Wenn die Lehrkräfte aber bei der Entwicklung neuer KI-Lerntechnologien mitgenommen werden, haben sie weniger Ängste. Und wenn Eltern das Gefühl
haben, ihre Kinder helfen mit bei der Erprobung künftiger Unterrichtstechnologien, kommt gar nicht das Gerede von Versuchskaninchen auf. Dann sind Lehrkräfte und Schüler gleichermaßen Lernende,
ein pädagogischer Doppeldecker sozusagen.
Seitz: Es ist die Aufgabe der Wissenschaft, für die Lehrkräfte hilfreich zu sein. Wenn Studien mit Schulen durchgeführt werden und dabei am Ende nur ein Papier herauskommt,
das drei Jahre später veröffentlicht wird, braucht man sich nicht zu wundern über die aufkommende Skepsis und die Fragen nach der Relevanz. Wir haben gegenüber den Schulen von Anfang an
kommuniziert: Wir entwickeln mit eurer Hilfe ein Tool für die Praxis. Und am Ende könnt ihr es behalten und damit weiterarbeiten. Die Lehrkräfte wollen der Wissenschaft ja helfen, sie wollen
einen Mehrwert für die Forschung. Vor allem aber wollen sie das Beste für ihre Schüler, das steht an erster Stelle, daran messen sie den Erfolg. Darum muss sich die Wissenschaft selbst radikal
verändern, sich an den unmittelbaren Bedürfnissen in den Schulen orientieren, sonst wird sie nicht den Zugang bekommen, den sie gerade jetzt braucht.
Was bedeutet das praktisch?
Seitz: Das bedeutet zum Beispiel, dass neue KI-Anwendungen einfach und selbsterklärend sein müssen. Das ist eine große Herausforderung. Sonst lassen sie sich aber nicht in den
Schulbetrieb integrieren, und dann können sie noch so tolle Funktionen enthalten, dann werden sie nicht funktionieren. Weil die Lehrkräfte nicht jedes Mal die Zeit haben für aufwändige
Schulungen. ChatGPT und Co haben das hervorragend vorgemacht. Wir sprechen also von wirklicher "Consumer Level Quality".
Chammon: Alles richtig. Und doch halte ich es für zentral, dass die Lehrkräfte die Anwendungen nicht nur sofort einsetzen können – sondern dass sie zugleich verstehen, welche
Technologie dahintersteckt. Darum gehört zu den Handlungsempfehlungen, mit der wir als Stiftung den neuen Leitfaden begleiten, ein unbedingtes Plädoyer für eine kontinuierliche Fortbildung des
gesamten Schulpersonals. Nicht nur der Lehrkräfte, sondern auch der Kolleginnen und Kollegen aus dem Ganztagsbereich und auf der Leitungsebene. Sie müssen nicht nur mit KI unterrichten können,
sondern auch über KI. Das könnte auch ein Pflichtfach Informatik, das jetzt überall gefordert wird, nicht allein abdecken, das geht nur über die Breite aller Fächer und Fachkräfte. Aber natürlich
können wir mit dem KI-Einsatz nicht warten, bis alle erstmal fortgebildet sind. Darum müssen wir den Lehrkräften jetzt den Mut zum Ausprobieren zusprechen. Damit sie ihre eigenen Erfahrungen
machen. Und wie Herr Seitz sagt: Die Wissenschaft muss die Schulpraxis unterstützen in diesem disruptiven Veränderungsprozess.
Müssen wir an der Stelle auch über Geld reden?
Chammon: Unbedingt! Die Fortsetzung des Digitalpakts Schule muss kommen. Die Kommunen als Schulträger brauchen jetzt Planungssicherheit. Nur mit einer guten technologischen
Infrastruktur kann das Lernen mit und über KI stattfinden. Mit einer Erklärfolie auf dem Overheadprojektor lernt man nichts über das Wesen von Künstlicher Intelligenz. Aber sehen Sie, ich bin von
Haus aus Optimist, und auch wenn ich zugebe, dass ich angesichts der Haushaltskrise im Bund Anfang vergangener Woche erstmal geschockt war: Der Digitalpakt wird kommen. Bund und Länder sind sich
seiner Bedeutung vollkommen bewusst. Das liegt auch an den vielen Wissenschaftler:innen und Praktiker:innen, die in den neuen "Kompetenzzentren lernen:digital" in 180 Teilprojekten
zusammenwirken, viele davon zu KI-Anwendungen, und die eine unmissverständliche Botschaft Richtung Politik senden: Da muss mehr kommen.
"Datenschützer von Bund und Ländern
müssen sich zusammensetzen und einen klaren Handlungsspielraum für die Schulen definieren."
Nur mehr Geld?
Chammon: Nein, auch ein klares Commitment zugunsten der Schulen. Ich habe es vorhin gesagt: Die Lehrkräfte und Schulleitungen werden beim Thema KI weitgehend alleingelassen. Die
Datenschützer von Bund und Ländern müssen sich zusammensetzen und einen klaren Handlungsspielraum für die Schulen definieren. Einen einzigen, einheitlichen Rahmen und nicht 16 unterschiedliche.
Und die Kultusministerien müssen den Lehrkräften Rechtssicherheit in ihrem Handeln schaffen. Das sage ich seit Jahren. Ich finde es irritierend, dass die Politik das nicht schon längst getan
hat.
Seitz: Und wenn jetzt auf europäischer Ebene der KI Act kommt, wird es noch kritischer, weil die Anforderungen, die er stellt, überhaupt nicht vom Ende, von den Anwendern her
gedacht wurden. Wie soll denn eine Schule bewerten, welchem Risiko sie sich durch welche KI-Anwendung aussetzt? Am Ende besteht die Gefahr, dass es mit dem KI Act wie mit dem Datenschutz wird: Es
gibt ganz viele Regeln, ganz viel Prozessverlangsamung, aber kaum einen realen Schutz.
Chammon: Herzlich willkommen in Deutschland, kann ich da nur sagen. Wo die Bildungspolitik schulterzuckend sagt: Wir haben es probiert, aber der Datenschutz wollte nicht. Dieses
Verantwortungsgeschiebe darf auf keinen Fall auch bei der KI passieren. Die Politik muss sich ihrer Verantwortung stellen. Die Schulen tun es ja auch.
