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In: Tipps für die Praxis
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Heinrich-Böll-Stiftung/nachtkritik.de/weltuebergang.net (Hg.): Netztheater. Positionen, Praxis, Produktionen.: Red. Sophie Diesselhorst/Christiane Hütter/Christian Rakow/Christian Römer. 2020. ISBN: 978-3-86928-222-0. Print/digital. 126 S., Preis: kostenlos
Wäre die Gegenwart eine andere, hätte im Mai 2020 die achte Ausgabe der Konferenz "Theater und Netz", einer Initiative von nachtkritik.de und der Heinrich-Böll-Stiftung, stattgefunden. Stattdessen ergab sich für Theaterschaffende, Kritiker*innen und Publikum reichlich Gelegenheit, das Verhältnis von Theater und Netz in actu auszuloten: Durch die Ausgangsbeschränkungen befeuert, verlagerte sich das Theatergeschehen in die digitale Experimentierstube. Im Oktober erschien nun der Band Netztheater, der in 21 Beiträgen die Erfahrungen der vergangenen sechs Monate reflektiert –fundiert durch die Expertise der im Format "Theater und Netz" seit 2013 geleisteten Pionierarbeit. Die Kürze der zwei- bis siebenseitigen Beiträge, gepaart mit der Erfahrungsdiversität aus Herstellung, Rezeption und wissenschaftlicher Auseinandersetzung, hat entscheidende Vorteile: Hier wird nicht lange umständlich unter Ausrufung irgendeines "Post-" herumgeredet oder die beliebte Formel strapaziert, Theater müsse "neu gedacht" werden. Die Beitragenden verbindet die gemeinsame Sache und so kommen sie rasch zum Punkt. Als Hybrid aus theoretischen Positionen und reflektierender Praxis bündelt die Publikation praktisch verwertbares und weiterentwickelbares Wissen kompakt und beinahe in Echtzeit. Daher verhandelt diese Rezension die Beiträge nicht chronologisch, sondern führt einander ergänzende Perspektiven zu zentralen Aspekten wie Dramaturgie, Community, Interaktion etc. kommentierend zusammen: Der Band eröffnet mit einem Praxisbericht des geglückten Burgtheater-on-Twitter-Experiments #vorstellungsänderung, das tausende Mittweeter*innen auch abseits des Abopublikums rekrutierte. Projekte wie dieses geben Hoffnung, dass die Theater, die sich im Netz oft als singuläre kulturelle Leuchttürme gebärden, durchaus von den Praktiken der Sozialen Medien profitieren können: Like, share, comment, retweet sind schließlich nichts anderes als digitale Kürzel für gemeinschaftsstiftende Interaktionen, basierend auf Emotion, Zuspruch, Diskussion und Multiplikation. Vielleicht sind in Zukunft ja auch vermehrt offen und öffentlich geführte Dialoge zwischen Theaterhäusern zu erwarten? Netztheater geht davon aus, dass die Suche nach digitalen künstlerischen Ausdrucksformen sich nicht erst daraus ergibt, dass Hygieneregeln und Distanzierungsvorgaben die Modi des Zuschauens kurzfristig verändert haben. Auch tradierte Annahmen über das Publikum sind zu überprüfen. In ihrem kollaborativen Text "Das Theater der Digital Natives" beobachten Irina-Simona Barca, Katja Grawinkel-Claassen und Kathrin Tiedemann, dass die Digitalisierung längst "in Form von Alltagstätigkeiten und Wahrnehmungsweisen" (S.16) im Theater angekommen sei. Das Theater ist kein geschützter Ort, an dem die Zeit stehen geblieben ist. Vielmehr tragen die Zuschauer*innen die Welt, in der sie leben, unweigerlich in ihn hinein. Das betrifft auch Praktiken des Multitaskings bzw. des 'Second Screen', also die Gleichzeitigkeit mehrerer Interfaces und Informationsquellen. Jahrhundertelang war der zentralperspektivische Blick der Barockbühne prägend für die Organisation einer exklusiven Aufmerksamkeit im Theater. Wiewohl es also eine neue Erfahrung für die Theaterhäuser ist, "Nebenbeimedium zu sein" (S. 20), wie Judith Ackermann betont, ist es höchste Zeit, diese 'verstreute' Aufmerksamkeit im Inszenierungsprozess aktiv mitzudenken und gezielt einzusetzen. Dabei ist die Diversität des Publikums inklusive der unterschiedlich ausgeprägten Media Literacy zu beachten, denn nicht alle Zuschauer*innen werden sich augenblicklich z. B. in einer gamifizierten virtuellen Umgebung zurechtfinden: "Indem ich im digitalen Raum Zusatzinformationen – Hintergrundinfos zum Stück, zur Produktion – zu meinen Inszenierungen streue, kann ich zum Beispiel auch dem 'analogen Publikum' einen Mehrwert bieten, der es aber nicht verschreckt." (S. 22) Für eine Dramaturgie des Digitalen ist Aristoteles allenfalls partiell ein guter Ratgeber. Zu viele Komponenten sind neben 'der Story an sich' an der Architektur der Erzählung beteiligt. Einige Elemente des 'klassischen' Storytellings lassen sich psychologisch für den digitalen Raum begründen: Das Überschreiten der 'Schwelle' etwa wird als zentraler Moment markiert, zumal die Spielregeln für das Dahinterliegende noch nicht festgelegt sind – die Verständigung auf "Floskeln, Rollen und Situationen" (S. 71) hat erst zu erfolgen. Friedrich Kirschner, Professor für digitale Medien an der Ernst Busch Berlin, schlägt vor, die zur Vermittlung von "Rollen- und Erlebnissicherheit" (ebd.) dringend nötigen Ausverhandlungsprozesse im Rahmen der jeweiligen Inszenierung ästhetisch zu gestalten. Dabei setzt er auf ein Miteinander, "das im Gegensatz zu den treibenden Kräften der Plattformhalter auf Erkenntnis gerichtet ist; das Handlungsfähigkeit vermittelt anstelle von Determinismus" (S. 73). In diesem Sinne schlägt Ackermann überdies vor, "modular" zu denken, also "leichte Ein- und Ausstiegsmöglichkeiten" zu schaffen, "indem man immer wieder die Möglichkeit gibt dazuzustoßen" (S. 21). Wiederholt wird das Serielle als Chance für neue Theaterformen ausgewiesen, beispielsweise um "durch gemeinsames, geteiltes Wissen über einen langen Zeitraum […] eine Beziehung zu Figuren auf[zu]bauen, sie mit der eigenen Lebensrealität ab[zu]gleichen und mit Freund/innen [zu] diskutieren" (S. 72), wie Kirschner in "Teilhabe als Notwendigkeit: Theater als Raum pluraler Gemeinschaften" schreibt. Um diese Gemeinschaftsbildung ist es auch Christiane Hütter zu tun: Die Community ist das Herzstück des Theaters, weshalb die künstlerische Energie aktuell vor allem darauf zu verwenden sei, "dass Leute wiederkommen, dass sich Routinen und Rituale entwickeln, dass serielle Formate entstehen" (S. 45). Diese Community aufzubauen, "das ist ein Handwerk, das eine Strategie, Zeit und Inhalte benötigt" (S. 30), weiß auch Christian Römer, Referent für Kulturpolitik und Neue Medien der Heinrich-Böll-Stiftung, in seinem Plädoyer "Für ein Theater @home!". Essentieller Bestandteil dieser Strategie, die vorerst noch strategisch auf eine Gemeinschaft "vor der Bezahlschranke" setzen müsse, sei die "Arbeit an der eigenen Identität als Theater im Netz" (ebd.). "Ein Schaufenster in die eigene Vergangenheit stärkt die Bindung des Publikums an 'sein' Theater." (S. 29) Man möchte hinzufügen, dass die "Verbindung zur [eigenen] Geschichte" (ebd.) auch nach Innen identitäts- und strukturbildend wirken und so womöglich die ein oder andere Erschütterung abfangen kann, die die Theaterschaffenden gegenwärtig persönlich und als Gemeinschaft erleben. Wie zugkräftig Selbstmarketing bzw. 