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Wird die DATI-Gründung doch noch zur Erfolgsgeschichte? Was das Ministerium von Bettina Stark-Watzinger endlich richtig macht, welche Unsicherheiten bleiben – und was vorher alles falsch lief: eine aktuelle Bestandsaufnahme.
Bild: Krill_makes_pics / Pixabay.
ALS KURZ VOR WEIHNACHTEN die Entscheidung für Erfurt fiel, war kaum einer überrascht. Dass die geplante Deutsche Agentur für Transfer und Innovation (DATI) in der thüringischen Landeshauptstadt angesiedelt werden könnte, machte schon monatelang die Runde, bevor das BMBF im Oktober 2023 die Besetzung der DATI-Gründungskommission bekanntgab. Zu deren Aufgaben die Entwicklung von Vorschlägen unter anderem für den Standort gehören sollte.
Ein Zeichen dafür, dass die Kommission, bestehend aus 16 Experten aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, tatsächlich mehr Feigenblatt als Impulsgeber ist, der Scheinlegitimation bereits feststehender DATI-Pläne im BMBF dient? Zu einer solchen Vermutung konnte auch kommen, wer eine interne, inhaltlich durchaus gelungene Arbeitsversion des Agenturkonzepts las, die – datiert auf den 27. September 2023 – schon für den November die Befassung des Bundeskabinetts mit dem finalen Konzept vorsah. Auch an der Zusammensetzung des Gremiums gab es Kritik vor allem von den HAWs, die sich als Urheber der DATI-Idee seit langem zunehmend an den Rand gedrängt fühlten.
Viel Optimismus und gute Stimmung
Inzwischen hat die Gründungskommission sich viermal getroffen, sie hat Arbeitsgruppen unter anderem zu Governance und Förderformaten gebildet, und wer jetzt in die Gruppe der 16 hineinhorcht, erlebt erstaunlich viel Optimismus und gute Stimmung. Man ist ins Arbeiten gekommen, der Konflikt zwischen HAWs und Universitäten ist nicht weg, aber leiser (siehe auch Kasten), man fühlt sich vom BMBF ernstgenommen, und falls es im Ministerium einst den Plan gegeben haben sollte, die Empfehlungen der Kommission als netten Beischmuck abzutun, ist es damit definitiv vorbei.
Was auch daran zu erkennen ist, dass das BMBF das Bundeskabinett bis heute eben nicht mit einem fertigen Konzept befasst hat. Währenddessen hat die Gründungskommission den Text der Ausschreibung für den wissenschaftlichen Chefposten der DATI fertiggestellt und in ihrer vierten Sitzung am Dienstag beschlossen. Sobald der Bundeshaushalt steht, dürfte sie veröffentlicht werden. Und was die Standortwahl angeht: Zwar hat diese am Ende wie vorgesehen die Politik getroffen. Aber zuvor hatte die Kommission Erfurt selbst auf ihre in einem mehrstufigen Verfahren entstandene, in geheimer Abstimmung verabschiedete finale Vierer-Vorschlagsliste gesetzt, weil die Stadt – neben anderen – etwa in Sachen Erreichbarkeit und wirtschaftlichem Umfeld einfach gut passte. Die Konkurrenten waren Bochum, Dortmund und Potsdam.
"Das BMBF befindet sich in der Finalisierung des Konzepts und wird dies nach der Koordinierung mit den Ressorts dem Kabinett vorlegen", teilt eine Sprecherin auf Anfrage mit. Die Verzögerung begründet sie mit der laufenden Pilot-Förderrichtlinie DATIpilot. Das Konzept solle deren Erkenntnisse, "insbesondere im Rahmen des Bewerbungs- und Auswahlverfahrens, substanziell mit miteinbeziehen und wurde entsprechend erweitert".
Was unterwegs alles schiefging
Nach mittlerweile fast zwei Jahren Irrungen und Wirrungen um die DATI, angefangen mit den ersten, "Grobkonzept" genannten Eckpunkten des damaligen BMBF-Staatssekretärs Thomas Sattelberger (FDP) im März 2022, könnte es also doch noch ein Happy End geben. Mit der Gründung nicht irgendeiner Agentur, sondern einer Einrichtung, die wirklich Neues ermöglicht, vor allem andere Entscheidungsverfahren in der Transfer- und Innovationsförderung. Wie bitter nötig ein solcher unabhängig vom Ministerium agierender Player wäre, zeigt ausgerechnet die vom Ministerium über weite Strecken verpeilte DATI-Konzeptions- und Gründungsphase. Denn dass es jetzt besser läuft, kann nicht über die vielen Prozessfehler zuvor hinwegtäuschen.
o Nach dem Vorpreschen Sattelbergers und seinem Abschied als Staatssekretär Mitte 2022 versuchte sein Nachfolger Mario Brandenburg (ebenfalls FDP) zunächst, Struktur ins Verfahren zu bringen und die Community über verschiedene Konferenzen und Formate zu beteiligen. An sich gut, doch blieben die Erwartungen etwa zwischen HAWs und Universitäten konträr, und der Handlungsdruck aus der Wissenschaftsszene stieg weiter an, je länger konkrete Ansagen auf sich warten ließen.
o Um Dampf aus dem Kessel zu nehmen, kündigte Brandenburg im November 2022 eine aus zwei Modulen bestehende Pilotförderlinie an, um bereits Förderformate zu testen und Fördergelder zu vergeben, bevor die DATI überhaupt existierte. Ähnlich war das BMBF in der vergangenen Legislaturperiode vor Gründung der Bundesagentur für Sprunginnovationen (SPRIND) vorgegangen.
o Statt spätestens mit Ankündigung von "DATIpilot" die Gründungskommission einzuberufen, dokterte man fast ein weiteres Jahr am Gründungskonzept herum, was angesichts der jetzt erkannten Bedeutung der Kommission als weiterer Zeitverlust einzustufen ist. Als die Gründungskommission schließlich berufen wurde, blieb das Verhältnis zwischen ihrem Wirken und den konzeptionellen Arbeiten im BMBF zunächst unklar.
o Die Förderlinie, die dann erst Anfang Juli 2023 ausgeschrieben wurde, nahm wiederum mehr Zeit als geplant in Anspruch, verschärft durch eine Fehleinschätzung im BMBF zu ihrer Resonanz. Die erfreulich große Themenoffenheit bei der Ausschreibung und die hohe Projektdotierung (150.000 Euro, bei zwei Partnern 300.000 Euro) resultierten beim Modul "Innovationssprints" in knapp 3000 Antragsskizzen, die im Rahmen einer Vorauswahl erst mühsam auf 600 Bewerbungen heruntergebracht werden mussten. Fast alle davon präsentieren sich noch bis Februar in Form innovativer Roadshows. Dabei soll es insgesamt 150 Publikumssieger geben, erste Förderzusagen davon sind schon raus, weitere 150 Projekte werden Anfang März per Losverfahren bestimmt.
o Das BMBF brauchte so viel Zeit für Konzept und "DATIpilot", dass es 35 DATI-Millionen aus dem Haushalt 2023 verfallen ließ, denn der Bundestagshaushaltsausschuss hatte für deren Entsperrung das Vorliegen eines "schlüssigen Konzepts" verlangt. Angesichts der enormen Resonanz auf die "Innovationssprints"-Ausschreibung hätte die Community das Geld gut nutzen können. Eine BMBF-Sprecherin teilt mit, die benötigten Mittel stünden vorbehaltlich der Beschlussfassung über den Bundeshaushalt 2024 zur Verfügung. Die 2023-Millionen sind also passé. Und die geplanten 78,8 Millionen für 2024 könnten knapp werden.
o Positiv: Wie der Wissenschaftsjournalist Manfred Ronzheimer im Tagesspiegel Background berichtete, wurde nach der überraschend hohen Bewerberzahl der Fördertopf auf 90 Millionen Euro verdreifacht. Negativ: Die Roadshows fanden unter Ausschluss der Medien statt, laut Ronzheimer verweigerte das BMBF "aus Datenschutzgründen" sogar die Auskunft, welche Projekte bereits eine Förderzusage erhalten haben.
o So erfreulich anders die Endauswahl bei den "Innovationssprints" lief, so wenig transparent war die Vorauswahl. Die Ausschreibung nannte als Kriterien die "Originalität", die "gesellschaftliche Relevanz" und die "Umsetzbarkeit in der gegebenen Zeit", doch zu ihrer konkreten Operationalisierung macht das BMBF auch auf Nachfrage keine Aussage. Die aufgeführten Kriterien seien "so angelegt, dass sie eine themenoffene und gleichzeitig qualitativ überzeugende Auswahl von Projekten gewährleisten", heißt es. Sie seien mit gleicher Gewichtung in die Bewertung der Kurzskizzen eingeflossen. Als "grundsätzlich förderwürdig" seien Projektideen eingestuft worden, die alle drei Kriterien sehr gut erfüllten. Aber was genau bedeutet das? Wie erkennt man Originalität? Die, so BMBF, "strukturierte Vorauswahl sei durch den Projektträger Jülich umgesetzt worden, "in enger Abstimmung" mit dem Ministerium, "wie es bei der Umsetzung vieler BMBF-Förderrichtlinien üblich und bewährt ist". Tatsächlich sind aber auch bei BMBF-Ausschreibungen sehr häufig Peer-Review-Verfahren einbezogen.
Warten auf den Bundeshaushalt
Vielleicht führt der Plan des BMBF, Erkenntnisse aus "DATIpilot" noch ins erweiterte Konzept einfließen zu lassen, ja auch genau dazu, die Unzulänglichkeiten der bisherigen Prozesse zu erkennen – die Empfehlungen der Gründungskommission möglichst vollständig umzusetzen und anschließend der Agentur möglichst freie Hand zu lassen. Der diesbezügliche Optimismus unter etlichen der 16 Experten spricht für das Ministerium von Stark-Watzinger und dessen eigene Lerneffekte.
Eigentlich bis März, voraussichtlich aber eher bis April will die Kommission ihre Arbeit abschließen. Dann könnte auch bereits feststehen, wer die DATI führen wird. Eine große Unsicherheit bleibt jedoch: Erst Anfang Februar steht der BMBF-Haushalt für 2024 endgültig. Und was ist, wenn die DATI im Laufe des Jahres doch noch vom zusätzlichen 200-Millionen-Spardruck durch die Globale Minderausgaben betroffen wird? Die Ministerin und ihr Staatssekretär Mario Brandenburg werden den zuletzt so erfolgreichen Vertrauensaufbau energisch fortsetzen müssen.
Wie es bei "DATIpilot" weitergeht
Auch beim Modul "Innovationscommunities" hat es mit über 480 derart viele eingereichte Skizzen gegeben, dass sich das Auswahlverfahren zieht und wieder eine rekordverdächtig niedrige Bewilligungsquote entstehen dürfte. Denn eigentlich sollen nur zehn zum Zuge kommen, für die es jeweils bis zu fünf Millionen Euro für die Dauer von vier Jahren geben soll.
Im Frühjahr soll die Vorauswahl laufen, analog zu den Sprints. Doch es geht anders weiter. Die 70 verbliebenen Antragsteller mit den am vielversprechendsten eingestuften Skizzen sollen im April zu einer Präsentation vor dem BMBF und einer extern
besetzten Jury eingeladen werden. "Auf Basis der Vorbewertung und der Bewertung der Präsentation erfolgt die finale Auswahl" erläutert das BMBF, mit Entscheidung und Förderzusage werde Ende April gerechnet. Die ausgewählten Communities können dann von Mai an formale Förderanträge für konkrete Projekte stellen.
Der Ärger vieler HAWs, sie seien als Ideengeber der DATI von den Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen an den Rand worden, schien zuletzt anhand einer Quote von über 40 Prozent bei Bewerbungen und erfolgreicher Vorauswahl ein Stückweit abzukühlen.
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Journalismus auf dem Prüfstand. Der Journalismus wie auch der Prüfstand, beide sind in Verruf geraten. Dem Journalismus wird vorgeworfen, dass er lügt oder manipuliert. Und dass Autos mancher Fabrikate auf den Prüfstand manipulierte Emissionswerte präsentiert haben, ist bekannt. Es soll hier in dieser Ausgabe allerdings nicht um Fälschungen und gezielte Desinformation zur Destabilisierung politischer Institutionen und Sicherheiten gehen, wie sie aktuell unter dem Schlagwort Fake News durch die öffentliche Debatte gehen. Die Idee für dieses Heft liegt länger zurück, und es ist unser Anliegen, den aktuellen Stand des Journalismus kritisch anzuschauen. Leidet er, und wenn ja, woran? Kann er Wirkung entfalten? Ist er noch notwendig und noch zeitgemäß? Den Journalismus, gibt es den überhaupt? Sind das die Lokaljournalistinnen und -journalisten, die für die wenigen noch existierenden Lokalzeitungen über die Skandale der kommunalen Abfallwirtschaft berichten? Oder 'die Meute' – wie im gleichnamigen Film von Herlinde Koelbl –, die ein Foto oder Statement nach der Nachtsitzung des Kabinetts zu erhaschen versucht? Oder die 'Alpha'- Journalistinnen und -Journalisten, die mit Politikerinnen und Politikern am Kamin teuren Wein schlürfen? Die investigativen Datenjournalistinnen und -journalisten, die aus Millionen von Dokumenten einen Skandal namens Panama Papers herauspräparieren? Kann man aus der Tatsache, dass es Zeitungen, und vor allem Lokalzeitungen, wirtschaftlich schlecht geht, schließen, dass der Journalismus mittlerweile ins Internet abgewandert ist? Werden nur noch kostenfreie oder Light-Varianten von Information wahrgenommen und bevorzugt? Oder geht das Ergebnis journalistischer Kleinarbeit am Publikum vorbei, weil es die Zuspitzung auf 140 Zeichen einer differenzierten Analyse vorzieht? Vom langsamen Niedergang der Lokalpresse Vor mittlerweile acht Jahren hat Jeff Jarvis (2009) die Wende von der Zeitungskultur zu den Blogs vorhergesagt und zugleich propagiert. Von Google zu lernen, so Jarvis (2009), hieße "Do what you do best and link to the rest". Für den Journalismus habe das die Konsequenz, dass man nur noch wenige brauche, nur noch den oder die besten. Der oder die beste solle sich eben im Internet vermarkten und den Rest dem Markt, sprich Google, überlassen. 'The winner takes it all' – und die restlichen Journalistinnen und Journalisten sind seither wie vorhergesagt zu einem Leben am Existenzminimum verdammt. Was Jarvis weniger in den Blick nahm, war die gesellschaftliche Rolle und Bedeutung des Journalismus. Wenn nur das erfolgreiche Geschäftsmodell zählt, ist Google der Leitstern. Wer Berichterstattung aber als eine gesellschaftlich relevante Aufgabe ansieht, ist nicht unbedingt zu blöd dazu, sich diesem gnadenlosen Geschäftsmodell zu unterwerfen. Er setzt womöglich andere Prioritäten. Jarvis war der erste Prophet in einer Branche, die etwas rascher in den Sog der Zerstörung geraten ist als andere Branchen, die seither vom Silicon Valley ausgehend filetiert werden. Branchenübergreifend hat der Internet-Skeptiker Jaron Lanier diesen Zerstörungsprozess, der uns heute überrollt, an vielen Branchen beschrieben und systematisch analysiert. Für seine Analyse, vor allem in seinem Buch Wem gehört die Zukunft (2014), wurde er im gleichen Jahr mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Der Dortmunder Zeitungsforscher Horst Röper – die Instanz, wenn es um die kritische Beobachtung der Presse geht – wurde in jahrelanger Mühe nicht müde, von der Monopolisierung der Lokalpresse zu berichten, die mittlerweile zu einer weitgehenden Monokultur in der Berichterstattung geführt hat. Auch die Auflage der gedruckten Zeitungen ist kontinuierlich über die Jahre gesunken: von 27,3 Millionen im Jahr 1991 auf 15,3 Millionen im Jahr 2016 (vgl. Statista 2017). Röper hat all die Probleme frühzeitig benannt, vor denen die Vielfalt und Lebendigkeit der Lokalberichterstattung mittlerweile kapituliert hat. Im Jahr 2013 resümierte er: "Journalismus ist nicht mehr erstrebenswert. Ich rate allen, tut euch diesen Beruf nicht an" (Presseportal 2013). Die knappen historischen Schlaglichter lassen die jüngsten Vorwürfe der 'Lügenpresse' in einem anderen, sprich wirtschaftlichen Licht erscheinen. Die Krise des Journalismus begann nicht erst mit dem Vorwurf der Lügenpresse, er ist auch nicht ihr einziges Problem. Die Arbeitsbedingungen von Journalistinnen und Journalisten sind in den letzten Jahren kontinuierlich schlechter geworden. Die 318 Lokalzeitungen mit ihren 11,8 Millionen Lesenden haben immer noch eine weit größere Bedeutung als die sieben überregionalen Tageszeitungen mit ihren eine Millionen Lesenden (vgl. BDZV 2017). Die meisten Zeitungen sind mittlerweile online. Wer sein Augenmerk nur auf aufmerksamkeitsheischende Nachrichtenhypes in sozialen Netzwerken richtet, macht sich die Reichweite und Wichtigkeit dieser Berichterstattung nicht hinreichend klar. Laut des Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) werden die Angebote der Tageszeitungen gedruckt und online von täglich 60 Millionen (!) Menschen in Deutschland (also drei von vier der Über-14-Jährigen) rezipiert. Mehrere Studien zeigen unabhängig voneinander, dass das Vertrauen auch der jungen Menschen in die Tageszeitungen gerade bei widersprüchlichen Informationen sehr hoch ist (vgl. ebd.; Feierabend et al. 2016). Der Lokaljournalismus hat dem großen Heer von Journalistinnen und Journalisten Arbeit und Brot gegeben. Für ihn gelten andere Regeln als für die überregionale Berichterstattung, etwa der Tagesschau, der Süddeutschen Zeitung oder in politischen Magazinen (siehe das Interview mit Goodwin 2017 in dieser Ausgabe). Lügenpresse und Vertrauensverlust Während die einen Lügenpresse skandieren und wachsendes Misstrauen und offenen Hass genießen, arbeiten die so geschmähten investigativen Journalistinnen und Journalisten, wie die Lux Leaks, unermüdlich daran, skandalöse Finanzverflechtungen oder Machtmissbrauch und die Steuerhinterziehung prominenter Fußballer ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen. Wie passt das zusammen? Wer sich für den Vorwurf der Lügenpresse interessiert, wird im Wikipedia-Eintrag 'Kompositum aus der Gruppe der Determinativkomposita' fündig. Die Geschichte ist lesenswert. Es ist erstaunlich, in welchen Zusammenhängen diese Anschuldigung von politischen, auch antiklerikalen Gegnerinnen und Gegnern schon seit dem 17. Jahrhundert und später massiv mit dem Bedeutungsgewinn der Presse im 19. Jahrhundert benutzt wurde. Keineswegs hatten in der Geschichte rechte Kreise ein Monopol auf diesen Begriff, er wurde von allen Seiten benutzt. Hauptsache, es ging gegen 'das System'. Wohl aber reklamieren es rechte Kreise seit dem 21. Jahrhundert. Lügenpresse hat so gut wie nichts mit der Wahrhaftigkeit des Journalismus zu tun. Vielmehr geht es – und ging es in der Vergangenheit – darum, gezielt das Vertrauen in die Berichterstattung der Medien zu erschüttern. Das Ansinnen scheint auch teilweise gelungen. Mehrere Umfragen aus dem Jahr 2015 belegen, dass das Vertrauen in die Berichterstattung der Medien gesunken ist (siehe Krüger 2017 in dieser Ausgabe). Das schleichende Gift des Misstrauens und der Zersetzung zeigt also Wirkung, auch in Deutschland. Der Vertrauensverlust geht über die Medienberichterstattung hinaus und betrifft auch die Politik insgesamt, der viele Menschen nicht mehr zutrauen, Probleme lösen zu können.In den USA scheint dieser Prozess weiter fortgeschritten zu sein. Wenn Trump sich anschickt, große Politik mit Hilfe von Tweets zu machen und der freien Presse und der kritischen Öffentlichkeit den Kampf ansagt, bis hin zum Schritt, den Quellenschutz abschaffen zu wollen (vgl. z. B. Richter 2017), dann weist diese Missachtung in dieselbe Richtung wie die Lügenpresse-Vorwürfe: Die vierte Gewalt soll mundtot werden. Vertrauen ist die Währung, von der die Macht der Presse und die Pressefreiheit leben. Wer ist die vierte Gewalt? Die Presse schlägt zurück, die Auflage der New York Times ist seit Trump in die Höhe geschnellt, und neue Stellen für den Faktencheck und die Demaskierung von Desinformation sind eilig eingerichtet worden. In Deutschland ist das Verhältnis von Presse und Politik entspannt, aber deshalb noch lange nicht im grünen Bereich. Die Verbrüderung der Alpha-Journalistinnen und -Journalisten mit den Politikerinnen und Politikern führt schon allzu lange zu unguten Machtverschiebungen in den Säulen der Gewaltenteilung. Medienmenschen halten sich gelegentlich für die besseren Politiker. Die BILD-Zeitung gerierte sich als die wahre Hüterin der Demokratie, als sie – angeblich im Dienst einer schonungslosen Verpflichtung zur Wahrheit (und nichts als der Wahrheit) – den Bundespräsidenten Wulff zur Strecke brachte. Angesichts des unrühmlichen Endes kann man die Vorverurteilung als Angriff auf verfassungsmäßige Institutionen werten. Und das Publikum applaudierte der Treibjagd. Nicht alle Zeitungen gaben sich dem Zeitungssterben klaglos hin. Manche intensivieren gerade den journalistischen Anspruch, der teuer zu halten ist. Die New York Times ist in den 'postfaktischen' Trump-Zeiten ein Beispiel für den Anspruch an Wahrhaftigkeit. Auch die Süddeutsche Zeitung hat sich – ähnlich wie andere renommierte internationale Tageszeitungen in der Krise sinkender Werbeeinnahmen und Abonnentenzahlen – entschlossen, nicht an der journalistischen Qualität zu sparen, sondern sich auf die Kernwerte des Journalismus zu besinnen: Seriöse und gelegentlich aufwändige Hintergrundberichterstattung, Einordnung der Fakten und Verdichtung zu aufwändigen Reportagen. Fällt es den verbitterten Lügenpresse-Rufern denn überhaupt noch auf, wenn internationale Kooperationsnetzwerke für investigative Recherchen die Skandale um die Panama Papers ans Licht bringen oder in der Hochzeit der Lügenpresse-Anschuldigungen Interviews mit PEGIDA-Anhängerinnen und -Anhängern führen, die vormals treue Süddeutsche Zeitung-Lesende waren und ihre differenzierte Sicht darstellen? Zwei von vielen Beispielen, die zeigen, dass sich meinungsrelevante Mainstream-Medien keineswegs immer nur mit dem System arrangieren. Den Lügenpresse-Vorwurf zu dekonstruieren bedeutet nicht, die Massenmedien vom Vorwurf gezielter systematischer Meinungsbeeinflussung freizusprechen. Eine ganze Reihe von Faktoren führen zu einseitiger Berichterstattung und müssen als Gründe für den Vertrauensverlust ernst genommen werden. Uwe Krüger hat diese unter dem Begriff der Mainstream-Medien – in der gleichnamigen Publikation (2015) – analysiert und detailliert beschrieben (mehr dazu und zu möglichen Konsequenzen für medienpädagogische Arbeit siehe Krüger 2017 in dieser Ausgabe). Die Rolle sozialer Netzwerke bei der politischen Meinungsbildung Es ist eine Aufgabe des guten Journalismus, Geschehnisse und Fakten in größere Zusammenhänge einzuordnen. Gerade in unsicheren Zeiten und angesichts wachsender Komplexität der Zusammenhänge sollte aktuell der Bedarf an Erklärung und Einordnung besonders groß sein. Kann dieser Anspruch von anderen Medien als den tradierten Massenmedien wahrgenommen werden? Es spricht einiges dafür, dass die verfassungsmäßige Wahrnehmung der Pressefreiheit und der vierten Gewalt nicht durch Twitter, Facebook, Apple und Google kompensiert werden kann. Wie sich immer wieder zeigt, haben diese Konzerne kein verfassungsrechtliches Verständnis von ihrer Rolle, und Bedeutung für ein demokratisches Staatswesen und für die Presse. In Konfliktfällen haben sie sich oft aus der Verantwortung gezogen und sich auf die Seite der herrschenden Politik gestellt, wie es gerade aktuell Apple mit der Sperrung der App der New York Times in China getan hat (vgl. Kreye 2017). Die mächtigen Kommunikations- und Informationsplattformen im Internet, bei denen die stärksten Nachrichten- und Kommentarflüsse und damit ein wesentlicher Teil der Meinungsbildung vonstatten gehen, verstehen sich nicht als verfassungsmäßige Gewalt, sondern als international agierende privatrechtliche Konzerne. Viele Hinweise der Vergangenheit zeigen diese Tendenzen im Selbstverständnis, wobei sich das allerdings auch ändern könnte, wie eine aktuelle Maßnahme von Facebook zeigt (vgl. z. B. Jannasch 2017). Fake News, über die sich genügend Nutzende beschwert haben, will Facebook demnächst durch einen Hinweis kenntlich machen, der auf den mangelnden Wahrheitsgehalt hinweist. Eine (in Zahlen: 1!) Stelle wird eingerichtet, die die Informationen nachrecherchiert und bereitstellt. Es bleibt abzuwarten, ob Facebook eher daran gelegen ist, die drohende Gefahr eines geschäftsschädigenden Schmuddel-Image abzuwehren oder ob es den Wandel zu einem seriösen journalistischen Unternehmen anstrebt. Hat Facebook verstanden, dass Vertrauen eine Basis fürs Geschäft ist? Algorithmen statt Redaktion Zur Verschärfung des Problems im Umgang mit der Komplexität und Problematik des Einordnens trägt der schiere Umfang an Nachrichten und Kommentaren im Internet bei. Algorithmen bei den Internetanbietern sortieren die Informationen, die Nutzenden vor Augen kommen, und zwar nicht nach journalistischen Kriterien der Relevanz. Algorithmengesteuert kommt Rezipierenden immer mehr von dem unter die Augen, was sie in der Vergangenheit angeklickt haben. Wenn Nutzerverhalten und alles, was der eigenen vorgängigen Meinung entspricht, zum Maßstab der Selektion wird, läuft die beste journalistische Arbeit, und sei sie noch so sorgfältig und wahrheitsgemäß, ins Leere (siehe Rohde 2017 in dieser Ausgabe). Den eigenen Voreinstellungen Widersprechendes wird ausgeblendet, bevor Rezipierende es überhaupt zur Kenntnis nehmen können. Wo zuvor irritierende Informationen kognitive Dissonanzen und damit Denk- und Suchprozesse auslösen konnten, bekäme nun Bildung nicht einmal mehr eine Chance. Sozialpsychologisch wäre dies der Weg des geringsten kognitiven Aufwands und begünstige Denkfaulheit. Ein solches Nachrichtenuniversum, bestehend aus Vorurteilen und ihrem medialen Pendant, den Filterbubbles, wäre eine zutiefst besorgniserregende Dystopie (siehe Wörz 2017 in dieser Ausgabe). Zugleich wird mit dem Vertrauensverlust in die Massen-, System- oder Mainstream-Medien das Manipulationspotenzial insbesondere sozialer Netzwerke an den Beispielen der Brexit-Entscheidung und der Trump-Wahl deutlich. Die Politikberatungs- und Wahlmanagement-Agentur Strategic Communications Laboratories soll beide Entscheidungen mit Hilfe von Big Data und gezielter Meinungserforschung in den sozialen Netzwerken mit herbeigeführt haben (vgl. Grassegger/Krogerus 2016). Aktuell ist häufig die Rede vom Einfluss durch massenhafte, gezielte und strategisch platzierte Lügen und Desinformation innerhalb der Berichterstattung zur Bildung der öffentlichen Meinung, unter anderem in den Wahlkämpfen der USA, in Frankreich und womöglich auch in Deutschland, etwa durch den russischen Propaganda- Kanal RT (März 2017). Noch fehlen belastbare Beweise, aber Hinweise sind vorhanden und besorgniserregend. Wie anfällig ist die öffentliche Meinung für eine Manipulation in großem Stil? Vermitteln Facebook und Co. politische Informationen, verstärken sie oder verzerren sie diese? Werden soziale Netzwerke als einzige, als wichtige oder als ergänzende Quellen für Informationen genutzt und vielleicht sogar als glaubwürdiger eingestuft als die Mainstream-Medien? Das ist insbesondere für jüngere Mediennutzende eine Frage von eminenter Wichtigkeit. Nur auf der Grundlage empirischer Daten zur Rezeption lässt sich abschätzen, ob die Rolle sozialer Netzwerke für die Meinungsbildung so bedeutsam ist, wie sie oft dargestellt wird, oder ob das möglicherweise einem verzerrten Abbild der Wirklichkeit entspricht, das durch die Resonanz in den Massenmedien verstärkt oder gar erzeugt wird (siehe Hasebrink et al. 2017 in dieser Ausgabe). Hoffnungsschimmer? –Alternative Informationsportale "Es waren einmal ein paar Mutige, die sich trotz aller Widrigkeiten unbeirrbar auf den steinigen Weg machten ...", so in etwa könnte die Geschichte der alternativen Informationsportale beginnen, wenn sie denn ein Märchen wäre. Wer sich die Zeit nimmt, nach Alternativen zum Mainstream zu suchen, wird fündig.
