Deutsch als Fremdsprache im Spannungsfeld zwischen Globalisierung und Regionalisierung
In: Im Medium fremder Sprachen und Kulturen, Band 30
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In: Im Medium fremder Sprachen und Kulturen, Band 30
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In CHINA aktuell sind bisher drei systematische Überblicksartikel zu den Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der VR China erschienen, und zwar in der Juni- Ausgabe 1985 ("Kaleidoskop der deutsch-chinesischen Beziehungen. Eine Zwischenbilanz anläßlich der Visite Zhao Ziyangs", S.363-373), in der Dezember-Ausgabe 1985 ("Die deutschchinesischen Beziehungen: besser als je zuvor - Zwischenbilanz 1985", S.814-824) und in der Juli-Ausgabe 1987 ("Das deutsch-chinesische Beziehungswunder", S.555-575). Mit dem folgenden Beitrag wird eine Darstellung und Analyse der bilateralen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der VR China in den Bereichen Politik, Wirtschaft, wissenschaftlich-technologische Zusammenarbeit, Entwicklungszusammenarbeit und Kultur seit August 1987 vorgenommen.
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Rose Marie Beck war drei Jahrzehnte lang Wissenschaftlerin an einer Universität – aus Überzeugung. Seit diesem Jahr leitet sie eine HAW. Macht sie ihren Job dadurch anders? Ein Interview.
Rose Marie Beck, geboren 1964 in der Schweiz, studierte in Köln Afrikanistik, Germanistik und Pädagogik, promovierte dort anschließend und
habilitierte sich an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. 2010 wurde sie Professorin für Afrikanistik an der Universität Leipzig, 2018 Dekanin, 2019 Dekanesprecherin aller 14
Fakultäten. Seit März 2024 ist sie Rektorin der Hochschule Karlsruhe. Foto: Magali Hauser.
Frau Beck, Sie sind seit März 2024 Rektorin der Hochschule Karlsruhe. Vorher waren Sie Professorin für Afrikastudien in Leipzig. Ihre gesamte wissenschaftliche Sozialisation fand an
Universitäten statt, wie groß war der Kulturschock, als Sie an eine HAW kamen?
Ich fühle mich sehr wohl hier! Ein wesentlicher Grund dafür ist die größere Dynamik, die an einer kleineren Hochschule möglich ist. Hinzu kommt der klare gesellschaftliche Auftrag einer HAW, den
die Professoren für sich annehmen. Viele von ihnen kommen aus der Wirtschaft und entscheiden sich ganz bewusst für eine HAW-Professur. Das merkt man. Zumal wir in Zeiten leben, die nach zügigen
wissenschaftsbasierten Lösungen verlangt. So sehr wir die Grundlagenforschung brauchen, das stärkt die Rolle der angewandten Wissenschaften.
Wie passt Ihr Hohelied dazu, dass Sie sich, als Sie noch Universitätsprofessorin für Afrikastudien waren, nach eigenen Angaben dezidiert gegen die angewandte Forschung ausgesprochen
haben?
Darüber habe ich erst so richtig nachgedacht, als ich mich mit meinem Wechsel hier nach Karlsruhe beschäftigt habe. An den Universitäten haben angewandte Wissenschaften einen anderen Ruf. Man
könnte sagen, sie gelten dort als die mindere Wissenschaft. In den Afrikastudien besteht außerdem immer die Gefahr, dass angewandte Forschung schnell als eine Art kolonialer Gestus interpretiert
wird, aus dem Kontext kommt man schlecht raus. Ich selbst musste mich auch erst von manchen Stereotypen befreien, die ich mit mir herumtrug.
Können Sie mir erklären, warum seit einer Weile auf Veranstaltungen mit HAW-Rektoren fast nur noch über Forschung diskutiert wird, obwohl eigentlich doch die Lehre immer als die große
Stärke dieses Hochschultyps galt?
Diese praxisnahe Lehre, bei der die Studierenden vieles, was sie lernen, in Laboren weiterentwickeln, anwenden und ausprobieren können, zeichnet uns HAWen immer noch aus. Für uns ist
selbstverständlich, dass wir nahe an den Studierenden sind. Umgekehrt ist die Forschung das, was es voranzutreiben und zu entwickeln gilt. Wir werden da immer besser, es gibt inzwischen
gewichtige, forschungsstarke HAWen. Meine Aufgabe als Rektorin ist, den Ausgleich zwischen den alten und neuen Stärken zu organisieren.
"Mein Plädoyer lautet:
Lasst uns arbeitsteiliger vorgehen."
Wenn Sie von "gewichtigen, forschungsstarken HAWen" sprechen, entsteht da eine neue Wettbewerbssituation mit den Universitäten?
Ja und nein. HAWen, die im Sozial- oder Gesundheitsbereich ihren Schwerpunkt haben, haben wenig mit der Uni-Konkurrenz zu tun. In den Ingenieur- und Technikwissenschaften sieht das anders aus.
Die Technischen Hochschulen geraten in Wettbewerb mit den Technischen Universitäten, zum Beispiel wir mit dem Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Klar gibt es auch da viele Kooperationen,
etwa in Form gemeinsamer Forschungsprojekte und Graduiertenkollegs, wie wir sie auch mit dem KIT haben. Aber am Ende wollen wir alle die besten Studierenden, und wir alle wollen mit den
Unternehmen in der Region zusammenarbeiten. Mein Plädoyer lautet an der Stelle: Lasst uns arbeitsteiliger vorgehen. Wir HAWen sind besser geeignet, mit den KMU, den kleinen und mittleren
Unternehmen, Forschungs- und Entwicklungsprojekte zu machen, auch kleinere, schnellere Projekte, manchmal als ausgelagerte Forschungsabteilungen. Die großen Industriekonzerne sind dagegen die
natürlichen Partner der großen Technischen Universitäten. Und Ausnahmen bestätigen die Regel.
Die HAWen kritisieren, dass sie kaum von den Fördermitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) profitierten. Während die Technischen Universitäten lange die Einführung des
Promotionsrechts an HAWen bekämpft haben.