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Background: In recent years, health care has increasingly become the focus of public interest, politics, health insurance companies, and research. This includes the development of therapeutic concepts that can respond individually to patients' resources in order to improve coping with chronic diseases. Research into psychosocial and biological resilience factors is very important and the basic objective of the present work. I studied patients with fibromyalgia syndrome (FMS), who suffer among others from chronic pain, fatigue, sleep and gastrointestinal problems. This patient cohort is characterized by a pronounced heterogeneity in terms of clinical outcome, degree in disability and coping. FMS has a prevalence of 3 – 8 % in the Western population and has a significant socio-economic impact. Validated psychosocial resilience factors include optimism, humor, coherence, self-efficacy, awareness with one's own resources and the ability to apply them profitably (coping), and a healthy social environment with positive relationships. Studies in patients with cancer revealed religiosity as positive and negative factor on the health outcome, but there is little data on religious aspects of pain resilience. Various genetic polymorphisms and anti-inflammatory cytokines are known as biological resilience factors. Various microRNA (miRNA) were detected to contribute to resilience in the context of stress and psychiatric disorders. Objective: The underlying research question of this work is to understand the factors that make some FMS patients resilient and others not, even though they suffer from the same disease. The long-term aim was to understand mechanisms and influencing factors of resilience to design preventive and resource-oriented therapies for FMS patients. Material and Methods: Three studies examined religious, physiological, biological, and psychosocial factors which may contribute to resilience in FMS patients. Study one combined data of questionnaires, a psychosocial interview, and regression analyses to investigate the relevance of religiosity for coping and resilience. Study two examined variance explaining factors and defined clusters among FMS patients by their differences in coping, pain phenotype and disability. The factor analysis used variables derived from questionnaires and qPCR of cytokines in white blood samples (WBC) of patients and healthy controls. Study three assessed cluster-wise miRNA signatures which may underly differences in behaviour, emotional and physiological disability, and resilience among patient clusters. A cluster-specific speculative model of a miRNA-mediated regulatory cycle was proposed and its potential targets verified by an online tool. Results: The data from the first study revealed a not very religious patient cohort, which was rather ambivalent towards the institution church, but described itself as a believer. The degree of religiosity played a role in the choice of coping strategy but had no effect on psychological parameters or health outcomes. The coping strategy "reinterpretation", which is closely related iv to the religious coping "reappraisal", had the highest influence on FMS related disability. Cognitive active coping strategies such as reappraisal which belongs to religious coping had the highest effect on FMS related disability (resilience) and could be trained by a therapist. Results from the second study showed high variances of all measured cytokines within the patient group and no difference between patient and control group. The high dispersion indicated cluster among patients. Factor analysis extracted four variance-explaining factors named as affective load, coping, pain, and pro-inflammatory cytokines. Psychological factors such as depression were the most decisive factors of everyday stress in life and represented the greatest influence on the variance of the data. Study two identified four clusters with respective differences in the factors and characterized them as poorly adapted (maladaptive), well adapted (adaptive), vulnerable and resilient. Their naming was based on characteristics of both resilience concepts, indicated by patients who were less stress-sensitive and impaired as a personal characteristic and by patients who emerged as more resilient from a learning and adaptive process. The data from the variance analysis suggests that problem- and emotion-focused coping strategies and a more anti-inflammatory cytokine pattern are associated with low impairment and contribute to resilience. Additional favorable factors include low anxiety, acceptance, and persistence. Some cluster-specific intervention proposals were created that combine existing concepts of behavioral and mindfulness therapies with alternative therapies such as vitamin D supplementation and a healthy intestinal flora. The results of the third study revealed lower relative gene expression of miR103a-3p, miR107, and miR130a-3p in the FMS cohort compared to the healthy controls with a large effect size. The adaptive cluster had the highest gene expression of miR103a-3p and tendentially of miR107, which was correlated with the subscale score "physical abuse" of the trauma questionnaire. Further correlations were found in particular with pain catastrophizing and FMS-related disability. MiR103a-3p and miR107 form a miRNA-family. Based on this, we proposed a miR103a/107 regulated model of an adaptive process to stress, inflammation and pain by targeting genetic factors which are included in different anti-inflammatory and stress-regulating pathways. Conclusion: All three studies provide new insights into resilience in FMS patients. Cognitive coping (reappraisal/reinterpretation) plays a central role and thus offers therapeutic targets (reframing in the context of behavioral therapy). Religosity as a resilience factor was only partially valid for our patient cohort. Basically, the use of resource-oriented therapy in large institutions still requires research and interdisciplinary cooperation to create a consensus between the humanities, natural sciences and humanism. ; Hintergrund: Die Gesunderhaltung ist in den letzten Jahren mehr und mehr in den Fokus des Interesses der Öffentlichkeit, Politik, Krankenkassen und Forschung gerückt. Dazu zählt auch die Entwicklung von Therapiekonzepten, die individuell auf die Bedürfnisse und Ressourcen der Patienten zugeschnitten sind, um den Umgang mit insbesondere chronischen Erkrankungen zu verbessern. Die Erforschung von psychosozialen und biologischen Resilienzfaktoren ist hierfür sehr wichtig, und das grundlegende Ziel der vorliegenden Arbeit. Zielgruppe sind Patienten mit Fibromyalgiesyndrom (FMS). Symptome des FMS sind u.a. chronischer Schmerz, Erschöpfung, Schlaf und Magen-, Darmprobleme. Die Patientengruppe erscheint in der Klinik als sehr heterogene mit unterschiedlichen Beeinträchtigungsgraden und verschiedenen Strategien, mit den Auswirkungen der Erkrankung umzugehen. Die Prävalenz des FMS liegt bei 3 – 8% in der westlichen Bevölkerung und ist somit von erheblicher gesellschaftlicher und sozioökonomischer Bedeutung. Validierte psychosoziale Resilienzfaktoren sind u.a. Optimismus, Humor, Kohärenzgefühl, Selbstwirksamkeit, Bewusstsein der eigenen Ressourcen und die Fähigkeit diese gewinnbringend anzuwenden (Coping) und ein gesundes soziales Umfeld mit positiven Beziehungen. Studien an Krebspatienten ergaben unterschiedliche Effekte von Religiosität als Copingstrategie und Resilienzfaktor. Im Allgemeinen liegen wenige Daten vor zum Thema Religiosität / als Schutzfaktor bei Schmerzpatienten. Als biologische Resilienzfaktoren sind verschiedene genetische Polymophismen, anti-inflammatorische Zytokine und microRNA (miRNA) bekannt, die zur Resilienz bei chronischem Stress und psychiatrischen Krankheitsbildern beitragen. Ziel: Die zugrundeliegende Forschungsfrage dieser vorliegenden Arbeit ist, welche Faktoren dazu beitragen, dass manche Patienten resilienter sind als andere, obwohl sie unter derselben Erkrankung leiden. Das langfristige Ziel dieser Forschung ist es, Mechanismen und Einflussfaktoren der Resilienz zu verstehen, um präventive und gezielte Ressourcen-orientierte Therapien für FMS Patienten zu entwickeln. Material und Methoden: Insgesamt drei Studien untersuchten explorativ eine Reihe von religiösen, physiologischen, biologischen und psychosozialen Faktoren und ihre Rolle als Schutzfaktor bei Patienten mit FMS. Studie 1 kombinierte Daten von Fragebögen, einem psychologischen Interview und Regressionsanalysen, um die Relevanz von Religiosität für das Coping und Resilienz zu untersuchen. Studie 2 versuchte mit einer explorativen Faktorenanalyse Einflussfaktoren zu ermitteln, die für die heterogene Datenlage der Patienten verantwortlich sind. Mithilfe einer Clusteranalyse wurden Subgruppen anhand ihrer Unterschiede in mentaler Gesundheit, Coping, Schmerzphänotyp und Beeinträchtigung definiert. Die Faktorenanalyse verwendete Daten der Fragebögen und Genexpressionsanalysen ausgewählter Zytokine aus Blutproben der Patienten und einer gesunden Kontrollgruppe. Zuletzt wurden Cluster-spezifische Therapievorschläge auf der Basis bereits bekannter Therapien zusammengestellt. Studie 3 bestimmte Cluster-charakteristische miRNA Signaturen, die verantwortlich für die Cluster-spezifischen Unterschiede in Verhalten (coping), emotionaler und körperlicher Beeinträchtigung, und Resilienz sein können. Die Ergebnisse wurden in einem Regulationsschema zusammengefasst und schlagen einen möglichen miRNA-regulierten Mechanismus von adaptivem Verhalten vor. Die potentiellen genetischen Targets wurden mittels eines online Tools "Target Scan Human" verifiziert. Ergebnisse: Die Daten der ersten Studie zeigten eine wenig religiöse Patientenkohorte, die der Institution Kirche eher ambivalent gegenüberstand, sich jedoch dennoch als gläubig beschrieb. Der Grad der Religiosität spielte eine Rolle bei der Wahl der Copingstrategie, hatte jedoch keinen Einfluss auf psychologische Parameter oder die Gesundheit. Die Copingstrategie "Reinterpretation", welche auch nah verwandt mit dem religiösen Coping "reappraisal" ist, hatte einen signifikanten Einfluss auf die Beeinträchtigung, und könnte innerhalb einer Verhaltenstherapie erlernt werden. Ergebnisse der zweiten Studie zeigen hohe Varianzen aller gemessenen Zytokine innerhalb der Patientengruppe und keinen signifikanten Unterschied zwischen Patienten- und Kontrollgruppe. Die hohe Streuung deutete auf Subgruppen innerhalb der FMS Kohorte hin. Mittels einer Faktorenanalyse wurden vier Faktoren ermittelt, die dieser Varianz zugrunde liegen, welche absteigend als affektive Belastung, Coping, Schmerz und pro-inflammatorische Zytokine benannt wurden. Interessant ist, dass psychische Faktoren wie Depression den höchsten Einfluss auf die Belastung im Alltag darstellten und auch den größten Einfluss auf die Varianz der Daten abbildete. Studie 2 konnte vier Subgruppen mit jeweiligen Unterschieden in den charakterisierten Faktoren ermitteln und diese als schlecht angepasst (maladaptive), gut angepasst (adaptive), vulnerabel und resilient charakterisieren. Ihre Benennung basierte auf Charakteristika beider Resilienzkonzepte. Es gab Anzeichen für Patienten, die weniger stresssensibel und beeinträchtigt waren aufgrund von Persönlichkeitsstrukturen sowie Patienten, die aus einem Lern- und Anpassungsprozess nun resilienter hervorgingen. Die Daten der Varianzanalyse legten nahe, dass problem- und emotionsfokussierte Copingstrategien und ein eher antiinflammatorisches Zytokinmuster mit einer niedrigen Beeinträchtigung assoziiert sind und eher zur Resilienz beitragen. Zusätzliche begünstigende Faktoren sind niedrige Angstwerte, Akzeptanz und Durchhaltevermögen. Basierend auf diesen Erkenntnissen wurden einige Subgruppen-spezifische Interventionsvorschläge vorgestellt, welche bereits existierende Konzepte der Verhaltens- und Achtsamkeitstherapien mit alternativen Therapien wie Supplementierung von Vitamin D und eine gesunde Darmflora miteinander kombinieren. Die Ergebnisse der dritten Studie zeigten eine niedrigere relative Genexpression von miR103a-3p, miR107 und miR130a-3p in der FMS Kohorte verglichen mit der gesunden Kontrollkohorte mit einer großen Effektstärke. Die höchste relative Genexpression zeigte miR103a im adaptiven Cluster, das Cluster mit der niedrigsten Beeinträchtigung. MiR107 tendierte zu einer leicht erhöhten relativen Expression im adaptiven Cluster und war mit dem Subskalenscore "körperlicher Missbrauch" des Traumafragebogens korreliert. Weitere Korrelationen fanden sich insbesondere mit den Variablen psychologischer Fragebögen zu Schmerz Katastrophisieren und FMS-bezogene Beeinträchtigung. MiR103a-3p und miR107 bilden zuammen eine miRNA Familie mit gleichen physiologischen Funktionen. Basierend auf diesen Erkenntnissen, schlugen wir ein Model der miR103a/107 regulierten Anpassung an Stress, Entzündung und Schmerz unter Einbezug verifizierter Gene, vor. Schlussfolgerung: Zusammenfassend geben alle drei Studien neue Einblicke in die Resilienzfaktoren von FMS Patienten. Dabei kommt dem kognitiven Coping (reappraisal / reinterpretation) eine zentrale Rolle zu, was therapeutische Ansatzpunkte (reframing innerhalb einer Verhaltenstherapie) bietet. Religiosität konnte sich in der hier untersuchten Kohorte als Schutzfaktor nur bedingt validieren. Grundsätzlich benötigt der Einsatz von ressourcenorientierter Therapie innerhalb großer Kliniken noch einiges an Forschung und interdisziplinärer Zusammenarbeit, die einen Konsens zwischen Geisteswissenschaften, Naturwissenschaften und Humanismus schafft.
