Gesellschaftliche und politische Funktionen der Grundrechte: Überlegungen zu einer komplexen sozialwissenschaftlichen Grundrechtstheorie
In: Sozialwissenschaftliche Informationen für Unterricht und Studium: sowi, Band 6, Heft 1, S. 7-15
ISSN: 0340-2304
Grundrechte als institutionalisierte und formalisierte Verhaltensregeln sind nicht abstrakt, abgelöst vom soziopolitischen und ideellen Hintergrund einer Gesellschaft verständlich; als rechtliche Normen spiegeln sie die jeweiligen ideologischen, politischen und sozioökonomischen Konfliktdeterminanten einer Gesellschaft wider und verändern sich mit deren Wandel selbst. In der Geschichte der Grund- und Menschenrechte lassen sich zwei Entwicklungslinien unterscheiden: die ideengeschichtliche Legitimation der Menschenrechte und die soziopolitischen Kämpfe um ihre Anerkennung, ihre verfassungsrechtliche Dokumentation und Institutionalisierung. Im Gegensatz zu der "klassischen" Bedrohung der individuellen und gesellschaftlichen Grundrechte durch eine absolute Staatsgewalt treten Freiheits- und Grundrechtsprobleme in den gegenwärtigen modernen Gesellschaften in einer sehr komplexen Struktur auf. Sie sind begründet durch ein dichtes Geflecht sozialer und ökonomischer Abhängigkeiten der industriellen Arbeits-, Konsum- und Freizeitgesellschaft. Aus dieser realen Vielfältigkeit resultieren auch divergierende grundrechtstheoretische Ansätze. Die wichtigsten Grundrechtstheorien, die systematische Aussagen über die normative Zielrichtung und inhaltliche Reichweite der Grundrechte machen, sind die bürgerlich-liberale Grundrechtstheorie, die institutionelle Grundrechtstheorie (Häberle), die institutionell-funktionale Grundrechtstheorie (Luhmann), die Werttheorien (Smend; Dürig), die demokratisch-funktionale Grundrechtstheorie und die sozialstaatliche Grundrechtstheorie (Badura). Aufgabe der Grundrechtstheorien muß es unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen sein, den Wandel der realen Bedrohungen der Grundrechte durch freiheitsbedrohende Macht- und Herrschaftsübergriffe theoretisch zu verarbeiten und praktische Antworten für die freiheitsvermittelnde Interessenaussteuerung zwischen Individuen, gesellschaftlichen Subsystemen und Gesamtsystem zu liefern. (HH)