Gegenstand dieser Vorlesung ist eine neue sozialwissenschaftliche Theorieprogrammatik, die für die Soziologie, Pädagogik und Soziale Arbeit erhebliches Potenzial bietet: jener krisentheoretische Ansatz, den Ulrich Oevermann anlässlich seines Abschieds als ordentlicher Professor an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main im Jahr 2008 als eine Art Fazit aus der bis dahin geleisteten Forschungsarbeit formuliert hat.
Gegenstand der Betrachtung ist der beschleunigte gesellschaftliche Strukturwandel, und zwar im Hinblick auf damit verbundene Herausforderungen für Bildung und biografische Transformationen. Hierzu wird die in der ersten der beiden Vorlesungen dargestellte, auf Ulrich Oevermann zurückgehende krisentheoretische Perspektive herangezogen, die ein neuere Paradigma in den Sozialwissenschaften repräsentiert, mit einem großen Potenzial für Fragestellungen der Soziologie, Pädagogik und Sozialen Arbeit. Besonderes Augenmerk wird der Programmatik des "lebenslangen Lernens" geschenkt, die seit den 1970er-Jahren den Strukturwandel in Deutschland, Europa und Nordamerika diskursiv begleitet. Es wird argumentiert, dass dieser Diskurs eine bezeichnende Engführung schon im Begriff des "Lernens" mit sich führt, im Unterschied zu dem umfassenderen Bildungsbegriff, wie er von Wilhelm von Humboldt geprägt worden ist. Der Strukturwandel hat mittlerweile ein Tempo und ein Ausmaß erreicht, dass "Lernen" im krisentheoretisch explizierten Sinne von routinehaften Prozessen der Erwerbs von Wissensbeständen und Fertigkeiten bei weitem nicht ausreicht. Um den wachsenden Anforderungen an biografische Transformationen gerecht zu werden, wären vielmehr krisenvermittelte Bildungsprozesse über die gesamte Lebensspanne nötig. In diesem Zusammenhang wird auch die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens diskutiert, die eine Demokratisierung der sozialstrukturellen Verfügbarkeit von Muße ermöglichte. Muße erscheint dabei als strukturelle Voraussetzung für genuine Bildungsprozesse im Sinne Wilhelm von Humboldts.
Über viel "Muße" zu verfügen war und ist gesellschaftlich ein Privileg, das höchst ungleich verteilt ist. Manchen erscheint sie vor diesem Hintergrund als ein "Luxus", auf den man notfalls verzichten kann und der eher hedonistischen Charakter hat. Einige glauben sogar, dass "Müßiggang aller Laster Anfang" ist. Aus einer bildungstheoretischen Perspektive stellt es sich jedoch für Einige genau umgekehrt dar. Ihnen erscheint Muße als Anfang jedes genuinen Bildungs- und Autonomisierungsprozesses, eine wissenschaftliche Auffassung, die schon der berühmteste deutsche Bildungstheoretiker Wilhelm von Humboldt vertreten hat. "Muße" ist kultursoziologisch gesehen zunächst einmal diejenige Sphäre menschlicher Praxis, in der frei produziert (oder auch rezipiert) wird, d. h. um seiner selbst willen bzw. allein um der Sache willen, mit der man beschäftigt ist. Insoweit ist sie geradezu der Inbegriff von Autonomie und unterscheidet sich grundsätzlich von jener gesellschaftlichen Sphäre der Entfremdung und Fremdbestimmung, der Erwerbsarbeit, Freizeit und Arbeitslosigkeit im klassischen Sinn gleichermaßen angehören. Ein zum würdigen Leben ausreichendes, bedingungslos gewährtes Grundeinkommen würde allen Bürgern "Muße" auf eine Weise verfügbar machen, die bisher nur privilegierten, sehr vermögenden Kreisen vorbehalten war, wie etwa historisch den berühmten "britischen Gentlemen", deren Lebensmaxime darin bestand, zu leben, um (frei und selbstbestimmt, in Muße) zu arbeiten (bzw. sinnvoll tätig zu sein) im Unterschied zur Maxime, zu arbeiten, um zu leben (den Lebensunterhalt zu verdienen). Man kann die Einführung eines zum würdigen Leben ausreichenden bedingungslosen Grundeinkommens daher auch als "Demokratisierung der Muße" bezeichnen. Dieser Gesichtspunkt des bedingungslosen Grundeinkommens bildet in der gesellschaftlichen Debatte