BASE
Precipitation is a crucial driver for many environmental processes and exhibits a high spatiotemporal variability. The traditional, widely-used point-scale measurements by rain gauges are not able to detect the spatial rainfall distribution in a comprehensive way. Throughout the last decades, weather radars have emerged as a new measurement technique that is capable of providing areal precipitation information with high spatial and temporal resolution and put precipitation monitoring on a new level. However, radar is an indirect remote sensing technique. Rain rates and distributions are inferred from measured reflectivities, which are subject to a series of potential error sources. In the last years, several operational national radar data archives exceeded a time series length of ten years and several new radar climatology datasets have been derived, which provide largely consistent, well-documented radar quantitative precipitation estimate (QPE) products and open up new climatological application fields for radar data. However, beside uncertainties regarding data quality and precipitation quantification, several technical barriers exist that can prevent potential users from working with radar data. Challenges include for instance different proprietary data formats, the processing of large data volumes and a scarcity of easy-to-use and free-of-charge software, additional effort for data quality evaluation and difficulties concerning data georeferencing. This thesis provides a contribution to improve the usability of radar-based QPE products, to raise awareness on their potentials and uncertainties and to bridge the gap between the radar community and other scientific disciplines which are still rather reluctant to use these highly resolved data. First, a GIS-compatible Python package was developed to facilitate weather radar data processing. The package uses an efficient workflow based on widely used tools and data structures to automate raw data processing and data clipping for the operational German radar-based and gauge-adjusted QPE called RADOLAN ("RADar OnLine Aneichung") and the reanalysed radar climatology dataset named RADKLIM. Moreover, the package provides functions for temporal aggregation, heavy rainfall detection and data exchange with ArcGIS. The Python package was published as an Open Source Software called radproc. It was used as a basis for all subsequent analyses conducted in this study and has already been applied successfully by several scientific working groups and students conducting heavy rainfall analysis and data aggregation tasks. Second, this study explored the development, uncertainties and potentials of the hourly RADOLAN and RADKLIM QPE products in comparison to ground-truth rain gauge data. Results revealed that both QPE products tend to underestimate total precipitation sums and particularly high intensity rainfall. However, the analyses also showed significant improvements throughout the RADOLAN time series as well as major advances through the climatologic reanalysis regarding the correction of typical radar artefacts, orographic and winter precipitation and range-dependent attenuation. The applicability of the evaluation results was underpinned by the publication of a rainfall inter-comparison geodataset for the RADOLAN, RADKLIM and rain gauge datasets. The intercomparison dataset is a collection of precipitation statistics and several parameters that can potentially influence radar data quality. It allows for a straightforward comparison and analysis of the different precipitation datasets and can support a user's decision on which dataset is best suited for the given application and study area. The data processing workflow for the derivation of the intercomparison dataset is described in detail and can serve as a guideline for individual data processing tasks and as a case study for the application of the radproc library. Finally, in a case study on radar composite data application for rainfall erosivity estimation, RADKLIM data with a 5-minute temporal resolution were used alongside rain gauge data to compare different erosivity estimation methods used in erosion control practice. The aim was to assess the impacts of methodology, climate change and input data resolution, quality and spatial extent on the R-factor of the Universal Soil Loss Equation (USLE). Moreover, correction factors proposed in other studies were tested with regard to their ability to compensate for different temporal resolutions of rainfall input data and the underestimation of precipitation by radar data. The results clearly showed that R-factors have increased significantly due to climate change and that current R-factor maps need to be updated by using more recent and spatially distributed rainfall data. The radar climatology data showed a high potential to improve rainfall erosivity estimations, but also a certain bias in the spatial distribution of the R-factor due to the rather short time series and a few radar artefacts. The application of correction factors to compensate for the underestimation of the radar led to an improvement of the results, but a possible overcorrection could not be excluded, which indicated a need for further research on data correction approaches. This thesis concludes with a discussion of the role of open source software, open data and of the implementation of the FAIR (Findable, Accessible, Interoperable, Re-usable) principles for the German radar QPE products in order to improve data usability. Finally, practical recommendations on how to approach the assessment of QPE quality in a specific study area are provided and potential future research developments are pointed out. ; Niederschlag ist ein wesentlicher Antrieb vieler Umweltprozesse und weist eine hohe räumliche und zeitliche Variabilität auf. Die traditionellen, weit verbreiteten punktuellen Messungen mit Ombrometern sind nicht in der Lage, die räumliche Niederschlagsverteilung flächendeckend zu erfassen. Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat sich mit dem Wetterradar eine neue Messtechnik etabliert, die in der Lage ist, flächenhafte Niederschlagsinformationen mit hoher räumlicher und zeitlicher Auflösung zu erfassen und die Niederschlagsüberwachung auf ein neues Niveau zu heben. Radar ist jedoch eine indirekte Fernerkundungstechnik. Niederschlagsraten und -verteilungen werden aus gemessenen Reflektivitäten abgeleitet, die einer Reihe von potenziellen Fehlerquellen unterliegen. In den letzten Jahren überschritten mehrere nationale Radardatenarchive eine Zeitreihenlänge von zehn Jahren. Es wurden mehrere neue Radarklimatologie-Datensätze abgeleitet, die weitgehend konsistente, gut dokumentierte Radarprodukte zur quantitativen Niederschlagsschätzung liefern und neue klimatologische Anwendungsfelder für Radardaten eröffnen. Neben Unsicherheiten bezüglich der Datenqualität und der Niederschlagsquantifizierung gibt es jedoch eine Vielzahl technischer Barrieren, die potenzielle Nutzer von der Verwendung der Radardaten abhalten können. Zu den Herausforderungen gehören beispielsweise unterschiedliche proprietäre Datenformate, die Verarbeitung großer Datenmengen, ein Mangel an einfach zu bedienender und kostenloser Software, zusätzlicher Aufwand für die Bewertung der Datenqualität und Schwierigkeiten bei der Georeferenzierung der Daten. Diese Dissertation liefert einen Beitrag zur Verbesserung der Nutzbarkeit radarbasierter quantitativer Niederschlagsschätzungen, zur Sensibilisierung für deren Potenziale und Unsicherheiten und zur Überbrückung der Kluft zwischen der Radar-Community und anderen wissenschaftlichen Disziplinen, die der Nutzung der Daten immer noch eher zögerlich gegenüberstehen. Zunächst wurde eine GIS-kompatible Python-Bibliothek entwickelt, um die Verarbeitung von Wetterradardaten zu erleichtern. Die Bibliothek verwendet einen effizienten Workflow, der auf weit verbreiteten Werkzeugen und Datenstrukturen basiert, um die Rohdatenverarbeitung und das Zuschneiden der Daten zu automatisieren. Alle Routinen wurden für die operationellen deutschen RADOLAN-Kompositprodukte ("RADar OnLine Aneichung") und den reanalysierten Radarklimatologie-Datensatz (RADKLIM) umgesetzt. Darüber hinaus bietet das Paket Funktionen für die zeitliche Datenaggregation, die Identifikation und Zählung von Starkregen sowie den Datenaustausch mit ArcGIS. Das Python-Paket wurde als Open-Source-Software namens radproc veröffentlicht. Radproc bildet die methodische Grundlage für alle nachfolgenden Analysen dieser Studie und wurde zudem bereits erfolgreich von mehreren wissenschaftlichen Arbeitsgruppen und Studenten zur Analyse von Starkregen und zeitlichen Aggregierung von Radardaten eingesetzt. Des Weiteren