Inhaltsangabe:Einleitung: Der Titel des Diplomthemas enthält drei wesentliche Begriffe: Brandenburg, Sägeindustrie und die Zeiteinteilung von 1850 bis 1990. Folgende Fragen sind also zur Klärung dieser Begriffe zu beantworten: Was ist bzw. wie definiert man Sägeindustrie ? Warum gerade die Sägeindustrie in Brandenburg ? Warum gerade diese Zeit von 140 Jahren behandeln ? Die Sägeindustrie bzw. das Sägehandwerk gehört zur Branche der Holzbearbeitung, diese wiederum zum Grundstoff- und Produktionsgewerbe In der analytischen Literatur und der brandenburgisch-preußischen Geschichte wechselte aber produktionstechnisch und statistisch die Zuordnung zwischen Holzbe- und -verarbeitung. So hielt Hahn 1923 fest, dass man 'von einer Sägeindustrie als selbstständigen Industriezweig ... vor einigen Jahrzehnten noch nicht gesprochen [hat]. ... Es besteht aber heute kein Zweifel mehr, dass man darunter einen besonderen Zweig der Holzindustrie versteht. 'Weitere Wirtschaftsanalysten definierten für die Sägeindustrie wesentliche Faktoren, nämlich mit unterschiedlichen Betriebsformen Sägearbeit zu verrichten, um schwerpunktmäßig Schnittholz einschließlich der Nebenprodukte (Schwarten, Spreißel, Späne) herzustellen. Auch in den Statistiken von Preußen, dem Deutschen Reich und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) wird die Sägeindustrie stets in Zusammenhang mit anderen, dem eigentlichen Schnittvorgang nachgelagerten Be- und -verarbeitungen genannt. Dazu zählen insbesondere die Furnierherstellung, das Hobeln, das Imprägnieren und seit 30 Jahren auch die Herstellung von Holzfaserplatten und Holzspanplatten. Heute wird von einer zweistufigen Produktion gesprochen. Diese Aufzählung zeigt, dass bei der Darstellung der Sägeindustrie nicht bei den 'reinen Sägewerken', also nur den 'sägenden' Betrieben, stehen geblieben werden darf. Es sinnvoll, die einzelnen Produktionsstufen bzw. -verfahren in der Analyse getrennt zu betrachten. Daher wird hier versucht, die Geschichte der Holzbearbeitung darzustellen, mit dem gegenwärtig besonderen Schwerpunkt der schnittholzerzeugenden Werke. Die weitreichend bekannten geschlossenen Wälder Brandenburgs bieten einen nahezu unermesslichen Holzvorrat an vielen verwertbaren Holzarten, z.B. Gemeine Kiefer, Rotfichte, Rotbuche, Stieleiche und andere Werthölzer. Was aber passiert mit dem Stammholz? Verarbeitung in der heimischen Industrie oder im Handwerk, Energiegewinnung oder Export? Die Geschichte zeigt: 'Der Holzreichtum der Provinz Brandenburg sowie die Nähe des großen Verbraucherplatzes Berlin haben eine bedeutende Holzindustrie entstehen lassen. In Brandenburg ist besonders die Sägerei und die grobe Holzverarbeitung ansässig'. Dies verdeutlicht im besonderen Maße, dass sich die brandenburgische Sägeindustrie – aus handwerklicher Sägearbeit – streng standortsgebunden an der Rohstoffbasis entwickelt hat. Auch der Zusammenhang zwischen Produktion und Wirtschaft wird hervorgehoben. Brandenburg war schon immer wichtigstes Rohstoffgebiet für die Expansion und Entwicklung Berlins, zum Bau von Wohnhäusern und Industriebauten, für Kultur- und Gebrauchswaren wurde Holz gebraucht. Auch für die Energieversorgung war Holz dringend notwendig. Diese Beziehung ist annähernd vergleichbar mit der massiven Kohleindustrie und dem Ruhrgebiet am Rhein. Aber gerade das Gebiet mit dem Namen Brandenburg, sowohl geographisch als auch politisch, macht die korrekte Analyse schwierig. Die Bezeichnungen wechselten von Kurmark über Mark, Provinz und Land Brandenburg, Bezirke Cottbus, Frankfurt/ Oder und Potsdam zum Bundesland Brandenburg. Dabei erstreckte sich das Gebiet ständig ändernd auf Teile des heutigen Mecklenburg, Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Polen. Als Grundlage wird deshalb nur das Gebiet des heutigen Bundesland Brandenburg gewählt. Es wird bei den Grenzen der jeweiligen Zeitepoche, bei den einzelnen Kreisen und bei der allgemeinen Entwicklung der brandenburgischen Sägeindustrie verblieben. Es könnte mit der genaueren Betrachtung des Zeitfaktors im Mittelalter begonnen werden, denn im späten Mittelalter erfolgte eine sprunghafte Entwicklung des Handels und des Handwerks, beim Städtebau, Schiffsbau und Bergbau. Eine mechanische Schnittholzerzeugung war daher ein gesellschaftlich notwendiger Prozess. Doch auf der Suche nach einer Definition von Industrie traten verschiedene Merkmale auf. Der Begriff 'industrielle Revolution' wurde mit der Einführung der Dampfmaschine geprägt. 'Unter industrieller Revolution versteht man ... jene Periode, in der sich 1. neue Techniken, speziell die Arbeits- und Energieerzeugungsmaschinen durchsetzten, 2. die natürlichen Rohstoffe Eisen und Kohle erstmalig massenhaft genutzt wurden und somit die organischen Stoffe und Muskelkraft nicht mehr die Produktionsmöglichkeiten begrenzten, 3. das Fabriksystem als Organisationsform arbeitsteiliger gewerblicher Produktion seine Überlegenheit in entscheidenden Wirtschaftszweigen erwies und 4. freie Lohnarbeit die herrschende Erwerbsform der Massen wurde. Dies soll in England in den Jahren 1783-1802, in Deutschland von 1850-1857 eingetreten sein'. Ergebnis der Entwicklung der revolutionären Dampfkraft: 'Von nun an waren die Sägewerke nicht mehr an das Wasser gebunden oder vom Wind abhängig. Ihr Standort kann seither nach solchen wesentlichen Gesichtspunkten wie Verkehrslage, Holzaufkommen oder Holzweiterverarbeitung gewählt werden.' Gleichwohl blieb in Sägewerken die Wasserkraft noch lange Zeit die wichtigste Antriebskraft und die Sägeindustrie ist deshalb als 'Prototyp eines statischen Wirtschaftszweiges bezeichnet worden.' Daher ist es sinnvoll mit der genauen Betrachtung ab dem Jahre 1850 zu beginnen, da sich in dieser Epoche 'Deutschland aus einem Agrarland zu Beginn des Jahrhunderts über ein agrarisch-industrielles Land um 1850 zu einem industriell-agrarischen Staat .. entwickelte.' In den folgenden 140 Jahren fand eine der schnelllebigsten Entwicklungen in der Geschichte der Schnittholzproduktion statt. Hahn stellte 1923 fest, dass 'seit der Einführung der Sägemaschinen .. sich eine vollkommende Abkehr von der Herstellungsart mit der Handsäge vollzogen [hat]'. Die obere Grenze von 1990 beruht darauf, dass Rüberg mit einer Untersuchung der brandenburgischen Sägeindustrie den Zeitraum der letzten 13 Jahre abdeckt. Er untersuchte mittels Fragenbogen alle Betriebe, die er in dieser Branche einordnen und finden konnte und fragte unter anderem nach der Art des Werkes, dem Jahreseinschnitt, der Produktion und dem Absatzgebiet des Betriebes. Er arbeitete 'drei Zentren der Sägeindustrie in Brandenburg' heraus. Wie diese entstanden sind, gilt in dieser Arbeit zu klären. Ziel der Arbeit soll es vorrangig sein, einige Momente der Geschichte der Sägeindustrie speziell in Brandenburg darzustellen. Dabei können nicht alle vielfältigen Beziehungen zum Wirtschafts- und Dienstleistungssystem der Region einbezogen werden, doch muss zunächst der Begriff Sägewerk charakterisiert werden. Schwerpunkte sind daher die Darstellung der Menge der schnittholzerzeugenden Betriebe, ihre Leistungen, Techniken und Bedeutung als Arbeitgeber anhand von Beschäftigtenzahlen, u.a. wichtige soziale Aspekte. Auch sollen die Reaktionen auf politische Entscheidungen, wirtschaftspolitische Veränderungen und technische Neuentwicklungen einbezogen werden. Beispiele von einigen brandenburgischen Sägewerken sollen dies unterstützen. Dabei sind mündliche Aussagen von Zeitzeugen für die Nachwelt bedeutungsvoll. Ergebnis dieser Arbeit ist es, ein Fazit zur Entwicklung der brandenburgischen Sägeindustrie zu ziehen und in Form einer Gegenüberstellung der Vor- und Nachteile von Klein- und Großsägewerk festzuhalten. Es ist hier außerdem zu klären, welche Möglichkeiten es gibt, die Branche in Brandenburg als traditionellen Wirtschaftszweig mit dem Wissen und Konsequenzen aus der Vergangenheit zu erhalten. Als Anregung sollen insbesondere für Klein-, aber auch für Großsägewerke, einige Maßnahmen erläutert werden.Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis: 1.Einleitung und Ziel der Arbeit4 2.Durchführung der Recherchearbeit7 2.1Allgemeine Recherche7 2.2Statistiken der Berufs-, Betriebs- und Gewerbezählungen in Preußen, im Kaiserreich und im Deutschen Reich7 2.3Statistiken in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR)8 2.4Sonstige Quellen8 3.Charakterisierung eines Sägewerkes9 3.1Standort des Sägewerkes9 3.2Die Sägemaschinen eines Sägewerkes11 3.3Die Antriebskräfte eines Sägewerkes 13 3.4Aufbau und Ablauf eines Sägewerk13 4.Die Geschichte der Sägeindustrie in Brandenburg15 4.1Das Sägehandwerk in der Holzindustrie vor 185016 4.21850 - 1918 Das Sägegewerbe im Kaiserreich18 4.31918 - 1945 Die Sägeindustrie in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus32 4.41945 - 1990 Die Holz- und Kulturwarenindustrie in der DDR41 5.Diskussion50 5.1Kleinsägewerk kontra Großsägewerk50 5.2Ausblicke und Möglichkeiten für die brandenburgische Sägeindustrie54 6.Zusammenfassung58 Verzeichnisse60 Anhang66Textprobe:Textprobe: Kapitel 5.1, Kleinsägewerk kontra Großsägewerk: Einige Faktoren eines Sägewerkes wurden in der Charakterisierung im Kapitel 3 erläutert. Sie kann man außerdem in die drei Bereiche Rohstoff-Erzeugnis, Arbeit und Finanzen einteilen. Anhand dieser drei Bereiche wird eine Gegenüberstellung von Kleinsägewerk und Großsägewerk übersichtlicher. In allen Bereichen ergeben sich Vor- und Nachteile, die zeigen, dass beide Betriebsgrößen ihre Berechtigung haben. Zunächst sollen die Vorteile bzw. die Nachteile eines Kleinsägewerkes erläutert werden. Das Kleinsägewerk hat durch seine traditionell historische Lage überwiegend im oder an der Peripherie Rohstoffgebiet Wald den Vorteil, ohne größeren Transportaufwand und -kosten sein Sägeholz zu beschaffen. Mit einem ausreichend großen Rohstoff- und Bezugsgebiet wird i.d.R. die angestrebte Kapazität des Kleinsägewerkes ausgenutzt. Sie beträgt in Brandenburg zwischen 3.000 und 35.000 fm Jahreseinschnitt. Der Sägeholzbedarf wird durch die örtliche Forstwirtschaft größtenteils gedeckt und fördert somit den Absatz in dieser Branche. Aus den Daten von Rüberg geht hervor, dass die brandenburgischen Kleinsägewerke bis zu 90 % brandenburgische Kiefer, Lärche und Fichte bearbeiten. Die Sägeindustrie entstand zumeist aus der Kombination mit einer Weiterverarbeitung. Es wurde also nur Holz eingeschnitten, welches gerade gebraucht wurde und nur Sortimente hergestellt, welche anschließend weiterverarbeitet werden konnten. Heute besteht eine ähnliche Form – die Spezialisierung. Dadurch muss der Sägeholzeinkauf sorgfältiger ausgeführt werden. Er wird den Möglichkeiten des Sägewerkes, entsprechend der technischen Ausstattung, angepasst. Dies ergibt für ein Kleinsägewerk den Vorteil, dass eine hohe Qualität und eine hohe Ausnutzung des Sägeholzes – insbesondere bei den brandenburgischen Werthölzern – erzielt wird. Die kundenorientierte Produktion von einem speziellen Teil der Sortimentspalette deckt den örtlichen Holzmarkt größtenteils ab, überfrachtet ihn aber gleichzeitig nicht. Durch die Spezialisierung und die Angebote der Standardsortimente eines Sägewerkes muss ein Kleinsägewerk nur in solche Sägemaschinen und Förderanlagen investieren, die unbedingt für die Spezialisierung notwendig sind. Auch die folgenden Wartungskosten der Maschinen bleiben im finanziellen und wettbewerbsfähigen Rahmen eines Kleinsägewerkes. Oberstes Prinzip ist die Konkurrenzfähigkeit am Markt zu sichern, zumal die Standardsortimente nur sehr teuer produziert werden können und nur die Spezialisierung konkurrenzfähig ist. In der Regel haben sich die Kleinsägewerke in mehreren Landkreisen niedergelassen, weil Brandenburg nahezu in allen Landesteilen ausreichend Waldflächen besitzt und eine genügende Nachfrage durch die angrenzende Weiterverarbeitung und Bevölkerung vorhanden ist. Die Kleinsägewerke bieten den Vorteil, für die meisten ländlichen Gebiete ohne Konzentration Beschäftigungsmöglichkeiten. Dazu zählen nicht nur die Arbeitsaufgaben im Sägewerk selbst, sondern auch bei den weiterverarbeitenden Betrieben, die meist auf die charakteristischen Schnittholzsortimente zurückgreifen. Der schwerwiegendste Nachteil ist die relativ hohe Abhängigkeit vom regionalen Markt und somit das Risiko, leicht wettbewerbsunfähig zu werden. Die i.d.R. schwache Kapitallage lässt kein oder nur ein geringes Reaktions- und Ausweichvermögen auf wirtschaftliche Veränderungen zu. Folglich sind Kleinsägewerke auf einen gleichmäßigen Produktionszyklus mit stabiler Auftragslage angewiesen. Geschehen kurzfristig unvorhersehbare Entwicklungen, z.B. Naturkatastrophen mit Marktüberfrachtung bzw. ohne Zugriff auf dieses Sägeholz oder ein plötzlicher Preisanstieg des Sägeholzes o.ä., kommen sie in finanzielle Schwierigkeiten. Denn ein Kleinsägewerk muss mit dem gerade erwirtschafteten Gewinn so schnell und so günstig wie möglich neues Sägeholz erwerben, um die Produktion der Sägeholzerzeugnisse weiterzuführen. Fazit: Das Kleinsägewerk ist meist spezialisiert und produziert mit relativ geringem Investitionsaufwand und geringeren Transportkosten hochqualitäts- und kundengerechte Sortimente. Es strukturiert den ländlichen Raum im Arbeits- und Sortimentsangebot. Es unterlieget aber einer hohen regionalen Marktabhängigkeit, einer geringeren Kapitallage und verlangt eine stabile Auftragslage. Ein Großsägewerk strebt eine Kapazität ab einem Jahreseinschnitt von 100.000 fm an, dem das naheliegende Rohstoffgebiet nicht umfassend gerecht wird. Daher müssen die meisten Großsägewerke ihr Sägeholz oft über weite Transportwege beziehen, um ihre Kapazität auszunutzen und ihre Wirtschaftlichkeit zu gewährleisten. Vorteil dabei ist, dass ein Großsägewerk auf möglicherweise billigeres Weltmarktholz (z.B. skandinavisches, russisches oder aus den baltischen Ländern) zurückgreifen und mit den anfallenden höheren Transportkosten kalkulatorisch günstig gegenrechnen kann. Außerdem kann die Holzartenbreite im günstigsten Fall stark erweitert werden, z.B. mit französischer Esche, finnischer Birke oder ukrainischen Ahorn, so dass ein spezieller Markt – auch im Ausland – bedient werden kann. Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass auch etwaige Engpässe aus einigen Holzimportgebieten umgangen werden können. Ein Großsägewerk setzt i.d.R. auf Massen- und Standardware und produziert somit auf Vorrat. Dabei ist es vorteilhaft, auf Nachfrage kurzfristig reagieren zu können. Das Sägewerk kann dadurch größere Schnittholzmengen erzeugen, hat also insgesamt u.a. auch aufgrund der intelligenteren Technik ein größeres Reaktionsvermögen als ein Kleinsägewerk. Um das bevorratete Schnittholz abzusetzen, orientiert sich das Großsägewerk vornehmlich nicht auf den regionalen Markt, sondern weitet sein Absatzgebiet über die Landesgrenzen aus. Der gesamtdeutsche, europäische und überseeische Markt ist daher in vielen Fällen interessanter, als der brandenburgische Markt, wodurch sich wiederum Marktchancen für Kleinsägewerke auf dem Inlandsmarkt eröffnen. Großsägewerke haben oft eine höhere Gewinnspanne. sie können auftragsschwache Zeiten abpuffern und besitzen größere Spielräume, um am Markt besser und stärker aufzutreten. Die Stärke der Sägewerke zeigt sich mit den besseren Bedingungen in den Bereichen Werbung, Angebot und Menge. Mit dem höheren Kapital wird eine höhere Investitionskraft möglich, wie der Einsatz einer vollständigen Automation im Sägewerksbetrieb oder von computergestützten Sägemaschinen, u.a. intelligenten Technologien. Die Produktionsweise eines Großsägewerkes verursacht aber Nachteile. Da die Produktion i.d.R. automatisiert und zeitorientiert vonstatten geht, muss das Sägeholz günstigerweise einheitlich gestaltet sein, welches es in der Natur so gut wie nicht gibt. Der erhöhte Zeitdruck, durch die Wirtschaftlichkeit der Sägemaschinen bedingt, und die bestimmten Kalibrierungsgrenzen der computergestützten Produktion verursachen u.a. einen erhöhten Verschnitt (Rundholzausnutzung 50 bis 55 %, gegenüber in einem Kleinsägewerk mit über 70 %). Qualität, hohe Stammholzausnutzung und Kundenorientierung leiden darunter. Es besteht außerdem ein reales Risiko auf dem bevorrateten Schnittholz sitzen zu bleiben, da die Massen- und Standardsortimente nicht speziell dem Markt angepasst werden können. Dieser kann temporär keine Absatzmöglichkeit bieten. Für den notwendigen Maschinenpark sind meist höhere Investitionskosten aufzubringen, als bei einem Kleinsägewerk. Der schwerwiegendste Nachteil eines Großsägewerkes ist, dass es den ländlichen Raum durch seine Konzentration an Kapazität und damit an den gebundenen Arbeitsplätzen gewissermaßen schädigt. Bei einer Konzentration der Sägeindustrie in einer Region oder in einem Ort in Form eines größeren Werkes, kann zwar eine größere Marktstärke aufgebaut werden, jedoch wird dadurch die Möglichkeit den ländlichen Raum industriell weiter zu entwickeln bzw. zu fördern, vergeben.
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Neue Daten der "nacaps"-Promovierendenbefragung zeigen: Der Anteil der Doktoranden, die ihre Zukunft in Hochschulen und Forschungsinstituten sehen, ist eingebrochen. Woran liegt das? Und was folgt daraus?
Bild: Mohamed Hassan form PxHere.
EINE AKADEMISCHE KARRIERE wird für Promovierende an deutschen Hochschulen deutlich unattraktiver, zeigen neue "nacaps"-Auswertungen des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW). Die Abkürzung "nacaps" steht für "National Academics
Panel Study", es handelt sich um eine regelmäßig wiederholte, deutschlandweit repräsentative Längsschnittstudie über Promovierende und Promovierte. Die Ergebnisse lagen mir vorab vor und sind von Dienstagnachmittag an online abrufbar.
Befragt, in welchem Beschäftigungssektor sie nach Abschluss ihrer Dissertation arbeiten wollen, nannten 2021/22 nur noch 14 Prozent der Doktoranden die Hochschulen, ein Rückgang um acht Prozentpunkte gegenüber 2017/18. Weitere vier Prozent strebten 2021/22 eine Karriere an außeruniversitären Forschungseinrichtungen an, womit sich der Wert von 2017/18 sogar halbiert hat.
Die neuen "nacaps"-Ergebnisse passen zu den Zahlen einer anderen DZHW-Befragung, die im März Debatten in der Hochschulpolitik verursacht hatte. Laut "Barometer für die Wissenschaft", gaben darin 71 Prozent aller befristet beschäftigten Postdocs an, sie hätten in den vergangenen zwei Jahren ernsthaft den Ausstieg aus der Wissenschaft erwogen. Und nur noch 16 Prozent der Promovierenden hatten als Berufsziel die Professur.
Wer in der Hochschulpolitik bislang noch bezweifelte, dass eine Nachwuchskrise in der deutschen Wissenschaft droht, bekommt durch die am Dienstag veröffentlichten "nacaps"-Daten ein weiteres Warnsignal – und das kurz bevor der BMBF-Entwurf einer Novelle des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) abschließend im Bundestag verhandelt wird. Befragt wurden bei "nacaps" in jeder der bislang drei Kohorten mindestens 15.000 Promovierende von über 60 Hochschulen.
"Der akademische Arbeitsmarkt hat sich gedreht"
"Unsere Ergebnisse belegen, dass sich der akademische Arbeitsmarkt gedreht hat", sagt "nacaps"-Leiter Kolja Briedis. "Früher war es ein Arbeitgebermarkt. Jetzt ist es ein Arbeitnehmermarkt." Gerade der hohe Anteil befristeter Arbeitsverträge in der Wissenschaft werde von jungen Forschenden heute viel stärker als Problem thematisiert als vor einigen Jahren. "Sie können es sich leisten, weil in Zeiten des allgemeinen Fachkräftemangels genügend Alternativen da sind."
Abgenommen hat laut "nacaps" auch die Präferenz für den öffentlichen Dienst (acht Prozent statt elf vier Jahre zuvor). Interessanterweise stagniert zugleich aber der Anteil der Promovierenden, die in die Privatwirtschaft wollen (30 versus 29 Prozent). Stark gewachsen ist allein die Gruppe der Unentschlossenen (+12 Prozentpunkte auf 37 Prozent). Die Promovierenden halten sich ihre Entscheidung also offen – aus Unsicherheit oder weil sie das Gefühl haben, es sich leisten zu können?
DZHW-Forscher Briedis sagt: "Nicht nur die Initiative #IchBinHanna hat die Debatte über Wissenschaftskarrieren verändert, auch Fragen der mentalen Gesundheit, des Mobbing und der Machtverhältnisse und -abhängigkeiten spielen heute in der öffentlichen Wahrnehmung eine viel größere Rolle. All das führt dazu, dass sich junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler heute viel mehr Gedanken darüber machen, ob sie unter den herrschenden Bedingungen wirklich in der Wissenschaft weitermachen wollen."
Der hohe Anteil an Unentschlossenen könnte freilich darauf hindeuten, dass die – potenziellen – Vorteile einer akademischen Karriere durchaus noch wahrgenommen werden: vor allem die Chance, in Forschung und Lehre der Neugier und den eigenen Interessen zu folgen. Aus Sicht von Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Wissenschaftspolitik eine echte Chance – wenn sie durch Reformen eine echte Veränderungsbereitschaft signalisieren. "Im Augenblick aber", sagt Briedis, "erscheint vielen das Gras außerhalb der Wissenschaft grüner."
Spannend ist, dass die Wahrnehmung einer mangelnden Attraktivität wissenschaftlicher Karrieren in der "nacaps"-Umfrage kontrastiert wird durch einige berichtete Verbesserungen, teilweise als Folge der letzten WissZeitVG-Novelle, wie bereits deren Evaluation vor zwei Jahren belegte. So sind die durchschnittlichen Vertragslaufzeiten zwischen 2017/18 und 2021/22 gestiegen. 66 (statt 65) Prozent liegen jetzt bei 24 bis 36 Monaten und 13 (statt neun) Prozent bei über drei Jahren. Und umgekehrt nur noch 20 Prozent unter zwei Jahre, ein Rückgang um fünf Prozentpunkte. "Das mag nach keinem wahnsinnig großen Effekt aussehen, ist aber durchaus eine nennenswerte Verschiebung", sagt Briedis. Denn ein größerer Anteil der verbleibenden Kurzzeitverträge seien insofern sinnvoll, weil sie der Überbrückung dienten.
Gleichzeitig vergrößerte sich der Umfang der Promotionsstellen. Inzwischen haben 54 Prozent der Stellen mindestens einen Zwei-Drittel-Umfang (2017/18: 48 Prozent) und nur noch 27 (statt 38 Prozent) sind mit disziplinenübergreifend mit weniger als 50 Prozent dotiert.
Wie aber ist zu interpretieren, dass die Promovierenden 2021/22 deutlich mehr Zeit für ihre Dissertation aufwanden als vier Jahre zuvor? Konkret: 49 Prozent berichteten, sie säßen mehr als 30 Stunden pro Woche dran, sieben Prozentpunkte mehr als vier Jahre vorher, wobei der Zuwachs allein im Bereich zwischen 40 Stunden und mehr stattfand. Mehr Leistungsdruck? Oder ein vorübergehender Corona-Effekt, weil die Promovierenden mangels Freizeitalternativen und sozialer Kontakte mehr gearbeitet haben? Kolja Briedis sagt, womöglich spiegelten die Ergebnisse auch eine dauerhafte Veränderung der akademischen Arbeitswelt nach der Pandemie wider, "mit mehr Homeoffice, mehr digitalen Besprechungen und dadurch weniger Zeit, die etwa für Pendelei draufgeht".
Sicherlich drückt die gestiegene Arbeitszeit auch den starken Trend zu kumulativen Dissertationen aus, die über die gesamte Promotionszeit hinweg aufgrund mehrerer Publikationstermine einen hohen zeitlichen Aufwand erfordern. Inzwischen geben 39 Prozent der Promovierenden an, kumulativ zu promovieren, zehn Prozentpunkte mehr als 2017/18. Die klassische Monografie macht noch 47 Prozent aus, nach 51 Prozent vier Jahre zuvor. Was unter Qualitätsgesichtspunkten in jedem Fall positiv zu bewerten sein dürfte, bedeuten kumulative Promotionen doch, dass die einzelnen Bestandteile über ein unabhängiges Peer-Review-Verfahren laufen. Auch werden deutlich mehr Betreuungsvereinbarungen schriftlich fixiert.
Dass mit 16 Prozent inzwischen dreimal so viele Promovierende zwischen 2500 und 3000 Euro pro Monat verdienen und statt 19 nur noch 13 Prozent unter 1000 Euro, sieht dagegen nur auf den ersten Blick wie ein signifikanter Fortschritt aus. Nach Abzug der Inflation dürfte vom realen Zuwachs nicht mehr so viel übrig geblieben sein.
Stimmen aus Hochschulen und Politik zu den neuen "nacaps"-Ergebnissen
"Ausufernde Befristung macht Wissenschaft als Beruf unattraktiv", kommentierte Amrei Bahr von der Initiative "#IchbinHanna" auf Anfrage. "Die Reform des WissZeitVG muss dem endlich ein Ende machen: mit einer Befristungshöchstquote und einer frühzeitigen Anschlusszusage".
Der Präsident des Deutschen Hochschulverbandes, Lambert T. Koch, sagte, erhalte die Ergebnisse "in der Tat für alarmierend Sie rufen Politik und Hochschulen zum raschen und konzertierten Handeln auf." Es gehe nicht nur um verlässlichere und attraktivere Karriereperspektiven, sondern auch um ein breiteres Spektrum an dauerhaften Beschäftigungsoptionen neben der Professur. Ein Maßnahmenpaket in diese Richtung umzusetzen, könne nur gelingen, wenn Bund und Länder rasch die gesetzgeberischen und finanziellen Voraussetzungen dafür schaffen. "Wir haben keine Zeit mehr für ideologisches Geplänkel."
Die grüne Bundestagsabgeordnete Laura Kraft sagte, wenn Deutschland ein attraktiver Hochschulstandort bleiben solle, "müssen wir endlich für verlässlichere Beschäftigungsverhältnisse sorgen." Mit einer Reform des WissZeitVG allein sei es hierbei nicht getan. "Wir brauchen strukturelle und finanzielle Veränderungen im Hochschulsystem. Das wird eine Aufgabe der Politik für die nächsten zehn Jahre und darüber hinaus." Ein erster Schritt in die richtige Richtung könne das von uns Grünen mitinitiierte Bund-Länder-Programm für moderne Personalstrukturen sein. "Ich erwarte dazu ein entsprechendes Konzept bis spätestens September aus dem BMBF." Auch der Wissenschaftsrat erarbeitet gerade Vorschläge zu dem Thema. "Diese Expertise sollten wir nutzen."
Krafts FDP-Kollege Stephan Seiter sagte, die Studienergebnisse stellten den Ländern ein schlechtes Zeugnis hinsichtlich ihrer Attraktivität als Arbeitgeber aus. "Landesregierungen in allen Bundesländern haben sich über Jahrzehnte hinweg vor der Frage gedrückt, welche Mittel sie den Hochschulen zur Gestaltung eines wirklich attraktiven Arbeitsumfeldes an die Hand geben möchten. Wenn Hochschulen mit der freien Wirtschaft mithalten sollen, müssen sie vor allem in der Personalentwicklung besser werden." Vielfach schienen Fakultäten in Fragen der Personalentwicklung am Anfang zu stehen, fügte Seiter hinzu. "Die Versteifung auf das WissZeitVG verstellt den Blick für die Komplexität des
Problems und spielt Wissenschaftliches Personal und Hochschulleitungen gegeneinander aus."
"Alarmierend" nennt die "nacaps"-Ergebnisse auch die SPD-Wissenschaftspolitikerin Carolin Wagner. "Ich weiß aus zahlreichen Gesprächen mit Beschäftigten aus der Wissenschaft, wie begeistert sie von ihrer Tätigkeit sind, aber wie ihnen die Arbeitsbedingungen immer schwerer zu schaffen machen." Viel zu lange habe sich die Academia darauf verlassen, dass sich immer wieder neue kluge Köpfe um befristete Stellen bemühten, so habe die Wissenschaft die Beschäftigungsrisiken auf den Schultern der ArbeitnehmerInnen belassen können. Die Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft müssten sich ändern, wenn Deutschland nicht an Innovationskraft nicht einbüßen wolle." Für mich als Bundespolitikerin macht das deutlich: Wir müssen den Beschäftigten mit der Reform des WissZeitVGs ganz stark entgegen kommen!" Und an die Länder appelliere sie: "Schafft mehr Dauerstellen an den Universitäten und haltet gutes Personal für Forschung und Lehre!"
Der Präsident der Hochschulrektorenkonferenz (HRK), Walter Rosenthal, betonte, die Hochschulen qualifizieren durch Studium und Promotion "nicht primär oder gar ausschließlich" für eine Laufbahn an Hochschulen. Jährlich würden knapp 30.000 Promotionen abgeschlossen, im Wissenschaftssystem disziplinübergreifend aber nur etwa 4.000 unbefristete Stellen neu besetzt. Die große Mehrheit der Doktoranden verlasse die Hochschulen nach dem erfolgreichen Abschluss der Promotion, um eine Tätigkeit in anderen Berufsfeldern der Gesellschaft, in Wirtschaft, Verwaltung oder auch in der forschenden Industrie aufzunehmen. "Das ist gesellschaftlich auch genau so gewünscht und systemisch notwendig." Die während der Promotionsphase erworbenen Kompetenzen und wissenschaftlichen Fertigkeiten qualifizierten für viele berufliche Aufgaben. "Daher ist den Hochschulen bewusst, dass sie auch in einem Wettbewerb mit Arbeitgebern außerhalb der Wissenschaft stehen." Ziel müsse es sein, attraktive Beschäftigungsverhältnisse und transparente Karrierewege an den Hochschulen zu gewährleisten. "Auf diesem Weg befinden sich viele Hochschulen bereits, etwa bezogen auf die Gestaltung der durchschnittlichen Vertragslaufzeiten, die zeitliche Erhöhung des Beschäftigungsumfangs oder die Entwicklung neuer Karrierepfade."
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Der Wissenschaftsratsvorsitzende Wolfgang Wick schwört Hochschulen und Politik auf Strategien für bundesweit stagnierende Studierendenzahlen ein und hofft auf eine demographische Rendite.
Demnächst mehr freie Plätze? Foto: Michal Jarmoluk / Pixabay.
JEDES JAHR Ende Januar gibt der oder die Vorsitzende des Wissenschaftsrats einen Bericht zu aktuellen Tendenzen im Wissenschaftssystem ab, über den das Gremium anschließend diskutiert. In Dorothea Wagners letzter Bestandsaufnahme Anfang 2023 stand die Frage im Mittelpunkt, ob die Wettbewerbsorientierung in der Wissenschaft an ihre Grenzen gestoßen sei. Wagners Nachfolger Wolfgang Wick, der dieses Jahr zum ersten Mal mit dem Berichten an der Reihe war, widmete sich der Hochschullehre und dem Watershed-Moment, den viele Hochschulen gerade erleben. Es ist die Realisierung, dass die Zeit bundesweit stetig wachsender Studierendenzahlen zu Ende geht. Weshalb Wick zielsicher die passende hochschulpolitische Agenda fürs neue Jahr setzte, indem er von Hochschulen und Hochschulpolitik neue Strategien für den demographischen Wandel forderte.
Wick verweist auf die aktuelle Vorausberechnung der Kultusministerkonferenz (KMK), dass die Zahl der Studienanfänger deutschlandweit wohl spätestens von 2027 an für einen längeren Zeitraum stagnieren wird. Tatsächlich gingen die Erstsemesterzahlen zwischen 2018 und 2021 sogar über mehrere Jahre zurück, doch schien das kaum einer wahrzunehmen, solange die Gesamt-Studierendenzahlen noch von Rekord zu Rekord jagten. Obwohl es eine mathematische Gewissheit war, dass letztere mit zeitlicher Verzögerung ersteren folgen würden. Im Wintersemester 2022/23 war es dann soweit. Die Gesamtzahl der Studierenden in Deutschland sank zum ersten Mal seit 2007, im Wintersemester 2023/24 ging es weiter runter auf zuletzt 2,871 Millionen. Was allerdings immer noch satte 850.000 mehr waren als 20 Jahre zuvor und der Einbruch teilweise pandemiebedingt. So dass es bei den Erstsemestern – wenn auch nur leicht – die vergangenen beiden Jahre sogar schon wieder aufwärts ging.
Wie ein Luftholen von der scheinbar ewig laufenden Bildungsexpansion
Insofern fühlte sich der demographische Wandel an vielen Hochschulen vor allem in den westdeutschen Metropolen bislang allenfalls wie ein Luftholen von der scheinbar ewig laufenden Bildungsexpansion an. Das zu Recht von Wolfgang Wick angemahnte strategische Umdenken mag gerade dort noch aus anderen Gründen schwer fallen: Die Rektorate und Präsidien haben bis zur Pandemie die Erfahrung gemacht, dass die Zahl der Neuimmatrikulationen die mutigsten Prognosen von Hochschulforschern immer aufs Neue übertrafen. Und auch jetzt ist ja nicht von einem weiteren starken Rückgang die Rede, sondern von einer Stagnation auf hohem Niveau.
Absehbar ist zudem, auch das führt der Wissenschaftsratsvorsitzende, aus, dass diese bundesweite Entwicklung sich je nach Region und Disziplin in ein deutliches Minus oder gar ein weiteres kräftiges Plus bei den Studierenden übersetzt (siehe hierzu auch meinen Bericht von Ende November 2023). Weshalb, so Wick, die Hochschulen individuelle, "maßgeschneiderte" Strategien entwickeln müssten. Sehr viele ostdeutsche Standorte und auch etliche westdeutsche sind, nebenbei bemerkt, den Umgang mit dem Schrumpfen schon länger gewöhnt.
Von ihnen können die erstmals seit langem mit Rückgängen konfrontierten Einrichtungen viel lernen. Dabei bietet sich ihnen zumindest auf den ersten Blick eine große Gelegenheit: "Die Hochschulen bekommen die Chance, Fehlentwicklungen der Wachstumsperiode zu korrigieren, die Qualität der Lehre zu verbessern, den Anteil erfolgreicher Abschlüsse zu steigern und die Digitalisierung voranzutreiben", sagt Wolfgang Wick.