Ja, das ist auch ein Ausdruck des vorhin angesprochenen Wettbewerbs um Mittel und um die klügsten Köpfe. Gerade an den Technischen Universitäten, die in der Vergangenheit gut mit den Technischen
Hochschulen zusammengearbeitet haben, hat man zunächst nicht verstanden, warum die jetzt plötzlich das Promotionsrecht haben wollten. Inzwischen ist deutlich geworden: Das HAW-Promotionsrecht ist
Ausdruck der Qualitätssicherung innerhalb der angewandten Forschung, die sich an sehr strengen Maßstäben orientiert. Auch um besser definieren zu können, was genau angewandte Forschung eigentlich
ausmacht und wie sie sich im Vergleich zur Grundlagenforschung ihre Exzellenz messen lässt. Dazu existiert bislang kaum ein Korpus an wissenschaftstheoretischer Literatur. Bei beiden geht es um
neue wissenschaftliche Erkenntnisse. Und hier ist auch der Link zur DFG-Frage. Ich bin davon überzeugt, dass mehrere Entwicklungen zusammenkommen werden: eine bessere Definition angewandter
Forschung und ihrer Qualität, ein wachsendes Bewusstsein in der DFG – und eine stärkere Stimme der HAWen in den DFG-Fachkollegien.
"Als nächstes müssen wir die Mitgliedschaft
von HAWen in der DFG anpeilen."
Wie viele HAW-Wissenschaftler sind da überhaupt schon drin?
Der Ausdruck: "nur in homöopathischen Mengen" trifft es vermutlich. Dabei besteht kein Zweifel daran, dass ein HAW-Projekt, das sich um eine DFG-Förderung bewirbt, die nötigen Fürsprecher eher
bekommen wird, wenn diese mit dem Wesen angewandter Forschung an HAWs vertraut sind.
Sollte die DFG entsprechend auch HAWen als Mitglieder aufnehmen?
Das ist der nächste Schritt, den wir anpeilen müssen. Dafür muss aber auf der HAW-Seite die Forschung noch stärker werden und auf der DFG-Seite eine Art kulturelle Öffnung stattfinden. Das Dritte
ist, dass die Politik nicht nur rhetorisch die angewandte Forschung anpreist. Dankenswerterweise hat unsere Landesministerin Petra Olschowski einen sehr guten Blick für uns und unsere
Belange und weiß das hochdifferenzierte Hochschulsystem Baden-Württembergs zu schätzen. Gleichzeitig muss die Politik praktisch den Aufbau der Strukturen an HAWen ermöglichen, die für höchste
Qualität in der Breite nötig ist. Darum halte ich die Forderungen der HAWen nach einem Mittelbau, nach Forschungsstellen und nach einer Verringerung der hohen Lehrdeputate für absolut
gerechtfertigt. Bei uns an der Hochschule Karlsruhe ist alles, was wir in der Forschung machen, bis in die Verwaltung hinein, fast ausschließlich durch Drittmittel finanziert. Das kann nicht
funktionieren. Aber klar ist auch: Je stärker wir in der Forschung werden und je mehr Ressourcen wir für die Forschung fordern, desto stärker treten wir in Zeiten knapper Kassen wiederum in eine
Konkurrenz mit den Universitäten. Ich finde das bedauerlich. Und gesund ist das auch nicht.
Alle Hochschulformen in Baden-Württemberg protestieren gerade gemeinsam gegen aus ihrer Sicht zu geringe Aufwüchse und eine Nullrunde. Die Gemeinsamkeiten hören dann demnächst wieder
auf?
Ich hoffe das nicht! Wir haben– angesichts der eher trüben Aussichten für die nächsten Jahre – ein solides und langfristig hoffentlich verlässliches Ergebnis erreicht. In anderen Bundesländern
ist dieses Verlässlilchkeitsversprechen nicht viel wert, wie wir gerade sehen. Außerdem gibt es immer noch weitere Rädchen, an denen man drehen könnte. Zum Beispiel habe ich die Hoffnung,
dass die Fraunhofer-Institute stärker mit den HAWen zusammenarbeiten. Oder dass man über verschiedene Landesförderprogramme das Geld für Forschungsreferenten-Stellen bekommt. Die Schweiz wiederum
hat auf Bundesebene ein sehr erfolgreiches Programm zum Aufbau von Forschungsstrukturen an HAWen aufgelegt, begleitend zum Ausbau der Innosuisse, die ihrerseits eines der Vorbilder der geplanten
Deutschen Agentur für Transfer und Innovation (DATI) war. Um so die Wettbewerbsfähigkeit der schweizer Fachhochschulen im Wettstreit um die Innosuisse-Fördergelder zu steigern.
"Für alle 21 HAWen in Baden-Württemberg zusammen
gibt das Land etwa so viel aus wie für die
Universität Heidelberg inklusive Unimedizin."
In Deutschland ist nach dem Bruch der Ampelkoalition nicht einmal mehr klar, ob die DATI überhaupt noch kommt.
Und am Ende läuft es dann doch immer auf einen Ressourcenkonflikt raus, das kann man nicht wegdiskutieren. Hier sollten wir uns auf HAW-Seite aber hüten, so zu tun, als seien die Universitäten
finanziell gesegnet oder gar, um einmal eine manchmal geäußerte Zuschreibung aufzugreifen, "stinkreich". Die haben genauso ihre Haushaltsnöte und Sachzwänge. Umgekehrt muss man festhalten: Für
alle 21 HAWen in Baden-Württemberg zusammen gibt das Land etwa so viel aus wie für die Universität Heidelberg inklusive Unimedizin. Grundlagenforschung kostet eben, das müssen wir uns auch
leisten. Aber diese Relationen müssen wir sehen, wenn wir über die Wertschätzung angewandter Forschung sprechen.
Was erwarten Sie vom Bund?
Nach dem Ende der Ampel ist leider klar geworden, dass nichts mehr passiert. Das ist sehr schlecht für die Kooperationen von Wirtschaft und Wissenschaft. Wir sehen jetzt schon, dass die Industrie
immer weniger in gemeinsame F & E investiert. Wir erwarten natürlich, dass eine neue Bundesregierung bei der DATI endlich vorwärts macht. Und dass sie sich dann vielleicht zu dem erwähnten
Begleitprogramm durchringen kann, weil die HAWen sonst keine fairen Chancen beim Einwerben von DATI-Geldern haben werden. Ein solches Programm wäre eine gute Investition in die Zukunft unseres
differenzierten Hochschulwesens, das eine Stärke Deutschlands ist. Kurzfristig aber erwarte ich nichts mehr. Unabhängig von der aktuellen Regierungskrise fehlt bei vielen Wissenschaftspolitikern
grundsätzlich der Blick für die Besonderheiten von HAWen.
Wie meinen Sie das?
Nehmen Sie die Debatte um die Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes. Da sind wir mit unseren Forderungen und Anliegen in keiner Weise durchgedrungen, die meisten Politiker haben sie nicht
einmal auf dem Schirm gehabt, geschweige denn verstanden.