ganz ohne Zweifel das Hauptskandalon auf der Seite seiner Kritiker. Denn auch die ebenso notorisch diskutierte Finanzierungsfrage hängt am Ende vor allem davon ab, ob man den Bürgern insgesamt einen vernünftigen Umgang mit derart großen Muße- bzw. Autonomiespielräumen zumuten und zutrauen könnte. Allein der Gedanke einer "Demokratisierung der Muße" erscheint vielen Kritikern unmittelbar als abwegig, als realitätsfremde, abgehobene sozialromantische Spinnerei. Jedoch wird man die offensichtlich gegebene starke Attraktivität der Grundeinkommensidee erst angemessen verstehen können, wenn man nicht bei einer solchen reflexhaften Abwehr der Idee stehen bleibt, sondern sich insbesondere mit der Frage auseinandersetzt, welche Bedeutung die Verfügbarkeit von Muße in der individuellen Lebensführung nicht zuletzt in Zeiten eines beschleunigten gesellschaftlichen Strukturwandels hat. Deswegen diskutiert der Vortrag den Gesichtspunkt einer Demokratisierung der Muße insbesondere aus bildungstheoretischer (ebenso -empirischer) Perspektive.
Pippa Norris und Ronald Inglehart lenken mit ihrem 2004 publizierten Buch ›Sacred and Secular. Religion and Politics Worldwide‹ die Aufmerksamkeit in Fortführung ihrer modernisierungstheoretischen Perspektive auf den Zusammenhang zwischen existenzieller Sicherheit und Säkularisierung (insbesondere der des Subjekts), welchen sie mit einer beachtlichen Menge an quantifizierenden Daten demonstrieren. Zu seiner Erklärung schlagen sie eine Theorie vor, in der sie zu zeigen versuchen, wie der Säkularisierungsprozess durch existenzielle Sicherheit angetrieben wird bzw. durch ein Fehlen derselben ausbleibt, somit auch von existenzieller Sicherheit abhängig ist. Diese Theorie verdient eine breitere fachliche Diskussion, gerade auch im Dialog zwischen sozialpolitischer und religionssoziologischer Forschung. In dem Beitrag wird sie vor dem Hintergrund eigener, fallrekonstruktiver Forschung zur Säkularisierung der individuellen Lebensführung (auch eigener sozialpolitischer Forschung) betrachtet. Vor diesem Hintergrund erscheint eine ganze Reihe von Punkten an Norris und Ingleharts Theorie als kritikwürdig, selbst wenn man wie in diesem Beitrag davon ausgeht, dass es den behaupteten Zusammenhang zwischen existenzieller Sicherheit und Säkularisierung gibt. Es wird ein alternatives Erklärungsmodell vorgeschlagen. Auf seiner Folie werden abschließend ungenutzte Potenziale existenzieller Sicherheit in den entwickelten Sozialstaaten unserer Zeit in den Blick genommen.
Mit Durchführung der Schröderschen Arbeitsmarktreformen ist der schon einmal in den 1980er Jahren diskutierte Vorschlag eines bedingungslosen Grundeinkommens und die mit ihm verbundene Diagnose einer »Krise der Arbeitsgesellschaft« in die reformpolitische Debatte zurückkehrt. Sie bilden eine sich zunehmend artikulierende »Antithese« zu dem in Deutschland von der rot-grünen Bundesregierung eingeführten Modell der »aktivierenden Arbeitsmarktpolitik«, das unter anderem eine Kultur des Misstrauens gegenüber Arbeitslosen institutionalisiert hat. Vor diesem Hintergrund versammelt das vorliegende Buch sozialwissenschaftliche Diskussionsbeiträge. Im Anschluss an eine Rekapitulation und Neuformulierung dieser Diagnose, die in Deutschland erstmals von Hannah Arendt prononciert formuliert wurde und nun wie eine »Wiederkehr des Verdrängten« eine Renaissance erfährt, folgen darauf bezogene zeitdiagnostische Fallrekonstruktionen sowie Beiträge zu Fragen der Realisierung des Grundeinkommensvorschlags. Enthält Beiträge von Olaf Behrend, Eva Daniels, Thomas Franke, Manuel Franzmann, Achim Greser, Heribert Lenz, Matthias Jung, Ingmar Kumpmann, Jörn Lamla, Wolfgang Ludwig-Mayerhofer, Matthias Müller, Ulrich Oevermann, Michael Opielka, Andé Presse, Gerhard Schildt, Ariadne Sondermann, Johannes Suciu, Yannick Vanderborght, Philippe Van Parijs, Georg Vobruba, Götz W. Werner.
