Hauptstadtbedingte Ausgaben Preußens und des Deutschen Reichs(1871-1945)
Gegenstand der Studie:
Der Autor untersucht die wirtschaftliche Dimension des Hauptstadtstatus einer Stadt im Rahmen eines breiter angelegten Untersuchungsdesigns. Es wird der Frage nachgegangen, wie lukrativ in wirtschaftlich-finanzieller Sicht der Hauptstadtstatus für eine Kommune ist bzw. war und welchen Beitrag die Ausgaben eines Staates für das Funktionieren seiner zentralstaatlichen Organe von Legislative, Exekutive und Judikative zur wirtschaftlichen Wertschöpfung einer Hauptstadt leisten. Wie hoch waren die Geldsummen, die für die Aufrechterhaltung und das Funktionieren der für das Regieren und die Verwaltung des Staates benötigten Institutionen an zentraler Stelle in der Hauptstadt verausgabt wurden?
Berlin hat in seiner Geschichte den doppelten Status als Hauptstadt Preußens und als Hauptstadt des Deutschen Reichs von der Reichsgründung 1871 bis zum Zusammenbruch 1945 eingenommen. Damit sind sowohl vom Preußischen Staat als auch vom Deutschen Reich finanzielle Mittel in die Hauptstadt geflossen.
In Zentrum des Interesses stehen die wirtschaftlich-finanziellen Auswirkungen der Hauptstadtfunktion, die in der vorliegenden Studie in historischer Perspektive untersucht wird.
Definition des Begriffs 'Hauptstadt':
"Insgesamt wird in der theoretischen Hauptstadtforschung von den drei Funktionsbereichen Politik, Wirtschaft und Integration gesprochen, in denen eine Hauptstadt hinsichtlich Qualität und Quantität der ansässigen Einrichtungen die anderen zentralen Orte eines Landes übertrifft. Im wesentlichen sind es dabei folgende typologische Erscheinungsformen, die das Wesen einer Hauptstadt in ihrer Aufgabenstellung für die Gesamtgesellschaft bestimmen …:
1. Residenzfunktion …
2. Behördenzentralisation für entscheidende Einrichtungen eines Staates im Bereich Legislative, Exekutive und Judikative …
3. Anwesenheit der ausländischen Missionen und internationalen Vertretungen am Ort der nationalen Regierung eines Staates, konkret also die immer in der jeweiligen Hauptstadt vertretenen Botschaften und Konsulatsvertretungen anderer Staaten …
4. Zentrum des Verbandswesens der wichtigsten nationalen intermediären Kräfte (Lobbyarbeit).
5. Militärisches Zentrum des Landes mit der Anwesenheit der militärischen Oberbehörden, Elitetruppen, allgemeine Truppenmassierungen sowie der Rüstungsindustrie.
6. Kulturell-wissenschaftliches Zentrum eines Landes mit den Funktionen nationaler Identitätsstiftung nach innen und staatlich-internationaler Repräsentation nach außen.