wurden in dieser Arbeit die Entwicklung, Unsicherheiten und Potentiale der stündlichen RADOLAN- und RADKLIM-Kompositprodukte im Vergleich zu Ombrometerdaten analysiert. Die Ergebnisse haben gezeigt, dass beide Radarprodukte die Gesamtniederschlagssummen und inbesondere Niederschläge hoher Intensität tendenziell unterschätzen. Die Analysen zeigten jedoch auch signifikante Verbesserungen im Verlauf der RADOLAN-Zeitreihe sowie deutliche Qualitätsverbesserungen durch die klimatologische Reanalyse, insbesondere im Hinblick auf die Korrektur typischer Radarartefakte, orographischer und winterlicher Niederschläge sowie der entfernungsabhängigen Abschwächung des Radarsignals. Die Anwendbarkeit der Auswertungsergebnisse wurde durch die Veröffentlichung eines Geodatensatzes zum Niederschlagsvergleich für die RADOLAN-, RADKLIM- und Ombrometer-Datensätze untermauert. Der Vergleichsdatensatz ist eine Sammlung von Niederschlagsstatistiken sowie verschiedener Parameter, die die Qualität der Radardaten potenziell beeinflussen können. Er ermöglicht einen einfachen Vergleich und eine Analyse der verschiedenen Niederschlagsdatensätze und kann die Entscheidung von Anwendern unterstützen, welcher Niederschlagsdatensatz für die jeweilige Anwendung und das jeweilige Untersuchungsgebiet am besten geeignet ist. Der Workflow für die Ableitung des Vergleichsdatensatzes wurde ausführlich beschrieben und kann als Leitfaden für individuelle Datenverarbeitungsaufgaben und als Fallstudie für die Anwendung der radproc-Bibliothek dienen. Darüber hinaus wurde eine Fallstudie zur Anwendung von Radar-Komposits für die Abschätzung der Erosivität des Niederschlags durchgeführt. Dazu wurden RADKLIM-Daten und Ombrometerdaten mit einer zeitlichen Auflösung von 5 Minuten verwendet, um verschiedene Methoden zur Abschätzung der Niederschlagserosivität zu vergleichen, die in der Erosionsschutzpraxis Anwendung finden. Ziel war es, die Auswirkungen der Methodik und des Klimawandels sowie der Auflösung, Qualität und der räumlichen Ausdehnung der Eingabedaten auf den R-Faktor der Allgemeinen Bodenabtragsgleichung zu bewerten. Darüber hinaus wurden von anderen Studien vorgeschlagene Korrekturfaktoren im Hinblick auf ihre Fähigkeit getestet, unterschiedliche zeitliche Auflösungen von Niederschlagsdaten und die Unterschätzung des Niederschlags durch Radardaten zu kompensieren. Die Ergebnisse haben deutlich gezeigt, dass die R-Faktoren aufgrund des Klimawandels erheblich zugenommen haben und dass die aktuellen R-Faktor-Karten unter Verwendung neuerer, flächendeckender und räumlich höher aufgelöster Niederschlagsdaten aktualisiert werden müssen. Die Radarklimatologiedaten zeigten ein hohes Potenzial zur Verbesserung der Abschätzung der Niederschlagserosivität, aber aufgrund der vergleichsweise kurzen Zeitreihe und einiger Radarartefakte auch gewisse Unsicherheiten in der räumlichen Verteilung des R-Faktors. Die Anwendung von Korrekturfaktoren zur Kompensation der Unterschätzung des Radars führte zu einer Verbesserung der Ergebnisse, allerdings konnte eine mögliche Überkorrektur nicht ausgeschlossen werden, wodurch weiterer Forschungsbedarf bezüglich der Datenkorrektur aufgezeigt wurde. Diese Arbeit schließt mit einer Diskussion der Rolle von Open-Source-Software, frei verfügbarer Daten und der Umsetzung der FAIR-Prinzipien (Findable, Accessible, Interoperable, Re-usable) für die deutschen Radar-Produkte zur Verbesserung der Nutzbarkeit von Radarniederschlagsdaten. Abschließend werden praktische Empfehlungen zur Vorgehensweise bei der Bewertung der Qualität radarbasierter quantitativer Niederschlagsschätzungen in einem bestimmten Untersuchungsgebiet gegeben und mögliche zukünftige Forschungsentwicklungen aufgezeigt.
BASE
Die globale Biodiversitätskrise stellt neben dem Klimawandel die größte Herausforderung für die Menschheit dar. Um den Schutz der Biodiversität langfristig zu garantieren, sind zwischen allen beteiligten Akteuren abgestimmte Ziele zu vereinbaren, in Konzepten festzulegen und geeignete Naturschutzmaßnahmen zu ergreifen. Dabei sind divergierende Bedürfnisse von Natur und Menschen zu berücksichtigen und ethisch-moralische Fragen über den Wert der Natur sowie unterschiedliche Ansätze zum Naturschutz zu untersuchen. In dieser Dissertation werden Ziele und naturschutzfachliche Werte in deutschen Waldnaturschutzkonzepten in einem interdisziplinären Ansatz unter Berücksichtigung ökologischer, politischer und gesellschaftlicher Aspekte analysiert. Dabei werden der derzeitige Zustand des Waldnaturschutzes in Deutschland bewertet sowie aktuelle und zukünftige Herausforderungen beschrieben. Die Dissertation stellt neue Methoden zur Klassifizierung von Naturschutzzielen und zur Bewertung von Schutzgütern im Wald vor und erörtert mögliche Veränderungen der Naturschutzverantwortung vor dem Hintergrund des Klimawandels. Der langfristige Erhalt sowie eine nachhaltige Nutzung der Wälder sind angesichts des Klimawandels wichtiger denn je geworden, denn Wälder leisten einen wichtigen Beitrag zum Schutz der Biodiversität und erbringen zahlreiche Ökosystemleistungen. Aufgrund der vielfältigen Schutz- und Nutzungsanforderungen ist im Waldnaturschutz ein Konsens über die Ziele erforderlich. Nur ein auf übereinstimmenden Zielen und Maßnahmen beruhendes transparentes System dürfte ausreichend akzeptiert und umgesetzt werden. Daher wurde in Kapitel 2 dieser Dissertation ein hierarchisches System zur Klassifikation von Naturschutzzielen entwickelt. Innerhalb von übergeordneten Zielbereichen wurden Schutzgütern angestrebte Zieleigenschaften zugeordnet, die durch bestimmte Maßnahmen erreicht werden sollen. Anhand dieses Systems wurden die Inhalte von Biodiversitäts- und Waldnaturschutzkonzepten auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede untersucht. In den Konzepten wurde ein breiter Konsens hinsichtlich der Schutzziele über verschiedene Interessensgruppen und räumliche Bezugsebenen hinweg festgestellt, wobei die Erhaltung von Arten, Ökosystemen und Strukturen in Wäldern als besonders wichtig eingestuft wurde. Im Hinblick auf die genetische Vielfalt, abiotische Ressourcen und soziokulturelle Ziele wurden Defizite festgestellt, ebenso wie eine skalenbedingte Inkonsistenz beim Wissenstransfer. Als Ursachen für diese Divergenzen im Waldnaturschutz können Zielkonflikte, eine mangelnde Abstimmung über Skalenebenen hinweg und eine unzureichende Umsetzung der Ziele identifiziert werden. Im Privatwald, der die Hälfte der deutschen Waldfläche ausmacht, ist die Umsetzung von Naturschutzmaßnahmen eine besondere Herausforderung. Privatwaldbesitzer haben oftmals Vorbehalte gegenüber hoheitlichen Naturschutzauflagen und aufgrund des finanziellen Aufwands eine geringere Teilnahmebereitschaft. Um für mehr Akzeptanz zu sorgen, sollten Naturschutzmaßnahmen im Wald finanziell ausgeglichen werden. Die vertragliche Vereinbarung von Naturschutzleistung und finanzieller Gegenleistung (= Vertragsnaturschutz) findet im Privatwald jedoch bisher wenig Anwendung. Da die erfolgreiche Umsetzung des Waldvertragsnaturschutzes ein System sinnvoller Maßnahmen erfordert, wurde den in Kapitel 2 identifizierten Schutzgütern (Waldbiotoptypen, Strukturen und Prozessen im Wald) in Kapitel 3 ein naturschutzfachlicher Wert auf Grundlage der Schutzbedürftigkeit und der Schutzwürdigkeit zugeordnet. Einen hohen Naturschutzwert haben Eichen- und Eichenmischwälder, trocken-warme Buchenwälder, historische Waldnutzungsformen (Mittel- oder Hutewälder) und natürliche Strukturelemente wie starkes Totholz (Laubbaumarten, stehend und liegend) oder Habitatbäume. Auf Grundlage des Ausgangswertes und der erwarteten Wertentwicklung wird abgeschätzt, ob Erhaltungs- bzw. Wiederherstellungsmaßnahmen im Rahmen von Vertragsnaturschutz mit unterschiedlichen Laufzeiten sinnvoll sind. Vertragsnaturschutz ist besonders bei Schutzgütern mit einem hohen Ausgangswert geeignet, wenn damit ein Wertverlust vermieden werden kann und wenn mit einer hohen Aufwertung zu rechnen ist. Bei niedrigem Ausgangswert und geringer Aufwertungswahrscheinlichkeit ist Vertragsnaturschutz nicht sinnvoll. Mit diesem Bewertungssystem können Privatwaldbesitzer überprüfen, welche Naturschutzmaßnahmen in ihrem Wald geeignet sind und damit in Zukunft zu einer erhöhten Anwendung des Waldvertragsnaturschutzes beitragen. Der Klimawandel und seine prognostizierten Auswirkungen hinsichtlich Intensität und Häufigkeit von Störungen erfordern eine Anpassung der waldbaulichen Bewirtschaftung. Waldbauliche Planungsinstrumente wie Waldentwicklungstypen (WET) sind in Deutschland oft nur an der wirtschaftlichen Produktivitätsfunktion orientiert, während naturschutzfachliche Anforderungen wenig Berücksichtigung finden. Daher wurde das in Kapitel 3 entwickelte