Sie sprechen von der Warnung führender HAW-Repräsentanten, der verbindliche Vorrang einer Qualifizierungs- vor einer Projektbefristung würde zahlreiche HAW-Forschungsprojekte
gefährden.
Wegen unserer angewandten Forschung und Nähe zur KMU haben wir viele Projekte, die kürzer als drei Jahre sind. Projekte von der Industrie haben ausschließlich eine kürzere Laufzeit. Und die
würden alle wegfallen. Bei uns an der Hochschule Karlsruhe wären zwei Drittel unserer Forschungsprojekte davon betroffen. Damit wäre der deutschen Wirtschaft ein Bärendienst erwiesen.
Außerdem haben wir keinen Mittelbau und die langfristige Perspektive ist bei unseren jungen Wissenschaftlern eine völlig andere. Sie wollen und sollen ja gar nicht bei uns bleiben, sie werden von
der Industrie abgeworben und vielleicht kommen sie eines Tages mit Praxiserfahrung zurück und bekommen eine Professur. Dass sich am Ende als einzige Partei die AfD in der Bundestagsdebatte Ende
Oktober für uns eingesetzt hat, ist ein verheerendes Signal für die Wissenschaft und ein Armutszeugnis für die Politik.
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In: China aktuell: journal of current Chinese affairs, Band 20, Heft 8, S. 516-536
ISSN: 0341-6631
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Ob sich die Welt nach dem 11. September 2001 so verändert hat, daß man von einer grundsätzlich neuen Weltpolitik sprechen muß, ist eine Frage, die in den Feuilletons anhaltend diskutiert wird. 1. An das Theater wird in diesem Kontext vermehrt der Anspruch gestellt, sich weniger "selbstbezüglichen" Experimenten, als vielmehr den aktuellen Fragen der Zeit zuzuwenden. Die Leiter des experimentellen Münchner Theaterfestivals "Spielart", Tilman Broszat und Gottfried Hattinger, resümieren die Situation: "Die Forderung nach einer (Re-)Politisierung steht im Raum", von seiten der Theatermacher und -theoretiker werde momentan vermehrt eine "veränderte, realistische Sicht auf unsere Gesellschaft"[1] verlangt. Auf dieses Ansinnen als Folge eines weithin diagnostizierten Einbruchs des politisch und gesellschaftlich Realen in eine Unterhaltungs- und Spaßgesellschaft antworten die Festivalmacher provozierend mit dem Thema von "Spielart 2003": "Is it real?". Sie entziehen also einem manifeste Inhalte vermittelnden Theater listig von vornherein die Bühne und verteidigen ihr Unternehmen, das als Spektakel der Postdramatik gelten kann, gegen jede von ihnen als konservativ verstandene ästhetische Reaktion: "Eine nur den Inhalten nach politische oder sozialkritische Dramaturgie, die nicht neue, dem Theater angemessene Formen sucht, geht am Kunstanspruch vorbei."[2] Aufgrund der in der gegenwärtigen Theaterlandschaft und Kulturkritik beobachtbaren Dissonanz zwischen dem Ruf nach dem Real-Politischen im Theater und den Performance- und Inszenierungswelten einer postmodernen Eventkultur und dem sich daraus ergebenden Klärungs- und Diskussionsbedarf ist Hans-Thies Lehmanns Essaysammlung DAS POLITISCHE SCHREIBEN das richtige Buch zur richtigen Zeit, will es doch einen theaterwissenschaftlichen Beitrag leisten zur Orientierungslosigkeit in einer global vernetzten Medienwelt, die sowohl den "Kollaps eines Weltreiches" als auch den "Kollaps der Symboltürme" (9) weltweit erfahrbar machte. 2. Für die meisten Leser wird gelten, daß sie mit Lehmanns theatertheoretischem Essay Postdramatisches Theater mehr oder weniger vertraut sind. Er ist nicht nur aus theaterwissenschaftlichen Seminaren kaum mehr wegzudenken, sondern hat als Begriff und Stilvorgabe in Theaterkritik und -praxis seinen Einzug gehalten. Wenn man Postdramatisches Theater als Lektüre-Ereignis definiert, als - in Lehmanns Terminologie - Nullpunkt des Theatertheorielesens, dann wäre DAS POLITISCHE SCHREIBEN die durchaus nicht undramatische intellektuelle Produktions-Geschichte des Autors, die 26 Arbeiten aus den Jahren 1980 bis 2002 versammelt. Der Blick des Autors zurück, auch als Konstruktion einer intellektuellen "Biographie" anhand von Vorträgen, Programmheftbeiträgen, wissenschaftlichen und journalistischen Schriften, richtet seine Aufmerksamkeit zwar in erster Linie auf Theatertexte, aber es "steht dabei zugleich die Frage nach dem Theater, seiner Möglichkeit, im Hintergrund."(6) Dieser Hintergrund ist als Ort des Körperlichen und damit Triebhaften, des Ereignisses, der Präsenz und der Materie etwas, das dem "rationalen" Text, insbesondere der Fabel und der ein intaktes Subjekt spiegelnden Figur widersteht. Damit agiert in den Theatertexten das Theatrale als das Eigentliche verdeckt und wird erst sichtbar durch die Grenzen, Fehler, Widersprüche und Unvollständigkeiten, die dem Leser nach der Lektüre - das wäre die didaktische Intention Lehmanns - besser auffallen sollten. Diese Mängel sollten nicht als das zu Übergehende oder Korrigierende gedeutet werden, erzeugen sie doch im kulturellen und gesellschaftspolitischen Feld das "Begehren und den Motor seiner Praxis." (7) Wie man unschwer erkennt, dient in der Lehmannschen Analyse der Theatertexte, ähnlich wie in seinem Postdramatischen Theater, die strukturale Psychoanalyse nach Jacques Lacan als philosophische Vorstellungswelt. Politik und ihr Theater oder Theater und seine Politik sind also, das ist die Grundbedingung, immer mit der neostrukturalistischen Brille zu lesen (9). Wer dies nicht akzeptieren mag, wird mit Lehmanns Werken wenig Freude und Erkenntnisgewinn haben. Ihm entgeht, wie einer, der sich in den weitläufigen Gefilden und Untiefen der hermetischen französischen Theorien elegant zu bewegen weiß und das Theater in seiner ganzen geschichtlichen und systematischen Breite sehr gut kennt, stilistisch vorzügliche, gut lesbare und nachvollziehbare Erörterungen und Exegesen verfaßt. Diese gleichen erfreulicherweise wenig den alchimistischen Zauberkunststückchen einiger Lacan-Adepten wie etwa die des im Feuilleton notorisch präsenten Slavoj Zizek. 