Womit die große Gelegenheit übrigens auch auf Seiten der jungen Menschen liegt. Denn wenn die Studierenden nicht mehr Schlange stehen vor den Immatrikulationsbüros, müssen sich die Hochschulen mehr einfallen lassen, um sich neue Zielgruppen zu erschließen und alte Zielgruppen im Studium zu halten: Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern zum Beispiel, Berufstätige, Einwanderer und internationale Studierende. Die erstaunliche Erfolgsgeschichte privater Hochschulen in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren erklärt sich zu einem großen Teil erst dadurch, dass viele ihrer staatlichen Pendants ihren Fokus auf dem vermeintlichen "Normstudenten" hatten.
"Small is beautiful, too", findet der Vorsitzende
Auf den zweiten Blick ist das mit der großen Gelegenheit für alle Beteiligten allerdings so eine Sache – womit auch erklärbar wird, warum vielerorts gerade nicht das große Jubeln ausbricht. Denn die Hochschulfinanzierung läuft in den meisten Fällen hauptsächlich über die Zahl der Köpfe. Werden die weniger, stehen sie dann eben nicht der gleichen Menge an Geld gegenüber, die Hochschulen müssten Personal abbauen, und es wäre wenig bis nichts gewonnen. Erst recht, wenn dann auch noch einseitig bei den Fächern und Standorten eingespart würde, die gerade weniger am Arbeitsmarkt gefragt sind. Bei Wick hört sich diese Warnung so an: "Wir dürfen nicht aufgrund von Nachfrageschwankungen Fächer und Institute kaputtsparen, die wir später nur langwierig und mit hohen Kosten wieder aufbauen müssen."
Immerhin: Andere Finanzierungslogiken sind in der Hochschulpolitik in Ansätzen längst installiert. So haben Bund und Länder den gemeinsamen Hochschulpakt 2020, einst geschlossen, um die hunderttausenden zusätzlichen Erstsemester abzufangen, nach seinem Auslaufen in den "Zukunftsvertrag Studium und Lehre stärken" transformiert, der die Finanzierung allmählich von der Zahl der Erstsemester unabhängiger macht. Auf Anraten des Wissenschaftsrats. Zuletzt einigten sich Bund und Länder sogar noch darauf, die Zukunftsvertrags-Ausgaben pro Jahr um drei Prozent zu erhöhen – unabhängig von der Studierendenzahl.
Wolfgang Wick postuliert in seinem jährlichen Bericht denn auch ganz grundsätzlich: "Small is beautiful, too." Eine Hochschule, die weniger Studierende aufnehme und diese dafür besser betreue, müsse belohnt und nicht durch Stellenabbau bestraft werden. Eine ähnliche Hoffnung wurde in der Schulpolitik einst unter dem Stichwort "demographische Rendite" diskutiert: Bis in die Zehnerjahre hinein rechnete man dort mit bald sinkenden Schülerzahlen und appellierte an die Politik, die bisherigen Bildungsausgaben trotzdem beizubehalten – der Qualität zuliebe. Aus den sinkenden Schülerzahlen wurde dann übrigen nichts. Mal sehen, wie es sich mit der von der KMK prognostizierten Stagnation bei den Studierendenzahlen verhalten wird.
Entscheidend für die Durchschlagskraft von Wicks Appell wird freilich sein, dass er nicht nur von den Wissenschaftsministern ernstgenommen und beklatscht wird, die – mit Ausnahme von Hamburgs Finanzssenator (derzeit Andreas Dressel) – die Länderseite im Wissenschaftsrat vertreten. Vielleicht hilft bei der Vermittlung Richtung Haushaltspolitiker und Regierungschefs, dass seit April 2022 mit Jakob von Weizsäcker aus dem Saarland immerhin ein Landeswissenschaftsminister auch das Finanzressort verantwortet. Umgekehrt intensivieren gerade verschiedene Landesregierungen die Suche nach jeder sich auftuenden Sparmöglichkeit – oder streiten darüber (jüngstes Beispiel: Berlin). Eine aus Sicht vieler Hochschulen unschöne Koinzidenz mit der erwarteten Entwicklung der bundesweiten Studierendenzahlen.
Was der Wissenschaftsrat zu Brandenburgs Hochschulsystem und zum neuen Max-Planck-Institut "caesar" sagt
In seiner Wintersitzung beschloss der Wissenschaftsrat auch seine Empfehlungen zur Weiterentwicklung des Hochschulsystems des Landes Brandenburg. Zuvor hatte das Gremium auf Bitten von Wissenschaftsministerin Manja Schüle (SPD) eine umfangreiche Begutachtung durchgeführt und dessen Ergebnisse auf über 600 Seiten dargestellt. Insgesamt erhielten dabei die Hochschulen recht viel Lob für ihre positive Entwicklung und die ihre Rolle beim gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel. Auch das Land kam gut weg: Es habe mit seinem finanziellen und politischen Engagement dazu beigetragen, die wissenschaftliche Leistungsfähigkeit der Hochschulen zu steigern und Transfer, Digitalisierung sowie Qualitätssicherung zu stärken.
"Das Land sollte sein finanzielles Engagement fortsetzen und gemeinsam mit den Hochschulen Maßnahmen ergreifen, um die Qualität von Forschung und Lehre weiter zu verbessern und Herausforderungen zu begegnen, wie der an einigen Standorten rückläufigen Studierendennachfrage, dem Fachkräftemangel oder der Bildung kritischer Massen in der Forschung an den überwiegend kleinen Hochschulen", sagte der Vorsitzende Wolfgang Wick. Außerdem sollte das Wissenschaftsministerium seine Finanzierungs- und Steuerungsarchitektur vereinfachen, die Forschungsförderung stärker an den Stärken der Hochschulen ausrichten und zugleich die kooperative Spitzenforschung stärken.
Den Hochschulen empfahl der Wissenschaftsrat unter anderem, sich stärker überregional zu profilieren, ihre Kooperationen untereinander, mit außeruniversitären Forschungseinrichtungen, aber auch mit Akteuren außerhalb der Wissenschaft auszubauen. Mit innovativen Ansätzen in Studium und Lehre sollten sie dem Rückgang der Studierendenzahlen entgegenwirken und besser auf die unterschiedlichen Voraussetzungen der Studierenden eingehen.
Der Wissenschaftsrat lobte die Strategie der Landesregierung, den Strukturwandel in der Region Cottbus mithilfe der Bundesgelder aus dem Strukturstärkungsgesetz für die Kohleregionen wissenschaftspolitisch zu gestalten. Die aus der Fusion einer Universität mit einer Fachhochschule entstandene BTU Cottbus-Senftenberg müsse forschungsstärker werden und sich auch, um attraktiver für Studierende zu werden, zu einer reinen Universität entwickeln. Ein besonderes Lob erhielt die Universität Potsdam, die durch die Einwerbung kompetitiver Forschungsprojekte und die intensive Zusammenarbeit mit den außeruniversitären Forschungseinrichtungen überzeuge. Angesichts der geplanten Neugründung einer medizinischen Universität in Cottbus forderte der
Wissenschaftsrat eine enge Kooperation mit der BTU und die Auflösung der hochschulübergreifenden Fakultät für Gesundheitswissenschaften.
BTU-Präsidentin Gesine Grande sagte laut Research.Table, bei den Studierenden scheine die Trendwende bereits geschafft und mit rund 40 Prozent internationalen Studierenden sei man sogar Vorreiter. Die Forderung des Wissenschaftsrats, eine reine Universität zu werden, begrüßte sie, weil das derzeit noch 18 Semesterwochenstunden umfassende Lehrdeputat der ehemaligen FH-Kollegen diesen kaum Potenziale in der Forschung ermöglichten.
Wissenschaftsministerin Schüle kommentierte: "Wir sind auf dem richtigen Weg." Brandenburgs Wissenschaftslandschaft habe sich in den vergangenen Jahren exzellent entwickelt. "Zusammen müssen wir innovative Wege gehen, indem unsere Hochschulen noch klarere Profile entwickeln und Kooperationen weiter ausbauen sowie noch stärker auf Studienerfolg, auf durchlässige Bildungswege und auf gute Integration internationaler Studierender setzen." Man werde die Empfehlungen jetzt gemeinsam mit den Hochschulen auswerten. "Für das Land kann ich schon jetzt versprechen: Wir werden auch die Punkte angehen, die für das Ministerium unbequem sind."
Der Wissenschaftsrat nahm außerdem zur Eingliederung des Bonner Forschungszentrums "caesar" in die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) Stellung. Er sehe darin einen folgerichtigen Schritt für die Sicherung der Zukunft caesars. Die wissenschaftliche Verantwortung des heutigen "Max-Planck-Instituts für Neurobiologie des Verhaltens – caesar" habe bereits seit über 15 Jahren bei der MPG gelegen. "Durch die Integration übernimmt die MPG nun sowohl die rechtliche als auch die finanzielle Gesamtverantwortung."
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat den Wissenschaftsrat 2021 gebeten, den Eingliederungsprozess begleitend zu evaluieren. Dabei sollte allerdings keine inhaltliche Bewertung der wissenschaftlichen Qualität des "caesar" vorgenommen werden.
Um das "caesar" hatte es im Vorfeld der Eingliederung heftige Vorwürfe des Bundesrechnungshofs gegeben. Das BMBF wolle Stiftungsgelder in dreistelliger Millionenhöhe am Parlament vorbei an die Max-Planck-Gesellschaft übertragen. MPG und Ministerium widersprachen. Der Bundestag hatte der Eingliederung dann zwar zugestimmt, aber strenge Auflagen gemacht.
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Lange hat die Bundesagentur für Sprunginnovationen auf ihr versprochenes Freiheitsgesetz gewartet. Jetzt liegt endlich der Entwurf vor – und kann sich sehen lassen.
Bild: Roy Harryman / Pixabay.
DIE BUNDESAGENTUR, die so anders sein soll, hat sich selbst die Abkürzung SPRIND gegeben, doch ihr Freiheitskampf mit der Politik erinnerte bislang eher an einen Hürdenlauf. Jetzt immerhin könnte es soweit sein: 17 Monate nach Amtsantritt der Ampel-Koalition, drei Jahre nach dem offiziellen Start der Bundesagentur für Sprunginnovationen und fast fünf Jahre, nachdem das Kabinett die SPRIND-Gründung beschlossen hat, ist die Bundesregierung kurz davor zu beweisen, dass sie das mit der einst versprochenen Neuerfindung der staatlichen Innovationsförderung wirklich ernst gemeint hat.
Die Bundesministerien für Bildung und Forschung (BMBF), für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK), für Finanzen (BMF) und der Justiz (BMJ) haben sich nach langem Stillstand auf den Referentenentwurf für ein Gesetz geeinigt, das – so melodramatisch wie treffend –"Gesetz zur Befreiung der Bundesagentur für Sprunginnovationen (SPRIND)" heißen soll, kurz "SPRIND-Freiheitsgesetz".
Um das umzusetzen, was die Bundesregierung eigentlich von Anfang an hätte tun müssen und was der Ampel-Koalitionsvertrag dann endlich angekündigt hatte: die rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen für die Agentur so "substanziell" zu verbessern, dass sie freier agieren und investieren könne. Das heißt: unternehmerischer und flexibler als alle bisherigen staatlichen Fördereinrichtungen.
Der Umgang mit einem Paradox
Was deshalb so nötig ist, weil die SPRIND da ansetzen soll, wo Deutschland im internationalen Vergleich auffällig schwach ist: bei der Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in völlig neue technologische, soziale und wirtschaftliche Ansätze, die als disruptive Innovationen ganze Branchen und gesellschaftliche Gewohnheiten verändern. Wovon letztendlich der künftige Wohlstand mit abhängt. Solche Durchbrüche vorbereiten zu wollen, hört sich nach einem Paradox an, ist aber keines, denn mit den richtigen Rahmenbedingungen werden sie zwar nicht planbar, aber wahrscheinlicher.
Was dafür nötig ist: vor allem das strategische Eingehen von Risiko bei der Vergabe von Fördermitteln, neue finanzielle Beteiligungsformate und mitunter extrem schnelle Entscheidungswege. Alles Dinge, die kaum kompatibel sind zu Rechtsgrundlage und Arbeitsweise staatlicher Stellen.
Immerhin hatte die SPRIND in den vergangenen zwei Jahren auch ohne neues Gesetz schon ordentlich Fahrt aufgenommen, so dass das BMF im April an den Haushaltsausschuss die nahezu volle Ausschöpfung des Agenturbudgets für dieses Jahr vermelden konnte. Doch das, betonte SPRIND-Chef Rafael Laguna de la Vera damals, sei nur dank jeder Menge Verrenkungen möglich gewesen. Man verbringe viel zu viel Zeit mit Bürokratie "und der Produktion schöner Papiere. Wir müssen schneller werden und mehr von unserer Kraft auf unsere eigentliche Aufgabe konzentrieren können". In den Monaten zuvor hatte Laguna sogar indirekt mit seinem Rücktritt gedroht, wenn nicht bald ein kraftvolles Befreiungsgesetz komme.
Fest steht: Wenn der Gesetzentwurf im Verlauf der restlichen Ressortabstimmung und dann im Parlament nicht zu sehr entkräftet wird, wovon nicht auszugehen ist, hat Lagunas Agentur künftig ordentlich Rückenwind für ihre Arbeit. Womit auch der Erwartungsdruck auf die SPRIND weiter steigt, denn der Hinweis auf die miesen rechtlichen Rahmenbedingungen zieht dann nicht mehr.
Große Freiheit, viel Verantwortung
Was der Gesetzentwurf im Einzelnen vorsieht:
o Statt den drei Ministerien BMBF, BMWK und BMF ist künftig nur noch ein Ministerium, das BMBF, für die Aufsicht über SPRIND zuständig und soll sich möglichst auf die Rechtsaufsicht beschränken, da der Aufsichtsrat bereits große Teile der Fachaufsicht übernommen hat.
o Die SPRIND soll mit Förderaufgaben auf dem Gebiet der Sprunginnovationen "beliehen" werden, was bedeutet, dass die Agentur künftig selbstständig ihre Förderentscheidungen treffen kann und dafür nicht mehr die Zustimmung der Bundesministerien braucht. Was unter Sprunginnovationen zu verstehen ist und wie diese transparent identifiziert und gefördert werden sollen, soll zuvor durch einen Beleihungsvertrag zwischen SPRIND und Bund festgelegt werden.
o Auch über Tochtergesellschaften und Unternehmensbeteiligungen kann SPRIND künftig selbst bestimmen. Allerdings behält der Bund als Alleingesellschafter weitreichende Rechte, so kann er zum Beispiel Beschlüsse des SPRIND-Aufsichtsrats (indem er vertreten, aber in der Minderheit ist) aufheben, die seines Erachtens dem Bundesinteresse zuwiderlaufen.
o Die SPRIND soll öffentlich-rechtliche und privatrechtliche Förderinstrumente "im Einklang mit den für öffentliche Unternehmen geltenden Rahmenbedingungen" gleichermaßen nutzen können. Wenn sich SPRIND an einem Unternehmen beteiligt, ist das bis zu 25 Prozent ohne weitere Befassung der Bundesministerien möglich (was allerdings Standard ist). Interessant wird es bei Beteiligungen über 25 Prozent: Hier ist geregelt, dass das Finanzministerium binnen drei Monaten nach Eingang der vollständigen Antragsunterlagen entscheiden muss – andernfalls gilt die Zustimmung bis zu einer Grenze von zehn Millionen Euro als erteilt.
o Der Agentur soll eine flexiblere Haushaltsführung ermöglicht werden, um auf Änderungen bei hochrisikoreichen Projekten unmittelbar reagieren und neuen Projekten flexibel begegnen zu können. Dazu gehört die Zuweisung sogenannter Selbstbewirtschaftungsmittel, wie sie die außeruniversitären Forschungsorganisationen seit vielen Jahren ebenfalls haben (und für deren Handhabung regelmäßig vom Bundesrechnungshof kritisiert werden). Künftig soll SPRIND Fördergelder zwischen den Jahren verschieben dürfen, ohne dass nicht ausgegebene Millionen am Jahresende weg sind. So können die Projekte das nötige Geld dann bekommen, wenn sie es brauchen – auch wenn der Mittelabfluss später sein sollte als zunächst geplant. Es gibt aber eine Obergrenze: Maximal 30 Prozent der jeweils veranschlagten SPRIND-Haushaltsmittel dürfen als Selbstbewirtschaftungsmittel ins nächste Jahr mitgenommen werden.
o SPRIND wird zu 50 Prozent an den Einnahmen, die sich aus den erfolgreich geförderten Projekten ergeben sollten, beteiligt und kann so seinen Haushalt weiter aufstocken.
o Die Agentur, ihre Tochtergesellschaften und die von ihr geförderten Unternehmen sollen bessere Gehälter zahlen dürfen als sonst in der Verwaltung üblich – sofern dafür zwingende Gründe vorliegen. Womit das meist für öffentliche Einrichtungen geltende sogenannte Besserstellungsverbot eingeschränkt wird (für außeruniversitären Forschungseinrichtungen gilt das ebenfalls bereits). In den ersten beiden Jahren der SPRIND-Förderung wird es für private Unternehmen sogar komplett aufgehoben, ansonsten entscheidet SPRIND in vielen Fällen selbst über den Gehaltsrahmen bei den geförderten Unternehmen. Bereits jetzt gibt es eine Freistellung für die SPRIND-eigenen Innovationsmanager und für die MINT-Berufe in den Tochtergesellschaften.
Ein doppelter Befreiungsschlag
Am Mittwoch kommt der Gesetzentwurf in den Haushaltsausschuss (HHA) des Bundestages, parallel läuft die Abstimmung mit den übrigen Ressorts. Warum der HHA nicht erst danach drankommt? Weil für SPRIND kurzfristig einiges dranhängt: Der Ausschuss hatte, wie er es häufig bei neuen Haushaltstiteln tut, 20 Prozent der Agenturmittel für 2023 gesperrt. Weshalb die für April geplante Gründung zweier weiterer SPRIND-Tochtergesellschaften verschoben werden musste. Die vom Finanzministerium beantragte Freigabe von 23 der gesperrten 30 Millionen hatte der Ausschuss aber davon abhängig gemacht, dass die federführenden Ministerien sich zuerst in Sachen SPRIND-Freiheitsgesetz einigen.
Mehr Geld ist mit dem neuen Gesetz übrigens nicht verbunden. So bleibt das SPRIND-Budget mit derzeit knapp 150 Millionen Euro überschaubar, ja mickrig im Vergleich zu den gut vier Milliarden Dollar, die dem großen US-Vorbild DARPA im Jahr zur Verfügung stehen. Über den weiteren Zeitplan für das parlamentarische Verfahren bis zum Inkrafttreten des Gesetzes schweigen sich die BMBF, BMWK & CO übrigens offiziell aus, intern heißt es: Noch dieses Jahr sei das Ziel.
Kommt das SPRIND-Befreiungsgesetz in der geplanten Form, wäre es in jedem Fall eine doppelte Befreiung: für die Agentur selbst, aber auch für die Bundesregierung – weil sie nach langem Hin und Her doch zeigen würde, was möglich ist mit einem modernen Staatsverständnis. Einst sollte SPRIND die Blaupause werden für andere staatliche Förderagenturen, vor allem für die immer noch nicht gegründete Deutsche Agentur für Transfer und Innovation (DATI). Zwischendurch war es angesichts der vielen Barrieren, die SPRIND in den Weg gelegt worden waren, auffällig still geworden um die angestrebte Vorbildfunktion. Jetzt könnte es damit doch noch etwas werden. Und vielleicht ginge es dann auch mit der auf Eis gelegten Neuauflage des DATI-Gründungskonzeptes endlich vorwärts. Das BMBF hatte es intern zuletzt für Ende März angekündigt.
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Was Politik und SPRIND zu dem Gesetzentwurf sagen
Es habe sich schnell gezeigt, dass SPRIND eingezwängt ins deutsche Haushaltsrecht, "ihr Potenzial nicht voll entfalten konnte", sagte Bundesforschungsministerin Stark-Watzinger (FDP) dem Handelsblatt. Daher "befreien wir die SPRIND jetzt von unnötigen bürokratischen Fesseln und geben ihr viele Freiheiten". Das sei ein wichtiges Signal für den Innovationsstandort Deutschland und werde mehr Sprunginnovationen ermöglichen.
Tatsächlich hatten Experten schon vor Gründung der Agentur vor den Folgen einer zu starken Regulierung gewarnt und die beteiligten Bundesministerien zunächst zur Zurückhaltung in der Agentur-Governance aufgerufen. Zunächst vergeblich, in den vergangenen Jahren hatte es dann bereits substanzielle Veränderungen etwa bei der Zusammensetzung und Stellung des SPRIND-Aufsichtsrates gegeben.
"Mit dem SPRIND-Freiheitsgesetz bringen wir die Agentur international auf Augenhöhe", sagt die parlamentarische BMWK-Staatssekretärin Franziska Brantner, "und ermöglichen ihr, bahnbrechende Ideen in Deutschland zu halten und daraus gelingende Geschäftsmodelle zu machen." Zudem steige die Attraktivität der SPRIND als Arbeitgeber für hochspezialisierte Fachkräfte, gerade aus den MINT-Fächern. "Die SPRIND muss die besten Leute gewinnen können, damit diese aus einem Meer von Ideen die vielversprechendsten Innovationen herausfischen und fördern können."
SPRIND-Direktor Laguna lobte, der Gesetzentwurf folge dem Anspruch des Ampel-Koalitionsvertrages. Neben öffentlich-rechtlichen könnten künftig auch privatrechtliche Finanzierungswerkzeuge eingesetzt werden. Erstmals könne sich SPRIND auch an bestehenden Unternehmen finanziell beteiligen und Erträge erwirtschaften. Die Möglichkeit, einen Teil der Mittel auch überjährig zu investieren, gebe SPRIND die dringend erforderliche Flexibilität beim Einsatz der Mittel. "In der Summe zeigt der Gesetzestext neue Wege auf für ein schnelleres, weniger bürokratisches und damit effizienteres staatliches Handeln – das dringend für die anstehenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformationen benötigt wird."
Entgrenztes Wohnen - Die Creative Class im Medienzeitalter Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird der Kultur- und Lebensraum der Menschen mehr und mehr von den Informations- und Kommunikationsmedien geprägt. Mit dem zunehmenden Eindringen dieser Medien in die Lebensräume der Menschen erfährt auch das Wohnen verstärkte Aufmerksamkeit. William Mitchell und der amerikanische Soziologe und Politologe Richard Florida weisen auf eine Verknüpfung von intensiver Nutzung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien und neuen Wohnkonzepten hin. In ihren Forschungen stellen sie eine Konzentration derartiger veränderter Nutzungskonzepte des Wohnens vor allem in den neu adaptierten Altbauten stark verdichteter (Innen-) Stadtviertel fest. Mit Blick auf die dort bevorzugt wohnende, dynamisch wachsende Berufs- und Lebensstilgruppe, die Florida als "Creative Class" bezeichnet und aufgrund ihrer technologischen Innovationen und kreativen Alltagsgestaltung als Protagonistengruppe des Informationszeitalters ansieht, hat er als einer der ersten auch empirisch auf die Verschränkung von neuen Lebenspraktiken und veränderten Raumnutzungen aufmerksam gemacht. Ziel der Forschungsarbeit war es, die strukturell veränderten Wohnstrategien und Raumdispositionen einer Pioniergruppe des Informationszeitalters, der Creative Class, herauszustellen und zu verstehen. Es wurden 52 Personen der Creative Class für Interviews ausgewählt. Die Untersuchung ist explorativ ausgerichtet und darf somit nicht als repräsentativ für die Creative Class gesehen werden. Die wachsende Bedeutung dieser Pioniergruppe wird jedoch dadurch ersichtlich, dass in den USA heute bereits bis zu 30 % der Erwerbstätigen im Kreativsektor arbeiten. Dazu zählen Berufsgruppen aus den Bereichen IT, Medien, Kunst, Wissenschaft und Management. Auch im deutschsprachigen Raum wurden bereits Untersuchungen zur Kreativwirtschaft in den Städten Wien, Berlin, Zürich und Köln angestellt. Ausgehend von diesen ersten Kreativwirtschaftsberichten, die ebenfalls die urbane räumliche Konzentration der Personengruppe der Creative Class unterstrichen, wurden die vier Städte Wien, Berlin, Zürich und Köln als Standorte der empirischen Untersuchung ausgewählt. Bei der Suche nach Interviewpartnern war bereits zu erkennen, dass sich die Wohn- und Arbeitsorte der Creative Class in allen vier Städten vorwiegend in den an die Stadtmitte angrenzenden, dicht bebauten Bezirken und Quartieren befinden. Im Zuge der Analyse der Lebensorte und Alltagspraktiken der 52 interviewten Personen konnten überwiegend Mehrraumwohnungen aus der Gründerzeit, aber auch Einraumwohnungen und Ateliers beobachtet werden. Anhand der Begriffs- und Dualismuspaare Mensch / Maschine, Mensch / Raum, Privat / Öffentlich und Wohnen / Arbeiten wird verdeutlicht, dass die Grenzziehungen, die das Wohnen des 20. Jahrhunderts entscheidend prägten, heute, mit dem Eindringen der Medien, im Auflösen begriffen sind. Die aktuelle theoretische Diskussion wird von Entgrenzungstheorien bestimmt. Mit dem Einzug von medialen Funktionen, die den Wohn- und Arbeitsort der interviewten Personen zu einer Insel werden lassen, konnten auch im Rahmen der Untersuchung Entgrenzungen festgestellt werden, welche die funktionale und räumliche Struktur dieser Lebensinseln transformieren. Diese Entgrenzungen sind im Kontext der Miniaturisierung und Mobilisierung der technischen Geräte zu betrachten. Denn durch die flexible Nutzung der technischen Geräte werden mediale Tätigkeiten in traditionelle Wohnfunktionen eingebettet. Hand in Hand mit dieser Überlagerung wurde auch ein verändertes Raumverständnis beobachtet, das nicht mehr auf vorgegebenen Funktionszuordnungen beruht, sondern auf der individuellen Mehrfachcodierung von Räumen und Raumbereichen. So wird zum Beispiel die funktionale und gestalterische Unterscheidung zwischen Wohnraum und Arbeitsraum nivelliert und die ursprüngliche Grenze zwischen Wohnen und Arbeiten in die Technologie verlagert. Die neue Tür ist das An- und Ausschalten der Geräte. Die Mehrfachcodierungen werden von den interviewten Personen jedoch nur dann positiv gewertet, wenn sie keinen Zwang darstellen, sondern der Ort der Nutzung frei gewählt werden kann. Die Grenze zwischen den einzelnen Raumbereichen wird somit durch die individuelle Wahlmöglichkeit bestimmt. Die neuen Parameter des Wohnens der Creative Class sind folglich Mehrfachcodierung und räumliche beziehungsweise örtliche Diversität. Eine weitgehend optimale Grundrissorganisation bezüglich dieser mehrfachcodierten Diversität wurde in den polyzentrisch organisierten Gründerzeitwohnungen Wiens beobachtet. Sie bieten dem Bewohner mittels eines Verteilerraums im Eingangsbereich und einer internen Verbindung zwischen Wohnen und Arbeiten die Wahlmöglichkeit, die Räume sowohl getrennt als auch im Zusammenhang zu nutzen. Die weiterführende Variante dieser "Wand-an-Wand-Lösung" konnte auch ohne interne Verbindung, in Form einer zweiten Lebensinsel im selben Haus oder im Viertel, festgestellt werden. Entscheidend, um die Wahlmöglichkeit zu gewährleisten, ist die räumliche oder örtliche Trennung bei gleichzeitiger Erreichbarkeit. In diesem Kontext haben 56 % der interviewten Personen eine zusätzliche eigene Lebensinsel in Form eines Atelierarbeitsplatzes, eines eigenen Ateliers oder einer zweiten Wohnung beziehungsweise der Wohnung des Partners zur Wahl. Auf diesen zusätzlichen Lebensinseln findet die Überlagerung von Wohnen und Arbeiten sowie Privat und Öffentlich in einem ebenso hohen Ausmaß statt, wie an den ersten Lebensorten. Die Befragten nutzen die ihnen zur Verfügung stehenden Orte individuell, je nach Bedarf. Die Diversität ist nicht nur innerhalb der Lebensinsel beziehungsweise zwischen den Lebensinseln von Bedeutung, sondern auch im Zusammenhang mit dem Lebensumfeld. Denn aufgrund der Inselbildung ist eine zunehmende Bedeutung der infrastrukturellen Versorgung und der sozialen Kontakte im Lebensumfeld der Creative Class zu beobachten. Die entscheidende Aufgabe, die sich mit der Erkenntnis der Erfordernis der mehrfachcodierten Diversität für den Architekten und Stadtplaner demnach stellt, ist: Eine Diversität von Orten und Räumen innerhalb der Lebensinsel und in der nahen Umgebung zu schaffen, an denen und mit Hilfe derer die Bewohner über die individuelle Wahlmöglichkeit verfügen, sowohl überkommene funktionale Grenzen zu überschreiten als auch selber Grenzen zu ziehen. ; Defragmented dwelling - creative class housing in the media age At the beginning of the 21st century the cultural and living space of society is increasingly influenced by the information and communication media. With the advance of the media into people's living spaces, concepts of living and dwelling are re-evaluated. William Mitchell and the American sociologist and political scientist Richard Florida emphasize a link between the intensive use of new information and communication technologies and new living concepts. Their research examines a concentration of changed usage concepts in newly adapted old buildings of high density neighbourhoods. Within a new career and lifestyle group, which he describes as the "creative class", Florida observes an interconnection of new living practices and changed spatial usage. Due to their technological innovation and creative work organization, Florida describes the creative class as protagonists of the information age. The objective of this dissertation was to define and understand the structurally altered living strategies and spatial dispositions of a pioneer group of the information age, the creative class. 52 individuals of the creative class were selected for interviews. The research follows an explorative approach and may therefore not be seen as representative of the creative class. However, the growing importance of this pioneer group becomes evident when considering that in the USA today already up to 30% of the economically active population is working in the creative sector, which includes professions in IT, media, art, science and management. In the German-speaking world the creative economy in the cities of Vienna, Berlin, Zurich and Cologne has already been studied. On the basis of these first creative economy reports, which already suggest a concentration of creative class population, the cities Vienna, Berlin, Zurich and Cologne were selected for the empirical study. Already during the search for potential interviewees it was apparent that the living and working spaces of the creative class are predominantly located in the high density areas adjoining the city centre. In the study of living spaces and day-to-day routines of the 52 persons from the creative class, multi-room apartments in 19th century "Gründerzeit" buildings were predominant, but there were also single room apartments and studios. An examination of the dualistic concepts man / machine, man / space, private / public and living / working illustrates that the boundary definitions that distinctly characterized dwelling in the 20th century, today, with the advance of the new media, are in the process of dissolution. The current theoretical discourse is defined by theories of boundary reduction. Together with the introduction of media functions that turn the living and working space of the interviewees into an island, boundary reductions that transform the functional and spatial structures of these life-islands could be determined also within the framework of this study. Boundary reductions can be observed in the context of miniaturization and mobilization of technological equipment. Through the flexible use of technological devices media functions become embedded within traditional living functions. Hand in hand with these overlayering a changed understanding of space was observed, that no longer is determined by a given set of functional allocations, but rather by an individualized multiple codification of spaces and spatial zones. For example the difference in form and function between living space and working space is negated and the original boundary between working and living is transferred into the technological realm. The new door is the on/off switch of the technological device. The multiple codifications are rated positively by the interviewed individuals of the creative class only when they do not constitute a constraint but when places for usage can be freely chosen. As a consequence the boundary between different spatial zones is defined by means of individual opportunities for choice. The new parameters of the creative class are therefore multiple codification and diversity of space and place. Referring to this multi-code diversity an optimum floor plan organization was to be found in the polycentrically ordered 19th century "Gründerzeit" apartments in Vienna. By means of a distribution room in the entrance and an internal connection between living and working, they offer the occupant the option of using the rooms separately as well as in combination. A further variation of these "wall-to-wall solution" was also observed without an internal connection in the form of a second life-island within the same house or the same neighbourhood. The decisive factor that ensures the possibility of choice is a spatial division with concurrent accessibility. In this context, 56% of the persons questioned have an additional separate life-island in the form of a studio work space, their own studio or a further apartment of their own or their partner's to choose from. In these additional life-islands there is a similarly high measure of interconnection of working and living, private and public as in their primary living spaces. The persons studied use the spaces at their disposal individually as the need arises. Diversity is of significance not only within the life-island itself or between the various life-islands, but also in relation to the living environment. Due to island formation there is an increased importance of the supporting infrastructure and social contacts within the environment of the live-island for the creative class. The vital task facing the architect and urban designer in terms of multi-code diversity therefore is this: to create a diversity of places and spaces within the life-island and its adjoining environment which provide and facilitate individual opportunities for the occupant to overcome traditional boundaries as well as to define boundaries of his own.