System zur naturschutzfachlichen Bewertung von Waldbiotoptypen in Kapitel 4 an die wirtschaftlich relevanten Hauptbaumarten (Buche, Eiche, Kiefer, Fichte, Tanne, Douglasie und Lärche) angepasst und für die flächendeckende Anwendung im Waldbestand entsprechend der potenziellen natürlichen Vegetation des Standortes weiterentwickelt. Mit dem neuen System können naturschutzfachliche Auswirkungen der waldbaulichen Planung und zukünftigen Baumartenzusammensetzung in Waldbeständen räumlich-explizit eingeschätzt werden. Bestimmte forstliche Baumartenkombinationen können dabei zu einer Verschlechterung des naturschutzfachlichen Ausgangswertes führen, welcher durch den dort natürlicherweise vorkommenden Waldbiotoptyp bestimmt wird. Der höchste Naturschutzwert kann erhalten werden, wenn die geplanten Baumarten sowohl autochthon als auch natürlicher Bestandteil des spezifischen Waldbiotoptyps sind. Anhand eines deutschlandweiten Transekts wurde die naturschutzfachliche Bewertung von zukünftig geplanten WET erprobt. In den meisten Fällen führten die WET-Kombinationen zu einer Verschlechterung des ursprünglichen Naturschutzwertes, da die eingeschränkte Baumartenwahl der WET nicht die vielfältige Artenzusammensetzung der natürlichen Waldbiotoptypen widerspiegelte. Mit diesem Bewertungssystem lässt sich die Waldbauplanung auch naturschutzfachlich einschätzen und auf eine möglichst naturnahe und standortheimische Baumartenzusammensetzung ausrichten. Die Unsicherheiten des Klimawandels und die damit verbundenen Veränderungen der Umweltbedingungen stellen auch den Naturschutz vor neue Herausforderungen und können eine Anpassung von Zielen und Schutzbegründungen erforderlich machen. In Kapitel 5 wurde daher untersucht, ob der günstige Erhaltungszustand von FFH-Waldlebensraumtypen angesichts des Klimawandels ein gut begründetes Ziel bleiben kann. Dabei wurde sowohl auf die Frage der Schutzbegründung eingegangen als auch eine Einschätzung des zukünftigen Entwicklungstrends des Erhaltungszustandes von FFH-Waldlebensraumtypen vorgenommen. Es konnte gezeigt werden, dass aktuelle Nischen- und Artverbreitungsmodelle von Lebensraumtypen und Baumarten darauf hindeuten, dass eine Klimawandel-bedingte Zunahme der Trockenheit für Waldlebensraumtypen wie den subalpinen Bergahorn-Buchenwald sowie den montan-alpinen bodensauren Fichtenwald zu Arealverlusten führen kann. Bei Moor- und Auenwäldern sollte zunächst eine erfolgreiche Renaturierung im Vordergrund stehen, bevor eine zukünftige Entwicklung abgeschätzt werden kann. Waldlebensraumtypen auf Sekundärstandorten wie Eichenmischwälder benötigen wahrscheinlich weiterhin aktive Pflegemaßnahmen, um einen günstigen Erhaltungszustand wiederherzustellen und langfristig zu sichern. Bei den Verbreitungsmodellen für Buchenwaldlebensraumtypen konnte eine zunehmende Unsicherheit bezüglich der zukünftigen Verbreitung festgestellt werden und es ließ sich auch unter Klimawandel überwiegend keine deutlich negative Veränderung erkennen. Eine Flexibilisierung und Anpassung von naturschutzfachlichen Zielsetzungen sollte demnach nur evidenzbasiert und im Rahmen eines adaptiven Managements erfolgen. Insgesamt ergeben sich vorerst keine eindeutigen Hinweise darauf, den günstigen Erhaltungszustand der Waldlebensraumtypen unter Klimawandel als ein gut begründetes Ziel des Naturschutzes aufzugeben. In dieser Dissertation werden die Bedeutung von Waldnaturschutzkonzepten in der heutigen Zeit und die Schwierigkeiten, die bei der Einordnung und Umsetzung von Waldnaturschutzzielen auftreten können, diskutiert. Ferner werden die Herausforderungen, die sich bei der naturschutzfachlichen Bewertung von Schutzgütern und Baumarten sowie bei der zukünftigen Umsetzung von Waldnaturschutzmaßnahmen ergeben können, identifiziert. Dabei wurde festgestellt, dass die systematische Analyse von naturschutzfachlichen Zielsetzungen in der Naturschutzforschung an Bedeutung gewonnen hat und ein insgesamt breiter Konsens über die Ziele im Waldnaturschutz in Deutschland herrscht. Trotzdem besteht ein erheblicher Präzisierungsbedarf, insbesondere im Hinblick auf die Umsetzung des Vertragsnaturschutzes im Privatwald. Die vorgestellten Systeme zur Ableitung von Naturschutzwerten können insofern hilfreich sein, als dass abstrakte Eigenschaften wie Naturschutzwerte in ein vereinfachtes und nachvollziehbares System eingeordnet wurden. Forstliche und naturschutzfachliche Akteure können damit für den Naturschutzwert der Wälder sensibilisiert werden. Um bestehende Vorurteile zwischen den Akteuren abzubauen, ist es zudem notwendig, das Fördersystem in Deutschland im Hinblick auf den finanziellen Umfang und die Wirksamkeit von Naturschutzmaßnahmen weiter zu überarbeiten sowie praktische Handlungsempfehlungen auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse zu geben. Diese Dissertation unterstreicht, dass eine ständige Anpassung der Waldbehandlungsstrategien für den Waldnaturschutz und Waldbau notwendig ist, um die Herausforderungen des Klimawandels zu bewältigen. Damit Wälder ihre vielfältigen Funktionen und Ökosystemleistungen auch in Zukunft erhalten können, sollten naturnahe, artenreiche und aus überwiegend heimischen Baumarten aufgebaute resiliente Mischwäldern bevorzugt und die bestehenden Ziele im Naturschutz nicht ohne Grund aufgegeben werden. Nur so kann Waldnaturschutz in Deutschland und auch weltweit langfristig erfolgreich sein. ; The global biodiversity crisis is, along with climate change, the greatest challenge facing mankind. To ensure the long-term protection of biodiversity, conservation objectives must be agreed upon by all stakeholders, defined in concepts, and appropriate actions taken. This involves considering the often contrasting needs of nature and people and examining ethical-moral issues about the value of nature as well as different approaches to nature conservation. In this thesis, conservation objectives and values in German forest conservation concepts, considering ecological, political and social aspects are analysed in an interdisciplinary approach. The present state of forest conservation in Germany is discussed and current and future challenges are described. Based on this assessment of needs new methods for the classification of conservation objectives and for the assessment of forest conservation objects are presented and possible changes in conservation responsibility in view of climate change are proposed. Forests support a significant proportion of global biodiversity and provide essential ecosystem services, and their long-term conservation and sustainable use is becoming more important than ever in the face of climate change. Due to the diverse demands for conservation and use, a consensus on the objectives is necessary in forest conservation. Only a transparent system based on consistent objectives and measures is likely to be sufficiently accepted and implemented. Therefore, a hierarchical framework for the classification of nature conservation objectives was developed in Chapter 2 of this thesis. Within higher-level target areas, desired target properties were assigned to conservation objects, which are to be achieved through certain measures. Using this framework, the contents of biodiversity and forest conservation concepts were examined for commonalities and differences. A broad consensus on conservation objectives was found in the concepts across different stakeholder groups and spatial scales, with the conservation of species, ecosystems and structures in forests rated as particularly important. Deficits were identified with regard to genetic diversity, abiotic resources and social-cultural objectives, as well as a mismatch in the transfer of knowledge. The reasons for these inconsistencies in forest conservation include conflicting objectives, lack of coordination across scales and inadequate implementation of objectives. In private forests, which make up half of the German forest area, the implementation of nature conservation measures is a particular challenge. Private forest owners often have reservations about sovereign nature conservation regulations and are less willing to participate due to the financial expenses involved. In order to ensure higher acceptance, forest conservation measures should be financially compensated. However, the contractual agreement of nature conservation services and financial remuneration (= contract-based nature conservation) has so far found limited application in private forests. Since the successful implementation of contract-based forest conservation requires a system of reasonable measures, the conservation objects identified in Chapter 2 (forest habitat types, structures and processes in forests) were assigned a conservation value in Chapter 3 on