In Hinblick auf die Hypothese von der "Krise der Arbeitsgesellschaft" lassen sich zwei Erklärungsvarianten unterscheiden. Die erste Gruppe von Krisendeutungen diagnostiziert eine aus der Rationalisierungsdynamik resultierende, quasi naturwüchsige Dynamik zum Sinken des Arbeitsvolumens, hält diese Entwicklung aber mit dem Selbstbild der Arbeitsgesellschaft für vereinbar. Die zweite Gruppe macht andere Faktoren für die strukturelle Massenarbeitslosigkeit verantwortlich: die demografische Entwicklung, die gestiegene Erwerbsbeteiligung von Frauen, einen größeren Bedarf an Teilzeitarbeit, überzogene Tarifabschlüsse der Gewerkschaften und die Globalisierung. Die Vertreter dieser Gruppe glauben nicht, dass die Rationalisierungsdynamik zu einer Schrumpfung des Arbeitsvolumens führt. Der Verfasser diskutiert beide Varianten und entwickelt die Hypothese, dass sich infolge der Diskussion um die "Krise der Arbeitsgesellschaft" und den Grundeinkommensvorschlag kulturelle Abwehrformationen aufgebaut haben, die die habituelle Wertbindung an Erwerbsarbeit als Normalmodell verteidigen, wobei Methoden zur Anwendung kommen, die psychodynamischen Abwehrmechanismen ähneln. (IAB)
Der Thüringische CDU-Ministerpräsident Dieter Althaus kombiniert in seinem Reformentwurf eines "Solidarischen Bürgergelds" den Ansatz eines bedingungslosen Grundeinkommens mit einer einheitlichen Kranken- und Pflegeversicherungsprämie. Diese Kombination wird analysiert, da aus ihr eine bemerkenswerte Problemlösung resultiert, die außerdem aufschlussreich ist im Hinblick auf die in der heutigen sozialpolitischen Reformdebatte verstärkt diskutierte Frage der Kombination des Grundeinkommensansatzes mit anderen Reformelementen.
"Das soziologische Forschungsprojekt 'Praxis als Erzeugungsquelle von Wissen', aus dem die in diesem Aufsatz dargestellten Forschungsergebnisse hervorgegangen sind, untersucht, wie sich in der praktischen Bewältigung der Adoleszenzkrise Erfahrung konstituiert und an diesem privilegierten Ort der Entstehung des Neuen gesellschaftliche Transformationsprozesse in Gang kommen. In der Phase dieser Krise muss sich das sich bildende Subjekt gegenüber den drei unvermeidbaren Bewährungsdimensionen des Lebens - individueller Leistung in einer Berufsarbeit, zukünftiger Elternschaft und dem zu Gemeinwohl zu leistenden Beitrag als Staatsbürger - stabil positionieren. Datengrundlage der Untersuchung bilden nichtstandardisierte Interviews mit Adoleszenten, die mit der Methode der objektiven Hermeneutik ausgewertet werden. Wir möchten in dem Aufsatz die Frage erhellen, inwiefern sich die Krise der Arbeitsgesellschaft in diesen Adoleszenteninterviews abbildet. Zu diesem Zweck sollen drei Fälle exemplarisch vorgestellt werden, indem wir jeweils kurz die Fallkonstruktion skizzieren und dann auf dieser Grundlage fragen, wie diese Adoleszenten jeweils reagieren würden, wenn sie dauerhaft keine Arbeit fänden, und welche Folgen es je konkret für ihr Leben hätte, wenn es ein bedingungsloses Grundeinkommen gäbe." (Textauszug, IAB-Doku)