OÖ. LANDWIRTSCHAFTLICHER KALENDER 1909 Oö. landwirtschaftlicher Kalender (-) Oö. landwirtschaftlicher Kalender 1909 (1909) ( - ) Einband ( - ) [Abb.]: ( - ) Werbung ( - ) [Abb.]: 1848 Viribus unitis ! 1908 Franz Josef I. Zum 60 jährigen Regierungsjubiläum. ([2]) Titelseite ([3]) [Kalender]: 1909. (4) Das Jahr 1909. Bewegliche Feste. Die vier Quatember. Mondesviertel. Die 12 Zeichen des Tierkreises. Von den Finsternissen. Vom Jahresregenten. (16) Genealogie des Allerhöchsten Kaiserhauses. (17) Stempel und Gebühren. (18) [3 Tabellen]: Gebührensatz samt Zuschlag (1)I. (2)II. 3)III. (18) IV. Für Schriften und Urkunden, welche einer festen, skalamäßigen oder Perzentualgebühr unterliegen. (19) Post- und Telegraphenwesen. (20) Briefpost. (20) Fahrpost. Postsparkasse. (22) Staatstelegraph. (22) Verzeichnis der wichtigsten Viehmärkte. (23) Oberösterreich. (23) Angrenzendes Niederösterreich. Salzburg. (24) Obersteiermark. (25) Südliches Böhmen. (25) Angrenzendes Bayern. (26) Kleiner Wegweiser in Linz und Urfahr. (26) Politische Behörden. (30) K.K. Statthalterei. (30) Baudepartement. Rechnungsdepartement. Departementseinteilung der k.k. Statthalterei. (31) K.k. Bezirkshauptmannschaften. (32) K.k. Strombauleitungen. Delegierte für Landespferdezucht-Angelegenheiten OÖ. des k.k. Ackerbauministeriums. (33) Wählerliste des oberösterreichischen großen Grundbesitzes. (33) Reichsvertretung. (35) Abgeordnete des Reichsrates aus den Wahlkreisen. (35) Landesvertretung und Landesverwaltung. (36) Landeshauptmann. Landeshauptmannstellvertreter. Virilstimme. Abgeordnete des großen Grundbesitzes. Abgeordnete der Städte u. Industrialorte. (36) Abgeordnete d. Handels- u. Gewerbekammer. (36) Abgeordnete der Landgemeinden. (37) Landesausschuß. (37) Oberösterreichische Landes-Hypothekenanstalt. Die oö. wechselseitige Landes-Brandschaden-Versicherungsanstalt. (38) Zweigniederlassung der nö. Landes-Lebens- und Renten-, sowie Unfall- und Haftpflicht-Versicherungsanstalt für Oberösterreich. (38) Landesanstalt für Rindviehversicherung und Pferdeversicherung. Oö. Genossenschafts-Zentralkasse. (39) Landes-Ackerbau- und Obstbauschule Ritzlhof. (39) Lehrkörper und Unterrichtsfächer. (40) Landeskulturrat im Erzherzogtume Österreich o.d. Enns. (40) K.k. Landwirtschafts-Gesellschaft in Österreich o.d. Enns. (41) Präsident. Vizepräsident. Mitglieder des Zentralausschusses. Gesellschaftskanzlei. (41) Koch- und Haushaltungs-Wanderlehrerinnen. Obstbausektion der k.k. oö. Landwirtschafts-Gesellschaft in Linz. (42) Landw. Bezirksvereine. (42) Ziele und Bedeutung der Gesellschaft. (44) Fachvereine, Genossenschaften. (46) Verleihung der Ehrenmedaille der k.k. Landwirtschafts-Gesellschaft. (47) [Abb.]: 60 Jahre Kaiser! (Aus zu unserem Titelbild.) Franz Josef I. 1848-1908. ([49]) Kaiser Franz Josef I. 1848 - 1908. ([50]) Landwirtschaftliches. ([51]) Erziehung tüchtiger Viehzüchter. ([51]) [Gedicht]: Ernte. (53) "Welserstangen." (53) [Abb.]: "Welserstangen" am Markte. (54) [Abb.]: Frisch verpflanzter Baum. (55) Licht im Viehstalle. (55) [Finnischer Spruch]: Selbst. (56) Das Rauben der Bienen. (56) Das Stockroden. (57) [Abb.]: Fahrbare Rodemaschine von M. Boos. (57) Die Wälder wachsen fortwährend an Bedeutung und Wert. (58) Zur Kleedüngung. (59) [Abb.]: Kleehen, Erträge von je 100 m². (59) Regeln für Ernte und Verkauf des Obstes. (60) [Gedicht]: Wer das Huhn hält in Ehren, . (60) Kennzeichnen der Tiere. (60) [4 Abb.]: U-förmige Ohrmarke. (1)Offen. (2)Im Ohr angebracht. Ohrmarke Nr. 3 (3)Offen. (4)Geschlossen. (61) Die Schädlichkeit der Herbstzeitlose. (62) Haushund als Glucke. (63) [Abb.]: Haushund als Glucke. (63) Beachte es. (64) Zur Erleichterung und Beschleunigung der Getreideerntearbeiten. (64) [Abb.]: Getreideantraggabel. (64) Wie lange wirkt eine Vorratsdüngung mit Kainit und Thomasmehl? (65) [Abb.]: Grasnarbe vom ungedüngten und gedüngten Teil der Wiese im Jahre 1906. (65) [Tabelle]: Außer dieser Düngung bekam der Hafer als Kopfdüngung nach 230 kg Chilisalpeter. Die Hälfte des feldes blieb ungedüngt. Es wurden geerntet vom Hektar: (65) Vermarktet Eure Gründe! (66) Rationelle Einrichtungen für Geflügelställe. (67) [2 Abb.]: Muster-Geflügelstallanlage. (67) [2 Abb.]: (1)Stalltürselbstöffner. (2)Autom. Selbsttränke. (68) Dunkle Punkte in der Kälberaufzucht. (69) Zur Erhöhung der Haltbarkeit der Milch. (69) [Abb.]: Gedeckter Melkeimer. (70) Pfahl und Schutzhürde des Obstbaumes. (70) [2 Abb.]: Schutzhürde für Obstbäume. (1)Offen. (2)Am Baum angebracht. (70) [Abb.]: Imprägnieren der Baumstangen. (71) Allerlei Interessantes aus dem Leben unserer landwirtschaftlichen Haustiere. (71) Die wichtigsten tierischen und pflanzlichen Schädiger unserer Obstbäume. (74) [2 Abb.]: (1)Blattlaus. (2)Blutlaus. (74) [2 Abb.]: (1)Schildläuse. (2)Apfelblütenstecher. (75) [5 Abb.]: (1)Apfelbaum-Gespinstmotte. (2)Birnblattwespe. (3)Raupe des Johannisbeerspanners. (4)Raupen der Stachelbeerwespe. (5)Raupe der Kirschblattwespe. (76) [2 Abb.]: (1)Schorf (Fusicladium) des Kernobstes. (2)Schwarzfäule (Monilia) des Steinobstes. (77) [2 Abb.]: (1)Schwarzfäule (Monilia) des Kernobstes. (2)Gummifluß. (78) Zum Ausstechen der Distel und anderer Unkräuter. Der Holzzuwachs bei der Fichte. (79) [3 Abb.]: Distel- und Unkrautstecher. (79) [Tabelle]: .wird seitens Loreley pro Hektar und Boden III. Klasse pro Jahr wie folgt angegeben: (79) Über die Reinigung unserer Nutztiere. (80) [Abb.]: Selbstreinigungsapparat "Recessa" für Schweine. (80) Bewässerung der Obstbäume. (81) [2 Abb.]: Bewässerung der Obstbäume mit Krügen. (1)Herrichten durch Einschlagen des Bodens. (2)Eingegrabener Krug mit Deckel. (81) Kaninchenzucht in Oberösterreich. (81) [Gedicht]: (82) Die Zucht der Saanenziege. (83) [Abb.]: Preisgekrönte Saanenziegenzucht von Frl. Isabella Stuchly-Iglau. (83) Rationelle Zucht und Haltung des Schweines. (84) [Abb.]: Bakonyer Schwein. Eber. (84) [2 Abb.]: (1)Eber der großen, weißen engl. (Yorkshire-) Rasse. (2)Zuchtsau der großen, weißen engl. (Yorkshire-) Rasse. (85) [2 Abb.]: (1)Mittelgroße, weiße engl. Rasse. (2)Deutsches Edelschwein, Eber. (86) [2 Abb.]: (1)Deutsches Edelschwein, Zuchtsau. (2)Schweinestall für Zucht- und Mastschweine mit Futterküche. Grundriß. (87) [Abb.]: Mustergültige innere Einrichtung eines Schweinestalles. (88) [2 Abb.]: (1)Schweineauslauf mit Badevorrichtung. (2)Schweineschutzhütte im Freien. (89) [Zitat]: (89) Wiesen-Neuanlagen. (90) [3 Abb.]: (1)Thimothégras. (2)Knaulgras. (3)Fioringras. (90) [2 Abb.]: (1)Wiesenfuchsschwanz. (2)Wiesenschwingel. (91) [5 Abb.]: (1)Wiesenrispengras. (2)Goldhafer. (3)Ruchgras. (4)Kammgras. (5)Schaffschwingel. (92) Saatgutzüchtung in Oberösterreich. (93) [Abb.]: Getreide-Saatgutzuchtstation in Otterbach bei Schärding. (93) [Sprichwort]: Ein Sonntagsschöpplein tut dir besser als jeden Tag eine Halbe. (93) Über Rentabilität der Entenzucht. (94) Was ein Mensch in 60 Jahren verzehrt. (95) [2 Abb.]: (1)Bedarf an Brot in 60 Jahren. (2)Bedarf an Fleisch in 60 Jahren. (95) [2 Abb.]: (1)Kartoffelkonsum in 60 Jahren. (2)Konsum an Flüssigkeiten in 60 Jahren. (96) [2 Abb.]: (1)Zeitlebens verrauchte Zigarre. (2)Gesamtverbrauch in 60 Jahren. (97) Landwirtschaftliche Wahrheiten. (98) "Weizen und Spreu". Für Haus, Hof und Familie. ([99]) Unrichtige Hornstellung. ([99]) [7 Abb.]: (1-3)Unverstellbare Schweizer Hornrichter. (4-7)Ausziehb. bezw. verstellb. Schweizer Hornrichter. (100) Die Arbeiten am Getreideboden. Zur Ernte des Obstes. (100) [4 Abb.]: Fahrbare Sackhebewinde "Fortschritt". (1)Als Sackhalter. (2)Als Karren. (3)Als Sackhebewinde. (4)Ferderobsthaken. (100) Geburtshilfe. Erleichterte Saat. (101) [4 Abb.]: (1)Geburtsstrick. (2)Geburtsschlinge. (3)Geburtsschlinge in Verwendung. (4)Setzapparat "Fix". (101) Das Dengeln der Sensen. (102) [Abb.]: Handdengelapparat. (102) Haupterntezeit in den einzelnen Ländern der Erde. (102) Verhinderung des Überlaufens und Anbrennens der Milch. (103) [2 Abb.]: Milchschützer "Ich paß auf". (103) Zwei neue Sicheln. (103) [Abb.]: Amerik. Sichel mit auswechselbarem Messer. (103) [Abb.]: Kultursichel mit Beil. (104) Zum Striegeln der Pferde. Zur Butterbereitung in kleineren Wirtschaften. (104) [4 Abb.]: (1-3)Pferdestriegel "Bucephalos". (4)Milchkanne als Butterfaß. (104) "Schmücke dein Heim!" (104) [5 Abb.]: (1)Drehbarer Topfhalter. (2)Fenster- und Wand-Blumenkasten und Blumenampel aus Holz. (3)Johns Blumenampel. (4)Johns Blumenkonsole. (5)Blumentopfstütze "Hygiea". (105) [2 Abb.]: (1)Vermehrungskasten "Herkules". (2)Vermehrungskasten "Herkules" im Gebrauch. (106) [Abb.]: Johnsche Blumenkonsolen mit Thunbergia an einem Gartentor. (107) [Abb.]: Gartenanlage in Erfurt. (108) Unkraut-Vermehrungsfähigkeit. (108) "Eine brennende Frage." (108) [2 Abb.]: (1)Anwendung des Feuerlöschers "Blitz" bei Zimmerbrand. (2)Löschung eines mit Äther und Benzin gefüllten Fasses. (109) Die Einstreu der Hundehütten. (109) Reform im Kochen. Alkoholgehalt der Getränke. Pferde, beißende kurieren. Kühe zu beruhigen. (110) [Abb.]: Reform-Kochtopf. (110) Orientreisen. (111) [Abb.]: Teilnehmer der 24. Orientfahrt am Tempelplatz zu Jerusalem. (111) Die zehn Gebote der Gesundheit. (111) [Abb.]: Eine sehr schöne Zimmerzierde und Erinnerung stellen die neuen Mitgliederdiplome dar, deren Erwerb sich jedes Mitglied zur Pflicht machen sollte. (112) Für den Feierabend. Lustige Ecke. ([113]) Zu was es gut ist, wenn einer lesen kann. ([113]) A Bierstreik z' Grafened. (116) [Gedicht]: Die zwei Grammophone. (119) Der König der Zauberer. (119) Umgangen. Trachten. Bettlerlogik. Originelle Inschrift. Ein kleiner Reinfall. Geldheirat. Eine gute Antwort. Unangenehm. (120) [Gedicht]: Frostspanners Leben, Liebe und Ende. (121) Undank. In der Schule. Zarte Mahnung. Gutmütig. Enttäuscht. Gut gewählt. Gut ausgerichtet. Bestrafte Heuchelei. Drastische Probe. Die Zeiten ändern sich. Die Kunstfreundin. (121) Aernsdlicher Heiradsandrag. Aha! (122) [Gedicht]: Vier Blumen im Getreidefelde. (122) Die Jubiläumsausgabe. Im Heiratsbureau. Kleiner Unterschied. Wechsel. Das Geständnis. Vom Gebirgslackelerhaltungsverein. Gemütsmensch. Unreell. Unnötig. Stoßseufzer. Prüfung aus der Chemie. Standesgemäß. (122) Unfreiwilliger Humor auf Grabinschriften. Im Theater. Ein Praktischer. Moderne Dienstboten. Unbewußte Selbstkritik. Verblümt. Die letzte Stütze. (123) [Gedicht]: Zweierlei Segen. (123) Vermutung. Mittel gegen die Schwatzhaftigkeit. Anzüglich. Der weiße Radi. (124) [Gedicht]: Italienische Kost. (124) Eine Schreckensszene. Aus einer bayrischen Schulstube. Verblümt. (124) "Ruhe sanft!" Hohn. Auch ein Reim. (125) [Gedicht]: A net schlecht. (125) Zur Teuerung. Untrügliches Kennzeichen. Gesellschaften. Glaubhaft. Bei Gericht. (125) Schlau. Die höhere Tochter. Die Strafe Adams. Beim Arzt. Die weinenden Kühe. (126) [Gedicht]: Das vielgehaßte Automobil. (126) In der Sommerfrische. Pariert. Die Kuh. Er weiß es. Der Theaterhut. (126) Ursprung der Donau. Aufklärung. (127) [Gedicht]: Die Gans. (127) Der pfiffige Schüler. Indiskret. Gelungene Erklärung. Forderung. Eine Abfuhr. Die zivilisierten Kühe. Kindermund. Gemütlich. Ein Unterschied. (127) Aha! Ein Opfer seines Berufes. Eine der seltsamsten Betrügereien. Lakonisch. Etwas anderes. Praktisch. Der gute Ton im Zuchthause. "Ein Muster von einem Förster." (128) [Gedicht]: s' böse G'wissen. (128) Wirtschaftstabellen und Wirtschaftsnotizen. (129) 1. Des Landmanns monatliche Verrichtungen. (129) Januar - Mai. (129) Juni. (129) Juli - Dezember. (130) [2 Tabellen]: (1)2. Aussaat und Ernteverhältnisse unserer Kulturpflanzen. (2)3. Paarungs-, Trächtigkeits- und Brüteverhältnisse unserer Haustiere. (131) [2 Tabellen]: (1)4. Trächtigkeits-Anfang und -Ende. (2)5. Brünstigkeit. (132) [3 Tabellen]: (1)6. Altersbeurteilung des Pferdes. (2)7. Zähneausbruch und -wechsel bei Pferd, Rind, Schaf. (3)8. Pulsschläge, Atemzüge, Körperwärme gesunder Tiere. (133) 9. Verhältniszahlen für die Bienenwirtschaft. (134) Stärke und Gewicht der Schwärme. Eierlegen der Königin. (134) [4 Tabellen]: (1)Entwicklungszeit, Lebensdauer, Größe und Gewicht der Biene. (2)Jahrestracht und Honigbedarf zur Winterfütterung. (3)Stärke der Stöcke zur Schwarmzeit. Blüten- und Honigbedarf zum Wachsbau. (4)Zellenmenge. Temperatureinfluß auf Wachs und Bienen. (134) [Tabelle]: 10. Gewährsmängel und Gewährszeiten der Haustiere. (135) 11. Milchwirtschaftliche Verhältniszahlen. (135) 12. Geschwindigkeiten, m pro Sekunde. (135) 13. Für bauende Landwirte. (135) [Tabelle]: Das Volumen von 1 m³ nachstehender Materialien wiegt q: (135) [Tabelle]: 14. Verzehrungssteuertarif in Linz. (136) 15. Welche Düngemittel dürfen nicht gleichzeitig ausgestreut werden? (136) [Abb.]: (136) 16. Düngerproduktion. - Streu. (137) 17. Hilfeleistung bei Unglücks- und Erkrankungsfällen bis zur Ankunft des Arztes. (137) [2 Tabellen]: (1)18. Schonzeiten des Wildes und der Fische. (2)19. Schwendung landw. Produkte b. 3/4 - 1 jähr. Aufbewahrung. (139) 20. Taschenuhr als Kompaß. (139) [Tabelle]: 21. Kubiktafel für runde Hölzer. (140) 22. Neue und alte Maße und Gewichte. (141) I. Längenmaße. II. Flächenmaße. III. Körpermaße, Hohlmaße. IV. Gewichte. (141) 23. Ausländisches Geld in österr. Kronenwährung. (141) 24. Lohnberechnung. (142) [Tabelle]: Lohnberechnungstabelle bei einer Lohnhöhe von 50 - 200 K (§ 18 des Dienstbotengesetzes). (143) [Tabelle]: Bare Einnahmen und Ausgaben. (I) [Tabelle]: Zusammenstellung der Bar-Einnahmen und Ausgaben des Jahres. (XIII) [Tabelle]: Beleg- und Geburtsliste. (XV) [Tabelle]: Probemelk-Tabelle. (XVI) [Tabelle]: Anbau- und Ernteregister. (XVIII) [Tabelle]: Ausdruschregister. (XX) Werbung (XXI) Inhalt. (XXII) Werbung ( - ) Einband ( - ) Einband ( - )
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Lambert T. Koch reagiert auf die Vorwürfe einer zu großen Nähe des Hochschulverbands zum "Netzwerk Wissenschaftsfreiheit". Im Interview sagt der DHV-Präsident, wo er die Berufsvertretung wissenschaftspolitisch verortet sieht, wie er um nichtprofessorale Mitglieder wirbt – und welche Rolle für ihn Gender Studies und die Postkoloniale Theorie spielen.
Lambert T. Koch, 58, ist Wirtschaftswissenschaftler und war von 2008 bis 2022 Rektor der Bergischen Universität Wuppertal. Viermal wurde er von DHV-Mitgliedern zum "Rektor des Jahres" gekürt. 2023 trat Koch die Nachfolge von Bernhard Kempen als Präsident des Deutschen Hochschulverbandes an. Foto: Deutscher Hochschulverband/BeAStarProductions.
Herr Koch, der Deutsche Hochschulverband (DHV) bezeichnet sich selbst als "Berufsvertretung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Deutschland". Wäre es nicht fairer zu sagen, dass er lange vor allem eine Vertretung arrivierter Professoren und ihre Interessen war? Und ist er es immer noch?
Wie es der Begriff "Berufsvertretung" nahelegt, versteht sich der DHV schwerpunktmäßig als ein Interessenverbund von Menschen, die hauptberuflich und dauerhaft in der Wissenschaft tätig sind oder sich für eine solche Tätigkeit qualifizieren. Natürlich passt er sich dabei an veränderte Karrierewege an. So hat er sich schon vor Jahren nicht nur für Habilitierende und Juniorprofessorinnen und -professoren, sondern generell auch für Postdocs geöffnet. Die Serviceangebote des DHV wollen Mitglieder in jedem beruflichen Stadium ansprechen – von der Phase der Qualifizierung bis in die Zeit nach der Emeritierung. Was Studierende und Promovierende anbetrifft, strebt rein statistisch am Ende nur ein geringer Prozentsatz eine wissenschaftliche Karriere an. Dennoch sind uns auch berechtigte Interessen dieser Gruppen nicht gleichgültig.
Rund 70 Prozent der DHV-Mitglieder sind unbefristet beschäftigte Professorinnen und Professoren. Was tun Sie, um den Anteil von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu erhöhen, die keine Professur, aber eine Dauerstelle haben? Und wie wollen Sie mehr junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Karrierephase als Mitglieder gewinnen? Zuletzt gab es in zwei Protestwellen sogar zahlreiche Austritte.
Zu den zentralen wissenschaftspolitischen Zielen des DHV gehört es, über alle Personalkategorien hinweg Wissenschaft als Beruf attraktiv zu halten. Deshalb legen wir regelmäßig dort den Finger in die Wunde, wo sich Rahmenbedingungen verbessern müssen. Wir nehmen natürlich Rücksicht darauf, dass die Interessen unserer Mitglieder divergieren. So haben beispielsweise junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein mehr als verständliches Interesse daran, dass für sie verlässliche Perspektiven im Wissenschaftssystem gegeben sind. Dies nimmt der Verband genauso auf, wie er unermüdlich auf eine auskömmliche Budgetierung von Hochschulen drängt, damit junge Menschen überhaupt eine wissenschaftliche Karriere anstreben können. Vielerorts werden zusätzliche Dauerstellen im Mittelbau benötigt, auch im Rahmen neuer Personalkategorien unterhalb der Professur. Das mahnen wir an. Dass es trotz unserer Bemühungen, möglichst alle Gruppierungen mitzunehmen, Austritte gegeben hat, bedauere ich. Der DHV konnte diese Austritte bislang zwar immer durch Eintritte mehr als kompensieren. Doch unser Anspruch ist es, artikulierte Unzufriedenheit ernst zu nehmen. Dass ansonsten die schon erwähnten Serviceangebote und persönlichen Beratungen insbesondere auch von jüngeren Mitgliedern immer wieder sehr gutes Feedback erhalten, ist dann doch zumindest ein Indikator dafür, dass der DHV einiges richtig macht.
Ihr Vorgänger Bernhard Kempen hat den DHV sehr konservativ positioniert. An welcher Stelle und bei welchen Positionen unterscheiden Sie sich von ihm?
In der öffentlichen Debatte ist man für meinen Geschmack heute zu schnell dabei, Menschen und Institutionen Stempel aufzudrücken oder Bekenntnisse abzufordern: rechts oder links, konservativ oder progressiv, für mich oder gegen mich. Wenn man dies bezüglich meiner Person versuchte, wäre ich darüber nicht glücklich. Gerade in einer Zeit, in der Politik an den Hochschulen wieder eine größere Rolle spielt, müssen wir uns als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das leisten, was Wissenschaftsfreiheit ja Gott sei Dank ermöglicht: Wir sollten Sachverhalte differenzierter betrachten und dabei auch unterschiedliche Sichtweisen respektieren – fair und ohne Polemik, mit der man nach meinem Eindruck heute allzu schnell bei der Hand ist. Der DHV vereinigt rund 33.500 fachlich, biografisch und von ihrer politischen Anschauung her höchst unterschiedliche Mitglieder. Diese Vielfalt bereichert den Verband. Was uns verbindet, ist das Interesse an freier Forschung und Lehre sowie guten Arbeitsbedingungen. Darüber hinaus sind wir alle dem Streben nach Erkenntnis verpflichtet. Wir sind gewissermaßen immer auf dem Weg und offen für neue Positionen und Perspektiven. Nur so bleiben wir auch als Verband glaubwürdig und interessant. Davon bin ich überzeugt.
"Der DHV arbeitet institutionell mit dem Netzwerk Wissenschaftsfreiheit nicht zusammen und hat keinen Einfluss auf dessen Entwicklung."
Wenn der DHV, wie geschehen, das "Netzwerk Wissenschaftsfreiheit" als "willkommenen Mitstreiter" bezeichnet, was sagt das über das Verhältnis zwischen DHV und Netzwerk?
Die Bezeichnung halte ich für missverständlich. Sie ist meines Wissens ein einziges Mal verwendet worden und bezog sich auf das wichtige Anliegen, die Freiheit der Wissenschaft gegen Übergriffe zu verteidigen. Missverständlich deshalb, weil damit zu keinem Zeitpunkt eine pauschale Zustimmung zu sämtlichen Aktivitäten und Positionen des Netzwerks verbunden war, erst recht nicht zu problematischen Personalia. Der DHV arbeitet institutionell mit dem Netzwerk nicht zusammen und hat keinen Einfluss auf dessen Entwicklung. Das Netzwerk hat gut 700 Mitglieder, die sich aus einer gemeinsamen Problemwahrnehmung heraus zusammengefunden haben. Wir vertreten wie gesagt mehr als 33.000 Mitglieder und sprechen dabei für eine große Zahl von Kolleginnen und Kollegen, die heterogene Perspektiven und voneinander abweichende Erwartungen pflegen. Was unterschiedliche wissenschaftliche Positionen angeht, kommt es uns nicht zu, eine Schiedsrichterrolle einzunehmen.
Und wissenschaftspolitisch? Anhand welcher Kriterien sollte sich eine Berufsvertretung da positionieren?
Eine Berufsvertretung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern muss für die Freiheit von Forschung und Lehre eintreten. Das ist ihr klarer wissenschaftspolitischer Auftrag. Welche konkreten Positionen und Forderungen daraus erwachsen, muss von Fall zu Fall entschieden werden. Bewertungsrundlage ist aber stets die freiheitlich demokratische Grundordnung. Das heißt beispielsweise, dass auch unliebsame, den eigenen Überzeugungen zuwiderlaufen Ansichten im wissenschaftlichen Diskurs zuzulassen sind. Sollte bestimmten wissenschaftlichen Positionen oder Fachrichtungen die Daseinsberechtigung abgesprochen werden, muss der DHV die Stimme erheben. Er würde aber sein Mandat überziehen, wenn er sich beispielsweise in politischen Diskussionen dazu einmischte, welche Fachrichtungen auf Kosten anderer besonders gefördert werden sollten. Dies ergibt sich schon aus der Vielzahl von Fächern, die in unseren eigenen Reihen vertreten sind.
Wie stehen Sie zu der per Offenen Brief geäußerten Kritik des "Netzwerks Wissenschaftsfreiheit", die Postkoloniale Theorie habe "erheblichen Anteil an der Diskreditierung und Erosion fundamentaler Prinzipien der Wissenschaftlichkeit und der Wissenschaftsfreiheit"?
Ich halte diese Position für zu pauschal. Die mir bekannten postkolonialen Theorieangebote weisen eine hohe Heterogenität und Differenziertheit auf. Sie gehen auch unterschiedlich weit, was ihre implizite oder explizite Normativität betrifft. Hier besteht vor allem auf fachlich-inhaltlicher Ebene viel Diskursbedarf. Zum Teil wurde in der Kritik an dem von Ihnen erwähnten Offenen Brief ja behauptet, dass das Netzwerk die Politik dazu auffordere, postkoloniale Studien an Universitäten zu unterbinden. Tatsächlich heißt es aber in dem Schreiben: "Wir wenden uns selbstverständlich nicht dagegen, dass postkoloniales und anderes postmodernes Gedankengut an unseren Universitäten vertreten wird. Es muss aber jederzeit kritisch diskutiert werden können." Da halte ich es schon für wichtig, bei aller Erregung, korrekt zu bleiben. Ich persönlich mag den polemischen Stil auf beiden Seiten nicht und glaube auch nicht, dass wir uns als Wissenschaft mit Blick auf die interessierte Öffentlichkeit damit einen Gefallen tun. Das Thema ist wichtig. In der Sache sollte daher gerne auch hart diskutiert werden. Dabei sollten die Beteiligten aber gelassener bleiben und nicht immer wieder unter die Gürtellinie zielen.
"Viele, die selbst eine wissenschaftliche Laufbahn durchschritten haben, werden mir zustimmen, dass es in frühen Karrierephasen riskanter ist, sich gegen den Mainstream des eigenen Fachs zu positionieren."
Besteht die eigentliche Gefahr einer mangelnden Meinungs- und Perspektivenvielfalt in der deutschen Wissenschaft nicht in der mangelnden Vielfalt in den wissenschaftlichen Führungspositionen?
Ich halte Perspektivenvielfalt in einer offenen und innovativen Wissenschaft für wesentlich und unverzichtbar. Das deutsche Wissenschaftssystem verträgt fraglos mehr biografische Heterogenität. Vielfalt darf dann aber auch unterschiedliche politische Positionen nicht ausschließen. Außerdem darf nicht aus dem Blick geraten, dass Wissenschaft vor allem einem Wahrheitsanspruch verpflichtet ist. Ihre Positionen entwickeln sich methodengeleitet und dürfen nicht leichthin auf schlichte Meinungen reduziert werden. Dies kommt mir bisweilen in der aufgeheizten Debatte um Vielfalt zu kurz. Wir müssen genauer fragen, wo mehr Vielfalt benötigt wird und was wir davon erwarten. Es gibt viele gute Gründe dafür, Chancengleichheit zu fordern und Benachteiligungen auf dem Karriereweg zu bekämpfen. Doch das allein führt nicht notwendigerweise zu besserer Erkenntnis. Im Übrigen ist es eine Stärke des DHV, dass so viele unterschiedliche Fächer vertreten sind, die mit dem Thema Vielfalt je eigene Perspektiven verbinden. Diese gilt es zusammenzubringen, um zu differenzierten Antworten zu gelangen. Darin liegt zugleich ein großer Vorzug, der Wissenschaft gegenüber Politik auszeichnet.
Wessen Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit ist stärker gefährdet: die verbeamteter Professor:innen oder wissenschaftlicher Mitarbeiter:innen in frühen Karrierephasen?
Es gibt nur eine Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit für alle, unabhängig vom Beschäftigungsstatus. Aber viele, die selbst eine wissenschaftliche Laufbahn durchschritten haben, werden mir zustimmen, dass es in frühen Karrierephasen riskanter ist, sich gegen den Mainstream des eigenen Fachs zu positionieren. Grundsätzlich sollten die Organisationsstrukturen in der Wissenschaft für alle so sein, dass die Bereitschaft, Überkommenes infrage zu stellen und innovative Pfade zu beschreiten, unterstützt und geschützt wird, ohne die Verantwortung für Qualitätssicherung zu vernachlässigen. Das heißt etwa auch, Professorinnen und Professoren müssen ebenso selbstverständlich mit dem begründeten Widerspruch von wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern leben wie umgekehrt.
Wie soll das gehen angesichts des Machtgefälles, das vielerorts immer noch herrscht?
Ich bin optimistisch, dass sich Varianten der alten Idee einer so gearteten Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden in einem transparenten, offenen Wissenschaftsbetrieb auch heute realisieren lassen.
Inwiefern braucht es für eine Steigerung der Exzellenz und für eine größere Perspektivenvielfalt in der deutschen Wissenschaft auch mehr Vielfalt und Diversität unter den Professor:innen, und wie wollen Sie sich als DHV konkret für Veränderungen einsetzen?
Der DHV setzt sich in vielerlei Hinsicht für ein offenes und faires Wissenschaftssystem in Deutschland ein. Dieser Einsatz betrifft die grenzüberschreitende Offenheit für Menschen unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht, sexueller Orientierung, Nationalität, Sprache, Religion oder sozialem Status. Unter Berücksichtigung des Prinzips der Bestenauslese können zusätzliche Perspektiven die Ergebnisse von Wissenschaft bereichern. Ansatzpunkte, in diese Richtung zu wirken, ergeben sich bei jeder Beteiligung an Hochschulgesetzesnovellen, bei der Auditierung von Hochschulen für transparente und faire Berufungsverhandlungen oder auch mit Blick auf viele Serviceangebote, gerade für neue Mitglieder.
"Als wenig redlich empfinde ich es, wenn der Eindruck erweckt wird, als wäre es an der Tagesordnung, dass der DHV gegen Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftler namentlich Stellung bezieht."
Könnten hier auch die Gender Studies willkommene Mitstreiter des DHV sein? Welche Bedeutung haben diese grundsätzlich an deutschen Universitäten?
Jede Disziplin, die mit wissenschaftlichen Methoden nach rationaler Erkenntnis sucht und dafür Wissenschaftsfreiheit einfordert, ist eine willkommene Mitstreiterin des DHV. Ich sehe keinerlei Grund, warum dies für Gender Studies nicht gelten sollte, sofern sie, wie jedes andere Fach auch, danach trachten, methodengeleitet einen Teilausschnitt der Welt besser zu verstehen. Worauf es hier für Universitäten ankommt, hat beispielsweise der Wissenschaftsrat in seiner jüngsten Bestandaufnahme zur Geschlechterforschung hervorgehoben.
War es klug, dass der DHV in einer Debatte über die Wissenschaftsfreiheit eine einzelne kritische Wissenschaftlerin per Tweet namentlich angegangen ist?