'Branding' in Sachen Follower*innenschaft ist, lässt sich beispielsweise bei erfolgreichen Influencer*innen beobachten. Der Dramatiker und Dramaturg Konstantin Küspert zeigt in "Sozialmediale Theaterräume: Die performative Parallelwelt von TikTok" überaus schlüssig auf, welche "Grundelemente theatraler Praxis" in Social-Media-Formaten zu finden sind: "TikToks müssen, um erfolgreich zu sein, praktisch immer eine Pointe haben, meistens überraschend und lustig, und damit grundsätzliche Elemente einer Narration – teilweise regelrechte Fünf-Akt-Strukturen oder Rekontextualisierungen im Miniformat – nachbauen." (S. 26) Auffällig sind auch Praktiken des Samplings, wie sie schon in Hans-Thies Lehmanns Postdramatische[m] Theater, das jüngst seinen zwanzigsten Geburtstag feierte, zu finden sind: Denn auch bei TikToks wird "reinszeniert, kontextualisiert und koproduziert" (ebd.). Aber manchmal ist es gerade das Ähnliche, das trennt. Man stelle sich etwa einen Burgschauspieler auf der Bühne eines Kölner Karnevalsvereines vor. So verlockend wasserdicht die von Küspert angestrengte Gleichung auch anmutet, lässt sich eigentlich nur in der konkreten Anwendung überprüfen, "was vom eigenen Formenrepertoire übersetzbar ist" (S. 84). Der schmerzliche Verlust öffentlicher Orte, zu denen auch das Theater als Raum der gesellschaftlichen Verständigung gehört, zieht sich leitmotivisch durch die Texte des Sammelbandes. "Die Corona-Krise ist eine Krise der Versammlung" (S. 35), bringt Dramaturg Cornelius Puschke diesen Umstand zu Beginn seines "Plädoyer[s] für 1000 neue Theater" auf den Punkt. Dass es sehr wohl auch im Internet Formen von Gemeinschaftsbildung gibt, die sich auf dezentrale Weise organisieren, beobachtet Christiane Hütter mit kritischem Interesse: "QAnon und Konsorten glänzen mit orchestriertem Storytelling, outgesourced an viele, mit einem übergeordneten World-building-Framework, das Inkonsistenzen erlaubt" (S. 41). Eine Aufgabe des Theaters könnte es sein, positive Gegenangebote zu entwerfen, die dieser Sehnsucht nach Gemeinschaft, Austausch und gemeinsamer Erzählung entsprechen. Wie aber können solche Dialog und Austausch befördernden Formate aussehen? Die interdisziplinäre Künstlerin und Game Designerin Christiane Hütter, aus deren Feder insgesamt drei Texte des Bandes und zwei Interviews stammen, entwirft zu diesem Zweck eine "Typologie von Interaktion, Kollaboration und Partizipation" in übersichtlich tabellarischer Form, denn häufig enttäuschten 'interaktive Stücke' durch "Pseudo-Interaktions-Möglichkeiten" oder "asymmetrische Interaktion" (S. 44). Angesichts der pandemiebedingten Einschnitte in die Möglichkeit, durch Handlungen 'stattzufinden', ist es eine der wichtigsten Herausforderungen an Inszenierungsprozesse, die Agency der Zuschauer*innen sinnvoll zu integrieren. Die Nachtkritikerin Esther Slevogt plädiert explizit dafür, die Webseiten der Theater als "Portale in den digitalen Raum" und "Interfaces" (S. 109) zu behandeln. Diese verstehen sich gegenwärtig eher als Sende- denn als Empfangskanäle; die einstigen Gästebücher sind längst in selbstverwaltete Facebook-Gruppen migriert und bilden hier den kulturkritischen Versammlungsort einer recht spezifischen Theaterklientel. Eine Brücke zwischen analog und virtuell, Inszenierungs- und Alltagsgeschehen könnten hybride Formate herstellen. Der Theaterregisseur Christopher Rüping beschreibt Hybridität durchaus als Challenge, weil "sich die kulturellen Praktiken des einen und des anderen so beißen". Eine Inszenierung, die so divergente Rezeptionsbedingungen berücksichtigt, sei entsprechend komplex im Herstellungsprozess und müsste "auf achtzehn Ebenen gleichzeitig" funktionieren: "Interaktivität, die nur im digitalen Raum stattfindet, während ich analog zuschaue und davon ausgeschlossen bin, ist merkwürdig." (S. 94) Zudem ist es auch für Darsteller*innen eine neue Erfahrung, auf die weder Ausbildung noch bisherige Praxis sie angemessen vorbereitet haben. So stellt Ackermann die berechtigte Frage: "Wie kann den Schauspieler/innen das Gefühl vermittelt werden, dass sie keinen Film machen, sondern dass sie mit Personen interagieren, die nicht Teil der performenden Gruppe sind – auch wenn diese Personen nicht physisch kopräsent sind?" (S. 21) 'Gemeinsames Erzählen' prägt die Entstehungsgeschichte unserer Kultur, Gesellschaft und Sozialisation. Keine Entwicklung ohne Kooperation, keine Innovation ohne Vorstellungsvermögen. Netztheater könnte ein System der jahrhundertelangen Professionalisierung von Theater neu in Bewegung bringen, weil es Expertisen unterschiedlicher Provenienz bedarf und den Grundgedanken von Crowdsourcing in Schaffensprozesse integriert. Aber sind wir wirklich bereit für künstlerische Formate mit offenem Ausgang? Widerspricht das nicht dem Prinzip von Inszenierung? Müsste man das Profil der Regie – der ja gerade im deutschen Sprachraum besondere Deutungshoheit zukommt – womöglich neu definieren? Aktionen von Zuschauer*innen, die aktiv am Handlungsverlauf mitschreiben, sind schwer zu antizipieren; die Interventionen von Trollen und Bots brechen unerwartet in den Handlungsverlauf ein. Aber vielleicht ist es angesichts der Erschütterungen von 2020 gar keine dumme Idee, statt vorgefertigter Handlungsbögen flexibel adaptierbare Aktionsmodelle zu entwerfen, mit denen auf den Einbruch des Unvorhergesehen reagiert werden kann. Frank Rieger vom Chaos Computer Club beforscht Mixed-Reality-Projekte bereits seit den 1990er-Jahren. "Hybride Räume, digitale und interaktive Formate" hätten bereits eine lange Geschichte, allerdings gäbe es immer wieder "unrealistische Annahmen über das, was die Technik am Ende leisten können wird" (S. 61). Mitunter behindere aber gerade die entgegengesetzte Annahme die Umsetzung: "Man kriegt ein staatliches Theater für eine große Produktion nur dazu, das auch im digitalen Raum zu machen, wenn die das gleiche Gefühl von ernsthafter Technik haben" (S. 94), weiß Regisseur Christopher Rüping aus eigener Erfahrung. Andere Internetformate bewiesen, dass es nicht immer schweres Gerät erfordert, denn "im digitalen Raum dieses Erlebnis [von Gemeinschaft] zu stiften" sei etwas, das "jedem mittelmäßigen Streamer gelingt" (ebd.). Die Ursache für solche Trugschlüsse sieht Rieger in der Inselexistenz, die viele Theater fristen. Der Branche fehle noch immer eine "breite Kultur des ehrlichen Erfahrungsaustausches, der Diskussion von technischen, inhaltlichen und Projektmanagement-Fehlern" (S. 62), sodass das Rad immer wieder neu erfunden werden müsse. Dem entgegenzuarbeiten beabsichtigt die im vergangenen Jahr gegründete Dortmunder Akademie für Digitalität und Theater. Gemäß ihrer Open-Source-Strategie will sie "Nerdkultur […] ins Theater reinbekommen" (S. 67) und die Erkenntnisse ihrer prototypischen Arbeit in Tutorials, Talks und Wikis zugänglich dokumentieren. In ihrer Auswertung der Netztheaterexperimente des ersten Pandemie-Halbjahres bemerken die Bandredakteur*innen Sophie Diesselhorst und Christian Rakow, dass "das Gros […] piratischen Charakter" hatte. "Es entstammte der Freien Szene oder ging auf Initiativen von Einzel-Künstler/innen zurück, die sich ihre eigene Infrastruktur bauten und einfache technische Lösungen jenseits des Stadttheater-Apparats fanden." (S. 89) Man kann annehmen, dass dieser Innovationsgeist zumindest teilweise der Not geschuldet war. Denn selbst Projekte an etablierten Häusern sind häufig von externen Zusatzförderungen abhängig. Um über den eigenen Guckkasten hinauszudenken, haben einige Theater bereits