3. Das Programm, das den nicht allzu kohärenten Beiträgen einen Gesamtrahmen geben soll, wird gleich zu Anfang vorgestellt. Unter dem Titel "Wie politisch ist das postdramatische Theater?" wird das gegenwärtige Verhältnis des Theaters zu Politik und Gesellschaft erörtert und die anhaltende Relevanz der experimentellen Theaterformen bekräftigt. Für Lehmann lautet der "gewöhnliche" Vorwurf an das postdramatische Theater, "fehlerhaft fehle das Politische", und: "von Aufklärung, von Moral, von Verantwortung (auch hinsichtlich der Klassiker) - keine Spur." (16) Hinter diesem Ansinnen vermutet Lehmann einen "redlichen Gestus", der schon deshalb verdächtig ist, weil er sich niemals legitimieren kann und lediglich eine Maske des Willens zur Macht und der Gewalt ist. Weitere Masken in diesem Sinne wären "Realität", "Ratio", "Pragmatismus", "gesunder Menschenverstand" und "natürliches moralisches Empfinden", dem als richtige politische Handlung allein die Entgegensetzung einer "ästhetischen Praxis der Ausnahme", die auf die "Grundlosigkeit des Gesetzes" (19) weist, beikommt. Gefordert wird eine "Wahrnehmungspolitik des Theaters" zur Schärfung der Sinne für die "Ausnahme" (19). Folglich wird politisches Theater in keinem Fall ein "realistisches" im üblichen Sinne sein können, kein "Theater der Schaustellung", der Fabel und der Personen. Das "Politische des Theaters" ist nicht als "Wiedergabe, sondern als Unterbrechung des Politischen zu denken" (17). Der momentan zu beobachtende Rückzug einer "Reihe jüngerer Theaterleute auf ein formal kommensurables Theater", der "neue Hang zu einem sogenannten 'Realismus'", welcher der Nachfrage eines Publikums geschuldet ist, "das, wie man hört, der ewigen Destruktionen leid ist", kann jedoch "nur aus Furcht vor wirklich riskanten Setzungen unter seinen politischen und künstlerischen Möglichkeiten bleiben." (15) "Realismus" wäre ein Verschweigen der notwendigen "Unterbrechung". Als Oberbegriff des ersten von fünf Kapiteln der Sammlung schlägt diese den Bogen von der Postdramatik zur Prädramatik und wieder zurück. Damit wiederholt das erste Kapitel die Struktur der Theatergeschichte, die Lehmann bereits in seiner Habilitationsschrift, teilveröffentlicht unter dem Titel Die Konstitution des Subjekts in der antiken Tragödie, vorgeschlagen hat. Der analoge Blick auf die Postmoderne und die theatrale Vorzeit der griechischen Antike erlaubt in der Abhandlung "Erschütterte Ordnung - das Modell Antigone" die Dekonstruktion des Sophoklesschen Theatertextes, wobei sich der dramatische Konflikt, der sich bei Hegel, vermittelt durch Lehmanns Lehrer Peter Szondi, noch im Dazwischen, im Dialog zeigen sollte, als dialektisch nicht auflösbar erweist. Im Mittelpunkt steht nicht wie sonst die auf der inhaltlichen Ebene zu konstatierende Agonalität zweier ausgesprochener, sinnvoller Standpunkte, sondern der in der argumentativen Struktur des Theatertextes selbst zutage tretende innere Konflikt und Widerspruch. Ein tragischer Diskurs ist also nicht als Konfrontation miteinander unvereinbarer Positionen zu Politik und Gesellschaft, Recht und Moral zu denken, vielmehr wird er sichtbar in der letztlich unhaltbaren Bemühung, überhaupt eine Position zu definieren. Erschreckend ist in der Antigone die Erkenntnis, daß es eine fundamentale Lücke in der Wahrnehmung gibt, auf inhaltlicher Ebene ist daher keine Einigung zu erzielen. Das lenkt die Aufmerksamkeit auf die Poesie des Textes, die eine eigene Sphäre des Mehrdeutigen als Gegensphäre sichtbar werden läßt (29). Die antike Tragödie lehrt somit, daß es für die Polis keine Hoffnung auf einen Konsens, welcher eine allgemein akzeptierte Rechts- und Politikordnung gründen könnte, gibt. Schon von seiner Frühzeit her ist das Theater nicht einmal als Gegenmodell zu den bestehenden Verhältnissen zu denken, seine politische Aufgabe findet es eher darin, auf die Grundlosigkeit jeder menschlichen Ordnung zu verweisen und damit eine Unsicherheitswahrnehmung zu evozieren, eine Heideggersche "Angst", die durch keine Gewißheit aufzuheben ist. Die Auflösung geht hierbei nicht nur vom Theatertext, sondern zudem von der Sinnlichkeit der Aufführung, der sprachlichen und gestischen Performanz des Moments, die den Sinn auf der inhaltlichen Ebene unterminiert, aus. 4. In den weiteren vier Kapiteln folgen einerseits Erkundungen im theatersystematischen Raum unter den Titeln "Darstellbarkeit" und "Drama", andererseits Erörterungen zu den für Lehmann wichtigsten Dramatikern und Theatertheoretikern Bert Brecht und Heiner Müller, denen jeweils eines der beiden die Essaysammlung abschließenden Kapitel gewidmet ist. Wie es sich für das "erwachsen" gewordene Fach Theaterwissenschaft, das sich endgültig von der Germanistik emanzipiert hat, gehört, geht es erst um das Theatrale, d. h. in den fünf meist älteren Beiträgen des zweiten Kapitels um das Problem der Darstellung im weitesten Sinne, und erst danach, im dritten Kapitel, in weiteren fünf Aufsätzen um den dramatischen Text in seinen verschiedenen Erscheinungs- und Inszenierungsformen von Müllers Auftrag bis zu Schleefs Rhythmen. Darstellbarkeit bedeutet für Lehmann "Entzug der Darstellung" (39), in dem Beitrag "Das Welttheater der Scham" geht er der Dialektik des Ver- und Ent-bergens in der Maske des Theaters und der Scham als Schutzaffekt des Selbst in der Kulturgeschichte und beider Verhältnis zum ungeklärten Status "theatral" oder "natürlich" nach. Da die Grenze eigentlich nicht zu ziehen ist, weiß man nicht, was wirklich ist. Die entstehende Unsicherheit zeigt sich ebenfalls in der Untersuchung "Das Erhabene ist das Unheimliche" als das "Bedrohliche an der Auflösung der Grenze von Symbol und Symbolisierung", das sich sowohl im 18. Jahrhundert als auch in der historischen Avantgarde in der im "Erhabenen" begrifflich gebannten Angst vor dem "Abgrund des Nichts-Sinns" (73) spiegelt. Eine Bataillesche "Ökonomie der Verausgabung" und eine performative "Ästhetik des Risikos" machen in der Grenzüberschreitung die falschen Grenzen und damit die Zwänge der symbolischen Ordnung deutlich. "Revolution und Masochismus" als Verhältnis, wie es in den Revolutionsdramen Georg Büchners und Heiner Müllers zu lesen ist, bedeuten, daß masochistische Lust den Begriff und die Dialektik stören, genauso wie die Körperlichkeit in einem poetischen Text "jeden Diskurs des Politischen und Historischen, jede Sinngebung" (122) unterbricht. 