Ich persönlich mag den rauen oder teils sogar sehr derben Stil, der in Debatten auf Plattformen wie "X" zuweilen vorherrscht, nicht. Das kam ja schon raus. Ihre Frage, ob es im konkreten Fall, den ich natürlich kenne, klug war, eine einzelne Wissenschaftlerin per Tweet namentlich zu nennen, lässt sich nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten. Am besten macht sich jeder selbst ein Bild. Ich weiß, dass der Fall in einem Blog-Beitrag harsch kritisiert wurde. Als wenig redlich empfinde ich es allerdings, wenn der Eindruck erweckt wird, als wäre es an der Tagesordnung, dass der DHV gegen Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftler namentlich Stellung bezieht. Richtig ist, dass ein großer Berufsverband sicherlich mehr aushalten kann und muss als eine Einzelperson, selbst wenn diese gelegentlich im Verbund mit meinungsstarken Netzwerken und Akteuren agiert. Die konkrete Namensnennung erfolgte im Tweet zu einem FAZ-Artikel. In diesem wird die Wissenschaftlerin zwar nicht namentlich erwähnt, jedoch unter offensichtlicher Bezugnahme auf zuvor öffentlich im Blog getätigte Äußerungen kritisiert. Dass die Weiterleitung des Artikels und der Tweet die Gemüter derart erhitzen, hat mich überrascht. Aber natürlich nehme ich den Unmut zur Kenntnis.
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Deutschlands Wissenschaftsfinanzierung ist eine föderale Erfolgsgeschichte – und beruht auf einem Wertekonsens, der politisch bislang nie in Frage gestellt wurde. Was wäre, wenn sich das änderte? Ein Gastbeitrag von Hans-Gerhard Husung.
Hans-Gerhard Husung (SPD) war Staatssekretär für Wissenschaft und Forschung in Berlin und von 2011 bis 2016 Generalsekretär der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (GWK). Foto: privat.
EIN BLICK IN DIE WELT genügt, um zu erkennen, dass das Gedeihen der Wissenschaft von den politischen Rahmenbedingungen abhängt. Die Niederlande und Skandinavien sind aktuelle Beispiele dafür, dass populistische Regierungen und Parlamentsmehrheiten für das Wissenschaftssystem, insbesondere die Hochschulen, spürbar negative Auswirkungen haben. Ein erstes Opfer ist regelmäßig die Internationalisierung, indem beispielsweise englischsprachige Studienangebote gestrichen, Visabestimmungen geändert oder Kapazitäten zurückgefahren werden. Wenn in Großbritannien die Tories und ihr Premierminister das Ziel "50 per cent of 18 to 30-year-olds being able to enter higher education" für "one of great mistakes of the last 30 years" halten, ist es höchste Zeit für eine kurze Besinnung über die eigene Lage.
75 Jahre Grundgesetz bedeuten auch eine Erfolgsgeschichte für die Wissenschaft und ihre Finanzierung in Deutschland. Die Pflicht des Staates, die Wissenschaftsfreiheit nach Artikel 5, Absatz 3 materiell zu gewährleisten, gehörte ebenso zum breiten politischen Grundkonsens aller Parteien und Regierungen wie die freie Wahl des Berufs und die Gewährleistung entsprechender Studienmöglichkeiten, zuletzt umgesetzt im Hochschulpakt und im Zukunftsvertrag Studium und Lehre stärken. In diesen Grundkonsens haben sich die im Laufe der Jahrzehnte neu entstehenden Parteien regelmäßig eingebracht, zunächst die Grünen und nach 1990 auch die PDS bzw. die Linkspartei. Ihre Integration in den kooperativen Föderalismus für die Wissenschaft ist überall gelungen, wo sie in den Ländern politische Verantwortung übernommen haben.
Wie Bund und Länder gemeinsam die Wissenschaft finanzieren
Dieser politische Grundkonsens über die Bedeutung einer den Werten der Aufklärung verpflichteten, rationalen Wissenschaft war und ist die Voraussetzung für ihre gemeinschaftliche Finanzierung zunächst nur durch die Ländergemeinschaft, mit der Verfassungsreform von 1969 durch die Länder und den Bund. Zweimalige Änderungen des Grundgesetzes 2006 und 2015 haben die gemeinsamen Handlungsmöglichkeiten jeweils noch erweitert. Rund 18 Milliarden Euro fließen jährlich auf dieser Basis ins Wissenschaftssystem, ein großer Teil davon über den Pakt für Forschung und Innovation an die außeruniversitären Forschungseinrichtungen und die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und über den "Zukunftsvertrag Studium und Lehre stärken" in die Hochschullehre.
Geht das Grundgesetz in der deutschen Verfassungstradition von der Trennung der Aufgabenbereiche zwischen Bund und Ländern aus, so wird mit den Gemeinschaftsaufgaben, zu denen die Wissenschaftsfinanzierung gehört, ein gesetzlich nicht geregelter Zwischenraum eröffnet, der von den Regierungen durch Verwaltungsvereinbarungen exekutiv ausgestaltet werden kann. Die damit verbundene finanzielle Selbstbindung der Beteiligten unterliegt dem Einstimmigkeitserfordernis, entweder der Wissenschaftsminister und Finanzminister oder der Regierungschefs von Bund und Ländern. Die Arena für die Aushandlung ist in der Wissenschaft die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz von Bund und Ländern. Das Risiko der damit 17 potenziellen Veto-Spieler wurde bislang durch den wissenschaftspolitischen Grundkonsens unter allen Beteiligten wirkungsvoll eingehegt. Äußerst seltene Veto-Situationen etwa bei Haushaltsnotlagen ließen sich auf der Ebene der Ministerpräsidenten pragmatisch auflösen.
Ob das auch bei einer populistischen Landesregierung gelingen würde, deren sie tragende Partei mit ihren "verfassungsfeindlichen Strömungen" eher auf alternative Fakten und Verschwörungstheorien als auf Aufklärung und Rationalität setzt, ist mehr als fraglich. Und was würde ein solches Szenario für die bestehenden Verwaltungsvereinbarungen bedeuten?
Mit den Vereinbarungen verpflichten sich zunächst die Regierungen von Bund und Ländern, in ihren jeweiligen Haushaltsentwürfen die entsprechenden Summen vorzusehen. Alle Vereinbarungen stehen mit Blick auf die finanzielle Ausstattung dann jedoch unter dem Vorbehalt der Zustimmung der 17 Parlamente von Bund und Ländern. Nicht zuletzt wegen der konkreten finanziellen Vorteile für die Wissenschaftseinrichtungen im eigenen Land hat allerdings noch nie ein Parlament die Bereitstellung der notwendigen Mittel verweigert. Was bislang deshalb eher formelhaften Charakter hatte, könnte ein Landesparlament bei entsprechenden wissenschaftsaversen Mehrheiten scharf schalten – mit dramatischen Folgen nicht nur für die Wissenschaft im Land, sondern darüber hinaus für die Gemeinschaftsfinanzierung der Wissenschaft in Deutschland.
Zwei Programmgruppen, zwei Szenarien
Was könnte konkret passieren? Die laufenden Programme lassen sich unter dem Risikoaspekt in zwei Gruppen unterteilen: Erstens geförderte Maßnahmen, bei denen eine bilaterale Finanzierung von Bund und jeweiligem Sitzland vorgesehen ist ("Forschung an Fachhochschulen", "Innovative Hochschule", das Professorinnenprogramm,) oder der Bund allein die Mittel bereitstellt ("Wissenschaftlicher Nachwuchs", "Qualitätsoffensive Lehrerbildung"). Alle diese Programme haben den Charakter eines Projekts, sind deshalb zeitlich befristet und laufen automatisch aus, wenn sie nicht durch einen entsprechenden Beschluss in der GWK verlängert werden. Aus ihnen könnte jedes Land durch eigene Entscheidung faktisch ausscheiden, zum Beispiel indem es keine Anträge weiterreichte, mit entsprechenden Konsequenzen für die eigenen Einrichtungen, jedoch ohne unmittelbare Folgen für das Gesamtprogramm während seiner Laufzeit.
Die zweite Gruppe betrifft Verwaltungsvereinbarungen, die auf unbestimmte Zeit geschlossen wurden und die von einem einzigen Land, das den wissenschaftspolitischen Grundkonsenses nicht mehr mitträgt, nicht einseitig gekündigt werden könnten. Das gilt für die Exzellenzstrategie, den "Zukunftsvertrag Studium und Lehre stärken" und die Innovative Hochschullehre, die für die Hochschulen von ganz besonderer Bedeutung sind. Für eine Kündigung wären im Ernstfall zwischen drei und acht Länder notwendig, allerdings mit einer gewichtigen Ausnahme: Beim Zukunftsvertrag besteht für jedes Land die Möglichkeit einer außerordentlichen Kündigung, also eine individuelle Ausstiegsoption.
Eine wissenschaftsaverse Landesregierung beispielsweise in einem ostdeutschen Land hätte demnach die Möglichkeit, für ihre Hochschulen aus dem Zukunftsvertrag auszusteigen: mit erheblichen Nachteilen für die betroffenen Hochschulen des Landes, jedoch ohne unmittelbare Auswirkungen auf das gesamte Hochschulsystem – zumindest so lange, wie der bestehende Zukunftsvertrag keine Änderung erfahren soll.
Der hypothetisch durchgespielte Fall verweist jedoch auf ein Defizit der bestehenden Regelungen: Es ist in der Verwaltungsvereinbarung keine Wiedereinstiegsmöglichkeit vorgesehen. Im hypothetischen Fall bliebe das Land auch bei einem Wechsel zu einer wissenschaftsfreundlichen Landesregierung dauerhaft ausgeschlossen. Die Austrittsoption sollte deshalb durch eine entsprechende Wiedereintrittsoption ergänzt werden.
Sollte der Zukunftsvertrag inhaltliche Änderungen erfahren, würde wieder nach Grundgesetz-Artikel 91 b das verfassungsrechtliche Erfordernis der Einstimmigkeit greifen. Ähnliches gilt für den Pakt für Forschung und Innovation, der zwar keine Kündigungsklauseln enthält, wohl aber eine zeitliche Befristung, aktuell bis zum Jahre 2030. Für seine Verlängerung wäre ein einstimmiger Bund-Länderbeschluss notwendig.
Weil keiner es sich vorstellen konnte
Die grundsätzliche gemeinsame Bund-Länder-Finanzierung der außeruniversitären Forschungseinrichtungen und der DFG sieht dagegen keine Kündigungsmöglichkeit vor. Die entsprechenden Vereinbarungen unterliegen lediglich dem Risiko, dass das Verwaltungsabkommen zwischen Bund und Ländern über die Errichtung der GWK außer Kraft tritt. Als diese Vereinbarung 2007 geschlossen wurde, wurden die Konditionen einer möglichen Kündigung relativ dilatorisch behandelt, weil der wissenschaftspolitische Grundkonsens weitergehende Überlegungen als vollkommen abwegig erscheinen ließ. Während eine Kündigungsfrist von zwei Jahren genannt wird, ist nicht einmal ein Länderquorum vorgesehen. Gleichwohl ist die politische Kündigungshürde außerordentlich hoch. Ob sie zur Abwehr eines destruktiven politischen Willens ausreicht, wird hoffentlich keinem Praxistest unterzogen.
Wie könnte das System der gemeinsamen Wissenschaftsfinanzierung von Bund und Ländern wetterfester gemacht werden? Im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung könnte der Bund zum Beispiel ein Gesetz zur Forschungsförderung beschließen, das seine Rolle im System der Forschungsförderung gesetzlich festschriebe. Eine Option, die historisch lediglich in den 1950er Jahren der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer als Drohpotenzial ins Spiel brachte – gegenüber der Weigerung der Länder, den Bund in das Königsteiner Abkommen aufzunehmen. Der gesetzgeberische Aufwand wäre vermutlich erheblich, die Wirkung im Vergleich mit dem Status quo begrenzt, denn die Vorhaben an Hochschulen und vor allem der Zukunftsvertrag blieben außen vor.
Im Zusammenhang mit der Verfassungsreform 2006 wurden unterschiedliche Modelle einer konsequenten Entflechtung diskutiert, die dem Gedanken einer Aufgabentrennung zwischen Bund und Ländern folgten. Sie sind damals vor allem wegen der Pfadabhängigkeit im erfolgreichen kooperativen Föderalismus nicht zum Tragen gekommen. Auch eine solche konsequente Zuständigkeitstrennung wäre sehr aufwändig und mit großen Unsicherheiten verbunden, da verfassungsändernde Mehrheiten im Bundestag und Bundesrat notwendig wären. Der begrenzte Vorteil bestünde in der entkoppelten Risikoverteilung für das Wissenschaftssystem auf 17 unabhängige Akteure; dem würde als Nachteil die Abhängigkeit der betroffenen Einrichtungen von einem einzigen Akteur – Land oder Bund - entgegenstehen. Ein mit Blick vor allem auf die Länderhaushalte wenig attraktives Szenario.
Von der Wirkung her durchaus vergleichbar wäre, den grundsätzlichen Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern und der Länder untereinander zu verändern. Überlegungen, das unterschiedliche finanzielle Engagement der einzelnen Länder für ihre Hochschulen als "Hochschullast" in den vertikalen und horizontalen Länderfinanzausgleich einzubeziehen, gab es bereits in den 1950er Jahren. Die Verlagerung zusätzlicher Umsatzsteuerpunkte vom Bund auf die Länder wäre eine weitere theoretisch denkbare Möglichkeit, die jedoch nur bei einer Entflechtung Sinn machen würde. Alle haushaltssystematischen Varianten hätten zudem den großen Nachteil, dass die Finanzflüsse in den Finanzministerien der Länder ankämen und in Konkurrenz mit anderen Politikfeldern im Kabinett und im Parlament für die Wissenschaft erkämpft werden müssten. Demgegenüber weist die Gemeinschaftsfinanzierung den großen Vorteil auf, dass sie ohne politische Umwegrisiken in den Wissenschaftsministerien der Länder und damit zielgenau etwa bei den Hochschulen ankommt.
Eine "Koalition der Willigen"? mithilfe des Grundgesetz-Artikels 91b?
Schließlich sei im Zusammenhang mit der Ausstiegsoption beim Zukunftsvertrag der naheliegende Gedanke einer "Koalition der Willigen" weitergeführt: Der Bund legt ein Förderprogramm beispielsweise für eine größere hochschulpolitische Zielsetzung auf, verbunden mit einem Opt-in-Angebot an die Länder, die sich beteiligen möchten. Aber auch dafür bräuchte der Bund die Zustimmung aller Länder.
Eine Zwei-Drittel-Mehrheit von Bundestag und Bundesrat wäre nötig für eine Änderung des Artikels 91b, um eine Mitfinanzierungsverpflichtung des Bundes im Bereich der Hochschulen gesetzlich zu verankern, wie es sie beispielsweise im föderalen System der Schweiz gibt. Eine solche Änderung könnte sich für den Hochschulbereich insofern auf den Artikel 91a stützen: "(1) Der Bund wirkt auf folgenden Gebieten bei der Erfüllung von Aufgaben der Länder mit, wenn diese Aufgaben für die Gesamtheit bedeutsam sind und die Mitwirkung des Bundes zur Verbesserung der Lebensverhältnisse erforderlich ist (Gemeinschaftsaufgaben)", und hier den Spiegelstrich "Stärkung der Hochschulen (durch die Förderung eines angemessenen Studienangebots und eines qualitativ hochwertigen Hochschulstudiums)" hinzufügen. Durch Bundesgesetz mit Zustimmung des Bundesrates würden die Gemeinschaftsaufgabe sowie Einzelheiten der Koordinierung näher bestimmt. Der Bund trüge einen definierten Anteil der Ausgaben für die Hochschulen in jedem Land.
Es bleibt am Ende dieser Betrachtung nur eine Erkenntnis: Eine auf geteilten Werten und gegenseitigem Grundvertrauen aufgebaute institutionalisierte Kooperation zwischen Bund und Ländern, wie sie die Gemeinschaftsfinanzierung im Bereich der Wissenschaft darstellt, muss sich ihrer Risiken bewusst sein und sie künftig verstärkt mitdenken. Ein einfacher gesetzgeberischer oder verwaltungstechnischer Weg zu ihrer Vermeidung ist aus heutiger Sicht jedoch nicht erkennbar. Deshalb sind wir alle und unsere Institutionen aufgerufen, aktiv darauf hinzuwirken, dass wissenschaftsaverse politische Parteien bei den bevorstehenden Wahlen zum Europaparlament und zu den drei ostdeutschen Länderparlamenten keine Chance bekommen.
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NRW-Wissenschaftsministerin Ina Brandes über ihre Pläne gegen den Fachkräftemangel und Sanierungsstau, ihre Erwartungen an die Hochschulen – und die Verstimmungen mit dem BMBF.
Ina Brandes, 45, war über viele Jahre Geschäftsführerin eines Bauplanungskonzerns. 2021 wurde die CDU-Politikerin Verkehrsministerin, nach der Landtagswahl 2022 übernahm sie das
Ministerium für Kultur und Wissenschaft. Foto: MKW.
Frau Brandes, Ihre Vorgängerin hat einst die Bezeichnung Ihres Ministeriums geändert. Seitdem steht die Kultur vor die Wissenschaft. Sie haben die Reihenfolge so gelassen. Verbirgt sich bei Ihnen auch eine politische Aussage dahinter?
Ich gehe die Dinge gern pragmatisch an und frage mich bei Problemlösungen grundsätzlich, wem sie nützen. Mir sind beide Arbeitsbereiche meines Ministeriums gleichermaßen wichtig, in beide investiere ich ungefähr gleich viel Zeit. Deshalb sehe ich keine Notwendigkeit und keinen praktischen Nutzen für eine Namensänderung.
Sie waren zehn Jahre lang Sprecherin der Geschäftsführung in einem Bauplanungsunternehmen, dann ein Dreivierteljahr Verkehrsministerin in Nordrhein-Westfalen. Was davon hat Sie auf Ihren jetzigen Job vorbereitet?
Als Verkehrsministerin habe ich das Politikerhandwerk gelernt. Politik ist ein Beruf, für den es Handwerkszeug braucht, und zwar unabhängig von den inhaltlichen Themen. Fachlich hat mir die Zeit als Geschäftsführerin eines Planungsunternehmens sicher weitergeholfen, wenn ich an die Bauten unserer Hochschulen, Uniklinika und Kultureinrichtungen denke – und all die Herausforderungen, die damit zusammenhängen.
Wenn ich die Reihe Ihrer Vorgängerinnen und Vorgänger durchgehe, hatten die alle ein Leitthema. Bei Andreas Pinkwart von der FDP waren es das Hochschulfreiheitsgesetz und Innovation, bei Svenja Schulze von der SPD die Partizipation an den Hochschulen, bei der parteilosen Isabel Pfeiffer-Poensgen die Förderung der Kultur. Und bei der CDU-Politikerin Ina Brandes?
Ich möchte im Bereich Wissenschaft vor allem drei Schwerpunkte setzen. Erstens: den Fachkräftemangel und was das Wissenschaftsministerium zu seiner Linderung beitragen kann. Zweitens: der Hochschulbau, wie wir ihn beschleunigen und kosteneffizienter machen können. Und drittens: die Unterstützung der Forschung in ihrer gesamten Bandbreite. Als sechstgrößte Volkswirtschaft Europas muss Nordrhein-Westfalen den Anspruch haben, wissenschaftlich an der Spitze dabei zu sein.
Mindestens die ersten beiden Themen haben Bezugspunkte zu Ihrem Werdegang. Als Sie Referentin im Niedersächsischen Landtag waren, haben Sie eine Enquete-Kommission zum Demografischen Wandel betreut. Das war 2006, als sich kaum einer vorstellen konnte, dass wir statt Rekordarbeitslosigkeit bald einen Mangel an Arbeitskräften haben würden.
Schon damals war absehbar, in welche Situation wir hineinlaufen. Der Mangel betrifft gerade auch die akademischen Berufe. Das gilt besonders für die MINT-Disziplinen, den Gesundheitsbereich, die Pflege und das Lehramt. Inzwischen steht fest, dass der Fachkräftemangel zu den größten Risiken für unseren volkswirtschaftlichen Wohlstand gehört.
"Ich weihe gerade Bauprojekte ein, die schon unter meinem Vorvorvorgänger beschlossen wurden."
War Ihnen auch bei dem Bauthema vor Ihrem Amtsantritt klar, wie dramatisch die Lage an vielen Hochschulen ist?
Klar war mir, dass wir in Sachen Infrastruktur viel werden tun müssen. Denn wir haben großen Bedarf bei Sanierungen und Neubauten. Wahrscheinlich gibt es nirgendwo sonst eine solche Dichte von Campus-Universitäten aus den 70er Jahren. Da gibt es viel zu tun. Sehr viel. Ich weihe gerade Projekte ein, die schon unter meinem Vorvorvorgänger beschlossen wurden.
Die Amtszeit von Andreas Pinkwart endete 2010.
Natürlich sind viele dieser Bauprojekte sehr komplex. Und das Tempo spielt bei allen Bauten der öffentlichen Hand leider eine eher untergeordnete Rolle. Deshalb erleben wir gerade regelmäßig, dass es bis zu 15 Jahre dauert, bis ein Wissenschaftsbau fertig ist. Ich bin sicher: Das können wir besser und vor allem schneller.
Das ist doch in der nordrhein-westfälischen Verkehrspolitik nicht anders, oder?
Auch da sind die Herausforderungen groß – wenn auch aus anderen Gründen. Vorankommen werden wir nur, wenn wir auch hier das Thema Fachkräftemangel entschlossen angehen.
Der neue Präsident der Hochschulrektorenkonferenz (HRK), Walter Rosenthal, nannte den Hochschul-Sanierungsstau bei Research.Table neulich eine "Ewigkeitsaufgabe" und will den Bund zurück in der Mitverantwortung. Weil die Länder es nicht allein hinbekommen?
Wir können – und müssen – es als Land allein hinbekommen. Der Bund ist als Folge der Föderalismusreform von 2006 zwar völlig raus bei der Frage der Hochschul-Infrastruktur. Mit der Föderalismusreform 2014 ist aber eine Bund-Länder-Zusammenarbeit bei Einrichtungen im Hochschulbereich, also auch im allgemeinen Hochschulbau, wieder ermöglicht worden. Für eine lange verfassungsrechtliche Diskussion fehlt uns aber die Zeit. Deswegen warten wir nicht auf den Bund, sondern helfen uns selbst.
"Im Moment macht es in Nordrhein-Westfalen keinen Unterschied, ob Sie eine Polizeidienststelle, ein Finanzamt oder eine Hochschule bauen."
Sie haben Ministerkolleginnen und -kollegen in den Ländern, die sehen das komplett anders, bezeichnen die Reform von 2006 als einen historischen Fehler und würden sie am liebsten wieder rückgängig machen. Auch der Wissenschaftsrat riet vergangenes Jahr dazu, zumindest in Bezug auf die Nachhaltigkeitsziele neue Kooperationsmöglichkeiten von Bund und Ländern zu prüfen.
Als Verfechterin des Subsidiaritätsprinzips stelle ich fest, dass noch nie ein Bauprojekt dadurch schneller fertig geworden ist, dass eine weitere Entscheidungsebene einbezogen wurde. Ich möchte meine Zeit als Ministerin lieber nutzen, konkrete Verbesserungen zu erreichen, statt mich in Struktur-Debatten zu verkämpfen, die am Ende nur sehr mittelbar und in keinem Fall kurzfristig zur Problemlösung beitragen können. Zumal der Bund meint, er sei verfassungsrechtlich daran gehindert, sich beim Hochschulbau finanziell zu engagieren. Was aber nach unserer Rechtauffassung nicht stimmt.
Sie werden aber auch in Nordrhein-Westfalen keine wundersame Geldvermehrung zur Finanzierung des Hochschulbaus erwarten können.
Wir können eine Menge Geld einsparen, wenn wir Bauprojekte künftig statt in zwölf oder 15 in fünf oder sechs Jahren realisieren. Dann bauen wir nicht nur halb so lange, sondern auch deutlich günstiger. Dafür müssen wir Prozesse ändern. Im Moment macht es in Nordrhein-Westfalen keinen Unterschied, ob Sie eine Polizeidienststelle, ein Finanzamt oder eine Hochschule bauen. Auf die Bedürfnisse und Besonderheiten des jeweiligen Umfeldes nehmen die geltenden Regularien kaum Rücksicht. Und die Abläufe verkomplizieren alles unnötig.
Was meinen Sie damit?
Am Bau der meisten öffentlichen Gebäude sind das Finanzministerium, der Bau- und Liegenschaftsbetrieb NRW, das Ministerium für Kultur und Wissenschaft und die Hochschulen beteiligt. Alle vier arbeiten mit unterschiedlichen Anforderungen und unterschiedlichen Prozessen. Ein Beispiel: Die Hochschulen sind mit zusammengenommen fünf Millionen Quadratmetern der größte Mieter des Liegenschaftsbetriebs und wenden im Vergleich zur Privatwirtschaft sehr viel Geld für die Nutzung ihrer Gebäude auf. Gleichzeitig widmen sich die Hochschulen neben ihren wissenschaftlichen Aufgaben auch dem alltäglichen Gebäudebetrieb. Das ist historisch alles so gewachsen, macht das Bauen und den Betrieb aber extrem komplex. Als Seiteneinsteigerin interessiert mich der Blick nach vorn. Deshalb entwickele ich mit allen Beteiligten Ideen, wie wir schneller und in gleicher Qualität bauen können. Mir hilft dabei, dass ich im Baubereich Sinn und Unsinn ganz gut auseinanderhalten kann.
Sie mögen es ja konkret. Geben Sie uns bitte ein Beispiel.
Wir drehen zu viele Freigabeschleifen. Wir tun bei jedem Projekt so, als sei es das erste seiner Art, das jemals gebaut wird, als stünde es auf einer leeren grünen Wiese und wäre nicht Teil eines bestehenden Ökosystems, das jede Hochschule für sich darstellt. Um besser auf die ja sehr unterschiedlichen Bedarfe der Hochschulen eingehen zu können, möchte ich individuelle Bauprogramme mit ihnen vereinbaren. Vor zehn, 15 Jahren hatten wir kein Homeoffice, kaum digitale Lehr- und Lernformate und eher steigende Studierendenzahlen. Weil unsere Projekte so lange dauern, arbeiten wir vielfach mit veralteten Parametern. Mein Ziel: Wir vereinbaren einen Rahmen, in dem sich die Hochschulen freier bewegen können. Wir rühmen uns in Nordrhein-Westfalen für unsere stark ausgeprägte Hochschulautonomie. Auch beim Bau können die Hochschulen von mehr Autonomie profitieren.
"Wenn ich mit den anderen Landesministerinnen und Landesministern rede, sehe ich mich immer als ein Sechzehntel."
Als drittes Leitthema haben Sie vorhin die Forschung genannt. Das ist das Thema, mit dem Sie bislang am wenigsten Berührungspunkte hatten, oder?
Wir haben in Nordrhein-Westfalen einen sehr schlagkräftigen Mittelstand und eine starke Industrie. Für die Transformation, die sie durchlaufen, sind sie auf anwendungsnahe Forschung angewiesen, wie sie zu einem Großteil an den Hochschulen für Angewandte Wissenschaften und auch an den Universitäten passiert. Zugleich müssen wir unsere ausgezeichnete Position in verschiedenen Bereichen der Grundlagenforschung sichern und ausbauen. Ich denke da etwa an die Künstliche Intelligenz, vor allem in Hinblick auf ihre ethisch verantwortbare Weiterentwicklung, an Krebs- und Demenzforschung, an Quantencomputing, an Cybersicherheit und an Wasserstoff-Forschung.
Inwieweit ist Wissenschaftspolitik in Nordrhein-Westfalen eigentlich immer auch Bundespolitik? Oder anders gefragt: Sind Sie sich Ihrer Verantwortung als mit Abstand größtes Bundesland bewusst?
Natürlich nimmt Nordrhein-Westfalen unter den Bundesländern in der Wissenschaftspolitik eine der führenden Rollen ein. Das hat auch schlicht etwas mit der Größe unseres Hauses im Vergleich zu anderen Wissenschaftsministerien zu tun. Wir haben hier exzellente Fachleute, die in den verschiedenen Arbeitsgruppen der Länder inhaltlich zuarbeiten und unterstützen. Gleichwohl sehe ich mich, wenn ich mit den anderen Landesministerinnen und Landesministern rede, immer als ein Sechzehntel. Was die Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung angeht, würde ich mir mehr Offenheit und Transparenz wünschen.
Sie klingen verärgert.
Eher verwundert und ein bisschen besorgt. Die Wissenschaftspolitik von Bund und Ländern zeichnet aus, dass sie normalerweise nicht sonderlich parteipolitisch ist, sondern an der Sache orientiert – und daran, gemeinsam unsere Wissenschaftslandschaft in Deutschland voranzubringen. Nur so haben wir auch eine hörbare Stimme in Europa. Von einer Zusammenarbeit von Bund und Ländern sehe ich allerdings zu wenig ...
"Dass beim Wissenschaftszeitvertragsgesetz jetzt ein Referentenentwurf vorliegt, bringt uns ja noch keinen Schritt näher an ein neues Gesetz, wenn sogleich zwei Koalitionspartner die Zustimmung verweigern."
Was sehen Sie denn?
Ich sehe, dass wir beim Wissenschaftszeitvertragsgesetz gerade – schon wieder – eine Extrarunde drehen, die das ganze System aufhält. Dass jetzt ein Referentenentwurf vorliegt, bringt uns ja noch keinen Schritt näher an ein neues Gesetz, wenn sogleich zwei Koalitionspartner die Zustimmung verweigern. Und wir Länder warten noch immer darauf, was da aus Berlin auf uns zukommt, nachdem der erste Entwurf nach nur wenigen Stunden wieder einkassiert worden war. In Nordrhein-Westfalen haben wir gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern der Hochschulen als Arbeitgeber und den Landespersonalräten als Arbeitnehmer einen Vertrag über gute Beschäftigungsbedingungen für das Hochschulpersonal erarbeitet, der über das Wissenschaftszeitvertragsgesetz hinausgeht. Wir würden den Rahmenvertrag für gute Beschäftigung gerne weiterentwickeln. Dazu brauchen wir aber Klarheit, was in Berlin entschieden wird. Zu meiner Begeisterung für Subsidiarität gehört, dass Bund und Länder innerhalb ihrer Zuständigkeiten so agieren sollten, dass ihr Handeln ineinandergreift. Auch in der Forschungsförderung unternehmen wir in Nordrhein-Westfalen daher große Anstrengungen, um möglichst anschlussfähig zu sein an die Bundesprogramme. Wenn dann die andere Seite an allen Stellen Unsicherheiten schafft, wie es weitergeht, ist das für uns Länder nicht erfreulich. Beispiel HAW-Forschungsförderung: Die stellt der Bund gerade grundlegend in Frage.
Der Bund will, dass die Länder künftig einen Eigenanteil leisten. Und bei den Deutschen Zentren für Gesundheitsforschung will er eine 50-50-Aufteilung der Kosten. Dagegen können doch gerade Sie, die die Eigenverantwortung der Länder so betont, eigentlich nichts haben, oder?
Es gibt in der Politik auch so etwas wie die normative Kraft des Faktischen. Das HAW-Programm zahlt der Bund im Augenblick allein. So ist es vertraglich geregelt. Stellen Sie sich vor, zwei Leute haben einen Vertrag, und bei der Neuverhandlung fällt einem von beiden plötzlich ein: Ich will das alles ganz anders haben, und zwar zu meinen Gunsten. Im echten Leben wäre die Diskussion an der Stelle sehr schnell vorbei. Im BMBF dagegen ist plötzlich von einer angeblichen moralischen Mitverantwortung der Länder die Rede, weil die Hochschulen ja Sache der Länder sind. Ich bin bereit, über eine Kofinanzierung der Länder zu reden und etwas draufzulegen. Ich bin allerdings nicht bereit einzuspringen, damit der Bund seine eigenen Forschungsmittel kürzen kann.
Die Länder wollen auch, dass die vom Bund finanzierte Qualitätsoffensive Lehrerbildung weitergeht, während das BMBF auf das lange vereinbarte Ende des Programms pocht. Verhalten sich die Länder da nicht genauso, wie sie es dem Bund gerade noch vorgehalten haben?
Die Ampel-Koalition hat sich im Koalitionsvertrag verpflichtet, die Qualitätsoffensive Lehrerbildung weiterzuentwickeln. In der aktuellen gesellschaftlichen Lage sollte es völlig klar sein, dass wir mehr Ausgaben für Wissenschaft und Bildung brauchen. Ob Lehrerbildung, Digitalisierung oder Unterrichtsqualität: Wir haben doch gerade erst wieder durch die IGLU-Grundschulstudie gesehen, dass wir alle mehr tun müssen. Darum habe ich die Hoffnung, dass der Bund noch umschwenkt.
"Das hat wenig mit der Verhandlungstaktik der Länder zu tun und viel damit, dass wir alle am Vertrauensverhältnis zwischen Bund und Ländern arbeiten müssen."
Unterdessen sehen wir viel Klein-Klein. In fast schon kafkaesker Weise streiten Bund und Länder darüber, ob es nun bis zu vier oder doch mindestens vier neue Exzellenzuniversitäten geben soll.
Diesen Eindruck kann man gewinnen. Und ich bin noch nicht lange genug Politikerin, um in so etwas eine sinnvolle Gestaltung meiner Zeit zu erkennen.