Kontakt zu freien Künstler*innen und Kollektiven aufgenommen. "Es gibt viele kleine Aufträge von Theatern, die sagen: 'Wir wissen nicht, wie es weitergeht. Wollen Sie etwas ausprobieren?'" (S. 97), schreibt die britische Kritikerin Alice Saville. Diese vorsichtige Kontaktaufnahme birgt die Chance, das Gespräch darüber zu beginnen, wie sich festgefahrene Strukturen künstlerisch und wirtschaftlich öffnen lassen. Eine Möglichkeit wäre, Theater künftig als "Agenturen für das Dramatische" zu denken, wie am 13.11.2020 bei der Onlinetagung "Postpandemisches Theater" vorgeschlagen wurde, die ebenfalls auf die Initiator*innen des Sammelbandes zurückgeht. Für die Pluralität und Interdisziplinarität der Branche steht übrigens auch, dass keine der Autor*innenbiographien einen linearen Verlauf aufweist, geschweige denn sich auf eine einzige Berufsbezeichnung zurückführen ließe. Eine der aktuellen Herausforderungen besteht darin, Jobprofile zu überdenken. In Christiane Hütters Entwurf für ein "Theater der Gegenwart" ändert sich die Organisationsstruktur auch auf der Leitungsebene: "Es geht in Zukunft vor allem auch darum, die Gesamtprozesse zu koordinieren, Projektmanagement zu machen, Herstellungsleitung für Situationen, Care-Arbeit fürs Team." (S.45) Ein Kernanliegen der Publikation ist das Plädoyer für eine 'vierte', digitale Sparte – wobei zu bemerken ist, dass das digitale Theater sich diesen vierten Platz vielerorts mit dem Theater für junges Publikum teilt. Dieser Befund ist symptomatisch, werden doch Digitalität und Jugend oft zusammengedacht. Berücksichtigt man die zeitliche Dimension –"in naher Zukunft wird es nur noch Digital Natives geben" (S. 16) – wird rasch klar, dass es sich um eine voreilige Schlussfolgerung handelt. Die sich andeutende Marginalisierung verheißt wenig Gutes für die so dringend nötigen Finanzierungsstrukturen und Fördermodelle, zumal auch die Verantwortung, diese 'vierte Sparte' zu gestalten, damit demselben Personenkreis zugesprochen wird. Folgerichtig wird immer wieder sachlich bemerkt, dass zum Aufbau einer künstlerischen Infrastruktur tatsächliche Ressourcen in Form von Zeit, Geld und neuen Stellenprofilen am Theater benötigt werden. Einige Häuser haben bereits erste Schritte gesetzt und beschäftigen neben Positionen wie Social Media oder – neudeutsch – Community Management nun auch Programmierer*innen. Das Staatstheater Augsburg, das sich bereits im Frühjahr "einen Namen als VR-Hochburg mit einem umfangreichen Spielplan an Virtual-Reality-Produktionen" (S. 99) machte, hat mit Beginn der Spielzeit 2020/21 Tina Lorenz als "Projektleitung für Digitale Entwicklung" eingestellt; das Schauspielhaus Zürich holte für seine Webserie Dekalog den Designer für Virtuelle Interaktion, Timo Raddatz, ins Boot. Für eine "Digitale Sparte" argumentiert auch Elena Philipp, die die Münchner Kammerspiele, das Staatstheater Augsburg und das Hebbel am Ufer als Case Studies ins Feld führt. Die Nutzung digitaler Technologien beschränkt sich aber naturgemäß nicht nur auf die künstlerische Außenwirkung, sondern bietet auch ganz praktische Lösungen: Produktionsvorgänge –und sogar der ökologische Fußabdruck –können beispielsweise durch 'virtuelle Bauproben', 3D-Modelle und die Nutzung von Extended Reality (XR) wesentlich erleichtert werden. Mit der routinemäßigen Nutzung digitaler Technologien stehen auch neue Inhalte in Aussicht. Derzeit erfahre die Form zu große Aufmerksamkeit, zitiert Philipp Tina Lorenz, die konkrete Vorschläge für inhaltliche Schwerpunkte abseits der tausendsten Neuauflage von Goethe und Schiller macht: "Noch ist das Medium die Message, aber wir müssen Geschichten für das digitale Zeitalter entwickeln, über die Gig Economy, Smart Cities oder darüber, wie Kommunikation, Aktivismus und soziale Bewegungen im 21. Jahrhundert funktionieren." (S. 102) Der Blick der Herausgeber*innen inkludiert auch Länder, deren staatliche Subventionsstrukturen weit weniger privilegiert beschaffen sind als im deutschsprachigen Raum. Alice Saville stellt in ihrem Beitrag "Keine Show ohne Publikum" einige Beispiele aus "Großbritanniens immersive[r] Theaterszene im Lockdown" vor, die ja aufgrund ihrer Organisationsform –weit mehr Touring Companies als feste Ensembletheater –ein gewisses Training in innovativer Raumgestaltung besitzt. Der Stadtplaner und Theaterleiter Trevor Davies berichtet von seinen Erfahrungen mit der hybriden Performancereihe "Wa(l)king Copenhagen", für die 100 Künstler*innen eingeladen wurden "ab dem 1. Mai 2020 über 100 Tage lang 100 kuratierte zwölfstündige Walks […] über stündliche Livestreams digital [zu] übertragen" (S. 54). Und die Kuratorin und Kritikerin Madly Pesti erzählt am Beispiel Estlands, bei dem sich die Einwohnerzahl und die Summe der jährlichen Theaterbesuche entsprechen, von der gelungenen Kooperation von Theaterhäusern und Rundfunk, die auf ein über Jahrzehnte gepflegtes Verhältnis zurückgeht: Da die Rechte der beteiligten Künstler*innen vom Estnischen Schauspielerverband vertreten wurden, konnte eine Sonderregelung für die Dauer des Ausnahmezustands verhandelt werden, um die künstlerischen Arbeiten im kulturellen Webportal des Nationalrundfunks kostenlos zugänglich zu machen. Angesichts des vergleichsweise neuen Terrains muss das Theater sich fragen, was es aus den Erfahrungen anderer Branchen lernen kann. Denkt man beispielsweise an die wirtschaftlichen Nöte des Onlinejournalismus und die mühsame Etablierung von Paywalls, ist es sinnvoll, frühzeitig über Verwertungsmodelle bzw. den Preis von 'gratis' nachzudenken. Es gilt zu prüfen, inwiefern Limitation (zeitlich, kapazitär, Ticketing), Exklusivität (Sonderformate, Blicke hinter die Kulissen, Stichwort Onlyfans) oder Partizipations- und Mitgestaltungsoptionen als wertsteigernde Maßnahmen praktikabel und tragfähig sind. Im Kontext von Big Data ist zudem branchenweit zu diskutieren, wie sich Theaterhäuser zu privatisierten Plattformen, die ja den digitalen Raum dominieren, verhalten sollen. Erschwerend kommt hinzu, dass die ungeklärte Rechtesituation im deutschsprachigen Raum auf Netztheaterexperimente nachgerade innovationsfeindlich wirkt. "Man kann nicht Theater im Internet machen und dann aber straight die Copyright-Gepflogenheiten des Analogen anwenden wollen" (S. 93), spricht die Dramaturgin Katinka Deecke im Interview ein Feld mit raschem Klärungsbedarf an. Wiewohl alle Texte von den Lehren aus spezifischen Best Practices leben – schließlich werden die neuen Ausdrucksformate von Pionieren "des Ausprobierens, Aneignens und Entdeckens" (S. 76) entwickelt – versammelt die Publikation in einem eigenen "Produktionen"-Kapitel gezielt Besprechungen einzelner Projekte. Sinnigerweise stammen diese Texte mehrheitlich von Menschen, die berufsbedingt einen größeren Überblick über die Rezeption der Szene besitzen: Kritiker*innen und Redakteur*innen. So kommt Elena Philipps Untersuchung des "Aufbau[s] von Online-Programmen an Theatern" beispielsweise zu dem Schluss, dass "begleitend zu einer Theaterästhetik" – beispielsweise "für Virtual-Reality-Umgebungen" – auch "das Publikum dafür entwickelt" (S. 101) werden müsse. Der Umgang mit neuer Technologie ist schließlich für alle Beteiligten zunächst eine Terra incognita. Sophie Diesselhorst berichtet vom Online-Zusammenspiel der "Netztheater-Experimente aus Schauspielschulen", etwa der vielbeachteten Produktion Wir sind noch einmal davongekommen der Münchner Theaterakademie August Everding, die sich das Artifizielle des Mediums spielerisch überhöht zunutze machte und vermittels kluger Discord-Regie die Videokästchen in Bewegung setzte. Schade, dass die zitierten Experimente nicht zur Nachschau verlinkt bzw. verfügbar sind. Ein Grund hierfür könnte neben der prinzipiellen Unverfügbarkeit einmalig ausgestrahlter Livestreams sein, dass auch andere Quellen knapp einen Monat nach Erscheinen der Publikation bereits der 'Transitorik' des Internets zum Opfer gefallen sind. "Virtuelle[n] Festivalauftritte[n]" widmet sich Esther Slevogt, allen voran dem Berliner Theatertreffen mit seinen streambegleitenden Sonderformaten, die mittels Chat und Videotelefonie erstmals Fachdiskurse, die sonst wenigen Eingeweihten vorbehalten sind, mitsamt den dazugehörigen Gesichtern im Internet teilten. Für das Festival Radar Ost entwarf das Künstlerduo CyberRäuber ein weboptimiertes 360-Grad-3D-Modell des Deutschen Theaters, innerhalb dessen in verschiedenen 'Räumen', inklusive der Unterbühne, Veranstaltungen im Videoformat eingesehen werden konnten. Rückgriffe auf analoge Formate – die Berliner Volksbühne entschied sich etwa für eine Magazinanmutung bei der Gestaltung ihres Festivals Postwest – können laut Slevogt durchaus inspirierend sein: Als "Transfererleichterung für das Denken immaterieller Räume" genüge mitunter eine simple Lageplanskizze, wie es schon 1995 die Association for Theatre in Higher Education der Universität Hawai'i bewies. Wenn es gilt "Übergangsschleusen von der analogen in die digitale Welt benutzer/innenfreundlich zu gestalten", votiert Slevogt ganz klar für "Pragmatismus" (S. 109). Netztheater räumt mit dem weitverbreiteten Missverständnis auf, dass das Digitale allenfalls ein Substitut für 'das Echte' sei. Es ist an der Zeit, sich von falsch verstandenen Authentizitätsdiskursen und einer Überbetonung der 'leiblichen Ko-Präsenz', die die Theaterwissenschaft – die ja damit eine ganz eigene Agenda vertrat – an das Theater herangetragen hat, zu verabschieden. Netztheater will niemandem etwas wegnehmen. Es will das tradierte Theater keineswegs abschaffen, nicht den intimen Moment der Begegnung zweier Menschen ersetzen. Es sucht vielmehr nach technologisch unterstützten Erzähl- und Interaktionsformaten, in denen solche Begegnungen ebenfalls möglich sind. Das Digitale hat unser Denken bis in seine neurologischen Strukturen hinein verändert, die Art, wie wir kommunizieren und interagieren, wie wir uns organisieren, uns in der Welt verorten. Es hat sich in unser Verhältnis zu unseren Körpern eingeschrieben, unseren Zugang zu Wissen erleichtert und auf Herrschaftswissen basierende Hierarchien abgeschafft oder zumindest verschoben. Die Fülle an Information ist nahezu unnavigierbar geworden, Fake News haben unser Vertrauen in glaubwürdige Quellen erschüttert. Das Internet hat eine Vielzahl von alternativen Wahrheiten und alternativen Realitäten geschaffen. Das ist beängstigend, zumal in Zeiten einer Pandemie. Das 18. Jahrhundert hat das Theater als Laboratorium gedacht und die Bühne als Ort, an dem Probehandeln möglich ist, um etwas über unser Menschsein zu erfahren. Auch das Netztheater ist ein solches Laboratorium, ausgestattet mit den Gerätschaften der Gegenwart, die etwa Aufschluss darüber geben können, wie unsere Wahrnehmung beschaffen ist oder wie sich Aufmerksamkeit organisieren lässt. "Theater ist die Institution mit dem ältesten Wissen über die gesellschaftliche Kraft des Spielens." (S. 15) Philosophie und Soziologie veranschlagen im Spiel die Grundlage unseres Menschseins. Es wäre fatal, die verfügbaren virtuellen Spielzeuge und technischen Gadgets jenen Player*innen zu überlassen, deren Interessen wirtschaftlich, militärisch oder politisch getrieben sind. Indem wir unser über die Jahrtausende gewachsenes Wissen über Theatralität und Inszenierungsformen einsetzen, um spielerisch zu experimentieren, erlernen wir den Umgang damit und finden heraus, welche Weltgestaltung mit ihnen möglich ist. Die Lektüre der Beiträge zeigt deutlich: Die vielfach beschworene Minimaldefinition des Theaters – A geht durch einen Raum während B zuschaut – beinhaltet keinerlei Spezifikation, dass B sich dabei im selben Zimmer befinden muss.
BASE
James Shapiro: Shakespeare in a Divided America.: London: Faber & Faber 2020. ISBN: 978–0–571–33888–7. 320 S., Preis: € 23,99 (£ 20,00)
Dass 2016 der Republikaner Donald Trump als rechtmäßiger Vertreter einer demokratischen Öffentlichkeit gewählt wurde, wirkte sich auch dort aus, wo man es zuletzt vermuten würde: in den feinen Verästelungen des akademischen Schreibens über vierhundert Jahre alte Bühnentexte. Sucht man Phänomene der Gegenwart zu erklären, bieten Shakespeares Dramen eine beliebte Hilfestellung. Erst kürzlich veröffentlichte Stephen Greenblatt unter dem Titel TYRANT. Shakespeare on Politics die ausführliche Version eines Essays, der im Oktober 2016 unter dem gewagten Titel "Shakespeare Explains the 2016 Election" in der New York Times erschienen war. In der genauen und bisweilen etwas sprunghaften Lektüre von Shakespeares Dramen macht der Literaturwissenschaftler spezifische Figurenkonstellationen und Charaktereigenschaften aus. Daraus entwickelt er eine Typologie von "Ermöglichern", die tagespolitische Entwicklungen erhellen soll. In Shakespeare in Divided America wählt James Shapiro einen anderen Weg: Er untersucht, wie die szenische und analytische Behandlung von Shakespeares Bühnenfiguren in markanten historischen Momenten mit Themen und Ereignissen korreliert, die die Identität Amerikas ausmachen. Die Motivation teilt er dabei mit seinem Kollegen Greenblatt. So gesteht Shapiro gleich auf den ersten Seiten: "It was the election of Donald Trump in 2016 that convinced me to write about Shakespeare in a divided America." (S.8) Sein inhaltliches Fundament erhält dieses Verkaufsargument durch die 724 Seiten schwere Sammlung Shakespeare in America: An Anthology from the Revolution to Now, die der Autor vor sechs Jahren veröffentlichte. Das dort versammelte Material beginnt 1776, im Jahr der Unabhängigkeitserklärung, – die aktuelle Publikation eröffnet ein halbes Jahrhundert später mit den Konflikten um "Miscegenation", der Furcht vor einer 'Vermischung der Rassen', die dem bevorstehenden Bürgerkrieg den ideologischen Boden bereitete. Mit einem Artikel "On the Character of Desdemona" trug der ehemalige Präsident John Quincy Adams am Neujahrstag 1835 indirekt zu dieser Diskussion bei. Befeuert von der enttäuschenden Begegnung mit der vierzig Jahre jüngeren Schauspielerin Fanny Kemble, die seinen Ausführungen über Shakespeare keinen Beifall zollte, veröffentlichte er im American Monthly Magazine einen langen Brief. Darin wählt er den Umweg über seine bereits zuvor vielfach im Halbprivaten geäußerte Obsession mit Othello, um auszudrücken, "what he otherwise was too inhibited or careful to say" (S.44): Desdemona habe ihr Schicksal verdient, weil sie sich des naturwidrigen Vergehens schuldig gemacht habe, einen "blackamoor" (S.25) zu ehelichen. Hier zeigt sich – und das ist die grundlegende Überzeugung Shapiros –, dass Shakespeare für die Ängste und Vorurteile, die