5. Wenn dem Theater als performativem Ereignis eine unaufhebbare Differenz, die der Körperlichkeit und Ereignishaftigkeit zuzuschreiben ist, eignet, dann wird nicht nur das Inhaltliche als Sinn des auf der Bühne Dargestellten, sondern auch als Sinn des Theatertextes selbst prekär. Die im Kapitel "Drama" behandelten Theatertexte - es sind dies im besonderen die Stücke von Büchner, Müller, Kleist und Jahnn - lassen für Lehmann inhaltlich und formal Brüche und Widersprüche konkret werden, die indirekt auf den grundlosen Grund der Ordnung und das den Text sprengende, nicht in den Be-Griff zu zwingende Trieb-Leben verweisen. Die Dialektik der dramatischen Form und der Geschichte erweist sich als pure Fassade, die dem performativen Eigenleben in Wirklichkeit wenig kulturelle Stabilität entgegensetzen kann und die deutliche Spuren der Anwesenheit der Körper trägt, welche Lehmann sichtbar machen will. Exemplarisch steht hier Einar Schleef für ein Theater, das diesen Erkenntnissen in den Inszenierungen Rechnung trägt, indem mit der Besinnung auf die "einfachen Urelemente des Theaters" (186) das Gewaltsame und Konflikthafte der Kultur und des Politischen nicht in einem harmlosen Dialog verdeckt wird. Im "Theater des Konflikts" wird vielmehr durch den Rückgriff auf rhythmisierte Körper und Stimmen das Verdrängte auf die Bühne gezogen, mit dem Ziel, dieses zu bannen, indem es rausgelassen und damit den Akteuren und Zuschauern bewußt gemacht wird. 6. Heiner Müller, der sein Theater auch in der konfrontativen Auseinandersetzung mit den Stücken und der Theatertheorie Brechts kreiert hat, ist ein immer wieder zitierter Spiritus Rector Lehmanns. Die entsprechende Traditionslinie orientiert die Anordnung zweier umfangreicher Kapitel, "Der andere Brecht" und "Studien zu Heiner Müller", wobei der ältere Dialektiker durch die postmoderne Lesart des Jüngeren neu zu entdecken ist. Folglich geht es in sechs Beiträgen nicht um den bekannten, sondern um den "anderen" Brecht, d.h. nicht um den Brecht, der den "Idealen des Kollektivs, der kommunistisch-leninistischen Politik" (208) zu nahe kam, sondern den von Lehmann vorgeschlagenen und in der Lektüre aufgedeckten zweideutigen und aufgrund der jeweiligen politischen Situation in Amerika und in der DDR maskierten Brecht. Gefunden wird dabei inhaltlich das Böse als Kehrseite des behaupteten Moralischen, das dem Grundsätzlichen unterlegte Zweifelnde und Fragende, welches sich auch formal im "performativen Status der Sätze" (216) und in den "Spaltungen im Bau der Texte" (213) nachweisen läßt. Lehmanns Dekonstruktionen Brechts opponieren gegen die Geschlossenheit der Fabelstruktur als "Fabel-Haft", indem sie in den Theatertexten und -theorien "produktive Widersprüche" und "innere Spannungen" (225) aufzeigen. Insbesondere das Fragment Fatzer soll darlegen, wie sich Brecht radikal derart in theatrale und politische Selbstwidersprüche schrieb, daß er "an diesem Abgrund, zumal am Versuch, den 'Konflikt' von 'Ego' und Kollektiv überzeugend auszutragen, 'scheiterte'." (250) Dieser Konflikt zeitigte eine solche Sprengkraft, daß, übertragen vom dramatischen Text Fatzer auf den theatralen Text des Lehrstücks, dieses als Performance und damit als Möglichkeitsraum interpretierbar wird. Hier geht das Drama in den Ereignis-Raum über, indem es den Zuschauer gleichzeitig zum Schauspieler macht und umgekehrt. Die gegenseitige Wahrnehmung der Akteure läßt die eigenen als fremde Gesten bewußt und gleichzeitig die Grenze zwischen Theater und Leben undeutlich werden. In diesem Moment, in dem Brechts Theaterthesen im Theater performativ unterlaufen werden, transformiert sich der Brechtsche zum postdramatischen Gestus, zum performativen Akt. 7. Die Realerfahrung in der DDR sowie die Auseinandersetzung mit der Theaterästhetik Brechts und die intensive Lektüre der Neostrukturalisten, insbesondere Foucaults, beeinflussen Müllers dramatisches Werk. So erscheint die überlieferte symbolische Ordnung, in die das "Individuum" eingefügt ist, als die Wiederkehr der Toten, die Lehmann in einem Beitrag als "Müllers Gespenster" auftreten läßt. Fundamentale Differenzen zwischen Anwesenheit und Begriff sowie zwischen Körper und Text erzeugen sowohl eine Verfehlung als auch ein Begehren, das in der Akzeptanz dieses unaufhebbaren Mangels eine Dramaturgie erzwingt, welche mittels der Demontage der Einheit der Fiktion und der Montage heterogener Textelemente "jeden szenischen Moment wie am Anfang erscheinen" (340) läßt und so, die eigene Intertextualität ausstellend, in einem performativen Akt die symbolische Ordnung tradiert. Als der für Lehmann "bedeutendste Autor postdramatischer Texte" (340) gibt Müller die "Figurendramaturgie [.] zugunsten eines Theaters von Stimmen, in dem die Figuren Träger des Diskurses werden" (339) just zu der Zeit auf, als in der Neoavantgarde weltweit neue Theater- und Regieformen generiert werden, die unter dem