Das verstehe ich auch als Selbstkritik an der Verhandlungstaktik der Länder?
Das hat wenig mit der Verhandlungstaktik der Länder zu tun und viel damit, dass wir alle am Vertrauensverhältnis zwischen Bund und Ländern arbeiten müssen. Es gibt eigentlich keinerlei Dissens darüber, dass die Exzellenzstrategie ein wissenschaftspolitisch sehr erfolgreiches Instrument ist. Doch statt gemeinsam danach zu suchen, was das für die Auswahl von Exzellenzclustern und Exzellenzuniversitäten bedeutet, hängen wir im Kleingedruckten fest – und verlieren die große Linie.
Auch zwischen den Bundesländern geht es nicht immer nur um ein nettes Miteinander. Sie befinden sich im Wettbewerb. Wenn ein Land wie Berlin jetzt beabsichtigt, die Grundfinanzierung seiner Hochschulen um jährlich fünf Prozent anzuheben als Reaktion auf die Inflation, was folgt daraus für Sie?
Wir haben in Nordrhein-Westfalen die praktische Regelung, dass die Hochschulen einen Großteil der Tarifsteigerungen automatisch erstattet bekommen. Hinzu kommt, dass sich die Finanzausstattung unserer Hochschulen in den vergangenen zehn Jahren extrem verbessert hat und weiter nach oben geht. Wir haben erreicht, dass unsere Hochschulen anständig finanziert sind. Abgesehen vom Sanierungsstau, um den wir uns wie gesagt mit Nachdruck kümmern. Ich meine, wir sollten schnell eine andere Debatte führen: Über Jahre haben wir bei steigenden Studierendenzahlen über Betreuungsrelationen diskutiert. Jetzt spüren wir den demografischen Wandel, und hinzu kommt ein sehr eingeschränkter Abiturjahrgang durch die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium. Wenn die Hochschulen nun wie vereinbart über lange Zeit automatisch mehr Geld erhalten, müssen wir darauf achten, dass sie umso stärker an der Qualität ihres Angebots arbeiten.
Was bedeutet das?
Das bedeutet, dass wir wieder beim Thema Fachkräftemangel angekommen sind und bei der Frage, wie die Hochschulen besonders in den MINT-Fächern, im Lehramt und in den Gesundheitsberufen die Studierendenzahlen hochhalten können. Wie können wir die Studierfähigkeit der Erstsemester verbessern – etwa über nullte Semester und über Orientierungs-Studiengänge? Wie können wir die Abbrecherquoten senken und insgesamt die Absolventenzahlen erhöhen? Aus meiner Sicht ist es unsere gemeinsame Verpflichtung, für das Geld, das der Steuerzahler überweist, neben exzellenter Forschung auch die Fachkräfte für die nächsten 30, 40 Jahre auszubilden.
Weil Sie erneut das Thema Fachkräftemangel ansprechen: Sehen Sie den eigentlich auch beim Personal für Forschung und Lehre? Und was hat das mit den Beschäftigungsbedingungen an den Hochschulen und Forschungseinrichtungen zu tun?
Die Debatte um das Wissenschaftszeitvertragsgesetz wird zurzeit sehr emotional geführt und noch dazu mit zum Teil ambitionierten Forderungen. Ich sehe tatsächlich einen Zwiespalt: Einerseits ist da die Notwendigkeit, veränderten Anforderungen und Erwartungen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gerecht zu werden, um als Hochschule ein attraktiver Arbeitgeber zu sein. Andererseits dürfen wir darüber ein Wissenschaftssystem, das in vielen Bereichen sehr erfolgreich läuft, nicht komplett aus den Angeln heben. Deshalb sind auskömmliche Mindestvertragslaufzeiten wichtig —wir haben sie sogar in unseren Koalitionsvertrag geschrieben —obwohl für ihre Festlegung ja der Bund zuständig ist. Die Vertragslaufzeiten müssen so ausgestaltet sein, dass das Qualifizierungsziel, vor allem das der Promotion, gut und vor allem realistisch erreichbar ist. Minilaufzeiten und Kettenverträge werden uns nicht helfen, junge Menschen für eine Karriere im Wissenschaftsbetrieb zu begeistern. Bei den Postdocs plädiere ich für Arbeitsverträge zwischen minimal drei und maximal sechs Jahren.
Sie plädieren bei der besonders umstrittenen Postdoc-Höchstbefristungsdauer also für den Status Quo.
Der Zeitraum ist angepasst an die Vertragslaufzeiten von Juniorprofessuren. Das halte ich systemisch für richtig. Eine andere Frage, die diskutiert wird, ist, ob man die Anzahl der Verträge reduzieren darf – sowohl prä- als auch postdoc. Da sollten wir sehr vorsichtig sein. Wenn man aus guter Absicht heraus Kettenbefristungen unterbinden will, stellt sich die Frage, was denn passiert, wenn die Anzahl überschritten ist? Was machen wir dann, wenn der- oder diejenige nach drei Verträgen nicht promoviert ist? Das ist aus meiner Sicht nicht zu Ende gedacht. Man muss Stabilität geben, damit die Qualifikationsziele erreicht werden können. Grundsätzlich bin ich der Auffassung, dass das Wissenschaftszeitvertragsgesetz nicht das richtige Instrument ist, um Personalentwicklung an der Hochschule zu betreiben.
"Sagt uns die Dinge, die ihr schon immer geändert
haben wolltet, dann reden wir gemeinsam darüber,
was davon sinnvoll und umsetzbar ist."
Gilt die gleiche Vorsicht bei der von Ihnen geplanten Novelle des Landeshochschulgesetzes? Man könnte aktuell zu dem Ergebnis kommen, die Hochschulen in Nordrhein-Westfalen hätten ein Governance-Problem. Es gibt Berichte von Machtmissbrauch, an der Universität Paderborn hat die Hochschulratsvorsitzende ihren Rücktritt erklärt, aus Protest gegen die Entscheidung, den Vorsitz der Findungskommission für die anstehende Präsidentenwahl nicht extern zu besetzen. In Südwestfalen wiederum soll die gewählte Rektorin noch vor ihrem Amtsantritt abgesetzt werden – gegen den Widerstand des Hochschulratsvorsitzenden. Ihre Schlussfolgerung?
Mir sind die Rolle und die Position der Hochschulräte in unserem System extrem wichtig. Sie sind die Brücke zwischen Gesellschaft, Wirtschaft und Hochschule. Ich lege großen Wert auf den Dialog mit den Gremien und den Vorsitzen. Die Hochschulräte haben einen großen Anteil an der Verankerung der Universitäten in der Gesellschaft. Wir geben den Hochschulräten viel Gestaltungsspielraum. Das ist auch gut so. Wir haben ein im Kern sehr gut funktionierendes System und eine gut funktionierende Rechtsgrundlage dafür. Problematische Fälle, die es immer wieder geben wird, schauen wir uns genau an und werden jeweils die richtigen Schlüsse daraus ziehen, aber wir sollten deshalb nicht das Kind mit dem Bade ausschütten.
Wo wollen Sie denn überhaupt das Hochschulgesetz ändern?
Die große Überschrift über der Hochschulgesetz-Novelle muss lauten: Fachkräftesicherung. Dazu haben wir bereits eine Reihe konkreter Punkte erarbeitet. Ich denke da zum Beispiel an eine gute gesetzliche Regelung, die den dringend notwendigen Ausbau dualer Studiengänge ermöglicht. Was wir darüber hinaus machen, hängt vor allem von den Rückmeldungen aus den Hochschulen ab. Unsere Botschaft lautet: Sagt uns die Dinge, die ihr schon immer geändert haben wolltet, dann reden wir gemeinsam darüber, was davon sinnvoll und umsetzbar ist. Gesetzt durch den Koalitionsvertrag ist, dass wir die Viertelparität im Senat verpflichtend einführen. Eine Reihe von Hochschulen haben sie ohnehin längst. Wichtig ist, dass die Einführung verfassungskonform unter Beachtung der Professorenmehrheit bei den entscheidenden Fragen von Forschung und Lehre geschieht.
Was halten Sie vom Vorstoß der NRW-SPD, die Semesterferien den Sommerferien anzupassen? Wäre das nicht auch bundesweit ein Signal hin zu mehr Familien- und damit Arbeitnehmerfreundlichkeit?
Die Semesterferien sind abgestimmt auf die Prüfungszeiten, die bundesweit teilweise einheitlich sind. In Nordrhein-Westfalen sind alle Hochschulen, die Landesrektorenkonferenzen, die Landes-Asten, die Landeskonferenz der Gleichstellungsbeauftragten der Hochschulen und Universitätsklinika, die Landespersonalrätekonferenz und die Landesarbeitsgemeinschaft der Schwerbehindertenvertretungen in die Ferienplanung eingebunden. In dem Verfahren wurde bislang die Anregung, die Semesterferien den Sommerferien anzupassen, in keiner Stellungnahme geäußert. Als Verfechterin der Hochschulautonomie bin ich gern bereit, das politisch aufzugreifen, wenn die Hochschulen wirklich einen Änderungsbedarf sehen.
Einleitung Sowohl die Medienerziehung als auch die informatische Bildung sind in der österreichischen Bildungspolitik durch eigene Abteilungen innerhalb des Bildungsministeriums fest verankert. Seit Anfang der 1990er Jahre bildet der Grundsatzerlass Medienerziehung die Grundlage für die schulische Medienerziehung und mit zunehmender Digitalisierung wird auch der informatischen Bildung eine große Bedeutung beigemessen. Explizit wird das Thema digitale Bildung seit Beginn des Jahres 2017 verfolgt, als seitens des Ministeriums die Strategie "Schule 4.0" ausgerufen wurde. Im Folgenden werden daher die verschiedenen Ansätze der schulischen Medienerziehung beleuchtet, um einen Einblick in die österreichische Perspektive auf digitale Bildung zu geben. Des Weiteren wird das Pilotprojekt Denken lernen – Probleme lösen, welches das Bildungsministerium im Zuge seiner Digitalisierungsstrategie initiiert hat, vorgestellt, da es die aktuelle Schwerpunktsetzung in Österreich besonders verdeutlicht. Abschließend wird die Frage gestellt, inwiefern sich die, auf den ersten Blick stark divergierenden Konzepte innerhalb der österreichischen Bildungspolitik in eine einheitliche Strategie überführen lassen. Das Unterrichtsprinzip Medienerziehung Medienerziehung ist seit der Errichtung einer Abteilung für Medienpädagogik im Jahr 1991 und in den darauffolgenden Jahren eines Referats für praktische Medienerziehung im damaligen Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur (BMUKK) fest in der österreichischen Bildungslandschaft verankert (Brousek 2008, S. 120; Süss/Lampert/Trültzsch-Wijnen 2018, S.63-70). Explizit wurde dies 2001 mit der Einführung des Grundsatzerlasses Medienerziehung, welcher bis heute das damit verbundene Unterrichtsprinzip begründet. Dieser Grundsatzerlass wurde vor dem Hintergrund der fortschreitenden Medienentwicklung aktualisiert und ist heute in der letztgültigen Version aus dem Jahr 2014 Grundlage für eine fächerübergreifende Medienerziehung über die gesamte schulische Laufbahn hinweg. Er verpflichtet alle Lehrkräfte Medienerziehung als Querschnittsmaterie (Trültzsch-Wijnen 2016; Spanhel 2006) in ihrem Unterricht zu realisieren. "Da die in den Medien behandelten Themen alle Bereiche des Erkennens und Handelns berühren, ist die Medienerziehung nicht auf einzelne Unterrichtsgegenstände oder bestimmte Schulstufen beschränkt. Jeder Lehrer/ jede Lehrerin ist vielmehr verpflichtet, auf sie als Unterrichtsprinzip, wie es in den einzelnen Lehrplänen verankert ist, in allen Unterrichtsgegenständen fachspezifisch Bedacht zu nehmen. […] Die Medienerziehung hat grundsätzlich auf allen Schulstufen – der geistigen Entwicklung der Schüler und Schülerinnen entsprechend – zu erfolgen." (BMBF 2014, S. 5) Medienerziehung wird diesbezüglich als umfassende Medienbildung und Erziehung zur Medienkompetenz verstanden. Medienbildung wird hier aus stark emanzipatorischer Perspektive als medienpolitische Bildung und kritische Auseinandersetzung mit den Formen, Ursachen und Wirkungen medialer Kommunikation sowie als Orientierung in einer mediatisierten Gesellschaft gefasst. Im Hinblick auf Medienkompetenz orientiert man sich an Baackes (1998) vierfacher Ausdifferenzierung in Medienkritik, Medienkunde, Mediennutzung und Mediengestaltung. Neben technischen Fertigkeiten wird der Schwerpunkt auf die Fähigkeit zur Selektion, Differenzierung und Strukturierung sowie das Erkennen der eigenen Bedürfnisse gelegt. Darüber hinaus wird dem Hintergrundwissen über das Mediensystem, der kreativen Mediengestaltung sowie – analog zur emanzipatorischen Ausrichtung des Medienbildungsbegriffs – der aktiven Teilhabe an der Gesellschaft mithilfe von Medien eine große Bedeutung beigemessen (BMBF 2014). So gewinnbringend ein fächer- und schulstufenübergreifender Ansatz der schulischen Medienerziehung auf den ersten Blick erscheinen mag, so schwierig erweist sich dieses Konzept jedoch in seiner Realisierung. Da die Art und Weise der Umsetzung im positiven Sinne bewusst offengelassen (und damit auch nicht kontrolliert) wird, fühlt sich im schulischen Alltag letztendlich kaum jemand dafür zuständig. Es liegt damit stark an der Schule und an der einzelnen Lehrperson, ob überhaupt und wenn ja in welcher Form im Unterricht ein kritischer, selbstbestimmter und kreativer Medienumgang vermittelt wird. Ein Großteil der Lehrkräfte setzt in ihrem Unterricht andere Prioritäten. Zugleich finden sich aber auch viele äußerst engagierte Lehrpersonen, die sich vor allem mit praktischen Medienprojekten profilieren. Dies wird beispielsweise in der Fülle der Einreichungen zum Media Literacy Award1 (mla), welcher jährlich vom österreichischen Bildungsministerium für herausragende Medienprojekte an europäischen Schulen vergeben wird, deutlich. Die Ursachen dafür liegen zum einen darin, dass Medienerziehung weder von Eltern noch von einer Mehrheit der Lehrpersonen als relevante Bildungsaufgabe erachtet wird, zum anderen in einer mangelnden Motivation und Ausbildung der Pädagoginnen und Pädagogen. In der aktuellen Lehramtsausbildung kommt es auf die jeweilige Hochschule an, inwieweit Medienpädagogik tatsächlich als fächerübergreifendes Unterrichtsprinzip gelehrt wird. Jene Lehrpersonen, die ihr Studium bereits vor längerer Zeit abgeschlossen haben, haben keine umfassende medienpädagogische Ausbildung erhalten. Informatische Bildung und Digitale Kompetenz(en) Neben dem Unterrichtsprinzip Medienerziehung setzt das österreichische Bildungsministerium mit der informatischen Bildung einen weiteren Schwerpunkt. Hier liegt der Fokus auf dem Umgang mit Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT), welcher ebenfalls über alle Schulstufen hinweg vermittelt werden soll. Dazu wurde das sogenannte digi.komp-Modell2 entwickelt. Das Ziel ist eine systematische Auflistung geforderter Kompetenzen, welche in Form von Can-Do-Statements ausformuliert wurden (Wiesner et al. 2017; Nárosy 2017, S. 6). Dieses Modell soll als Orientierung für Lehrkräfte dienen und sie dabei unterstützen, informatische Bildung sowie die Hinführung der Schülerinnen und Schüler zu einem selbstbestimmten Umgang mit IKT in unterschiedlichen Fächern praktisch umzusetzen. Das Modell umfasst vier Schwerpunkte (BMBWF 2018): Informationstechnologie, Mensch und Gesellschaft (reflektierter Umgang mit IKT) Informatiksysteme (technische Handhabung von IKT) Anwendungen (Software und Internetangebote nutzen) Konzepte (informatische Fähigkeiten und Fertigkeiten, z. B. kodieren) Aus Perspektive des Informatikunterrichts wurde hier versucht, anwendungsbezogene Kriterien mit einer gesellschaftlichen Perspektive zu verbinden. Diese Kategorien haben keine Entsprechung im Lehrplan, sie sollen aber analog zum Unterrichtsprinzip Medienerziehung fächerübergreifend und in allen Schulstufen umgesetzt werden. Auch wenn sich durchaus Gemeinsamkeiten (beispielsweise hinsichtlich eines reflektierten Medienumgangs) zeigen, werden das Unterrichtsprinzip Medienerziehung sowie das digi.komp-Modell in der schulischen Praxis derzeit eher parallel behandelt. Schule 4.0 – die Strategie des Bildungsministeriums Über das digi.komp-Modell wurde bereits eine Grundlage zur Förderung digitaler Kompetenzen gelegt. Dabei beruft man sich unter anderem auf das DigComp-Konzept des Joint Research Centre der Europäischen Kommission (Ferrari 2013; Carretero/Vuorikari/Punie 2017) sowie deren Definition von digitaler Kompetenz. "Digital Competence is the set of knowledge, skills, attitudes (thus including abilities, strategies, values and awareness) that are required when using ICT and digital media to perform tasks; solve problems; communicate; manage information; collaborate; create and share content; and build knowledge effectively, efficiently, appropriately, critically, creatively, autonomously, flexibly, ethically, reflectively for work, leisure, participation, learning, socialising, consuming, and empowerment" (Ferrari, 2013, S. 3). Mit Jahresbeginn 2017 hat das österreichische Bildungsministerium mit der sogenannten Digitalisierungsstrategie Schule 4.0 vor dem Hintergrund des zunehmenden Bedarfs an Arbeitskräften in technischen und naturwissenschaftlichen Berufen einen Schritt weiter hinsichtlich der Förderung informatischer und digitaler Kompetenzen von der Grundschule bis zum Abitur (Matura) gesetzt. Ziel ist es, Kinder und Jugendliche dazu zu befähigen, sich, angefangen von der Quellenkritik bis hin zu den Grundzügen der Programmierung (Coding), kritisch mit digitalen Medien und deren Inhalten auseinanderzusetzen. Schwerpunkte dieses Konzepts sind die Gewährleistung einer digitalen Grundbildung (Säule 1), die Ausbildung digital kompetenter Lehrpersonen (Säule 2), die Bereitstellung angemessener IKT-Infrastruktur (Säule 3) sowie die Entwicklung und Bereitstellung entsprechender Lehrmittel (Säule 4). Diese, über die 71. Verordnung zur Änderung der Lehrpläne (Bundeskanzleramt 2018) festgeschriebene, Strategie hebt sich deutlich von den bisherigen Verordnungen ab, da sie sowohl auf eine Änderung der Lehrpläne, als auch auf eine bessere Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen sowie die Bereitstellung von Infrastruktur und die Entwicklung kostenloser Lehr- und Lernmaterialien abzielt. Bislang betrafen ähnliche Verordnungen zumeist nur einen dieser vier Bereiche, ohne sich auf ein gemeinsames Konzept zu berufen. Anschließend an das digi.komp-Modell liegt der Fokus hier auf der Vermittlung informatischer Kenntnisse und dem Umgang mit IKT, beschrieben als digitale Kompetenz und verstanden als technische Fertigkeiten sowie der Fähigkeit des selbstbestimmten Einsatzes digitaler Medien (respektive von Hard- und Software) in schulischen bzw. beruflichen und privaten Kontexten. Als Erweiterung des europäischen DigComp-Ansatzes und des österreichischen digi.comp-Konzepts liegt ein besonderer Schwerpunkt auf der Förderung des Computational Thinking (siehe Ausführungen weiter unten), als Fähigkeit zu iterativem, algorithmischem und modellhaftem Denken sowie technologiegestütztem Problemlösen. In enger Verbindung zur Schule 4.0-Strategie steht die Strategie eEducation Austria, welche primär dazu dient, die Umsetzung des digi.komp-Modells an den jeweiligen Schulstandorten zu forcieren. Gefördert werden diesbezüglich schulinterne und schulübergreifende Fortbildungen sowie die Entwicklung und Verbreitung kleiner Lerneinheiten bzw. mediendidaktischer Szenarien (eTapas). Eine wesentliche Neuerung durch die Schule 4.0-Strategie ist neben einer noch stärkeren Fokussierung auf informatische Fähigkeiten und Fertigkeiten die Einführung der verbindlichen Übung Digitale Grundbildung in der Sekundarstufe I ab dem Schuljahr 2018/19; die Schulen können die Realisierung dieser verbindlichen Übung im Umfang von zwei bis vier Jahreswochenstunden innerhalb von vier Jahren autonom umsetzen (als eigenes Fach, integrativ im Rahmen anderer Fächer oder als Mischform). Da diese Verordnung sehr rasch umgesetzt wurde, sind die betroffenen Lehrkräfte nun damit konfrontiert, sich auf schnellstem Wege jene Kompetenzen anzueignen, welche für die Vermittlung einer entsprechenden digitalen Grundbildung an Schülerinnen und Schüler benötigt werden. Dazu wurde ein Instrument zur Selbstüberprüfung der Fähigkeiten und Fertigkeiten im Umgang mit den IKT entwickelt (digi.checkP); dieser soll die Lehrpersonen dabei unterstützen, gemäß ihrer Bedürfnisse gezielte Fortbildungen auszuwählen. Seitens des Bildungsministeriums wird von den Lehrkräften die Absolvierung einschlägiger Fortbildungen im Umfang von mindestens 6 ECTS sowie das Führen eines persönlichen, digitalen Portfolios zur Dokumentation des eigenen Unterrichts verlangt. Das Pilotprojekt "Denken lernen – Probleme lösen" Die Initiative Schule 4.0 betrifft allerdings nicht nur die Sekundarstufe, denn nach dem Vorbild ähnlicher Entwicklungen im angloamerikanischen Raum sowie in anderen europäischen Staaten (Grandl/Ebner 2017) ist es Ziel, Kinder bereits ab der Primarstufe an informatisches und naturwissenschaftliches Denken heranzuführen. Als erster Schritt dazu diente – bereits vor Implementierung der verbindlichen Übung Digitale Grundbildung in der Sekundarstufe – das Pilotprojekt Denken lernen – Probleme lösen. Ziel dieses Projekts ist die Einführung von Robotik und Programmieren in der Grundschule mittels einfach zu bedienender Roboter (BeeBots), LegoWeDo-Bausätzen und der visuellen Programmieroberfläche Scratch. Dieses Projekt wurde im Schuljahr 2017/18 an 100 Volksschulen (Grundschulen) unter Beteiligung von 13 pädagogischen Hochschulen durchgeführt (Himpsl-Gutermann et al. 2017). Im Mittelpunkt des Projekts steht zum einen die Vermittlung von algorithmischem Denken als Grundlage für das Verstehen und Lösen verschiedener Probleme in schulischen und alltäglichen Kontexten, zum anderen sollen damit unter dem Stichwort "Making" der kreative Umgang mit IKT, informatische Fähigkeiten sowie das kollaborative Arbeiten gefördert werden. Didaktische Grundlage: Computational Thinking Didaktisch beruft sich dieses Projekt auf die Arbeit von Seymour Papert. Dieser entwarf in den 1960er Jahren am Massachusetts Institute of Technology (MIT) gemeinsam mit Kollegen die Programmiersprache Logo, um Heranwachsenden zu vermitteln, wie Computer 'denken' und auf diese Weise die Auseinandersetzung mit und das Lösen von Problemen zu fördern. Als ehemaliger Schüler Piagets entwickelte Papert seinen Ansatz des Konstruktionismus (Papert 1980) basierend auf konstruktivistischen Lerntheorien. Paperts Ziel war es, Mädchen und Jungen dazu zu befähigen, neue Erfahrungen vor dem Hintergrund ihres bereits vorhandenen Wissens zu reflektieren und daraus neues Wissen zu entwickeln. Der Ansatz des Computational Thinking (z. B. BBC Bitsice 2017; Barefoot Project 2014) kann als Weiterentwicklung von Paperts Konzept verstanden werden. Himpsl-Gutermann et al. (2017) beschreiben es als "Problemlösungsmethode mit verschiedenen Techniken und Strategien, die auch für digitale Systeme implementiert werden können." Dieser Ansatz bildet die Grundlage des Projekts Denken lernen – Probleme lösen; er lässt sich in fünf Grundelemente aufschlüsseln: decomposition (Zerlegen komplexer Probleme in kleinere Teile), pattern recognition (Erkennung von Mustern), algorithm design (Gestaltung logischer Anweisungen und Lösungsstrukturen), abstraction (Entwicklung abstrakter Konzepte) und generalize patterns and modes (Nutzung verallgemeinernder Muster und Modelle in unterschiedlichen Kontexten). Er ist Grundlage für ein Lernkonzept, das auf die Förderung des abstrakten Denkens ausgerichtet ist; im Mittelpunkt steht die Fähigkeit der Formulierung und schrittweisen Lösung von Problemen. Ausgehend davon wurde eine schrittweise Einführung von Robotik-Elementen in den am Projekt beteiligten Grundschulen konzipiert: Zunächst liegt der Fokus auf der haptischen Erfahrung und dem Einfühlen in die Denkweise von Robotern durch die Aneignung von Bee Bots4 Diese kleinen Roboter in Form einer Biene können mit einfachen Befehlen (Schritt vorwärts, Schritt rückwärts, Rechtsdrehung, Linksdrehung) programmiert werden. Mit bis zu 40 aufeinanderfolgenden Befehlen können diese Roboter spielerisch durch den Raum manövriert werden. Die Aneignung von Algorithmen als Handlungsvorschrift bzw. konkrete Anweisung an die Roboter-Biene erfolgt zunächst damit, dass die Heranwachsenden selbst die Rolle des Roboters übernehmen, sich gegenseitig Befehle geben und diese ausführen. In einem zweiten Schritt werden diese Befehle mittels eigens beschrifteter Bauklötze gelegt oder handschriftlich festgehalten (z. B. Schritt vorwärts, Schritt vorwärts, Rechtsdrehung, Schritt vorwärts, Schritt vorwärts) und in einem weiteren Schritt vereinfacht (z. B. 2x Schritt vorwärts, Rechtsdrehung, 2x Schritt vorwärts). Die Bee Bots werden in verschiedenen Fächern eingesetzt, um durch die Steuerung der Roboter unterschiedliche Aufgaben zu lösen (beispielsweise aus dem Bereich der Verkehrserziehung, aber auch in Mathematik, Deutsch, Englisch, Sachunterricht usw.). Sobald sich die Schülerinnen und Schüler gut mit der Handhabung der Roboter vertraut gemacht haben, wird durch die Nutzung einer Bee Bot-App5 auf Tablets von der haptischen, auf eine abstraktere Ebene gewechselt, wobei die jeweiligen Aufgabenstellungen gleich bleiben, jedoch virtuelle Bienen programmiert werden. Im weiteren Verlauf werden die Bee Bots gegen Lego WeDo-Bausätze getauscht und das einfache Programmieren wird mit angewandten Problemstellungen und Konstruktionsaufgaben aus dem Bereich Technik und Sachunterricht in einer spielerischen Lernumgebung verknüpft. Damit können einfache Roboter und Maschinen selbst gebaut und über eine visuelle Programmierumgebung auf dem Tablet gesteuert werden. Hier ist das Ziel, in Kleingruppen durch den Bau und das Ausprobieren von Prototypen gemeinsam Lösungen für bestimmte Aufgaben zu finden. Die über das visuell basierte Programmieren der selbstgebauten Roboter erlernten Fähigkeiten werden weiter genutzt, um anschließend das Programmieren mittels der visuellen Programmiersprache Scratch zu erlernen. Evaluation des Projekts Im Projekt Denken lernen – Probleme lösen wurden jeder der 13 beteiligten pädagogischen Hochschulen mehrere Schulen zugeordnet. Diese werden von der jeweiligen pädagogischen Hochschule in der Umsetzung des Projekts betreut. Die Pädagogische Hochschule Salzburg arbeitet diesbezüglich mit fünf Grundschulen zusammen und die Ergebnisse dieser Arbeit sollen im Folgenden näher analysiert werden. Das Projekt endet mit dem Schuljahr 2017/18. Daher ist es zum Zeitpunkt der Verfassung dieses Beitrags noch nicht zur Gänze abgeschlossen, es können jedoch erste Ergebnisse präsentiert werden. In Salzburg wird das Projekt in zwei Phasen durchgeführt: Die erste Phase ist bereits abgeschlossen und erfolgte gemäß des oben geschilderten, vorgegebenen, Ablaufs. Dabei konnten sich die Lehrpersonen sowie die Schülerinnen und Schüler mit allen im Projekt eingesetzten Geräten und technischen Anwendungen (Tablets, Bee Bots, Lego WeDo, Scratch) vertraut machen. Am Ende dieser Projektphase wurde eine Gruppendiskussion mit den beteiligten Lehrkräften durchgeführt, in welcher die Projekterfahrungen gemeinsam reflektiert wurden. Diese Gruppendiskussion wurde transkribiert und mittels thematischen Kodierens analysiert; die Ergebnisse bilden die Grundlage der folgenden Ausführungen. In der, zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht abgeschlossenen, zweiten Projektphase ist es den Lehrkräften selbst überlassen, wie und in welchen Kontexten sie die einzelnen Materialen in ihrem Unterricht einsetzen. Die Erfahrungen daraus sollen in Gesprächen mit den einzelnen Lehrpersonen ein weiteres Mal reflektiert werden. Im gesamten Projektverlauf ist es den beteiligten Schulen und Lehrpersonen überlassen, in wie vielen Klassen und in welchen Fächern mit den einzelnen Tools gearbeitet wird. In der ersten Projektphase waren durchschnittlich sechs Klassen pro Schule involviert und es wurde sowohl im Regelunterricht als auch in unverbindlichen Übungen damit gearbeitet (Bee Bots: Mathematik, Fremdsprachenunterricht, Sachunterricht, Verkehrserziehung; Lego WeDo: Werken, Informatik, Lernwerkstätten; Scratch: Deutsch, Lernwerkstätten). Die Schulklassen wurden jeweils gemeinsam in neue Geräte und Anwendungen eingeführt und anschließend konnten die Schülerinnen und Schüler frei damit arbeiten. Die ursprünglich vorgegebene Reihenfolge des Einsatzes der einzelnen Tools (Bee Bots – Lego WeDo – Scratch) wurde eingehalten und hat sich in der abschließenden Evaluation als didaktisch sinnvoll erwiesen. Aus der Diskussion mit den Lehrenden geht hervor, dass das Projekt besonders zur Förderung des kollaborativen, kooperativen und sozialen Lernens beigetragen und auch die Klassendynamik positiv beeinflusst hat. Der Austausch und die Zusammenarbeit zwischen den Schülerinnen und Schülern erfolgte ohne das Zutun der Lehrpersonen. Genderspezifische Unterschiede waren in der Aneignung der technischen Fertigkeiten nicht zu beobachten und Jungen wie Mädchen, die anfänglich Berührungsängste ("das kann ich nicht") zeigten, konnten diese schnell abbauen. Die Schülerinnen und Schüler wiesen sich in der Wahrnehmung der Lehrenden als begeistert von der spielerischen Lernumgebung und konnten ihren persönlichen Interessen durch den Entwurf eigener Projekte nachgehen. Von den Lehrkräften wurde diesbezüglich besonders positiv hervorgehoben, dass sie ihre Schülerinnen und Schüler anders als gewohnt beobachten und kennenlernen konnten – unbekannte Kompetenzen traten zutage und manche wuchsen über das gemeinsame Arbeiten über sich hinaus. In einer Schule kam das Experimentieren im offenen Lernsetting einem autistischen Kind sogar so sehr entgegen, dass es sich als Experte mehr als gewohnt in die Klasse integrieren konnte. Die Lehrpersonen konnten des Weiteren beobachten, dass von den Heranwachsenden Zusammenhänge zwischen dem Programmieren an sich und dem Lösen praktischer Probleme hergestellt wurden. Allerdings zeigte sich ebenso, dass für ein tatsächliches Problemlösen im Sinne des Computational Thinking mehr Zeit notwendig gewesen wäre, da zunächst viel Energie in das Verstehen einzelner Tools und ihrer Funktionen investiert werden musste. Die Fähigkeit, Probleme gemeinsam in der Gruppe anzugehen und zu lösen, war aus Perspektive der Lehrpersonen in einzelnen Projektgruppen erkennbar. In ihrer abschließenden Beurteilung schrieben die Lehrkräfte den eingesetzten Geräten und Anwendungen potentiell die Möglichkeit zu, zur Vermittlung algorithmischen Denkens und zur Förderung der informatischen Bildung in der Schule beizutragen. Das Gesamtprojekt muss aus dem Blickwinkel der ersten Projektphase als partiell erfolgreich beurteilt werden. Die Schülerinnen und Schüler stellten sich als motiviert heraus und arbeiteten in engagierter Weise kollaborativ und kooperativ zusammen, um verschiedene Aufgabenstellungen zu lösen. Die Roboter-Bienen (Bee Bots) erwiesen sich als hilfreich für das Verstehen von Befehlen und das Erlernen des algorithmischen und iterativen Denkens. Im Hinblick auf die Lego-WeDo-Bausätze und die Software Scratch kann nicht genau beantwortet werden, inwiefern die Projektziele tatsächlich erreicht wurden. Die Schülerinnen und Schüler arbeiteten gemeinsam an spezifischen Aufgaben. Inwieweit damit aber tatsächlich die Fähigkeit des Verstehens, Formulierens und Lösens von Problemen gefördert wurde, konnte weniger klar festgestellt werden. Dies liegt allerdings weniger an den beiden Produkten, sondern an der Tatsache, dass dafür zum einen mehr Zeit notwendig gewesen wäre und zum anderen die Arbeit der Schülerinnen und Schüler, ihrer Lehrerinnen und Lehrer und die dadurch entstehenden Dynamiken im Klassenzimmer eingehender und mit weiteren Methoden hätten evaluiert werden müssen. Auch die Frage, inwiefern solche Projekte tatsächlich den kreativen Umgang mit den IKT fördern, kann erst nach einer längeren Beobachtung festgestellt werden, es zeigen sich jedoch Anzeichen dafür. Resümee In Österreich existieren verschiedene Ansätze zur schulischen Medienerziehung, die sich zwei unterschiedlichen Perspektiven zuordnen lassen, welche jeweils durch verschiedene Organisationseinheiten innerhalb des österreichischen Bildungsministeriums repräsentiert und fest verankert sind. Die medienpädagogische Perspektive versteht digitale Bildung als einen Teilbereich einer umfassenden Medienbildung und Medienerziehung als ein holistisches Konzept, das alle digitalen und analogen Medien einbezieht. Dieser Ansatz ist mit dem Grundsatzerlass Medienerziehung seit beinahe 30 Jahren Basis für die schulische Medienerziehung in Österreich. Das Unterrichtsprinzip Medienerziehung soll demgemäß die Integration von Medien und Medienerziehung als selbstverständlichen Bestandteil des Unterrichts in allen Fächern, Schulen und Schulstufen garantieren. Die Breite dieses Ansatzes bietet nicht nur viele Möglichkeiten zur Vermittlung eines reflektierten, selbstbestimmten und kreativen Medienumgangs, sondern wird auch einer modernen, mediatisierten Gesellschaft gerecht, da allen Medien gleichermaßen Bedeutung beigemessen wird. Das Ziel des Unterrichtsprinzips Medienerziehung ist daher die Förderung Heranwachsender im Erwerb einer umfassenden (digitalen wie analogen) Medienbildung im Sinne der UNESCO Paris Declaration on Media and Information Literacy in the Digital Era (Frau-Meigs et al. 2014). Allerdings ist dieses Unterrichtsprinzip trotz der Schaffung vieler Anreize (z. B. Media Literacy Award) und der Unterstützung von Lehrpersonen mit diversen Informations- und Unterrichtsmaterialien sowie eines eigenen Internetportals in der schulischen Praxis zu wenig sichtbar. Anders gestaltet sich das Bild in Bezug auf die informatische Perspektive, welche ihren Fokus ausschließlich auf das Lehren und Lernen mit digitalen Medien sowie die Vermittlung informatischer Kenntnisse richtet. Durch die zunehmende Digitalisierung und damit verbundenen politischen Strategien auf europäischer wie nationaler Ebene erlangte dieser Blickwinkel in den letzten Jahren an großer Bedeutung. Medienbildung wird hier als synonym mit digitaler Bildung betrachtet bzw. darauf reduziert. Analog zu ähnlichen Entwicklungen in anderen europäischen Staaten (Frau-Meigs et al. 2014) stehen die Digitalisierung und die digitale (Grund-)Bildung im Mittelpunkt der aktuellen Bildungspolitik. Grundlage dafür liefert die Schule 4.0-Strategie des österreichischen Bildungsministeriums über die, anders als im Hinblick auf die allgemeine Medienbildung, ein eigenes Fach in Form einer verbindlichen Übung ab der Sekundarstufe eingeführt wurde, das vermutlich eine höhere Breitenwirksamkeit erzielen wird als ein allgemeines Unterrichtsprinzip. Da diese Digitalisierungsstrategie primär aus einem informatischen Blickwinkel vorangetrieben wird, wird der informatischen (Aus-)Bildung in diesem Kontext zumeist eine größere Bedeutung beigemessen, als einer allgemeinen digitalen Bildung. Ein Beispiel dafür ist das vorgestellte Projekt Denken lernen – Probleme lösen, das auf die Förderung der Fähigkeit des informatischen Denkens sowie des Verstehens von Grundlagen der Robotik bei Grundschulkindern ausgerichtet ist. Dieses Projekt konnte partiell positiv evaluiert werden und zeigt, dass eine Auseinandersetzung mit algorithmischem und iterativem Denken bereits in der Grundschule umsetzbar ist. Allerdings wird es weiterer Forschung bedürfen, um den Mehrwert der eingesetzten Anwendungen und Geräte besser beurteilen zu können. Das Pilotprojekt verdeutlicht allerdings auch, dass Heranwachsende Freiräume als zur Verfügung stehende Zeit im Unterricht brauchen, um sich selbstbestimmt, kollaborativ und kreativ mit Medien auseinandersetzen zu können (z. B. im Hinblick auf die Arbeit mit Lego-WeDo-Bausätzen). Abschließend stellt sich allerdings die Frage nach der Sinnhaftigkeit paralleler Strukturen und einer inhaltlichen Trennung zwischen medienpädagogischen und informatischen Konzepten, wie sie derzeit in Österreich anzutreffen sind. Aus gewissem Abstand betrachtet, stehen die beiden Ansätze des österreichischen Bildungsministeriums nicht im Widerspruch zueinander. Da Medien in einer mediatisierten Gesellschaft fester Bestandteil des alltäglichen Lebens sind, sollten sie auch in der Schule nicht als 'Sonderfall' betrachtet, sondern integrativer Bestandteil des Schulunterrichts sein, wie es das Unterrichtsprinzip Medienerziehung vorsieht, denn gesellschaftliche wie individuelle Handlungsfähigkeit sowie Mündigkeit können heute nicht mehr ohne (digitale genauso wie analoge) Medien gedacht werden. Zugleich brauchen kreatives Experimentieren, forschendes Lernen und kritisches Reflektieren Zeit und die Möglichkeit, sich etwas länger und intensiver mit einem bestimmten Medium, einem Medieninhalt oder einer spezifischen Fragestellung auseinanderzusetzen. Dies spricht für die Einführung einer verbindlichen Übung, wie im Falle der "digitalen Grundbildung" ab der Sekundarstufe, als Ergänzung zu einer integrativen Medienerziehung. Auch inhaltlich lassen sich durchweg Gemeinsamkeiten zwischen einer medienpädagogischen und einer informatischen Perspektive erkennen. Eine intensive Auseinandersetzung mit digitalen Medien sowie ein grundlegendes Verständnis für informatische Prozesse und iteratives Problemlösen – im medienpädagogischen Sinne als Wissen über Medien und Mediensysteme – ist in einer mediatisierten Gesellschaft ebenso von Bedeutung. Diese digitale Bildung aus informatischer Perspektive sollte allerdings nicht für sich alleine stehen, sondern als ein wichtiger Bestandteil in eine allumfassende und ganzheitliche Medienbildung integriert werden. Ein erster Ansatz dazu wurde vom österreichischen Bildungsministerium in Form einer Sammlung prototypischer und alle Medien umfassender Aufgaben für eine fächerübergreifende Medienerziehung basierend auf dem entsprechenden Unterrichtsprinzip entwickelt (Schipek/Windischbauer 2018). In diesem Sinne wäre es zielführend, wenn in einer verbindlichen Übung als Ergänzung zum Unterrichtsprinzip Medienerziehung, eine intensive Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Medien und nicht nur mit informatischen Fragestellungen erfolgen würde. Umgekehrt sollte das Unterrichtsprinzip Medienerziehung unter anderem auch genutzt werden, um – ähnlich wie es im Pilotprojekt Denken lernen – Probleme lösen erfolgt ist – informatisches Denken und iteratives Problemlösen fächerübergreifend zu fördern Anmerkungen [1] https://www.mediamanual.at/media-literacy-award/ Der Media Literacy Award (mla) richtet sich an europäische Schulen mit dem Ziel, den kreativen und kritischen Umgang mit Medien aller Art zu fördern. 2 Weitere Informationen zum digi.komp-Modell sowie die Ausdifferenzierung der Can-Do-Statements für die unterschiedlichen Schulstufen finden sich hier: www.digikomp.at 3 Zur näheren Erläuterung siehe www.digikomp.at (Katalog Digitale Kompetenzen & Informatische Bildung) 4 Weitere Informationen und Unterlagen zur Einführung von Bee Bots finden sich auf folgender Website: http://beebot.ibach.at/ 5 http://bee.baa.at/beebot_pc.php Christine W. Trültzsch-Wijnen ist Hochschulprofessorin für Medienpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Salzburg Stefan Zweig. Dort leitet sie das Kompetenzzentrum für Medienpädagogik und E-Learning sowie das Education Innovation Studio (EIS) für Robotik, kindgerechte Programmierumgebungen und digitale Technologien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Medienrezeption, Mediennutzung und Medienaneignung, kommunikative Kompetenz und Medienkompetenz, international vergleichende Medienpädagogik und Media Literacy Policies.