das gesellschaftliche Klima prägen, als "canary in the coalmine" (S.4) fungiert. So ist es folgerichtig, dass Shakespeare in America die 'hot topics' der Gegenwart – Race, Class, Gender, Sexual Orientation, Immigration, Otherness, Power & Politics – anhand der Aufführungs- und Rezeptionsgeschichte Shakespeares verhandelt. Auch Mental Health scheint zwischen den Zeilen immer wieder durch. Die Reflektiertheit, mit der Shapiro seine historische Rekonstruktion betreibt, würde man sich grundsätzlich von allen Autoren wünschen, auf die die Adjektive 'old white privileged male' angewandt werden können. Eben jene Aspekte sind es nämlich, die er ins Zentrum seiner kritischen Auseinandersetzung stellt. Wenn es gilt, historische Machtverhältnisse zu analysieren, lohnt der Blick auf die Mächtigen: Shapiro beobachtet ein ausgeprägtes Näheverhältnis, das sämtliche amerikanische Präsidenten zu Shakespeare pflegten. Das Vorwort der Anthology schrieb 2014 übrigens Bill Clinton, jener Präsident, für den Monika Lewinsky zum Valentinstag 1997 eigens ein paar Liebesverse aus Romeo und Julia in die Washington Post setzte. 'Sämtliche', natürlich ausgenommen Donald Trump, "who may be the first American president to express no interest in Shakespeare" (S.229). Für Präsident Abraham Lincoln, federführend bei der Abschaffung der Sklaverei, verlief die Begegnung mit einem Schauspieler tödlich: John Wilkes Booth, jüngster Sohn einer Schauspielerdynastie, sah sich die Rolle des Brutus auch auf den Brettern der Weltbühne spielen. In der Loge des Ford's Theatre schoss er dem theaterliebenden – und im Privaten bevorzugt Shakespeare rezitierenden – Staatsoberhaupt in den Kopf. Booth war überzeugt von der Rechtmäßigkeit der 'Sklavenhalterstaaten' und erkannte in Lincoln seinen ultimativen Feind. Shapiro rekonstruiert die Entwicklung von Booth' politischem Fanatismus biographisch entlang seiner Auseinandersetzung mit Shakespeare: "Rather than playing introspective or noble parts (as his father and brother Edwin had), the only roles in which he distinguished himself were dark and often villainous heroes, men of action who die fighting. If a character wasn't scripted that way, he didn't hesitate to exaggerate these traits." (S. 133) Fragen der 'Otherness' verhandelt Shapiro anhand der Aneignung von The Tempest, das wiederholt als "Shakespeare's One American Play" (S. 160) betitelt wurde. In der Figur Calibans, darwinistisch interpretiert als 'missing link' zwischen Wildheit und Zivilisation, wird das Fremde verortet, von dem wahlweise Gefahr ausgeht oder das es zu disziplinieren gilt. Das zeigt sich in zahlreichen Bearbeitungen und Adaptionen des Stückes. Dass in Shakespeares Dramen Gemeinschaft durch Ausschluss hergestellt wird, lässt sich auch in den Komödien nachweisen: "Community in Shakespeare's comedies depends – much like immigration policy – on who is barred admission as much as on who is accepted." (S. 151) Worin der Autor die aktuelle Geteiltheit Amerikas ausmacht, erschließt sich am Ende des Buches anhand eines Zitats des Regisseurs Oscar Eustis, dessen Produktion von Julius Caesar Shapiro beratend begleitete: "Part of the divide is between those of us who believe in this democracy and those of us who believe that this democracy has utterly failed. And those that believe that it has failed believe they are victims, they are oppressed by the intellectuals, by the liberals, by the elite, and that that's the source of their problem." (S. 246) Die sieben Kapitel lassen sich gut separat voneinander als eigenständige Essays rezipieren – jedoch zeigt sich in der Gesamtstruktur, dass ihr Verfasser seinen Shakespeare gelesen hat: Die narrative Klammer bildet besagte Produktion von Julius Caesar im Sommer 2017. In der Einleitung rollt Shapiro das Feld aus. Motiviert von der Wahl Trumps entschied Oscar Eustis, der Artistic Director des New Yorker Delacorte Theater, den gewaltsamen Sturz eines despotischen Herrschers in blonder Perücke und roter Krawatte auf der Bühne des Open-Air-Theaters vor 1.800 Menschen zu zeigen. Als Challenge für sein mehrheitlich liberales Publikum intendiert, sollte dem Mord an Caesar eine inszenierte Revolte von im Publikum stationierten Statist*innen folgen – dieser Theatervorgang wurde aber unvermittelt von der Realität überlagert: Die Rightwing Media griffen das Thema einseitig auf, der Widerstand gegen die Aufführung spitzte sich schnell zu. Erst in der Conclusio entfaltet Shapiro die ganze Geschichte und zeigt das verheerende Ausmaß von Social Media im Kampf gegen die Wahrheit. "CNN? Clinton? ISIS? Terrorism? It is hard to imagine a more irrelevant list of ideological or moral objections to the show. […] The crucial thing was not what was said but ensuring that the stunt would circulate on social media." (S.240) Allein im Juni 2017 erreichte die Kontroverse auf Facebook über zwei Millionen Menschen. Dass die gern herbeizitierte politische Sprengkraft des Theaters nicht bloß eine behauptete ist, wird umso deutlicher, weil Shapiro seine Leser*innen zwischen Einleitung und Schluss auf eine Zeitreise mitnimmt: Was 1846 in einem schottischen Theater als Privatfehde zweier Schauspieler-Egos begann – der Amerikaner Edwin Forrest pfiff den Briten William Macready während eines Hamlet-Monologes auf offener Bühne aus –entwickelte sich zu einem Flächenbrand, der drei Jahre später mit den Astor Place Riots seinen Höhepunkt erreichte. In die Aufstände rund um die Darstellung eines anderen Shakespeare Dramas, diesmal Macbeth, waren über 25.000 Menschen involviert. 31 kamen dabei ums Leben, 120 wurden verletzt. Was war geschehen? Als Symbol des Britischen Königreiches, gegen das es sich aus Perspektive der weniger wohlhabenden amerikanischen Bevölkerung zur Wehr zu setzen galt, hatten sich der Engländer Macready und der amerikanische Nationalheld Forrest binnen dreier Jahre zu den Gallionsfiguren eines "Class Warfare" entwickelt. Ort der Handlung war ein neu erbautes Theater, das zum Flaggschiff des Klassenkampfes auserkoren wurde. Denn im Bau des Astor Place Opera House mit seinem weiß behandschuhten Publikum spiegelte sich ein neu erstarkender Elitismus: Um den Kontakt der sozialen Klassen möglichst zu unterbinden, waren die billigen Plätze vom "pit", "renamed the parquette" (S.87), auf den vormals teureren Rang verlegt worden, der nun nur mehr durch separate Stiegenhäuser zu erreichen war – eine Umkehrung der Sitzordnung, die sich bis heute durchgesetzt hat. Als Macready in diesem Gebäude eine Serie von Shakespeare-Gastspielen antrat, die Forrest im Übrigen in einem benachbarten Theater spiegelte, rief dies wüste Proteste hervor. Es ist die Kombination aus historischer Detailgenauigkeit und gegenwärtigem Blick, mit der Shapiro das Geschehen lebendig macht: Am ersten Abend der Riots spielten die stoischen Schauspieler*innen das Stück stumm zu Ende, als sie merkten, dass ihre Stimmen sich gegen den Tumult auf der Galerie nicht durchsetzen konnten. Am nächsten Tag wurde der Widerstand physischer; Eier flogen aus dem Zuschauerraum. "Potatoes followed, along with lemons, apples, an old shoe, and a bottle of asafetida, a foul-smelling spice, that splashed Macready's costume." (S. 94) Erst als die Bestuhlung auf die Bühne geworfen wurde – "Macready didn't have the luxury of