weiten Begriff Performance subsumiert werden. Müllers Dramaturgie und der Ereignis-Raum der Aktionskunst konvergieren zu theatralen Phänomenen, die Lehmann unter dem Begriff Postdramatik bekannt gemacht hat. 8. Der Autor, dies beweist einmal mehr die vorliegende Essaysammlung, ist nicht nur ein profunder Wissenschaftler, sondern schreibt auch als Intellektueller in der Tradition Émile Zolas, welcher in der öffentlichen Meinung einen durchaus klaren Standpunkt, der wenig Kompromisse oder eigene Widersprüche erkennen läßt, einnimmt. DAS POLITISCHE SCHREIBEN präsentiert eine erstaunlich kohärente Entwicklung Lehmanns von der Spätphase der Frankfurter Schule bis zu den Neostrukturalisten und vom Brechtschen Gestus bis zur Postdramatik - der Sprung von Adornos "Negativer Dialektik" zu Lyotards "Affirmativer Ästhetik" ist ja geringer als gemeinhin angenommen. Insofern ist die Essaysammlung gerade jüngeren TheaterwissenschaftlerInnen als Ergänzung zur obligatorischen Pflichtlektüre Postdramatisches Theater sehr zu empfehlen, bietet sie doch eine Archäologie einiger der wichtigsten intellektuellen Paradigmen seit den 70er Jahren, inklusive deren Verhältnis zur Theatertheorie und -praxis. Man mag die Konsequenz in der Haltung Lehmanns als Widerspruch zwischen fluider Theorie und beharrender Praxis empfinden, doch Vorwürfe dieser Art begleiten generell Theorieentwürfe, die zum unendlichen Regreß tendieren, und das sind momentan die avanciertesten. Der eingangs angesprochene virulente Meinungsaustausch über das Politische in der Gesellschaft und im Theater wird weiter zu führen sein. Auch wenn man, wie der Rezensent, keineswegs der Meinung ist, daß, so der Autor, "die Ethik des Theaters [.] sich mithin nicht an der inhaltlichen Repräsentation von Ethischem, sondern an der Art und Weise des Zeichengebrauchs" (100) orientieren soll und einen performativen Raum als Ausnahmezustand, wie ihn Lehmann ausgerechnet mit Carl Schmitt formuliert, als sehr bedenklich ansieht, muß man das außerordentliche stilistische und intellektuelle Niveau der Schriften Lehmanns anerkennen. Als prägnante und relevante Positionen werden sie die anstehenden Diskussionen zum Politischen im Theater entscheidend mitbestimmen. [1] Tilman Broszat und Gottfried Hattinger: Is it real? Gedanken zum Thema. Pressemappe zum Theaterfestival Spielart 2003 München vom 24. Okt. bis 8. Nov. 2003. [2]
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In: Verhandlungen des Deutschen Bundestages / Drucksachen, 14,7250
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Die Lehrerbildung befindet sich inmitten des größten Umbruchs seit vielen Jahren. Aber schaffen es die Kultusminister, ihren Reformen eine stimmige und gemeinsame Richtung zu geben? Die Ständige Wissenschaftliche Kommission der KMK präsentiert dazu ihr lange erwartetes Gutachten.
Foto: Katerina Holmes, Pexels.
LANGE GEPLANT kommt das Gutachten jetzt mit einer Aktualität, die man sich gar nicht hat wünschen können: Drei Tage nach Bekanntgabe der historisch schlechten deutschen PISA-Ergebnisse veröffentlichte das wichtigste wissenschaftliche
Beratungsgremium der Kultusministerkonferenz (KMK) am Freitagmittag seine Empfehlungen "zur Lehrkräftegewinnung und Lehrkräftebildung für einen hochwertigen Unterricht". Zuvor hatten die 16
Experten der Ständigen Wissenschaftlichen hin Kommission (SWK) ihr Gutachten in vertraulicher Runde den Kultusministern vorgestellt.
Die Vorschläge der SWK kommen auf den ersten Blick teilweise wenig radikal daher, doch würde ihre Umsetzung die Schulen in Deutschland nachhaltig verändern – und die KMK gleich mit.
Insgesamt elf Empfehlungen umfasst das Gutachten, sortiert nach vier Kapiteln. Mit die wichtigste Forderung: Es muss endlich eine vernünftige Datenbasis her. Denn bislang ist die KMK noch
jedesmal von der Entwicklung der bundesweiten Schülerzahlen überrascht worden, auch hat sie die Änderungen der bildungspolitischen Rahmenbedingungen (etwa den Ausbau von Inklusion oder
Ganztagsschule) nie ausreichend in ihren Modellierungen abgebildet. Im Gegensatz etwa zu den Prognosen, die der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung erstellt
hat und die fast immer näher an den tatsächlichen Lehrerbedarf herankamen.
"Sonst kommen wir nie zu
einer verlässlichen Prognose"
Warum? Lange hatte die KMK ihrer Modellrechnungen zu selten aktualisiert, das immerhin hat sie inzwischen abgestellt und sammelt die Rückmeldungen der Bundesländer in jährlichem Abstand
(allerdings ist aktuelle Veröffentlichung weit überfällig). Doch ändert dies laut Olaf Köller, dem Ko-Vorsitzenden der SWK, nichts daran, dass die Grundlage der KMK-Berechnungen, die
Länderzumeldungen, nicht so recht zusammenpassen. "Es fehlt die Transparenz über in die Annahmen, die die Länder jeweils ihren Prognosen zugrundelegen", sagt Köller, im Hauptberuf Direktor des
IPN Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und der Mathematik. "Darum müssen die Daten künftig systematisch und vergleichbar in allen Ländern erhoben werden, unter
Berücksichtigung des tatsächlichen Bedarfs, und alle Länder müssen etwaige Datenlücken schließen, sonst kommen wir nie zu einer verlässlichen Prognose."
Eine solche Systematik würde freilich eine andere KMK voraussetzen: eine, die in der Lage ist, die für eine Vergleichbarkeit nötigen Datendefinitionen herzustellen und, in Form ihrer
Verwaltung, des KMK-Sekretariats, dann selbstbewusst von den Ländern die nötige Datenqualität einzufordern. Was, nebenbei gesagt, nur beschleunigen würde, was die Kultusminister
bei ihrem Treffen in Berlin ohnehin, je nach Bundesland und Perspektive mehr oder weniger begeistert, diskutiert haben: die überfällige grundlegende Reform der KMK, ihrer Prozesse und Verfasstheit.