Burnout, Zeitarbeit, Digital Natives - dies sind längst keine bloßen Schlagwörter mehr, sondern eine Wirklichkeit, die Führungskräfte täglich vor neue Herausforderungen stellt. Denn wenn Fachkräfte kaum zu finden sind, Teams nur auf Zeit bestehen und Mitarbeiter und Chefs stärkerem Druck denn je ausgesetzt sind, helfen die alten Rezepte nicht mehr weiter. Unternehmerin und Leadership-Expertin Maren Lehky zeigt anhand vieler Beispiele, mit welchen Strategien Sie diesen Veränderungen als Manager souverän begegnen. Dies ist das Handbuch für eine neue Generation von Führungskräften.
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Bildungsbiographien in Deutschland: eine ganz reale Fiktion. In einer Kurzgeschichte als Gastbeitrag von Thomas Müller.
Illustration: Andres Romero / Pixabay.
Marie und Noah besuchen denselben Kindergarten. Im Vorschuljahr lernen sie über mehrere Wochen hinweg die Zahlen von "1" bis "9" kennen und malen jede Zahl auf einem großen vorgedruckten Blatt bunt aus. Sie zählen von eins bis neun, was den Kindern in der Gruppe unterschiedlich gut gelingt. Manche Kinder können schon bis zwanzig zählen, wenige sogar bis fünfzig oder hundert. "Malen nach Zahlen"-Vorlagen gibt es sehr oft. Manchmal sollen sie aus einer Menge ähnlich aussehender Figuren die gleichen heraussuchen. Aber die meiste Zeit im Kindergarten ist zur freien Verfügung. Eines Morgens fragt Maries Freundin ihre Erzieherin: "Müssen wir heute schon wieder machen, was wir wollen?".
Als Marie eingeschult wird, freut sie sich darauf, endlich richtig rechnen zu lernen. Sie weiß von ihren Eltern und ihrer älteren Schwester, dass Rechnen Spaß macht und im Leben der "Großen" wichtig ist. Maries Eltern haben eine Grundschule mit jahrgangsübergreifendem Unterricht ausgesucht, in der eine Klasse jeweils zu gleichen Teilen aus allen vier Jahrgängen besteht. Wenn Marie in der Freiarbeit eine Mathematikaufgabe nicht versteht, kann sie sich an ihre Patin aus der dritten Jahrgangsstufe wenden, die ihr hilft. Marie bearbeitet Aufgaben in der Regel selbstständig und in ihrer eigenen Geschwindigkeit. Ihre Klassenlehrerin schafft es meistens, jeden Tag alle Aufgaben durchzusehen, den Kindern individuelles Feedback zu geben und verschiedene Lösungswege zu thematisieren. Wenn Marie bei ihren Hausaufgaben nicht weiterweiß, fragt sie ihre Schwester oder die Eltern und findet zu Hause immer Unterstützung beim Üben.
"Ich wollte die Lehrerbildung nicht nur rein systemisch betrachten"
Herr Müller, Sie haben für den Wissenschaftsrat als federführender Referent die Arbeitsgruppe betreut, in der die im Juli 2023 beschlossenen "Empfehlungen zur Lehramtsausbildung im Fach Mathematik" vorbereitet wurden. Nebenher haben Sie privat diese fiktive Kurzgeschichte über Marie und Noah verfasst, warum?
Ich wollte die Lehramtsausbildung nicht nur rein systemisch betrachten, sondern ganz bewusst zugleich auch aus der Perspektive der Lernenden. Dazu habe ich mir einige Gedanken gemacht: vor allem zu (potenziellen) Auswirkungen der Ausbildung auf das tagtägliche Unterrichtserleben und zu den Rahmenbedingungen, in denen Unterricht stattfindet. Beim Notieren und Sammeln dieser Gedankenansätze kam mir dann die Idee, dass eine Kurzgeschichte kurzweiliger wäre als ein bloßes sachliches Auflisten von Punkten. So sind die Charaktere Marie und Noah entstanden. Im Zuge der Arbeit an der Geschichte musste ich die beiden dann sozusagen immer mehr erleben lassen und noch eine Freundin erfinden, damit möglichst viele von den Punkten unterkommen konnten, die mir besonders wichtig waren.
Die Kurzgeschichte hat natürlich keinen Eingang in die vom Wissenschaftsrat beschlossenen Empfehlungen gefunden, aber welche der Empfehlungen verdeutlicht sie nach Ihrer Auffassung besonders gut?
Dies zu beurteilen, will ich den Leserinnen und Lesern überlassen. Ich hoffe aber, dass die Kurzgeschichte die Bedeutung von echter Professionsorientierung im Lehramtsstudium transportiert. Unterricht ist das zentrale Tätigkeitsfeld für Lehrkräfte – dies sollte sich in der Lehramtsausbildung ganz konkret und durchgängig niederschlagen, damit sie auch tatsächlich auf die späteren Aufgaben vorbereitet. Aus meiner Sicht ist das der Grundtenor des WR-Papiers. Unterricht muss alters- und lerngruppengerecht konzipiert sein und dabei eben auch heterogene Startchancen (zum Beispiel bezüglich Alltags- oder Bildungssprache) und Lernvoraussetzungen in den Blick nehmen – wenn er in der Breite erfolgreich sein soll.
Wem stehen Sie in Ihrer eigenen Bildungsbiografie näher: Marie oder Noah?
Wahrscheinlich lässt sich nicht verheimlichen, dass ich in der Rolle von Marie eigene biografische Erfahrungen angelegt habe – denn Noahs Rolle ist demgegenüber weniger detailliert herausgearbeitet. Maries Erfahrungen in Studium und Studienreferendariat sind also nicht ganz aus der Luft gegriffen. Natürlich habe ich im Studium für den Lehrerberuf und fürs Leben lernen können: in der englischen Fachdidaktik zum Beispiel, Interaktion, Feedback-Verhalten und Kommunikation im Detail zu hinterfragen, zu analysieren und zu planen. Das hat meine Vorstellung von gelungener Kommunikation stark geprägt, sei es im interkulturellen, politischen oder wirtschaftlichen Kontext.
Noah besucht eine Grundschule in einem anderen Stadtteil. Die Schülerschaft ist sehr heterogen zusammengesetzt, die Unterstützung durch die Eltern variiert stark. Bei mehr als einem Viertel der Kinder ist sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt worden. Deutsch ist für viele nicht die Muttersprache und stellt oft noch eine Hürde dar, einige Kinder der Klasse leben noch nicht lange mit ihren Eltern in Deutschland. Noahs Klassenlehrerin ist erst seit einem halben Jahr an dieser Grundschule, im Kollegium gibt es ein ständiges Kommen und Gehen. Mehrfach in der Grundschulzeit muss sich Noah an neue Klassenlehrerinnen gewöhnen, nach dem dritten Wechsel versucht er nun nicht mehr, eine Beziehung aufzubauen. Wenn die Klassenlehrerin verhindert ist, hat die Klasse entweder Vertretungsunterricht (selten) oder darf auf dem Schulhof spielen (meistens). Im Vertretungsunterricht lernen sie oft nicht Mathematik oder Deutsch, stattdessen dürfen sie etwas malen oder ausmalen.
Im Mathematikunterricht arbeitet Noahs Klasse zeitgleich an den gleichen Aufgaben, meist jedes Kind für sich in Stillarbeit. Während manche allein für das Verstehen der Aufgabenstellung und dann für das Bearbeiten der Mathematikaufgabe viel Zeit benötigen, sind einige schnell damit fertig und sollen dann still auf die anderen warten. Noah und seine Freunde vergleichen anfangs gern, wer am schnellsten vorankommt. Aber wenn die Ergebnisse besprochen werden, geht dies für Noah oft so schnell, dass er nicht richtig mitkommt. Dabei merkt er dann gar nicht, wenn er in seinem Mathematikheft einen Haken hinter ein falsches Ergebnis setzt. Seinen Eltern fällt das auf, wenn sie ab und an in sein Mathematikheft schauen. Sie fragen Noah, wie es zu den Richtig-Häkchen bei falschen Ergebnissen kommt. Noah kann das ihnen und sich selbst nicht richtig erklären, er war sich sicher, die Lehrerin habe das so gesagt. Seitdem ist Noah unsicher und beteiligt sich kaum noch, wenn die Lehrerin mit der Klasse die Ergebnisse abgleicht.
Marie und Noah lernen an ihren Grundschulen jeweils mit Schulbüchern, auf die sich die Fachkonferenz Mathematik an ihrer Schule geeinigt hat. Maries Eltern wundern sich bei der Hausaufgabenbetreuung, dass es in den Lernmaterialien für das Fach Mathematik kaum "Erklär- Seiten" oder Anwendungsbeispiele gibt, um die Kinder an neue Rechenmöglichkeiten beispielsweise im Rahmen einer kleinen Geschichte heranzuführen. Stattdessen werden auf vielen Seiten sich wiederholende Aufgabentypen in immer derselben Systematik angeboten.
Marie freut sich darüber, die Aufgaben schnell abarbeiten zu können, wenn sie erst einmal das Prinzip verstanden hat. Aber es langweilt auch sie ein wenig. Obwohl ihr Mathematik eigentlich Spaß macht, braucht sie immer wieder Hilfe von den Eltern, um den Sinn der Aufgaben im Buch zu verstehen.
Wegen des zu hohen Tempos bei der Ergebniskontrolle ist Noah verunsichert. Eigentlich kommt er im Mathematikunterricht an der Grundschule recht gut mit, trotzdem schätzt er seine eigenen Leistungen und Möglichkeiten in Mathematik als eher gering ein. Mathematikaufgaben wendet er sich ohne große Lust zu, er findet Mathematik inzwischen doof. Wird er aber in spielerischen Kontexten zum Rechnen und Knobeln herausgefordert und für Erfolge belohnt, ist Noah stets Feuer und Flamme. Er entwickelt eine Leidenschaft für Zauberwürfel, hat mit der 3x3-Version begonnen und löst mittlerweile den 7x7-Würfel ohne große Probleme. Leider erkennt kaum jemand, dass er dabei Mathematik braucht und auch beherrscht.
Zu Beginn des vierten Schuljahres beschließen Noahs Eltern mit ihm zusammen, ihn nicht am Gymnasium, sondern an einer Sekundarschule anzumelden, um ihm zu großen Leistungsdruck zu ersparen. Noahs neue Klasse an der Sekundarschule besteht aus 28 Kindern, beinahe ein Drittel der Kinder hat spezifische Förderbedarfe, einige werden im Unterricht zeitweise von einer Förderkraft begleitet, drei Schüler besuchen die fünfte Klasse zum zweiten Mal. Für eine individuelle Unterstützung von Noah bleibt den Lehrkräften wenig Zeit. In der Klasse sind mehrere Kinder, deren Familien nach Deutschland flüchten mussten. Sie können bisher nur wenig Deutsch, dadurch sind sie sozial isoliert und bleiben auch in den Pausen oft unter sich. Im Unterricht versuchen die meisten Lehrerinnen und Lehrer, die Aufgaben zumindest kurz auf Englisch zu erklären. Dabei improvisieren sie, denn auf solche spezifischen Situationen und Herausforderungen sind sie im Lehramtsstudium oder einer Fortbildung nicht ausreichend vorbereitet worden.
Marie wechselt auf das Gymnasium, an dem schon ihre Mutter Abitur gemacht hat. Die Schule hat sich offiziell die Förderung der Schülerinnen und Schüler insbesondere in den MINT-Fächern auf die Fahnen geschrieben. Angeboten wird beispielsweise eine AG "Was wir von der Natur lernen können", eine Veranstaltung zu wissenschaftlichem Schreiben im MINT-Bereich und ein Girls Camp zu "Schwerewellen in der Atmosphäre". Trotzdem nehmen auch hier viele Kinder und Jugendliche Mathematiknachhilfestunden am Nachmittag, sie haben schon in der Grundschule Angst vor dem Fach entwickelt. Marie hingegen kommt im Mathematikunterricht sehr gut klar. Auf jede Klassenarbeit bereitet sie sich gründlich vor und lernt den Umgang mit den Rechenwegen für das jeweils anstehende Thema. Das bringt ihr gute Mathematiknoten. Trotzdem fällt es ihr im Alltag schwer, den Dreisatz oder die Prozentrechnung beim Einkaufen anzuwenden. Für sie ist Mathematik etwas Abstraktes und genau deshalb interessant. Sie nimmt regelmäßig an Mathematikwettbewerben teil.
In der siebten Klasse bekommt sie eine neue Mathematiklehrerin, eine junge Studienreferendarin im sogenannten bedarfsdeckenden Unterricht. Sie hat ihnen erklärt: Sie ist im zweiten Jahr ihrer Lehramtsausbildung an der Schule, im siebten und damit letzten Ausbildungsjahr insgesamt. Damit darf sie nun eigenständig ohne Ausbildungslehrkraft unterrichten und wird alle zwei oder drei Monate geprüft. Dann kommen Personen, die die Unterrichtsqualität und die Fortschritte der Lehrerin beurteilen. Das ist sehr wichtig für Maries Lehrerin, die Klasse soll sie bei diesen Prüfungsstunden daher unterstützen, so gut es geht. Die Lehrerin bereitet diese Stunden immer sehr gut zusammen mit der Klasse vor. Wenn es dann so weit ist, macht die ganze Klasse engagiert im Unterricht mit, viele Hände schnellen nach oben und die Schüler können die Fragen richtig beantworten. Sie mögen ihre Lehrerin – und freuen sich auf die Belohnung, die sie für die fleißige Mitarbeit versprochen bekommen haben.
Kürzlich hat Marie ihren Kindergartenfreund Noah zu ihrer Geburtstagsfeier eingeladen. Sie tauschen Erinnerungen aus ihrer gemeinsamen Kindergartenzeit aus und erzählen sich aus der Schule. Als Marie ihm von ihrer neuen Mathematiklehrerin erzählt, die noch Studienreferendarin ist, von ihrem richtig tollen Unterricht und der Teilnahme an einem Mathematikwettbewerb, ist Noah erstaunt. Er hat noch nie gehört, dass es an seiner Sekundarschule schon einmal einen Referendar oder eine Referendarin für das Fach Mathematik gegeben hätte. Noah erzählt, dass er keine Lust mehr auf das viele Lernen in der Schule habe und sich zum Ende des zehnten Schuljahres für eine Ausbildung als Industriemechaniker bewerben werde. Er wolle lernen, Maschinen zu warten und zu reparieren, Bauzeichnungen für Maschinen zu lesen, selber anzufertigen und danach zu bauen.
Der Mathematikunterricht von Marie hat sich in der achten Klasse sehr geändert: Anstelle von Übungsaufgaben aus dem Buch stellt die Studienreferendarin die Klasse vor mathematische Probleme und lässt sie an kleinen Projekten eigene Zugänge zu Lösungen suchen. Daraufhin hat sie viele besorgte Zuschriften und auch Beschwerden aus der Elternschaft erhalten, die befürchtet, die Vorbereitung auf die anstehende Klassenarbeit könnte zu kurz kommen und das Stoffpensum womöglich nicht geschafft werden. Die Lehrerin erklärt den Eltern, dass dieses problemorientierte, erforschende Arbeiten in Teams ihr als Lehrerin zeige, welche Kompetenzen ihre Schülerinnen und Schüler schon erworben hätten und wer in welcher Form gefördert oder gefordert werden müsse, um die nächsten individuellen Lernziele zu erreichen.
Dass die Lehrerin auf diese Weise ganz gezielt auf die unterschiedlichen Bedürfnisse und Lerngeschwindigkeiten ihrer Schülerinnen und Schüler reagieren kann, können die Eltern allerdings nicht nachvollziehen. Die junge Studienreferendarin hatte sich diese Aufgabe auch anders vorgestellt. Binnendifferenzierende Maßnahmen waren zwar in ihrem Lehramtsstudium ein Thema, doch das wahre Ausmaß der Herausforderung wird ihr erst im Unterrichtsalltag klar. Noch anspruchsvoller wird diese Aufgabe, als sie nach dem Studienreferendariat sofort in Vollzeit im Unterricht eingesetzt wird und an einem Schultag in vielen verschiedenen Lerngruppen in enger Taktung unterrichtet.
Inzwischen ist Marie in der zehnten Jahrgangsstufe. Sie hat gelernt, den Flächeninhalt von Parallelogrammen und den Rauminhalt von Prismen zu berechnen, sie kann die Aussage des Satzes von Pythagoras erläutern und sicher anwenden, sie kann mehrstufige Zufallsprozesse beschreiben und Wahrscheinlichkeiten mithilfe der Pfadregeln berechnen. Als ihr Mathematiklehrer der Klasse über ein Programm zur MINT-Lehrkraft-Nachwuchsförderung berichtet, ist Marie sofort begeistert. Über einen Zeitraum von zwei Jahren gewinnt sie in einem "Mini-Referendariat" interessante Einblicke in den Beruf als Lehrerin und macht sogar erste Erfahrungen damit, kleine Unterrichtseinheiten an der Grundschule zu unterrichten. Marie fällt es leicht, sich in den Kenntnisstand der Grundschulkinder hineinzuversetzen und eine für sie verständliche Sprache zu sprechen. Es erinnert sie an den jahrgangsübergreifenden Unterricht ihrer eigenen Grundschulzeit – als Dritt- und Viertklässlerin hat sie damals oft die Aufgabe gehabt, Erst- und Zweitklässlerinnen und Zweitklässler zu unterstützen. Die Arbeit mit Kindern bereitet ihr Freude.
Noah ist nach dem mittleren Schulabschluss von der Schule abgegangen und hat einen Ausbildungsplatz in einem Fahrradgeschäft gefunden. Eine Ausbildung zum Industriemechaniker hat er sich nicht zugetraut. Sehr schnell merkt er aber, dass ihn die vielen Routinearbeiten unterfordern und langweilen. Er bricht nach einem Jahr die Lehre ab und wechselt auf Anraten seines Großvaters in ein größeres Unternehmen des Maschinenbaus. Dort wird er von einem engagierten Ausbilder betreut, der Noahs Talent für Mechatronik erkennt. Er wendet sich an dessen Berufsschullehrer für Mathematik, um mit ihm spezielle Fördermaßnahmen für Noah zu besprechen. Noah ist plötzlich hoch motiviert, weil er endlich erleben kann, für welche spannenden beruflichen Aufgaben er welche Mathematik braucht.
Gegen Ende der zwölften Jahrgangsstufe überlegen Marie und ihre Freundin Irina, Grundschullehramt zu studieren. Marie findet, Irina könne besonders gut mit Kindern umgehen. Irina wiederum meint, ihre Freundin könne fantastisch Mathematik erklären, sodass sogar sie etwas verstehe. Zusammen informieren sie sich über die Studienordnungen an den verschiedenen Universitäten. Irina ist abgeschreckt davon, dass an allen Universitäten im näheren Umkreis Mathematik im Studiengang für das Primarstufenlehramt verbindlich vorgeschrieben ist – Mathematik ohne Maries Hilfe macht ihr immer noch Angst. Marie findet diese Vorgabe allerdings folgerichtig, da Mathematik an der Grundschule von der ersten bis zur vierten Klasse eine große Rolle spielt. Zugleich kann sie sich auch in ihre Freundin hineinversetzen, die aus ihrer Sicht sicherlich eine tolle Lehrerin wäre, für die ein Mathematikstudium jedoch eine sehr hohe Hürde darstellt.
Marie entscheidet sich für das Grundschullehramt, während Irina sich dagegen entscheidet und eine Ausbildung als Mediengestalterin beginnt. Während eines bildungswissenschaftlichen Seminars an der Uni, in dem intensiv über einen Text zur Lehrerrolle diskutiert wird, schweifen Maries Gedanken ab. Die theoretisierende und praxisferne Art der Diskussion findet sie befremdlich. Zwar verspricht der Seminartermin "Neue Unterrichtskultur – Veränderte Lehrerrolle" eine berufliche Relevanz, doch Marie kann keinen konkreten Bezug, keine Transfermöglichkeit zur schulischen Wirklichkeit erkennen. In solchen Situationen bedauert sie, dass nur wenige universitäre Lehrkräfte selbst Erfahrungen an der Schule gesammelt und den Unterrichtsalltag mit all seinen Herausforderungen tatsächlich kennen gelernt und gemeistert haben. Aber ihr Wunsch, Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung zu begleiten und zu unterstützen, wiegt schwerer und hilft, die Frustration über einen sehr vagen Praxisbezug zu überwinden.
Als Lehramtsanwärterin im Referendariat amüsiert sich Marie oft: Fachleiterinnen und Fachleiter stellen in ihren Unterrichtsbesuchen dieselben praxisfernen Ansprüche und erzeugen dieselben unrealistischen Vorführstunden, wie sie sie noch aus ihrer eigenen Schulzeit erinnert. Eine Unterrichtsstunde soll perfekt in die Unterrichtsreihe eingebettet, minutiös durchgeplant sein, die erwarteten Äußerungen der Schülerinnen und Schüler exakt voraussehen und pünktlich nach 45 Minuten mit einer präzisen Ergebnissicherung schließen. Marie ahnt, dass sie dafür als Lehrerin im Schulalltag wohl kaum die Vorbereitungszeit aufbringen könnte. Zugleich ist sie überzeugt, dass solche Unterrichtsinszenierungen letztlich zu statisch sind, um individuell auf die Lernsituation in der Klasse eingehen zu können.
Marie kann sich noch gut daran erinnern: In ihrer eigenen Schulzeit hat sich ein Schuljahr angefühlt wie eine Ewigkeit. Als Lehrerin an der Grundschule fliegt ein Schultag nur so vorbei. Unterrichtsvorbereitung, Elternabende, Elternsprechtage und individuelle Elterngespräche, pädagogische Halb- und Ganztage, ein Studientag für das Kollegium zum interdisziplinären Arbeiten, eine Projektwoche zur Nachhaltigkeit, Klassenausflüge und -fahrten, Zeugniskonferenzen – der Schulalltag ist eng getaktet. Dazu kommt der Anspruch, sich in multiprofessionellen Teams zu organisieren und auszutauschen, Unterstützung für die IT der Schule, zudem der Unterrichtsausfall durch Krankheit im Kollegium bzw. durch Unterbesetzung in einigen Fachbereichen. Eigentlich würde Marie gern Fortbildungen zum Flipped Classroom-Konzept machen, zu Binnendifferenzierung und Lernerautonomie – doch die Schulleitung hat ihr schon signalisiert, dass dies angesichts der angespannten Personallage wenig Chancen auf Umsetzung habe. Die Versorgung der Kinder mit Unterricht, mindestens Vertretungsunterricht, stehe nun mal an vorderster Stelle.
Eines Nachmittags geht eine Whatsapp-Nachricht von Noah ein. Er schreibt, dass er nun seinen Industriemeister gemacht habe. Durch Mathematik habe er sich durchgekämpft, mit Hilfe seines Berufschullehrers könne er nun endlich eine Verbindung herstellen zwischen den Aufgaben im Unterricht und den Aufgaben am Arbeitsplatz. Sie verabreden sich, um ihre Abschlüsse zu feiern.