the basis of the need for, and the worthiness of, protection. Oak and mixed oak forests, dry-warm beech forests, historical forms of forest use (coppice forests or wood pastures) and natural structures such as deadwood (deciduous tree species, standing and lying) or habitat trees have a high nature conservation value. Based on the initial value and the expected value development, it was assessed whether conservation or restoration measures within the framework of contract-based forest conservation with varying durations are suitable. Contract-based forest conservation is particularly suitable for conservation objects with a high initial value if a loss of value can be avoided and if a high increase in value can be expected. It is not suitable for low initial values and a low restoration potential. With this framework, private forest owners can easily assess which nature conservation measures are suitable in their forest, increasing the likelihood that they will apply contract-based forest conservation in the future. Climate change and its predicted effects in terms of intensity and frequency of disturbances require an adaptation of silvicultural management. In Germany, silvicultural planning tools such as forest development types are often only related to the economic productivity function, while nature conservation demands are given little consideration. Therefore, the framework developed in Chapter 3 for the conservation value assessment of forest habitat types was adapted in Chapter 4 to the economically relevant tree species (beech, oak, pine, spruce, fir, Douglas-fir and larch) and further developed for application in forest stands according to the potential natural vegetation of the location. With the new framework, the nature conservation impacts of silvicultural planning and future tree species composition in forest stands can be spatially-explicitly assessed. Certain silvicultural combinations of tree species can lead to a reduction in the initial nature conservation value, which is determined by the forest habitat type naturally occurring there. The highest nature conservation value can be achieved if the planned tree species are both autochthonous and a natural component of the respective forest habitat type. The framework was trialled to assess planned forest development types using a Germany-wide transect. In most cases, the forest development type combinations led to a reduction of the initial nature conservation value, as the restricted tree species selection of the forest development types did not correspond to the diverse species composition of the natural forest habitat types. With this evaluation framework, forest planning can also be assessed in terms of nature conservation and be adapted to a tree species composition that is as close to nature and site-specific as possible. The uncertainties of climate change and the associated changes in environmental conditions also pose new challenges for nature conservation and may require an adaptation of the conservation objectives and justifications. Chapter 5 therefore investigated whether the favourable conservation status of forest habitat types of the Habitats Directive remains a well-founded objective when confronted with climate change. In this context, both the question of the conservation justification and an assessment of the future development trend of the conservation status of forest habitat types of the Habitats Directive were addressed. It was shown that current niche and species distribution models of habitat types and tree species indicate that a climate change-induced increase in drought can lead to losses in area of forest habitat types such as the subalpine sycamore-beech forest and the montane-alpine soil-acid spruce forest. In the case of bog woodland and alluvial forests, successful restoration should be the first priority before future development can be assessed. Forest habitat types on secondary sites, such as mixed oak forests, will probably continue to require active management measures to restore and secure a favourable conservation status in the long term. The distribution models for beech forest habitat types showed increasing uncertainty regarding future distribution, and for the most part no significant negative change could be identified, even under climate change. Flexibilisation and adaptation of conservation objectives should therefore only take place on the basis of evidence and within the framework of adaptive management. Overall, no clear indications is found to abandon the favourable conservation status of forest habitat types under climate change as a well-founded objective of nature conservation. This thesis discusses the importance of forest conservation concepts in today's world and the difficulties that can arise in the classification and implementation of forest conservation objectives. Furthermore, the challenges that may arise in the conservation value assessment of conservation objects and tree species as well as in future implementation of forest conservation measures are identified. It was found that the systematic analysis of conservation objectives has gained importance in conservation research and that there is a broad consensus on the objectives of forest conservation in Germany. Nevertheless, there is a considerable need for more specification, especially with regard to the implementation of contract-based nature conservation in private forests. The frameworks presented for the derivation of nature conservation values can be helpful in turning abstract properties such as nature conservation values into a simplified and comprehensible system. Forestry and nature conservation stakeholders can thus be sensitised to the conservation value of forest biodiversity. In order to reduce existing prejudices between stakeholders, it is also necessary to further revise the funding system in Germany with regard to its financial scope and the effectiveness of conservation measures, and to provide practical recommendations for action based on scientific findings. This thesis underlines that a constant adaptation of forest management strategies is necessary for forest conservation and silviculture to cope with the challenges of climate change. For forests to maintain their diverse functions and ecosystem services in the future, semi-natural, species-rich resilient mixed forests composed of predominantly native tree species should be favoured and the existing objectives in nature conservation should not be abandoned without reason. Only in this way can forest conservation in Germany and also worldwide be successful in the long term. ; 2022-04-28
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Diese Studie untersucht die Gründe und Probleme der Kinderheirat und deren Auswirkungen auf die Schulbildung von Mädchen im Mecha Distrikt von West Gojam, Amhara Region, Äthiopien, wo Kinderheirat die Regel ist und wo die Einbeziehung von Mädchen in die formale Bildung im nationalen, wie auch im regionalen Vergleich, gering ist. Diese Studie basiert auf primären und sekundären Methoden der Datensammlung. Die primäre Datensammlung dauerte sieben Monate von April 2003 bis Januar 2004 in zwei Feldforschungsphasen. Im ersten Monat wurden Vorab-Befragungen in Haushalten durchgeführt, mit deren Hilfe Grundinformationen gesammelt und Fokus-Familien ausgewählt wurden. In den folgenden Monaten wurden Tiefeninterviews in Fokus-Familien und mit Schlüsselinformanten durchgeführt, sowie die Zeit zu teilnehmender Beobachtung genutzt und es wurden Fallstudien und Diskussionen mit Fokus-Gruppen durchgeführt, begleitet von Video- und Foto-Dokumentation. Die Daten wurden also in der Feldforschung nach der "klassischen" Kombination mehrerer ethnologischer Methoden gesammelt. Ich habe meine ethnologischen Feldforschungen in zwei Bauernsiedlungen im Mecha District durchgeführt. Bachema, 5 km von der Distrikthauptstadt entfernt, befindet sich klimatisch in der Tiefland-Klimazone (qolla), während sich Rim, in etwa 40 km Entfernung von der Distrikthauptstadt, auf mittlere Höhe in der wäyna däga zone befindet. Ich habe auch kurze Besuche bei anderen Bauernsiedlungen gemacht, die weiter oben in der däga-klimazone liegen, und habe mich dort in Gesprächen über Heiratsbräuche und Kinderheiratspraktiken informiert. Während meiner ethnologischen Feldforschung in den Siedlungen im Mecha Distrikt wurde die lokale Sprache, Amharisch, als Kommunikationssprache verwendet. Die Studie gibt einer Annäherung an "emische" Sichtweisen und "Detailaufnahmen" den Vorrang vor Generalisierungen. Daraus ergibt sich ein ethnologischer Feldforschungsansatz, der so wenig formalisiert wie möglich ist und sich auf ausgewählte Familien und deren Netzwerke