Zweites großes Thema des SWK-Gutachtens: den Ausbildungserfolg der Lehramtsstudierenden erhöhen. Auch hier, das zeigte zuletzt eine Analyse des
Stifterverbandes eindrucksvoll, handelt es sich zu einem guten Teil um ein Datenproblem. Viele lehrerbildende Universitäten können nämlich gar nicht sagen, wie viele ihrer
Lehramt-Studienanfänger bis zum Abschluss kommen – geschweige denn, warum sie zu welchem Zeitpunkt entscheiden, doch nicht Lehrer zu werden. Von einer "großen Forschungs- und Datenlücke", die es
zu füllen gelte, sprach im Sommer der Stifterverband, "denn nur auf Basis belastbarer Befunde können bildungspolitische Maßnahmen ergriffen werden, die letztendlich einen Bildungsnotstand
verhindern."
Genau diese Datenlücke will die SWK schließen und fordert, die Studierbarkeit der Lehramtsstudiengänge müsse "datengestützt" verbessert werden, zudem müsse die soziale und akademische Integration
in die Hochschulen gestärkt werden. Das entscheidende Mittel für beides: ein funktionierendes Qualitätsmanagement und verlässliche Abstimmungsstrukturen, die auch die erste Phase der
Lehrerbildung, das Studium, mit der zweiten, dem Vorbereitungsdienst, verbinden. Beide Phasen laufen bislang oft nebeneinander, umso mehr gilt das für die dritte, die Fort- und Weiterbildung der
bereits berufstätigen Lehrer.
Hoffnung
Ein-Fach-Lehrer
Womit die SWK beim Kern ihrer Empfehlungen angekommen ist, der künftigen Gestaltung der Studiengänge, man könnte auch sagen: ihrer zumindest teilweisen Neugestaltung. Denn die Experten empfehlen,
neben dem klassischen grundständigen Studium einen "wissenschaftsbasierten, qualifizierten zweiten Weg in den Lehrkraftberuf" zu eröffnen. Oder weniger verklausuliert formuliert: den seit einer
Weile viel diskutierten Ein-Fach-Lehrer einzuführen. Genaus das hatte der Wissenschaftsrat im Sommer bereits im Sommer
vorgeschlagen, allerdings nur bezogen aufs Mathematikstudium.
Das Modell der SWK ist schnell erklärt: Bewerber haben einen fachlichen Bachelor oder Master, beispielsweise in Germanistik. Dann starten sie in einen viersemestrigen Master of Education,
der ihnen das gesamte pädagogische Rüstzeug mitgibt, um Lehrer zu werden: die Fachdidaktik, die Bildungswissenschaften, dazu die Praktika und einen Spezialisierungsbereich wie Digitalisierung,
Inklusion, Sprachbildung oder Berufsorientierung. Nach diesem Master folgt der Übergang in ein reguläres Referendariat und anschließend die volle Lehrbefähigung – allerdings nur für ein Fach.
Berufsbegleitend soll es dann die Option geben, ein zweites Fach hinzuzustudieren – aber nicht verpflichtend. "Hier setzen wir auf die Motivation der Lehrkräfte", sagt die
Berliner Professorin für Schulpädagogik, Felicitas Thiel, neben Köller Vorsitzende der SWK. Hier dürfte das Gutachten der Kommission größere Diskussionen auslösen: Andere
Erziehungswissenschaftler warnen nämlich davor, dass Ein-Fach-Lehrer in den Schulen zu einseitig belastet würden, den Unterrichtsbedarf nicht ausreichend abbilden und die Stundenplanorganisation
verkomplizieren könnten. Weshalb ihre Ausbildung, wenn man sie zulasse, mit der Verpflichtung einhergehen müsse, ein zweites Fach nachzuholen. Doch schon der Wissenschaftsrat hatte diese Gründe
nicht als plausibel genug für eine verpflichtende Zweit-Fach-Weiterbildung erachtet.
In jedem Fall aber ist diese SWK-Empfehlung für die Schulwirklichkeit wohl die weitreichendste. Denn auch wenn es hier und da bereits gut funktionierende wissenschaftliche Aufbau-Masterprogramme
gibt: Vielerorts besteht derzeit nur die Wahl zwischen dem traditionellen Lehramtsstudium und aus der Not geborenen Seiteneinsteiger-Programmen, die zwar flexibel sind, denen jedoch vielfach, wie
nicht nur die SWK klagt, die Wissenschaftsbasierung fehlt. Würde es der KMK gelingen, einen Ein-Fach-Lehramt nach einheitlichen Maßstäben zu etablieren, wäre der Zugang zum Lehramtsstudium
dauerhaft flexibler – auch über den aktuellen dramatischen Lehrkräfte-Mangel hinaus.
Absage an ein
duales Lehramtsstudium
Für die Debatten unter den Kultusministern schon bei der Vorstellung des SWK-Gutachtens dürfte unterdessen gesorgt haben, dass die Experten einem anderen bei Bildungspolitik und lehrerbildenden
Hochschulen in Mode gekommenen Reformvorhaben eine Absage erteilen: dem dualen Lehramtsstudium. "Wir können nicht verstehen, wo da eigentlich die Euphorie herkommt", sagt Felicitas Thiel.
Schon außerhalb des Lehramts gelinge in dualen Studiengängen die Verschränkung von Theorie und Praxis nicht wirklich gut, hinzu komme: "Wer soll, wenn wir an manchen Schule nur noch zehn Prozent
grundständig ausgebildete Lehrkräfte haben, noch nebenbei die aufwändige Begleitung dual Studierender übernehmen?"
Anders sieht das unter anderem der Wissenschaftsrat, der, schwer kritisiert unter anderem vom Deutschen Philologenverband, im Sommer seine Empfehlungen zur Zukunft des Matheunterrichts vorgelegt
hatte, inklusive einem Plädoyer zur Entwicklung des dualen Studiums.
Ebenfalls keine Unterstützung von der SWK erhalten Überlegungen, komplette Lehramtsstudiengänge zumindest für die beruflichen Schulen auch an Hochschulen für angewandte Wissenschaften laufen
zu lassen. "Es gibt bereits 34 Universitätsstandorte, die in der Lehrerbildung mit HAWs kooperieren", sagt SWK-Mitglied Isabell van Ackeren, Professorin für Bildungssystem- und
Schulentwicklungsforschung an der Universität Duisburg-Essen, die an der Ausarbeitung des Gutachtens maßgeblich beteiligt war. Um ausreichend wissenschaftsbasiert und berufsfeldbezogen zu sein,
sagt sie, würde die Abwicklung eines kompletten Lehramtsstudiums aber erhebliche zusätzliche personelle Ressourcen und organisationale Strukturen an den HAWs erfordern. "Das halten wir nicht für
zielführend, weitere Kooperationen hingegen schon."