knowing that the chairs crashing onstage a few feet from where he stood weren't meant to hit him" (S. 95) – brach der standfeste Engländer die Vorstellung ab. In die atmosphärische Rekonstruktion des Zeitgeistes flicht Shapiro immer wieder heutige Perspektiven ein. So auch in seinen Ausführungen über die Schauspielerin Charlotte Cushman: "As is so often the case in the theater, there was a gap between what people saw and what they projected upon the performers or simply imagined seeing. A video clip of Cushman's performance would no doubt disappoint, failing to capture its allure." (S. 67) Die Gründe für diese 'Projektion' entfalten sich im Kapitel "Manifest Destiny", jenem Leitspruch, der Amerikas gottbestimmte Dominanz über den gesamten Kontinent legitimieren sollte. Im Kontext territorialer Ausdehnung wirft der Autor ein Licht auf die Geschichte jener weiblichen Darstellerinnen, die für einen kurzen Moment der Geschichte als Romeos und Hamlets die amerikanischen Bühnen betraten – laut Shapiro, weil sich das fragile männliche Ego in Zeiten des Bürgerkrieges von schwachen und wankelmütige Helden akut gefährdet sah. Über die Schauspielerin Cushmann – die mit 23 zum ersten Mal als Romeo neben ihrer jüngeren Schwester auf der Bühne stand und diese Rolle für weitere 20 Jahre verkörpern sollte – transportiert Shapiro einerseits die Stimmung der Bevölkerung in Zeiten des Krieges und andererseits die private Biographie einer Frau, die im 19. Jahrhundert ihre berufliche Existenz auf Schauspielerei gründete. Auch wenn sie eine gleichwertige Gage zur Bedingung machte, war ihre Position als alleinstehende Berühmtheit, die sich anmaßte, Männerrollen auf der Bühne zu verkörpern, stets gefährdet. Die durch private Korrespondenzen gut dokumentierten Beziehungen, die sie zu anderen Frauen unterhielt, musste sie stets so kaschieren, dass ihr Liebesleben nicht zur existenzbeendenden Schlagzeile wurde. Mit dem Waffenstillstand veränderte sich die öffentliche Wahrnehmung: "Martial manliness was, many now saw, a hollow and dangerous thing." (S.72) In unmittelbarer Folge bildete sich auf der Bühne eine ähnliche Verdrängung ab, wie sie mit Ende der beiden Weltkriege auch in Europa zu beobachten war: Aus den beruflichen Positionen, die Frauen in Abwesenheit der Männer eingenommen hatten, mussten sie sich wieder zurückziehen. "Once men could comfortably play a Romeo who could at times appear effeminate, they reclaimed the role." (Ebd.) Cross-Dressing ereignete sich aber auch in umgekehrter Richtung: Als 1845 die Disziplin der im Camp Corpus Christi Stationierten sukzessive zu zerfallen drohte, wurde von einem umsichtigen Kommandanten ein Armeetheater gegründet. Mithilfe von Othello, dessen Militärszenen die Lebenswirklichkeit der Soldaten reflektierten, sollte die Moral der Wartenden gehoben werden. In Ermangelung einer weiblichen Besetzung begab man sich auf die Suche in den eigenen Reihen. Gefunden wurde das Substitut im späteren Präsidenten der Vereinigten Staaten, Ulysses S. Grant, "because of his looks and perhaps his voice too" (S.49). Zur Aufführung kam es trotz dieser offensichtlichen Qualifikation jedoch nicht, da der Othello-Darsteller sich weigerte, mit Grant zu spielen – aus Angst, unter Homosexualitätsverdacht zu geraten. Weitere Berührungspunkte von Homosexualität, Emanzipation, Marginalisierung und Theater treten im Kapitel über das Musical Kiss me Kate zutage, das auf Shakespeares sperriger Komödie The Taming of the Shrew basiert. In diesem Backstage-Frontstage-Drama kam es 1948 für einen kurzen Moment der Geschichte auf der Bühne zur friedvollen Koexistenz unterschiedlicher Lebenswirklichkeiten: "The defining feature of the Shakespeare musical was its hybridity – mixing musical styles, mixing Shakespeare's language with contemporary American idiom, mixing races, and mixing highbrow, middlebrow, and at times lowbrow." (S. 183) In der Verfilmung des Musicals wurden diese Unterschiede fünf Jahre später jedoch zugunsten eines Mainstream-Leinwanderlebnisses wieder homogenisiert. Zur Kontextualisierung der Themen "Adultery and Same Sex Love" bezieht sich Shapiro auf Erhebungen des Gallup Instituts und kontrastiert diese mit Zahlen zu tatsächlicher Untreue. Die aktuellsten Daten zum Wertekanon der USA stammen aus dem Jahr 2015 und besagen: "To give some sense of American's disapproval of infidelity, no other behavior that was polled was considered less morally acceptable – not even human cloning, suicide, or abortion." (S.214) Ein großer Teil des Kapitels gilt der Analyse der Drehbuchentwürfe zu Shakespeare in Love (R.: John Madden, UK/US 1998) und den in den verschiedenen Fassungen wirksamen Moralvorstellungen. Die Fiktionalisierung rund um Shakespeares Gender-Swap-Komödie Twelfth Night verwebt Shapiro mit dem Produktionsgeschehen – Homosexualität in Hollywood! Harvey Weinstein! –und Bill Clintons Impeachment-Prozess, der im Jahr des Kinostarts die Weltöffentlichkeit bewegte. Es ist unmöglich, über Shakespeare zu sprechen, ohne die eigenen innersten Haltungen zu verraten. "Shakespeare's plays are rich in the extremes of experiences – injustice, separation, violence, revenge." (S. 7) Daher werden persönliche Überzeugungen, Misogynie, Rassismen und Intoleranz angesichts seiner Stücke so sichtbar wie sonst allenfalls nach dem fünften Bier, erläutert Shapiro im Podcast der Folger Library, der das Erscheinen des Buches begleitet.[1] Die Stärke der Publikation liegt nicht allein in der ungemein kenntnisreichen Kontextualisierung, sondern in der Lebendigkeit des Eindrucks, den man beim Lesen davon erhält, wie sich die öffentliche Wahrnehmung der shakespeareschen Figuren im Kontext bestimmter gesellschaftlicher Konstellationen verändert hat. Während sich rekonstruierende Versuche eines 'original practice style' meist auf die getreue Umsetzung von Raum, Requisiten, Kostümen und womöglich Spielweisen beschränken, trägt die Lektüre von Shakespeare in a Divided America dazu bei, das Mindset der Menschen zu einer spezifischen Zeit an einem spezifischen Ort besser zu verstehen. Auf 250 Seiten (plus 50 Seiten kommentierte Bibliographie) erzählt Shapiro eine dichte Geschichte Amerikas, bei der man en passant Erstaunliches aus der Aufführungsgeschichte Shakespeares, viel mehr aber über die enge Verwobenheit von Theater und Gesellschaft erfährt. Dass er dabei die Rolle Shakespeares mitunter ein wenig überschätzt, ist man ob der Kraft der Narration schnell zu vergeben bereit. Nach der Lektüre dieses Buches hat man eine Menge erlebt. Und am Ende ist man mit Shapiro überzeugt, dass wir von der Auseinandersetzung mit Shakespeare, der noch immer der meistgelesene Autor Amerikas ist, auch nach vierhundert Jahren beständig Neues über unser Menschsein lernen können. [1] Barbara Bogaev/James Shapiro: "Shakespeare Unlimited: Episode 140". In: The Folger Library. 17.03.2020. https://www.folger.edu/shakespeare-unlimited/shapiro-divided-america.
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H. Korte/H.-J. Jakob (Hg.): "Das Theater glich einem Irrenhause". Das Publikum im Theater des 18. & 19. Jh. \\ Dies./B. Dewenter (Hg.): "Das böse Tier Theaterpublikum". Zuschauerinnen & Zuschauer in Theater- & Literaturjournalen des 18. & frühen 19. Jh.: Heidelberg: Winter 2012. (Proszenium. Beiträg...