konzentriert. Studien über Frühheirat und Schulbildung von Mädchen wurden bisher auf der Meso-Ebene behandelt und generalisiert, die auf quantitativen Basisdaten beruhten. Folglich wurden die Einflüsse der lokalen sozio-kulturellen Umgebung und der ökonomischen Strukturen auf Frühheirat und Schulbildung von Mädchen vernachlässigt. Während meiner Feldforschung habe ich durch Beobachtung und Teilnahme den Alltag dokumentieren können und konnte an vielen sozialen, religiösen Ereignissen teilnehmen, insbesondere an Hochzeitsfesten. In einer Netzwerkstudie habe ich die Motive, die Eltern dazu bewegen, ihre Kinder, vor allem die Töchter, früh zu verheiraten, genauer untersucht, die ihrerseits den Schulbesuch verhindern, erschweren oder zum Abbruch bringen. In diesem Zusammenhang habe ich den großen Einfluß der Familie, der nahen Verwandschaft und der Dorfgemeinschaft auf die Frühverheiratung erkannt. Der lokale soziokulturelle Druck und die ökonomischen Strukturen in ihrer Auswirkung auf die "Gender"-Sozialisation und die Schulbildung bilden den Kern dieser Studie. Aus dieser Perspektive habe ich den sozialen und ökonomischen Druck beider Geschlechter, Mädchen/Jungen, und Frauen/Männer, untersucht. Im Untersuchungsgebiet wird der Jungfräulichkeit vor der Ehe hoher soziokultureller Wert beigemessen und ein Mädchen über 14 Jahre alt gilt als qomo qär (unverheiratbar, d.h. eheuntauglich). Dieser Umstand wird als Peinlichkeit und Blamage von den Eltern und vom Mädchen selbst empfunden. Das Mädchen wird als ökonomische Last für die Eltern angesehen und ihre häuslichen Aufgaben, wie die ihrer Mutter, werden als unproduktiv gewertet - obwohl ihr Beitrag, allein in Arbeitszeit bemessen, aber auch in ihrer Diversifizierung ökonomischer Aktivitäten, einschließlich der Landwirtschaft, höher ist als der der Männer. Auf der Basis eingehender Interviews mit Familien und mit frühverheirateten Schülerinnen im Untersuchungsgebiet hat diese Studie zu Tage gefördert, daß der Trend des Alters bei der ersten Heirat von 10 auf 7 und von 12 auf 9 Jahre gefallen ist. Mit anderen Worten, die Mehrheit der Mütter hat zwischen 10 und 12 geheiratet, wogegen die Mehrheit der Mädchen heute im Alter zwichen 7 und 9 heiratet. Genauer, das Durchschnittsalter bei der Erstheirat für die Generation der Mütter ist 11 Jahre, hingegen für die Generation der Töchter ist es auf 8 gesunken. Obwohl in der Literatur allgemein bekannt ist, daß Frühheirat in den bäuerlichen Gesellschaften in der Amhara Region Äthiopiens vorkommt, wurde in dieser Studie festgestellt, daß der Trend, entgegen meinen Erwartungen, im Untersuchungsgebiet wächst. Der Grund dieses Trends muß weiter untersucht und analysiert werden. Auf der Basis der vorläufigen Ergebnisse dieser Studie habe ich einen zwietätigen Erkundungsworkshop "Early Marriage and Girls' Education in Mecha Woreda" (Sept. 18 -19, 2004) in Merawi, Verwaltungssitz des Woreda, durchgeführt. Dieser Workshop bot die Gelegenheit, das ethnographische Material, das ich gesammelt habe, zu diskutieren und die tieferen Gründe für die Frühverheiratung herauszuarbeiten. Naturgemäß gibt es vielfältige interaktive und komplexe sozio-kulturelle Strukturen und Druck für die Bewahrung, Akzeptanz und sogar zunehmende Praxis der Frühverheiratung im Untersuchungsgebiet. Die kritischen Faktoren für die Zunahme der Frühverheiratung sind Armut, Landknappheit, daher Fragmentierung des Familienbesitzes, und Lebensunsicherheiten. Die Hauptursachen, warum Eltern ihre Kinder, vor allem die Töchter, früh verheiraten, können folgendermaßen zusammengefasst werden: 1) Ökonomisch gut situierte Bauernfamilien können mit anderen gut situierten Familien nur durch die Heirat ökonomische Allianzen bilden; 2) 18-Jahre alte Söhne aus ärmlichen Bauernfamilien können Land von der lokalen Bauernorganisation nur dann beanspruchen, wenn sie verheiratet sind, wobei nach dem Alter der Braut bzw. Ehefrau nicht gefragt wird; 3) Aufgrund der zunehmenden Armut neigen die Eltern dazu, alle ihre Kinder zeitgleich zu verheiraten, um die hohen Kosten im Zusammenhang mit den Hochzeitsfeierlichkeiten zu verringern; 4) Hauptanliegen von Bauernfamilien ist es, aufgrund der Lebensunsicherheiten, die Zukunftssicherung durch Heiratsallianzen zu bewerkstelligen. Als Ergebnis wünschen sich die Eltern, ihre Kinder verheiratet zu sehen, bevor sie selbst alt werden und sterben. Die Töchter "heiraten aus" aufgrund der patrilokalen Residenz nach der Eheschließung, was aus Sicht der Eltern "verlorene" Investition, z. B. für die Schulbildung, bedeutet. Die "einheiratenden" Mädchen, ihrerseits, kommen mit Pflichten, aber nicht mit Rechten. An dieser Stelle ist erwähnenswert, daß die soziokulturellen Motive der Frühheirat geschlechtsspezifisch sind. Im Vergleich zu den Jungen werden die Mädchen früher verheiratet, um das Alt-Jungfern-Stigma zu vermeiden und um sie vor vorehelichem Geschlechtsverkehr zu schützen - was bei Jungen weniger restriktiv gehandhabt wird. Obwohl ökonomische Motive und Lebenunsicherheiten treibende Kräfte für die Frühverheirat beider Geschlechter sind, tragen auch die sozioluturellen Wertvorstellungen, die man der "Fraulichkeit" und "Jungfräulichkeit" beimißt, zur hohen Rate der Frühverheiratung bei Mädchen bei. Daher besteht ein Bedarf, das kindliche Leben und das Leben von Mädchen unter der Herrschaft der Männer zu untersuchen, und wie diese den Zugang zu formaler Erziehung und deren Erfolg, insbesondere der Töchter, behindert. Die Möglicheiten, mit denen Mädchen und Frauen sich behelfen, die sozialen Erwartungen und die realen Herausforderungen des Lebens in Einklang zu bringen, sind in den Fallstudien dargestellt. In der Tat ist die Spanne der möglichen Verhaltensweisen viel größer, als die akzeptierten sozialen Normen sie ahnen lassen. Die Kluft zwischen dem idealen Verhaltensmuster und dem tatsächlichen Auslebensspielraum ist offenkundig. Diese Arbeit will einen Beitrag leisten zu einer Aufklärung über die schädlichen Folgen der Kinderheirat am Beispiel der Mädchen, deren Entwicklung im allgemeinen sowohl bildungsmäßig, gesundheitlich und sozial behindert wird. Es werden auch Vorschläge für weitere Forschung und für Gegenmaßnahmen unterbreitet. ; This study examines issues pertaining to early marriage and its effects on girls' education in rural Ethiopia, with special reference to Mecha Woreda in West Gojjam, Amhara Region, where early marriage is most common and girls' participation in formal education is very low by national as well as regional standards. The study employed primary and secondary methods of data collection. The primary data collection took seven months (between April 2003 and January 2004) in two phases of fieldwork. The first month was devoted to conduct preliminary household surveys, based on which baseline information was gathered and focus families were selected. The remaining months were devoted to conduct personal in-depth interviews with focus families and key informants, participant observation, extended case studies and focus group discussions coupled with video-tape recording and photographing. In short, in the field, most of the data were collected through the "classical" combination of ethnographic methods. I conducted the ethnographic fieldwork research among Bachema and Rim peasant communities of Mecha Woreda (District). Bachema, 5 km away from the woreda's capital, is situated in the lowland (qolla) ecological zone, whereas Rim, about 40 km away from the woreda's capital, is situated in the midland (wäyna däga) ecological zone. I also made shorter visits to other peasant communities in the highland (däga) ecological zone and conducted informal discussions there about marriage customs and early marriage practices. In conducting the ethnographic fieldwork among the rural communities of Mecha Woreda, the local language (Amharic) was used as a means of communication. The study lays emphasis on in-depth and detailed aspects of the issue at hand rather than on generalization. From this emerged an ethnographic fieldwork approach as little formalized as possible, with special attention paid on focus families and extended case studies. Studies on early marriage as well as girls' education in Ethiopia have focused on meso-level generalizations based on base-line surveys and quantitative methods. As a result, the local socio-cultural and economic structures surrounding early marriage and girls' education have been neglected. In everyday observation and participation over the period of the ethnographic study, I documented the daily life as well as numerous social, religious and especially wedding ceremonies. In a network study, I observed and investigated factors motivating parents to arrange early marriages for their children, particularly