Wofür die SWK sich indes ausspricht: die Einführung sogenannter Assistenz-Lehrkräfte, die auf der Grundlage eines Bachelorabschlusses und einer Weiterqualifizierung an die Schulen kommen könnten.
Ohne Berechtigung zum eigenständigen Unterricht, aber in Anbindung und zur Unterstützung an eine voll qualifizierte Lehrkraft. Eine Idee, die so ähnlich schon vor zwei Jahrzehnten mit der
Einführung der Bologna-Studiengänge im Lehramt diskutiert wurde, sich aber nie hat durchsetzen können.
Zweite Chance für die
Assistenz-Lehrkraft?
"Anders als damals gibt es jetzt aber ein funktionierendes Vorbild aus der Medizin, den Physician Assistent als zusätzliche Karriereoption für Pflegekräfte", sagte Felicitas Thiel. "Das hat macht
uns optimistisch, dass wir es jetzt auch in der Lehrerbildung schaffen, in einem vielfältigeren System von Karrierewegen zu denken, mit unterschiedlichen Verantwortlichkeiten in der Schule, aber
immer auf Augenhöhe." Eine Debatte darüber, so Thiel, sei überfällig – auch um klare Kriterien und Kompetenzen festzulegen.
Apropos klare Kriterien: Länder wie Brandenburg etablieren bereits neue, stark umtstrittene Lehrer-Laufbahnen auf Bachelorebene – allerdings dann mit vollständiger Lehrbefähigung. "Genau das
wollen wir nicht", betont Thiel – wohl ahnend, dass die SWK-Vorschläge genau mit solchen Modellen in einen Topf geworfen werden könnten, etwa von den Lehrergewerkschaften.
Und sonst? Schlagen die SWK-Experten vor, den Vorbereitungsdienst einheitlich auf zwölf Monate zu verkürzen, allerdings nur unter Voraussetzung eines Gesamtkonzepts, das wie gefordert erste und
zweite Phase und Berufseinstieg sowie Theorie und Praxis besser verknüpft, vor allem in Form eines über die Phasen hinweg kohärenten Curriculums, das außerdem Mentoren und Fachseminarleiter
wissenschaftsbasiert qualifiziert und die Unterrichtsverpflichtung während Referendariat und Berufseinstieg möglichst gering hält.
Außerdem fordert die Kommission einen ländergemeinsamen Qualitätsrahmen für ein in sich stimmiges, qualitätsgesichertes Forbildungssystem, von dem die SWK das Bildungssystem trotz einer
(theoretischen) Fortbildungsverpflichtung in allen Ländern weit entfernt sieht. Stichworte sind hier zertifizierte Module der wissenschaftlichen Weiterbildung etwa für ein weiteres
Unterrichtsfach in Mangelfächern, für andere Unterrichtsbereiche, für eine sonderpädagogische Fachrichtung oder zur Nachqualifizierung für eine andere Schulform, außerdem der Ausbau von
Master- und Promotionsstudiengänge etwa für Leitungspositionen und Koordinationsfunktionen.
Dicke Bretter,
klare Ansagen
Dicke Bretter und klare Ansagen – in dem, was die SWK gut heißt, genauso aber, wovon sie abrät. Jetzt ist es an der Bildungspolitik. Im März wollen die Kultusminister ihren eigenen Aufschlag zur
Zukunft der Lehrerbildung beschließen, auf der Grundlage des SWK-Gutachtens und weiteren Papieren wie den Empfehlungen des Wissenschaftsrats zum Mathestudium. Auch der
Stifterverband hatte vor wenigen Wochen einen ambitionierten Reformkatalog vorgelegt.
Vieles von dem Vorgeschlagenen, werden die Kultusminister argumentieren, gebe es schon. Stimmt. Allerdings, und das ist der entscheidende Punkt der SWK-Experten, fehlt derzeit zweierlei in der
deutschen Lehreraus- und weiterbildung: Stimmigkeit und Systematik. Beides will das neue Gutachten erreichen. Ob die KMK ihm folgen kann, selbst wenn die Kultusminister es wollten? So, wie sie im
Augenblick ist, an vielen Stellen vermutlich nicht. Ein Grund mehr, sie zu reformieren.
Nachtrag am 08. Dezember, 12.45 Uhr:
Was die Kultusminister zum SWK-Gutachten sagen
Von einer "klaren Positionierung für hohe Qualitätsstandards in der Lehrkräftebildung", sprach KMK-Präsidentin Katharina Günther-Wünsch (CDU), im Hauptberuf Berliner
Bildungssenatorin. "Die Kultusministerkonferenz wird sich eingehend mit den vorgeschlagenen Empfehlungen auseinandersetzen und entsprechende Maßnahmen formulieren." Zur Absage der SWK an ein
duales Lehramtsstudium sagte Günther-Wünsch, der Begriff der Dualität sei ungünstig gewählt. Nichts desto trotz gebe es Debatten in den Bundesländern über die Verkürzung der Studiendauer und
Verknüpfung der Praxisanteile, und man werde darüber nun mit der SWK weiterdiskutieren, vielleicht dann unter einer anderen Überschrift als "duales Studium".
Hamburgs Schulsenator Ties Rabe, der die SPD-Bildungspolitik in den Ländern koordiniert, sagte: "Die Idee, neben dem klassischen Lehramtsstudium einen zweiten Weg mit einem neuen
Studiengang in den Lehrberuf zu eröffnen, erschließt ganz neue Chancen für Studierende." Die Verkürzung des Referendariats durch eine bessere Verzahnung von Studium und Praxis sollte sorgfältig
geprüft werden.
Rabes Gegenüber auf CDU-Seite, Hessens Kultusminister Alexander Lorz, sagte, er begrüße insbesondere die Ansätze, "neue Personengruppen für den Beruf als Lehrkraft zu
erschließen, ohne dabei den Qualitätsanspruch aus dem Blick zu verlieren". Die etablierte und qualitätsgesicherte grundständige Ausbildung unserer zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer durch
alternative Formen zu gefährden, lehnt die SWK ab. "Dem schließe ich mich an."
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