Ein rechter Zoo muss das Theater des 18. Jahrhunderts gewesen sein. Von "gähnen, brüllen, miauen und bellen" (I, S. 87) im Zuschauerraum ist die Rede, vom Klopfen und Pfeifen, und – schlimmer noch – von Studenten, die sich auf den oberen Rängen in einer Weise physisch erleichtern, dass "der Kopfputz unserer Damen in den unteren Logen leiden [würde], wenn sie sich nicht beschirmten" (I, S. 88). Wie passt solch viehisches Benehmen mit dem tradierten Bild der Schaubühne als 'moralische Anstalt' zusammen? Um Fragen wie diese zu klären, eröffneten Herrmann Korte und Hans-Joachim Jakob 2012 mit dem Sammelband Das Theater glich einem Irrenhause die Reihe "Proszenium. Beiträge zur historischen Theaterpublikumsforschung" im Heidelberger Winter Verlag. Zwei Jahre später folgte der Quellenband Das böse Tier Theaterpublikum, dessen Titel dem Tagebuch Ludwig Devrients (1843) entnommen wurde. Auffallend an den hier versammelten Quellen ist, dass sie insonderheit den Unmut bündeln – der Kritiker ist einer, der es besser weiß. Und sein Frust ist ihm Ansporn zum Schreiben. Beim Nachbarschaftsstreit im Zuschauerraum geht es vorrangig um Besitzverhältnisse. Denn immer wieder wird die Debatte um gebührliches Betragen auf die Frage des Monetären zurückgeführt. Während die einen vermeinen, mit dem Einlassbillett ihren persönlichen Raum im öffentlichen ausdehnen zu können, pochen die anderen auf ihr Recht, "eine ruhige Stille […] für Geld zu verlangen" (II, S. 41). Ganz offenbar treffen im öffentlichen Raum des Theaters unterschiedliche Konzepte von Privatsphäre aufeinander. Der Hang zu gesellschaftlicher Selbstinszenierung steht dem Wunsch nach kontemplativem Kunstgenuss entgegen: "Die schöngeputzten jungen Herren mochten immer ihre Süßigkeiten und Albernheiten an die Toiletten ihrer Dulcineen versparen, in der Komödie sie vorzuplaudern, schickt sich nicht, weil aufmerksame Zuschauer gestört werden" (I, S. 80). Indem Korte & Co den Zuschauerraum 'in Szene' setzen, statt sich auf das Bühnengeschehen zu konzentrieren, zeigen sie die 'andere Seite' der legendären vierten Wand und belegen, dass diese beidseitig bedingt ist. Gleichzeitig handelt es sich bei Bühne und Auditorium in mehrerlei Hinsicht um kommunizierende Gefäße. Im idealen Modell des bürgerlichen Theaters, das sich edukative Absichten auf die Fahnen schreibt, entspricht "dem idealen Schauspielertypus […] ein idealer Zuschauertypus" (II, S. 48). Mäßigung bzw. Angemessenheit gilt für beide Seiten als verbindliches Kriterium, und so wird an die Besserung der Sitten wechselweise auf der einen wie auf der anderen Seite appelliert. Wenn das, was auf der Bühne gezeigt wird, (freye) Kunst werden soll, muss es auch vom Publikum als solche behandelt werden. Daher gilt es zunächst das Urteilsvermögen und den 'Geschmack' des Zuschauers zu bilden, der schließlich "das unerklärlichste Räthsel auf dieser Erde" (I, S. 244) ist. In seinen Regeln gemahnt Goethe den Schauspieler, stets zu "bedenken, daß er um des Publicums willen da ist" (I, S. 151). Auf der anderen Seite dieses bürgerlichen Schuldprinzips steht der Zuschauer, der dem Schauspieler gegenüber zu Aufmerksamkeit und sachverständiger Beurteilung verpflichtet ist. Entsprechend könnte der 1775 anonym erschienene "Versuch über das Parterre" ebenso gut "Über die Urteilskraft" heißen. Mit der verfeinerten Wahrnehmung einhergehen soll ein sensiblerer Gebrauch der Kritikinstrumente: Die Praktiken des Ausrufens, der Beifallsbekundungen und Da-Capo-Schreie werden scharf zensuriert. Beispielsweise sei die aus der Musik stammende Forderung nach Wiederholungen in Tragödien (die einen bemerkenswert kleinen Teil des Spielplans bestritten) absolut unangebracht. Nicht auszudenken, wenn es "so weit kommen sollte, daß […] Medea, noch einmal ihre Kinder ermorden – […] der alte Galotti, noch einmal seine geliebte Rose entblättern" (I, S. 92) müsste. Derweil Lachen und Gähnen dem gemeinen Zuschauer als profunder Ausdruck der Kritik zupass kommen – "ein ausgegähnter Schauspieler wäre dann eine ganz neue Terminologie, von welcher unsre ältern Dramaturgen gar nichts gewußt haben" (II, S. 135) – lassen kritische Geister selbst den Beifall nicht als Qualitätskriterium gelten. Gerade an einem Ort der Schau gilt die körperliche Entäußerung als eine einzuschränkende. Die sich im Laufe der Verbürgerlichung wandelnde Beziehung des Menschen zu seinen Affekten (und denen der anderen!) wird mehreren Ortes beschrieben. Jene Publikumsschelte, die in den Theaterzeitschriften und Kulturjournalen der Zeit laut wird, ist "Teil des Disziplinierungsdiskurses, an dessen Ende der still sitzende, sich nicht rührende Zuschauer steht" (I, S. 250). Die Überwältigung durch das Gefühl, die als höchstes Ziel des Theaters gehandelt wird, hat entsprechend verinnerlicht im Stillen stattzufinden, um den "Funke[n] des Ueberspannungsgeistes" (I, S. 27) nicht ungebührlich herauszufordern. Statt Auskünfte über die Wirkungsdramaturgie zu geben, sprechen viele der hier versammelten Quellen daher wortreich den Wunsch nach einer "Domestizierung der Körper" (I, S. 50) aus. Selten finden sich Schilderungen euphorischer, emotionaler oder gar körperlicher Zuschauererfahrung, wie sie von der verlegendisierten Mannheimer Uraufführung der Räuber überliefert sind (vgl. Bodo Plachta); immer spricht in der urteilenden Beobachtung ein Zensor mit. Zuweilen hat man den Eindruck, dass man anhand der Theaterjournale konkretere Auskünfte über Gesellschaft und Sitten, als über das Theater erhalten kann. Und tatsächlich reicht der Informationsgehalt der beiden Bände weit über die Ereignisse im Zuschauerraum hinaus. Beispielsweise wird in Korrespondenz zum sich gerade entwickelnden öffentlichen Rechtswesen der Disziplinierungsvorschlag "konsequenterweise zugespitzt auf die Forderung nach strafrechtlichen und polizeilichen Maßnahmen" (II, S. 45, vgl. auch den Beitrag zum "Polizeygesetz" von Peter Heßelmann). Insgesamt bleibt das Quellenstudium mehr aufs Publikum als auf die Wechselwirkungen zwischen Bühne und Auditorium fokussiert. Das mag an der Programmatik der Reihe liegen (Stichwort "Publikumsforschung"), kann aber auch dem Stil der Zeit geschuldet sein: Beobachtungsschwerpunkt bleibt das Niedrige, weil vom intellektuell erhabenen Standpunkt aus geurteilt wird. In seinem Selbstadelungsbestreben unterteilt der Kritiker das Publikum sogar in drei Klassen: "Der rohe Mensch ist zufrieden, wenn er nur etwas vorgehen sieht, der gebildete will empfinden, und Nachdenken ist nur dem ganz ausgebildeten angenehm" (I, S. 175f.). Dennoch lassen die Forderungen nach kontemplativer Andacht und adäquatem Benehmen Rückschlüsse auf das Dargebotene zu. Die Interaktion von Zuschauern und insbesondere Aktricen, der private Austausch von Blicken oder gar Dialogen wird von den Theaterreformern entschieden verurteilt und allenfalls in den Garderoben toleriert. Was hierdurch vor Übergriffen aus dem Auditorium geschützt wird, ist ein Bühnengeschehen, das ganz im Zeichen des Illusionstheaters steht. Und bereits die Störung dieser illusionären Welt der Szene durch den Lichtputzer wird stark missbilligt. Andererseits sind Aussagen über "eine auf Identifikation