for daughters; and to send or not to send them to the locally available formal school. Through this method, I detected the impact of family or kinship networks as well as of social-village networks on parents' decision to arrange an early marriage for their daughters, or sending them to the local formal school. The local socio-cultural pressures and economic structures underlying gender socialization and formal schooling among the ethnographic research settings are the core of this research. From this perspective, I examined the social as well as economic dimensions of both, "boy-men's" and "girl-women's" lives. In the studied agrarian communities, the social and cultural pressures on girls to marry at an early age are very strong. A high social and cultural value is attached to virginity until marriage for girls, and an unmarried girl above the age of 14 is locally labeled as qomo qär (unmarriageable), which is an embarrassment or a disgrace to her family as well as to herself. She is also considered an economic burden to her family since her involvement in domestic tasks at home, like her mother's, is valued as unproductive, though her contribution in terms of time invested in diversified economic, including agricultural, activities is higher than males'. Based on personal in-depth interviews with focus families and with early-married female pupils in the ethnographic research sites, the study reveal that the trend of the age at first marriage is getting down from 10 to 7 years and from 12 to 9 years. In other words, the majority of mothers were married between the ages of 10 to 12, whereas the majority of the daughters are now married between the ages of 7 to 9. More specifically, the average age at first marriage for the mothers' generation is 11, whereas it is 8 years for the daughters' generation. Though it is commonly acknowledged in the literature that early marriage is most common among the rural communities of the Amhara Region of Ethiopia, this study reveal the trend, contrary to my expectation, that the prevalence rate of early marriage is increasing among the ethnographic research settings. The underlying reason behind this trend remains to be further investigated and analyzed. On the basis of the preliminary findings, I have organized a two-day exploratory workshop on "Early Marriage and Girls' Education in Mecha Woreda" (September 18-19, 2004) at Merawi, the woreda's capital. The workshop has proved to be a good opportunity to discuss the ethnographic material which I had collected so far and to identify the root-causes of early marriage and reasons for not sending girls to the locally available formal schools. The workshop has proved to be a good opportunity to identify locally appropriate strategies for challenging the negative aspects of early marriage and then to promote girls' formal schooling in the study area. Of course, there are various interactive and complex economic and socio-cultural structures and pressures accounted for the endurance, acceptance, and even the increasing trend of the practice of early marriage among the studied peasant communities. The most critical factors contributing to the highest prevalence rates of early marriage among the ethnographic research settings are family poverty, shortage of land due to fragmentation of family farm plots, and life insecurities. The major factors forcing parents to arrange early marriage for their children, particularly for daughters, can be summarized as follows: (1) Economically well-to-do peasant families can forge economic alliances with the relatively well-to-do families only through their children's marriage; (2) Sons who attain the age of 18 from land-poor families can claim land from the local Peasants' Association only if they got married, without taking into account the age of their brides. On the other hand, land-rich families with adult sons arrange a marriage for them just to maintain their landholdings. In both cases, the brides are usually below the age of 11; (3) Due to the aggravating family poverty, peasant parents tend to arrange the marriage for all of their children at the same time, in order to avoid the problem of preparing wedding feasts for each of them; (4) Securing children's future through marriage alliance is the major concern of peasant families due to life insecurities. As a result, the parents desire to see their children married or settled before becoming old or passing away. The daughters "marry out" because of patrilocality after marriage, so that their parents consider "investments" in them as a lost. Here it is worth mentioning that the socio-cultural motives behind early marriage are gender-specific. As a result, compared to boys, most girls get married at an earlier age just to avoid the qomo qär-stigma (fear of girls being unmarriageable after the age of 14) and to protect them from pre-marital sex, which is not equally scorned for boys. In this context, though economic motives and life insecurities are the major driving forces of early marriage for both sexes, socio-cultural values related to "femininity" and "virginity" have also contributed to the comparatively higher prevalence rate of early marriage among girls. Hence, there is a need for examining the pre-marital life of girls in the light of the overall control of women's life through men, on the one hand, and how this affects girls' access to and success in formal education, on the other. The ways in which girls and women manage to balance social expectations and real life challenges are demonstrated and analyzed in the extended case studies. My observations reveal that, in reality, the range of possible behavior is far wider than the superficially accepted social norms would suggest. In this context, the gap between the ideal patterns of behavior and the real ones becomes obvious. Furthermore, the gap between the national laws/policies legislating against early marriage/promoting girls' education and that of the local practices and realities is thoroughly examined in the light of the local peoples' reasons for arranging early marriage for their daughters, instead of sending them to the locally available formal school. The study reveals that parents' decisions on arranging early marriage for their daughters are usually based on gender differential expectations and values. In the first place, parents have the fear that their daughters will be unsuccessful in the formal schooling as compared to their sons. For most parents, the only successful vocation for the "girl-child" is to be a wife and mother. This motivates parents to give their daughters in marriage at an early age so that they can achieve social recognition in their community. As a result, parents prefer to invest on educating their sons rather than their daughters. In general, economic and social structures, life insecurities and the gender ideology are the main causes of early marriage, particularly for girls. The study examines the harmful consequences of early marriage on girls' overall-development in general and their participation in formal schooling in particular and concludes by suggesting possible areas for further research and future intervention.
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In: The national interest, Band 152, S. 25-31
ISSN: 0884-9382
World Affairs Online
In: Sirius: Zeitschrift für strategische Analysen, Band 1, Heft 2, S. 177-190
ISSN: 2510-263X
Belarus ist an der europäischen Integration nicht ernsthaft interessiert. Es hat sich in der Vergangenheit der EU nur zugewandt, um Druck auf die russische Regierung zu erzeugen. Nicht einmal die Ukraine-Krise hat die außenpolitische Situation des Landes grundlegend geändert, das strukturell von Russland abhängig geblieben ist. Allerdings konnte Präsident Aljaksandr Lukaschenka seine Macht festigen und die aktuelle Wirtschaftskrise eröffnet ihm die Chance, das Land ökonomisch zu diversifizieren. Lukaschenkas gewonnenes Selbstvertrauen und der dringende Bedarf an wirtschaftlicher Umstrukturierung haben die Tür für den Westen geöffnet, seine Belarus-Politik neu aufzustellen und dessen Streben nach strategischer Diversifizierung zu unterstützen, um von Russland größere Unabhängigkeit zu erlangen.
World Affairs Online
In: The international spectator: a quarterly journal of the Istituto Affari Internazionali, Italy, Band 48, Heft 2, S. 47-62
ISSN: 0393-2729
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In: Die politische Meinung, Band 48, Heft 399, S. 49-53
ISSN: 0032-3446
World Affairs Online
In: Europäische Rundschau: Vierteljahreszeitschrift für Politik, Wirtschaft und Zeitgeschichte, Band 30, Heft 4, S. 27-32
ISSN: 0304-2782
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