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Die immer länger werdende Verweildauer der türkischen Migranten und die bis vor einigen Jahren ständig ansteigende Anzahl nachgeholter älterer Kinder deuteten schon seit Mitte der achtziger Jahre darauf hin, daß die aufgrund des Anwerbevertrages nach Deutschland eingereisten türkischen Arbeitskräfte nicht mehr zurückkehren werden. Die Hessische Schule reagiert darauf, indem sie die Ziele des MU veränderte und als ein wesentliches Ziel neben der Sprachen und Wissensvermittlung über die Kultur des Herkunftslandes auch das Verstehen der eigenen Situation im Einwanderungsland, die Erschließung des eigenen Umfeldes und die Fähigkeit, darin zu handeln, angibt. (s.a. Kap.IV, 2.) Einer so bedeutsamen Aufgabe gerecht zu werden, ist nur dann möglich, wenn sowohl der Muttersprache der Kinder, als auch dem Lernbereich überhaupt, von Seiten der Administration, den Institutionen und der darin Handelnden, also Schülern und Lehrern, Bedeutung und Wert beigemessen werden und sie Teil der Hessischen Schule sind. Kinder ausländischer Eltern wachsen in der Regel zweisprachig auf. Zweisprachig zu sein, ist ein Faktum, das für das Individuum einen hohen Wert darstellt. In Deutschland wird Zweisprachigkeit nicht immer als etwas Positives gesehen. (Selbst dann nicht, wenn es um eine im eigenen Land gesprochene Sprache geht, wie z.B. das Ostfriesische. Obwohl das Ostfriesische in Ostfriesland die dominierende Sprache ist, sprechen die Eltern mit den Kindern, die in die Schule kommen sollen, zunächst Hochdeutsch, um ihnen den Schulanfang zu erleichtern.) Das Ansehen einer Sprache ist weitgehend davon abhängig, welches 'Prestige' die Sprache hat, aber auch welches soziales Prestige ihre Sprecher haben. Türkisch steht in der Sprachenhierarchie nicht besonders hoch, es gilt als Gastarbeitersprache, ebenso wie das Wort 'Türke' noch immer den typischen 'Gastarbeiter' assoziiert. Dabei wird nicht zur Kenntnis genommen, daß die Zahl derjenigen, die dem Mittelstand zuzurechnen und zu Arbeitgebern auch für Deutsche oder andere Nationen geworden sind, ständig im Steigen begriffen ist. (s.a.Kap.VII, 5.3) Alle Muttersprachlehrer in Hessen sind seit 1970 aus dem Zuwandererpotential eingestellt worden, seit 1972 gibt es keine 'Regierungslehrer' mehr. Der Muttersprachliche Unterricht gewinnt an Wert, wenn seine Bedeutung nicht in Frage gestellt und seine Erteilung als 'normal' angesehen wird. Es war daher wichtig zu erfahren, welchen Wert ihm die Interviewten beimessen. Bei allen Interviewten hat der Muttersprachenunterricht Türkisch einen hohen Stellenwert. Die Anzahl der Schüler, die ihn in Hessen besuchen, übersteigt 70% und liegt damit höher, als in jedem anderen deutschen Bundesland und auch EUStaat. Diese hohe Teilnehmerzahl würde nicht erreicht werden, wenn die Türkei den Unterricht in eigener Verantwortung durchführen müßte, wie es zeitweise im HKM überlegt wird. Die Türkei ist an einer stark nationalbewußten Ethnie in Deutschland interessiert, da diese leichter zu kontrollieren und zu reglementieren ist, und auch weiterhin mit einem Geldtransfer zu rechnen ist. Die türkische Ethnie, so wie der Erziehungsattaché (s.a. Kap.VII, 1.1) sie sich vorstellt, würde Sitten und Bräuche bewahren und durch die soziale Kontrolle würde weniger Zündstoff für die Türkei entstehen. Viele Ereignisse, die die Türkei beunruhigen, haben ihren Ursprung in oder erhalten Unterstützung aus Deutschland. (z.B. das Selbstbewußtsein, das die Kurden und andere Minderheiten entwickelt haben, das Sichbekennen der Aleviten und anderer religiöser Gruppen und das Wiedererwachen unterschiedlicher muslimischer Glaubensrichtungen.) In einer Zeit der Globalisierung und des immer lauter werdenden Rufens nach einem frühen Angebot von Fremdsprachenunterricht, möglichst schon in der Grundschule, ist die Zweisprachigkeit der Kinder ausländischer Eltern neben dem Einfluß, den die Herkunftssprache bei der Identitätsfindung hat, auch eine ökonomische Ressource, die nicht ungenutzt bleiben sollte. Zweisprachigkeit darf allerdings nicht zu einer 'doppelten Halbsprachigkeit' führen, daher müssen die zu erreichenden Ziele in den einzelnen Jahrgängen, klar zu erkennen, die Lehrer kompetent sein, und der Unterricht nicht zur 'Kuschelecke' der Schüler werden. Da der Muttersprachliche Unterricht eine so wichtige Aufgabe hat, muß man sich der Ziele bewußt sein, die vorgegeben werden müssen bei Schülern, die vermehrt deutsche Staatsbürger sein werden. Es kann dann nicht mehr so unterrichtet werden, als sei die Türkei die 'Heimat'. Sie kann nur noch Herkunftsland sein, während das Aufnahmeland zur Heimat werden muß, wenn es das noch nicht ist. Dabei sollen die Bindungen zu dem Teil der Familie, der in der Türkei geblieben ist, erhalten bleiben. Schon jetzt haben die meisten Grundschulkinder ihre Großeltern nicht mehr in der Türkei, sondern in Deutschland. Für die zukünftigen Generationen wird die Türkei zwar immer noch das Land ihrer Herkunft, ein Traumland oder Ferienland sein, aber kaum mehr. Türkische Eltern halten den Besuch des MU für erforderlich, da sie befürchten, daß mit dem Verlorengehen der Sprache auch der Familienzusammenhalt leiden würde, daß Sitten und Gebräuche, auf die sie großen Wert legen, verloren gehen könnten. Sie befürchten, daß durch den Besuch der Schule die Kinder einem gewissen Akkulturationsdruck ausgesetzt sind und daher mehr oder weniger Kulturmuster der Mehrheitsgesellschaft übernehmen. Aus diesem Grunde setzten sich vor allem türkische Mütter für die Einrichtung des Türkischunterrichts auch an Schulen ein, an denen es noch keinen Unterricht gab. (Heute würde es die Aufgabe des Türkischen Elternvereins sein, der sich seit ungefähr vier Jahren gebildet hat.) Diese Sorge führt aber auch dazu, daß türkische Eltern, der zweiten Generation ihre Kinder noch so sozialisieren, wie auch sie selbst sozialisiert worden sind. (s.a. Kap. IV) Sie machen aber insoweit Zugeständnisse, als sie es dulden, daß die Kinder untereinander Deutsch sprechen. Die gleichen Argumente, wie sie von den Eltern für ein Festhalten am MU genannt werden, gelten auch für die Lehrer. Zum einen sind sie selber Eltern und haben damit die gleichen Ängste wie diese, zum anderen ist es ihr Beruf, die Sprache zu lehren und ihrer Meinung nach, die nationale türkische Kultur und damit die entsprechenden Sitten und Bräuche zu vermitteln. Ihre Interessensphäre ist die Erhaltung des Istzustands. Obwohl sie sich bewußt sind, daß nur wenige Schüler in die Türkei zurückkehren werden, vermitteln sie Inhalte in der Regel so, wie sie es gelernt haben und es für die Türkei vielleicht heute noch stimmig ist, jedoch hier nicht ungeprüft weiter gegeben werden sollte. Kultur und Bräuche sind nicht statisch, sondern wandeln sich und passen sich den Gegebenheiten an. "Die Kultur von Migranten unterscheidet sich also von der Kultur des Herkunftslandes, Migranten vollziehen eine kulturelle Transformation, die insgesamt auf die Flexibilität und Veränderbarkeit kultureller Ori entierung hinweist." (Sting,1995: 127) Nur ein einziger Lehrer stellt die Überlegung an, ob es nicht wichtiger sei, sich ab der siebenten Klasse, auf die Sprache Deutsch zu konzentrieren. Wenn Türkisch unbedingt weiter gelernt werden soll, dann im Fremdsprachenunterricht. Während der Erhalt von Sprache, Sitten und Bräuchen immer wieder angesprochen wird, wird die Religion, die bei in der Fremde wohnenden Ethnien meist einen hohen Stellenwert erhält, nur am Rande erwähnt. Nur wenige Lehrer setzen sich für einen Religionsunterricht in der Muttersprache ein, die meisten sind der Meinung, daß man diesen Unterricht auf Deutsch erteilen sollte. Das kann darauf hindeuten, daß man den Unannehmlichkeiten aus dem Wege gehen will, die man beim Erteilen Religionsunterricht in den Vorbereitungsklassen hatte. Denn obwohl der Koran die Grundlage des Glaubens aller Muslime ist, haben doch die verschiedenen sunnitischen Moscheenvereine ihre eigene Ausprägung. Für Aleviten käme ein sunnitischer Religionsunterricht sowieso nicht in Frage. Die Ablehnung des Erteilens könnte aber auch in der laizistischkemalistischen Lehrerausbildung begründet sein, deren Auftrag es ist, die Nation als verbindendes Element darzustellen und nicht den Glauben wie im Osmanischen Reich. (S.a. Schiffbauer, 2000, 47ff) Die Studentin Nurgül stellte erstaunt fest, daß im Muttersprachlichen Unterricht Religionsbücher ausgeteilt wurden. Die hohe Wertschätzung und die Unverzichtbarkeit, die auch auf deutscher Seite der Muttersprache Türkisch zugestanden wird, hat nicht dazu geführt, den MU wie ein 'normales' Fach zu behandeln. Den Schulleitern ist es bisher nur selten gelungen, den Unterricht so in die Stundentafel zu integrieren, daß er nicht als Anhängsel oder gar als eigenständige Schule empfunden wird. Schulleiter und Kollegien haben es auch nicht erreicht, dem türkischen Lehrer das Gefühl von Zweitrangigkeit zu nehmen. Am besten ist die Einbindung der Lehrer noch in den Grundschulen gelungen, wenn versucht wird, den Unterricht der ersten beiden Schuljahre in den Vormittag zu legen. Aber schon im dritten und vierten Jahrgang wandert er in der Regel wieder in den Nachmittag. Es gibt auch immer noch Schulen, in denen nicht einmal die Raumfrage so gelöst worden ist, daß türkische Lehrer sich nicht diskriminiert fühlen müssen. (s.a. Kap. VIII, 5.4) Wiederum ist es die Grundschule, deren Schulleiter die meisten Kenntnisse über die Inhalte haben, die im MU vermittelt werden, z. T. weil an einigen Schulen das Projekt KOALA durchgeführt wird, z.T. durch die Beschwerden von Eltern über die vermittel ten Inhalte. Selbst da, wo deutsche Lehrer zu den am Vormittag unterrichtenden türkischen Kollegen ein freundschaftliches Verhalten entwickelt haben, kennen eher die türkischen Lehrer die im Regelunterricht durchgenommen Inhalte, als umgekehrt. Dabei wäre für beide Lehrergruppen die Informationsbeschaffung mit wenig Mühe verbunden, da es für jedes Fach Rahmenpläne gibt und jeder Lehrer, auch der türkische, daraus den Stoffverteilungsplan in deutscher Sprache für das laufende Schuljahr erstellen muß. Beide Lehrergruppen würden die Effizienz des Unterrichts steigern können und mehr von einander erfahren, was zum Abbau von Vorurteilen und zur besseren Einsicht in die Vorhaben des anderen führen würde und vielleicht zu gemeinsamen Projekten. Aufgrund der Rahmen und Stoffverteilungspläne müßten aber eigentlich auch die Schulleiter wissen, was im MU gelehrt wird, denn sie erhalten diese Pläne. Man braucht also nicht erst bei Prüfungen zu erfahren, daß die Inhalte sehr national sind und somit nicht unserem Verständnis von Unterricht entsprechen. Die meisten Schulen werden zwar von einer Vielzahl ausländischer Nationalitäten besucht, in der Grundschule im Ostend sind es über hundert, nicht alle erhalten aber Muttersprachlichen Unterricht. Nach dem Zerfall von Jugoslawien dürften es inzwischen fünfzehn verschiedene Nationen sein, die Muttersprachlichen Unterricht als Fach erhalten. (Den anderen Ethnien werden nur die Räume zur Verfügung gestellt, für den Unterricht hat die eigene 'community' zu sorgen.) Das heißt, die Klassenlehrerin müßte zu so vielen Muttersprachlehrern Kontakt aufnehmen, wie sie Kinder aus den Anwerbeländern in ihrer Klasse hat. Daher kennt zwar jeder Klassenlehrer die Fachlehrer, die Lehrer des Muttersprachenunterrichts sind an Schulen, die keine Stammschulen sind, aber nur wenig bekannt. Ich habe mit Lehrern des Regelunterrichts gesprochen, die nicht wußten, ob es an ihrer Schule überhaupt Muttersprachenunterricht gibt. Man sieht die Lehrer höchstens bei den Notenkonferenzen, die zweimal im Jahr stattfinden. Dabei sind die Noten des MU versetzungsrelevant, d.h. sie tragen zur Versetzung des Schülers bei. Muttersprachlehrer hingegen unterrichten wiederum mehrere Klassen an verschiedenen Schulen und kennen daher auch nicht alle Klassenlehrer. Die Interviews mit den vierundzwanzig Schülern und Studenten zum Muttersprachlichen Unterricht ergibt, daß die meisten Schüler den Unterricht wie ein Fach unter anderen empfinden, ein bißchen unbequemer, weil er am Nachmittag stattfindet und in einer anderen Schule, aber oft mit dem Vorteil, keine Aufgaben machen zu müssen. Nur die Realschulgruppe empfindet die Atmosphäre des MU anders und angenehmer als diejenige im Regelunterricht. Sie rechnet dies nicht nur der Tatsache zu, daß der MU nur von Schülern gleicher Nationalität und Mentalität besucht wird, sondern findet, daß auch die Gruppengröße dabei eine Rolle spielt. Die interviewten Schüler sind sich dessen bewußt, daß sie, allein aufgrund der anders verlaufenden Familiensozialisation, einen beträchtlichen Anteil mehr an Leistungen erbringen müssen als die anderen Schüler, um den Anforderungen der Schule gerecht zu werden. Es ist ihnen aber auch bewußt, daß sie der sozialen Kontrolle, gleich ob sie von der Familie, den Verwandten oder der eigenen Ethnie ausgeübt wird, am besten durch eine gute Bildung begegnen können. Eine gute Bildung und Ausbildung macht sie in ihrem Verhalten freier und sicherer und die Kontrollorgane toleranter. Sie können leichter selbst bestimmen, was sie tun und wie sie handeln wollen. Eine entscheidende Rolle spielt im Leben eines jeden Kindes der Schulanfang, der daher auch ein Schwerpunkt meiner Befragung war. In jeder Gesellschaft besteht das Leben eines Individuums aus verschiedenen zeitlichen Abschnitten, die durchlaufen werden. Die Übergänge von einem Lebensabschnitt zum anderen werden von besonderen Riten begleitet. Sie kennzeichnen das Verlassen der einen Gruppe, eine Zeit der Diffusion und die Aufnahme in die neue Gruppe. So werden aus den Kindergartenkindern nach dem fünften Lebensjahr die Vorschulkinder, denen besondere Rechte eingeräumt werden. In dieser Zeit dürfen sie schon einmal allein und ohne Aufsicht in einem Raum spielen und besuchen besondere Kurse, an denen die jüngeren Kinder nicht teilnehmen dürfen. Aus den Vorschulkindern werden die Schulkinder, die mit einer Schultüte begrüßt, langsam an das Leben in der Schulgruppe gewöhnt werden. (s.a. v. Gennep,1986) Schulanfänger müssen die eigenen Vorstellungen mit den Ansprüchen, Erwartungen und Forderungen des Lehrers und der gleichaltrigen Gruppe in Einklang bringen. (Petillon, 1984: 3) Die Erfahrung der Außenbestimmung durch eine neue Zeiteinteilung, neue Anforderungen an Konzentration und Feinmotorik ist zwar für alle neu, für Kinder aber, die aus Familien mit anderen Sozialisationsvorstellungen und ohne Kindergartenerfahrung in die Schule kommen, besonders bedeutend. Ich nahm daher an, daß in dieser Phase der Muttersprachliche Unterricht bei der Integration besonders hilfreich sein würde, was nur von ganz wenigen Schülern bejaht wurde. Obwohl die Gymnasialschüler berichten, daß die türkische Familie nicht auf die Schule vorbereiten würde, sprechen nur zwei Schüler davon, daß sie den MU in dieser Zeit als hilfreich empfunden hätten. Fatime erinnert sich daran, ihn als beschützend und warm, Mohammed als integrierend und anerkennend empfunden zu haben. Die anderen können sich an nichts Besonderes erinnern. Die meisten haben den MU von Anfang an besucht und halten ihn eher für diejenigen türkischen Kinder wichtig, die erst kurz vor Schulbeginn nach Deutschland kommen. Kinder, die in der Türkei mit der Schule begonnen haben und hier die Klasse wiederholen mußten, weil sie kein Deutsch konnten, empfanden diese Maßnahme als diskriminierend. Diejenigen, die hier aufgewachsen sind, halten den Besuch eines Kindergartens für sich persönlich, aber auch für die anderen türkischen Kinder für wesentlich und bringen ihren Schulerfolg damit in Zusammenhang. Dabei erwähnen sie auch die Vorklasse, die bei fehlendem Besuch des Kindergartens, wegen der späten Einreise, besucht werden sollte. (Leider halten türkische Eltern oft nicht viel vom Kindergarten und noch weniger von der Vorklasse. (s.a. Kap. II, 2.5) und wehren sich dagegen. Eine wichtige Funktion haben die im MU vermittelten Inhalte. Vielen Probanden sind neben Liedern und Spielen die gemeinsamen Feiern in Erinnerung geblieben. Es werden vor allem die nationalen türkischen Feste begangen, obwohl im Rahmenplan für die Grundschule nur die religiösen Feiertage: das Opferfest (Kurban Bayrami) und das Zuckerfest (Seker oder Ramazan Bayrami) und als nationaler Feiertag der 23. April, das Kinderfest, vorgesehen sind. Bei den nationalen Feiern haben sich die Eltern sehr engagiert, sowohl die Eltern als auch Schüler erwähnen dies in ihren Interviews. Man schmückte die Klasse und richtete eine AtatürkEcke ein mit Bildern, Sprüchen und Fähnchen. Eine türkische Lehrerin bedauert, daß jetzt an den Feiertagen für die Kinder schulfrei ist und man nicht mehr zusammen feiern kann. Weil die Eltern arbeiten, verlieren die Tage für die Kinder viel von ihrer Bedeutung. An die folgenden nationalen Feiertage erinnern sich alle: An den 23. April, die Eröffnung der Nationalversammlung, diesen Tag hat Atatürk den Kindern zugedacht, den 19. Mai, den Beginn des Widerstands gegen Engländer, Franzosen, Italiener und Griechen und den 29. Oktober, den Tag, an dem die Republik ausgerufen wurde. Analysiert man den Inhalt der Interviews, so stößt man immer wieder auf folgende Aussagen: Wir haben die Geschichte der Republik Türkei kennengelernt (milli tarih) mit den Befreiungskämpfen, den nationalen Feiertagen, die daraus resultieren, die Reformen Atatürks, seine Aussprüche, die Nationalhymne, den Schülereid (s. Fußnote 26) und zwar von der ersten Klasse an. Selbst die Achtung, die dem Lehrer gezollt wird, wird durch die nationale türkische Erziehung verstärkt, denn die Lehrer stehen anstelle von Atatürk, dem Oberlehrer der Nation. Die interviewten, aber auch andere türkische Lehrer, mit denen ich gesprochen habe, unterrichten diese Inhalte ohne zu überlegen, daß sie Schüler unterrichten, deren Eltern zum Teil schon nicht mehr in der Türkei geboren sind und die wahrscheinlich nicht mehr in der Türkei leben werden. Die Lehrer nehmen es den Schulleitern übel, wenn diese sie darauf hinweisen, daß keine Fahne und kein Atatürkbild aufgehängt werden soll, weil dies nicht gewollt und Ähnliches in der Regelklasse auch nicht praktiziert wird. Der Politologiestudent weiß, daß die Deutschen die Verehrung von Atatürk als Personenkult abtun, er versteht es jedoch als etwas anderes und ist stolz auf die türkische Geschichte, die auch ein Teil seiner Geschichte ist und mit der er sich identifiziert, obwohl er, von den Ferien abgesehen, sein Leben in Deutschland verbracht hat. Ähnlich drücken es auch die Realschüler aus, die ebenso stolz auf ihre nationale Geschichte und das türkische Militär sind. Der Student meint zudem, daß deutsche und türkische Lehrer voneinander lernen können. Vor allem sollen die deutschen Lehrer die Achtung der Schüler einfordern, die auch den türkischen Lehrern entgegengebracht wird. Sie hätten ebenso ein Recht darauf, denn sie geben ihr Wissen den Schülern und dafür schulden ihnen die Schüler 'Achtung'. Die Achtung, die die Schüler ihren türkischen Lehrern entgegenbringen, indem sie sich diszipliniert verhalten, fällt der Lehrerin der Integrierten Gesamtschule wie auch dem Realschulrektor auf, der von einem sehr ordentlichen Unterricht spricht und damit auch einen störungsfreien meint. Wie unterschiedlich auch der Unterricht von den einzelnen Schülern empfunden wurde, alle sagen, daß sie ohne ihn nicht ein so gutes Türkisch sprechen und schreiben würden. Das Türkisch, das zu Hause gesprochen wird, beschränkt sich im wesentlichen auf die Alltagssprache und ist dazu oft ein Dialekt. Der Politologiestudent bedauert, daß es ihm trotz MU nicht möglich ist, die Zeitung ohne Wörterbuch zu lesen, und daß er nicht in die neuere Literatur eingeführt worden ist. In der Sekundarstufe I wird kaum zeitgenössische Literatur vermittelt, weil sie nicht mehr unkritisch ist und daher in die türkischen Schulbücher der Oberstufe nur selten Eingang gefunden hat. Bis in den achtziger Jahren sagt Sprache auch etwas über die politische Richtung aus, der man angehört. Wer von den Lehrern als links und progressiv gelten will benutzt vorwiegend den vom 'Türk Dil Kurumu' erarbeiteten Wortschatz, während die Konservativen sich auch der osmanischen Wörter bedienen. So gibt es oft lang anhaltende Streitigkeiten, welches Wort in die Unterrichtsmaterialien Eingang finden soll. Die politischen Richtungskämpfe, die sich in der Türkei abspielten, reichten also bis in den Muttersprachlichen Unterricht in Hessen. Heute gebrauchen die meisten Türken und damit auch die türkischen Lehrer die Sprache viel unbekümmerter und lassen sowohl das eine als auch das andere Wort gelten. Da vor allem die Zeitungen wieder osmanische Wörter verwenden, werden die Angehörigen der jüngeren Schülergeneration sie auch wieder lernen. Den älteren Schülergenerationen aber sind sie nicht so geläufig. Auffallend ist, daß die Schüler nur ganz selten den Ausdruck Muttersprachlicher Unterricht benutzen und eher vom Fach Türkisch spreche, die Gymnasialschüler sogar von der 'Fremdsprache' Türkisch, für die sie genauso hart arbeiten müssen, wie für jede andere Fremdsprache. In den Augen der Schüler hat der Muttersprachliche Unterricht Türkisch den gleichen Stellenwert wie jede andere Fremdsprache. Die IGS Lehrerin spricht davon, daß der MU an Wert gewonnen habe, seitdem der Modellversuch 'Türkisch anstelle der zweiten Fremdsprache' an ihrer Schule eingerichtet wurde. Die Frage, ob im MU auch die Situation der türkischen Eltern und ihrer Kinder in Deutschland angesprochen worden ist, wird nur von einer einzigen Schülerin bejaht. Sie sagt, daß ihr MULehrer auch Vergleiche zwischen der Türkei und Deutschland gezogen habe. Türkische Lehrer meinen, daß es schwierig sei, die hiesigen türkischen Kinder zu unterrichten, weil sie aus den unterschiedlichsten Gegenden der Türkei stammen und damit auch unterschiedliche Sitten und Gebräuche mitbrächten. Sie sprechen aber nicht davon, daß sie im Unterricht auch die hiesigen Sitten und Gebräuche thematisiert haben. Eine Ausnahme bildet dabei der Nikolauskult. Der Hlg. Nikolaus, der im vierten Jahrhundert Bischof von Myra, dem heutigen Demre (Türkei) war, schlägt eine Brücke zwischen der Türkei und dem Christentum und nimmt so heute eine Art Alibifunktion im MU für die deutschen Feste wahr. Dabei gäbe es keine Schwierigkeiten, türkischen Schülern auch andere deutsche Feste vom Koran her zu erklären. Den Berichten der interviewten Lehrer und Schüler zufolge kann darauf geschlossen werden, daß die eingangs zitierte Aufgabenstellung des MU, die Erschließung des Umfeldes, in dem die Schüler leben, das Verstehen der eigenen Situation und die Fähigkeit darin zu handeln, nur ansatzweise oder wenig beachtet wird. Ein weiterer Punkt, der über die Integration Auskunft geben kann, ist die Frage nach Freunden und Freundinnen der Probanden. Nur eine einzige Probandin hat noch und alleinigen Kontakt zu den Mitschülerinnen des MU. Eine andere steht in lockerem Kontakt zu einer ebenfalls studierenden Mitschülerin aus dem MU, wobei die Tatsache, daß beide das Abitur gemacht haben und sie zusammen zum Gymnasium fuhren, eine wesentliche Rolle spielen dürfte. Alle anderen haben keine Verbindung mehr zu ihren früheren Schulkameraden des Muttersprachlichen Unterrichts. Selbst die beiden Brüder, die den MU noch besuchen, haben außerhalb des Unterrichts keinen Kontakt diesen Mitschülern. Aus dem Rahmen fallen nur die Realschüler, sie haben wesentlich mehr Kontakt untereinander, zu ihren türkischen Mitschülern und anderen türkischen Jugendlichen als die anderen Interviewten. Zwei Mädchen haben fast nur türkische Freundinnen, eines bewußt, da sie sich von ihnen am besten verstanden glaubt, während das andere meint, daß es sich 'so' ergibt. Zwei andere dagegen sprechen von 'besten' Freundinnen, die keine Türkinnen sind und die sie schon vom Kindergarten und von der Schule her kennen. Die Interviews haben gezeigt, daß eine Integration der Probanden in die Hessische Schule, zwar unterschiedlich, aber im allgemeinen erfolgt ist. Dies ist allerdings nicht ein besonderes Verdienst des Muttersprachlichen Unterrichts. Am sichtbarsten wird die Integration bei den Gymnasialschülern und Studenten. Der Grad von Integration läßt sich auch aus den Kurzfragebögen erkennen. Von den sechzehn Schülern beider Gruppen bezeichnen sich vierzehn als Türken aus Deutschland, nur zwei bezeichnen sich nur als Türken. Beide Gruppen fühlen sich in ihrer Klasse und Schule wohl. Dabei ist die Aussage der Gymnasialschüler höher zu bewerten als die de Realschüler, da sie aus drei verschiedenen Schulen kommen. Acht von neun Schülern wollen ihre Ausbildung in Deutschland machen, nur einer in der Türkei. Wobei noch zu bedenken ist, daß eine Ausbildung, z.B. ein Studium in der Türkei kürzer und billiger ist. Durch die Neuregelung des Staatsangehörigkeitsrechtes zum 1.1.2000 erhalten alle in Deutschland geborenen ausländischen Kinder zu der Staatsangehörigkeit ihrer Eltern auch die deutsche bis zu ihrer eigenen Entscheidung für eine der beiden, spätestens im 23. Lebensjahr. Bis dahin sind sie Deutschtürken oder türkische Deutsche. Das heißt, in sechs Jahren kommen die Kinder türkischer Eltern, als Deutsche in unsere Schulen. Kann dann der MU oder das Fach Türkisch, von allen als notwendig angesehen und auch gewünscht, in der gleichen Art und unter den gleichen Bedingungen unterrichtet werden wie bisher? Wenn dem nicht so ist, muß damit begonnen werden, Lehrer mit einer anderen Ausbildung einzustellen, bzw. diejenigen, bei denen es möglich ist, weiterzubilden. Die Veränderung der Einstellungspraxis ist bereits überfällig. Zu Beginn der neunziger Jahre, aber spätestens bei Einrichtung des Modellversuchs 'Türkisch anstelle der zweiten Fremdsprache' hätten nur noch türkische Lehrer mit einer Universitätsausbildung eingestellt werden dürfen. Die Lehrer, die das alte Grundschullehrerdiplom der Türkei haben, können in Deutschland nicht an der Universität weitergebildet werden, da ihre Gesamtausbildungszeit kürzer ist, als hier die Zeit bis zum Abitur. Türkische Lehrer mit Universitätsausbildung dagegen könnten ein Zusatzstudium absolvieren. Für die deutschen Schulanfänger türkischer Herkunft braucht man Lehrer, mit einer Ausbildung, die derjenigen der Lehrer im Regelunterricht entspricht, d.h. daß sie mindestens für zwei Fächer ausgebildet sein müssen. Ein Lehrer, der zwei Fächer studiert hat, braucht nicht mehr an verschiedene Schulen zu gehen, da er außer Türkisch das zweite Fach in den Regelklassen unterrichten kann. Die Situation für eine entsprechende Lehrereinstellung ist in der nächsten Zeit recht gut, da im Laufe von zehn Jahren der größte Teil der bis 1980 eingestellten Lehrer in Rente geht. Die Fachberaterin für den MU Türkisch verlangt, daß für das Fach Türkisch gut Deutsch sprechende Lehrer, nach Möglichkeit mit einem Studienabschluß einer deutschen Universität, einzustellen sind. Es gibt bereits jetzt Lehrer und Diplompädagogen türkischer Herkunft, die zweisprachig sind. Beide Gruppen brauchten nur ein relativ kurzes Zusatzstudium, um den oben genannten Bedingungen zu entsprechen. Daneben gibt es seit 1998 die Absolventen der Gesamthochschule Essen, die ein entsprechendes Lehrerstudium mit dem Fach Türkisch durchlaufen haben. Schon jetzt gibt es eine Anzahl von Schulen, die, bedingt durch die Globalisierung, der Forderung nach früher Zweisprachigkeit durch Einführung nach Frühenglisch oder Frühfranzösisch nachgekommen sind. Im Laufe der Zeit wird die Einführung sicherlich flächendeckend erfolgen. In der Grundschule könnte dann die Sprache Türkisch entsprechend dem erteilten Frühenglisch oder Frühfranzösisch im Stundenplan stehen. Lehrerin B. sagt: "Warum sollen diese Kinder Frühenglisch lernen, wenn sie doch schon eine andere Sprache mitbringen". Der Ministerialrat spricht davon, daß die fremde Herkunftssprache auch einen ökonomischen Wert habe, man muß also nur den vorhandenen Wert nutzen. In den Ballungsgebieten ist Frühtürkisch, das die mitgebrachten Sprachkenntnisse berücksichtigt, anstelle des bisherigen MU durchaus denkbar. Unter Umständen muß man dabei auch eine Art Mittelpunktschulen einplanen. An diesen Schulen könnte mit der Alphabetisierung z. B. nach dem KOALAModell (s.a. Kap.VII, 2.) gearbeitet werden. In der Sekundarstufe sollte man schon jetzt überlegen, in welcher Weise auch der Computer für den Muttersprachlichen Unterricht zu nutzen ist. Gerade in Gegenden, in denen nur wenige türkische Kinder wohnen, bietet sich sein Einsatz an. Die in Hessen vorgeschriebene Sprachenfolge, daß Englisch, wenn nicht erste, so doch mindestens zweite Fremdsprache sein muß, wird durch das Frühtürkisch nicht tangiert, denn als nächste Fremdsprache müßte dann Englisch gelernt werden. Es wäre gut, wenn die Institution Schule auf dem Gebiet der Einbeziehung der Minderheitensprache Türkisch feste Vorstellungen hätte, ehe alle Schüler türkischer Abstammung bei Schuleintritt die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Die dargelegten Überlegungen haben den Vorteil, daß Türkisch als ein den anderen Fächern gleichwertiges Fach der Hessischen Schule angesehen würde, in den Stundenplan integriert und nicht mehr Anhängsel oder Schule des Herkunftslandes. Die Lehrer wären hessische Lehrer, was sie formal schon seit fast 30 Jahren sind, in Deutschland ausgebildet, im Kollegium integriert und als gleichwertig akzeptiert. Mit einem Unterricht in der genannten Form würde der Sprache Türkisch, deren Sprecher zu der größten Minderheit in Deutschland zählen, der Raum und die Bedeutung zuerkannt, die ihr aufgrund ihrer Größe zustehen. Es gibt auch keinen Zweifel daran, daß die Zahl der Einwohner türkischer Abstammung in den nächsten Jahren, vielleicht Jahrzehnten, allein aufgrund der heutigen demographischen Daten noch steigen wird. Wie schon erwähnt, reisen jedes Jahr 30.000 türkische Ehepartner in Deutschland ein, ist die Geburtenrate höher und die Anzahl der jüngeren Frauen im reproduktiven Alter prozentual größer als bei der deutschen Bevölkerung. Mit einem Unterricht, der sich an die Rahmenrichtlinien hält und mit Hilfe der in diesem Sinne ausgebildeten Lehrer werden die Deutschtürken nicht nur von den Verdiensten ihrer Vorfahren in der Türkei erfahren, sondern auch von denen ihrer Elterngeneration, die, sei es als Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Künstler, Schriftsteller oder Politiker hierher gekommen sind. Es sollen junge Menschen heranwachsen, die sich "nicht vom türkischen Ministerpräsidenten erklären lassen, wen wir in Deutschland wählen sollen oder nicht". (Özdemir, 1999: 13). Sie werden "Bürgerpflichten und Grundstrukturen und Prinzipien wahrnehmen (Wahlrecht, Zivildienst, Wehrdienst). Erst wenn sich der Einzelne als Teil der Gesellschaft empfindet, können sie angemessen ihren Beitrag leisten."