abzielende Wirkungsdramaturgie" (I, S. 242) beispielsweise im Tagebuch Joseph von Eichendorffs, mit dem sich Hermann Korte näher befasst, nicht zu finden. Nicht alle Beiträge tragen den Stempel des Disziplinierungsdiskurses: Dass man trotz des bürgerlichen Aufklärungsparadigmas publikumsorientierte Dramatische Spiele zur geselligen Unterhaltung auf dem Lande schreiben konnte, zeigt Johannes Birgfeld anhand von August von Kotzebues "radikaler Demokratisierung des Theaterspiels" (I, S. 200). Als um Kommunikation bemühter Dramatiker will Kotzebue das Publikum durch den gezielten Einsatz szenischer Mittel spielerisch "besser, verträglicher, duldsamer machen" (I, S.210). Die Debatte mit seinen Kritikern, die ihm zu gefälliges Theater unterstellen, pflegt er mitunter in seinen Stücken auszutragen. So macht er die Selbstüberschätzung so manches Kollegen in der 'Narrenrevue' Die Glücklichen anschaulich: Der Dichter "muß höher stehen als sie alle; er muß ein Jahrhundert vorausschreiben; er muß den Lichtpunkt am Firmament bezeichnen, zu welchem nach und nach die Staubmenschen sich emporwinden müssen" (I, S. 209). Alexander Košenina untersucht das diffizile Verhältnis des Theaterdirektors August Klingemann zum Braunschweiger Publikum, der sich den Bedürfnissen desselben – die naturgemäß nicht immer dem aufklärerischen Wertekanon konform sind – durchaus bewusst ist und daraus u.a. den Schluss zieht, eine "Balance zwischen 'Kunstrichter' und 'Gallerie' herstellen zu müssen" (I, S.261). Überhaupt verdienen die räumlichen Verhältnisse innerhalb des Theaters eingehendere Analyse, zumal ihnen auch eine Zuschauertypologie entspricht (vgl. auch die historische Gebäudeuntersuchung von Martin Rector). Die architektonischen Gegebenheiten boten hinlänglich Gelegenheit, sich im voll beleuchteten Zuschauerraum Aufmerksamkeit zu verschaffen – oder sich hinter dem Logenvorhang ins Private zurückzuziehen. Von Interesse ist auch die soziale Zusammensetzung des Parterres, dem im Aufführungsgefüge aufgrund der Nähe zur Bühne die sprichwörtlich lauteste Stimme zukommt. Vor allem seine Eignung als meinungsbildende Instanz rückt es ins Zentrum von Schilderungen und Studien. "Was müssen manche Personen für eine Absicht haben, wenn sie ins Schauspiel gehen?" (II, S. 77). Angesichts all der schlechten Manieren, die in den Quellentexten des 18. und 19.Jahrhunderts mit wonnigem Ekel ausgebreitet werden, möchte man allzu gerne die Grundsatzfrage stellen: Warum aber nun eigentlich Kunst? Interessanterweise arbeiten Quellen wie Analysen sich gleichermaßen an diesem Rätsel ab. Mode, Galanterie, "feine Prostitution" und "lange Weile" (II, S.99) vermögen schließlich ebenso wenig wie die aristotelische Katharsis-Theorie eine zureichende Begründung angesichts der hamletschen Hekuba-Frage zu liefern. Klar hervor geht aus den Zeitdokumenten allenfalls, dass der Legitimationszwang des Theaters nicht erst die Erfindung heutiger Kulturpolitik ist. Beide Bände sind reich an detailkundigen Beobachtungen, Auskünften über Manieren und Bühnengepflogenheiten, – und in der Fülle des Materials kann man als Leser überraschende Entdeckungen machen. Was den theoretischen Zugang zum Bühnenereignis betrifft, so ist dieser durchaus konventionell. Im Sinne der Berliner Schule machen die Beitragenden den Zuschauer zum Akteur und zitieren wiederholt die 'Minimaldefinition' des Theaters, bei der A eine Person B verkörpert, wobei C zuschaut – mal nach Eric Bentley, dann nach Christel Weiler und natürlich auch nach der Erfinderin des Zuschauers als Studienobjekt für die Theaterwissenschaft des 20. Jahrhunderts: Erika Fischer-Lichte. Nicht genug, dass die Publikumsforschung erhellende Details über die genauen Umstände des Theaterwesens und seinen gesellschaftlichen Kontext zutage fördert, es scheint, als müsse sie sich auch beständig der Bedeutung ihres Gegenstandes versichern. Mit der Zusammenstellung von Analysen und überlieferten Stimmen wird das tradierte Narrativ von Bildung und Sitte um eine komplementäre Perspektive ergänzt, denn so manche zeitgenössische Schilderung entlarvt die idealischen (Reform-)Schriften der Aufklärer als Wunschphantasien. Just auf diese aber greift die Theaterwissenschaft gerne zurück und nimmt die Idealvorstellung als authentisches Zeugnis an. So weist Korte – in der Fußnote, denn so offensiv ist der Grundton des Bandes nun doch nicht – darauf hin, "wie obsolet eine ausschließlich an Theoriefixierungen klebende Forschung ist, die immer und immer wieder längst bekannte Dramenpoetologie-Passagen interpretiert" (I, S. 251). Stattdessen setzt er auf die unmittelbare Erfahrung der Theatergänger und bisweilen auch auf Aussagen der Schauspieler über ihr Publikum. Es lohnt, beide Bände parallel zu lesen, zumal einige der 15 Beiträge aus Band I mit dem in Band II publizierten Material hantieren. Und auch mit letzterem steht der Leser nicht allein auf weiter Flur, denn Korte und Jakob stellen den transkribierten Dokumenten zwei kenntnisreiche Artikel zur Quellenlage voran. Jüngst ist der dritte Band der Reihe erschienen: Medien der Theatergeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts – ein Titel, der auf die Ausweitung des Gegenstandsbereiches hoffen lässt. Dass die Herausgeber die Stimmen der Zeit wieder hörbar machen, ist ein durch und durch rühmliches Unterfangen. Die große Qualität der Analysen liegt im genauen Blick, der nicht nur historische Umstände rekonstruiert, sondern wie beiläufig etwas über das große Mantra der Aufklärung erfahren lässt: 'the proper study of mankind is man'. Denn die schriftlichen Erzeugnisse des 'tintenklecksenden Säkulums' erlauben – eingefasst in eine kulturelle Rahmung – mitunter erstaunliche Einsichten in das zwischenmenschliche Miteinander. Und – Wissenschaft beiseite – nicht zuletzt ist es der Wahrheitsgehalt des Anekdotischen, der die Lektüre so wunderbar erbaulich macht: "Aber mein Gott, sagte mir mein Nachbar, ich möchte nur wissen, warum die Leute in die Komödie gehn, wenn sie nur plaudern wollen. Ich knirschte mit den Zähnen, und sprach nichts" (S. 80).
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Kindergartenpflicht?: zur Frage der Vereinbarkeit einer Kindergartenbesuchspflicht mit der Verfassung, insbesondere mit dem Grundrecht der Eltern auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder
In: Schriftenreihe Verfassungsrecht in Forschung und Praxis 90
Private Unternehmen im Transformationsland China: Individual- und Privatunternehmen in China - ihr volkswirtschaftlicher Stellenwert und ihre Funktionen im Entwicklungsprozeß der chinesischen Wirtschaft
In: Europäische Hochschulschriften
In: Reihe 5, Volks- und Betriebswirtschaft 2531
World Affairs Online
REZENSIONEN: Thomas Kiefer: "Entwicklungstendenzen in der Automobilindustrie Südostasiens und der VR China"
In: Asien: the German journal on contemporary Asia, Band 66, S. 91-92
ISSN: 0721-5231
Rational allocation of attention in decision-making
In: BERG working paper series 114
Das Sorgerecht nichtverheirateter Väter
In: Schriften zum Familien- und Erbrecht Band 18
Horizontal product differentiation with limited attentive consumers
In: BERG Working Paper Series 143