'Freiwillige Armut' - Zum Zusammenhang von Askese und Besitzlosigkeit
In: Handbuch Armut und Soziale Ausgrenzung, S. 199-213
Der Autor zeigt mit jüdisch-christlichen und klassisch-antiken Quellen zwei Traditionslinien abendländischen Denkens auf, in denen eine freiwillig auferlegte Armut zum einen die Nachfolge in der Tradition der Menschwerdung und Besitzlosigkeit Christi, zum anderen der bewusste Schritt heraus aus der Besitzergreifung durch externe Mächte ist. In der Geschichte des Christentums erfährt diese freiwillige Armut im asketischen Mönchstum mehrfach eine neue Ausrichtung: Die Waldenser-Bewegung oder die Franziskaner begründeten z. B. eine Armutsbewegung als eine freiwillig gelebte Praxis der Heilssuche unter Vernachlässigung bzw. Aufgabe des eigenen wirtschaftlichen Wohls. Diese Bewegung trat in faktischen Widerspruch zu den dominierenden Kräften im mittelalterlichen "ordo", die das eigene Wohl explizit im Blick hatten - ein Widerspruch, der zunächst durch den Almosen-Fürbitte-Tausch gestaltet wurde. Im Umbruch des 15./16. Jahrhunderts brechen diese Widersprüche mit der Etablierung von Geldwirtschaft und Fernhandel auf, die Armutsbewegung wird stärker reguliert und damit in ihrer Bedrohlichkeit für diese neue Zeit gemäßigt. Das Moment der mit Besitzlosigkeit stets verbundenen Askese wird in der modernen Waren produzierenden Gesellschaft in ein Arbeitsethos überführt, das zur Quelle von Reichtum wird, allerdings um den Preis seines Nichtverzehrs: Investiert werden kann nämlich nur, was nicht anders verbraucht wird. Die Askese wirft aus dieser Perspektive die Frage nach der Macht über den eigenen Körper und nach der eigenen Lebensführung auf. (ICI2)