7. Presse- bzw. Medienzentrum eines Landes …
8. Wirtschafts- und Finanzzentrum.
9. Tourismusziel Hauptstadt … .
10. Verkehrsmittelpunkt des Landes.
11. … Charakter einer nationalen oder gar internationalen Metropole …, die für ein Land stark integrativ wirken kann und für eine nationale Elitenbildung von Bedeutung ist." (S. 6-8)
Berlin als Hauptstadt:
Die Anwesenheit zentraler Staatseinrichtungen in Berlin sowie die Funktion als Regierungs- und zentraler Verwaltungssitz des Staates bildet für Berlin während des gesamten Untersuchungszeitraums eine wichtige Komponente. Mit der Zentralfunktion als Residenz sowie als Regierungs- und Verwaltungsmittelpunkt des Landes eng verbunden war die daraus folgende Anwesenheit der Botschaften und Vertretungen anderer Staaten. Hinzu trat die Bedeutung Berlins als Ort internationaler Kongresse. Auch hinsichtlich der Militärlokation nahm Berlin eine herausragende Stellung ein. In der Hauptstadt Berlin konzentrierten sich die wichtigsten Einrichtungen der zentralen militärischen Verwaltungsbehörden zunächst Preußens und später des Deutschen Reichs. Die Konzentration von Elitetruppen und Kasernen in der Nähe von Berlin kam noch hinzu. Gerade aber im Bereich von Kultur und Wissenschaft konnte Berlin außerordentlich von staatlicher Förderung profitieren. Aus Gründen der staatlichen Repräsentation nach außen wurde die kulturelle Ausstrahlungskraft durch den Staat Preußen und das Deutsche Reich gefördert. Zwischen der Hauptstadtfunktion einer Stadt und deren Bedeutung als Verkehrsknotenpunkt besteht oft eine enge Verbindung, was auch für Berlin zutrifft. Hauptstädte werden bevorzugt in das jeweilige Verkehrssystem eingebunden. Berlin entwickelte sich schon in der ersten Hälfte des 19. Jh. zu einem der wichtigsten deutschen bzw. mitteleuropäischen Eisenbahnknotenpunkte und verfügte auch über ein schon seit dem 17. Jh. gepflegtes und ausgebautes Binnenwasserstraßensystems mit hervorragender Anbindung zu den wichtigsten Transportsystemen. Berlin konnte diese bevorzugte Verkehrssituation auch mit dem Aufkommen des Flugverkehrs sowie als Mittelpunkt des Autobahnsystems seit den dreißiger Jahren deutlich ausbauen. (S. 20) Weiterhin zeichnete sich Berlin durch seine außerordentliche leistungsfähige Wirtschaftsstruktur im 19. Jh. aus. Berlin bildete schon im frühen 19. Jh. eine der Kernregionen der deutschen Industrialisierung. Firmen wie Siemens, die AEG oder Schering im Bereich der Elektroindustrie, dem Maschinenbau und der Chemie verliehen Berlin eine dominierende Stellung in der deutschen Wirtschaftslandschaft.
Die Hauptstadtfunktion wirkte sich dahingehend auf Berlins Wirtschaft positiv aus, als daß wichtige staatliche Unternehmen in Berlin ihren Hauptsitz hatten (Deutsche Reichspost, Reichsbahn, die Vereinigten Industrie-Unternehmungen (Viag)).
Untersuchungsdesign, Methode:
Um die wirtschaftlich-finanziellen Auswirkungen des Hauptstadtstatus in konkreten Zahlen zu errechnen, müssten im Idealfall diejenigen Zahlen aus den Quellen herausgezogen werden, die nachweislich als hauptstadtbedingte Ausgaben in das Bruttosozialprodukt der Hauptstadt Berlin eingeflossen sind. Die Quellenrecherchen ergaben jedoch, daß es im Untersuchungszeitraum niemals fest institutionalisierte bzw. etatisierte Finanzierungen für Berlin als Hauptstadt gegeben hat. Es sind also jährlich festgelegte Summen, die der Stadt speziell für die Zwecke der Aufrechterhaltung als Hauptstadt (Stadtbild, Repräsentation, Sicherheitsaspekte, Verkehr, etc.) gewährt wurden, nicht extra aufgeführt worden. Damit stand fest, dass ein Instrumentarium erarbeitet werden musste, mit dessen Hilfe die nachweisbar hauptstadtbedingten Summen aus den Ausgabenvolumina des Preußischen Staates und des Deutschen Reiches herausgefiltert werden können.
Die für die Hauptstadt ausgegebenen Summen wurden hauptsächlich über die gedruckten staatlichen Haushaltspläne erschlossen, welche im Bedarfsfall durch weiteres einschlägiges Material aus den Archiven ergänzt wurde.
Ausgehend von der Definition des Begriffs Hauptstadt wird zunächst untersucht, welche Sektoren für die Berechnung eines hauptstadtrelevanten Finanzvolumens herangezogen werden können. Während der engere politisch-administrative Kern für eine Hauptstadt konstitutiv ist und deshalb einbezogen werden muß, sind andere Bereiche aufgrund der Quellenlage zahlenmäßig schwer zu erfassen. So sind die Anzahl der Botschaften und ausländischen Vertretungen in Berlin für den Untersuchungszeitraum leicht zu erfassen, aber es liegen keine konkreten Angaben zum Personal und zu den Sachmittelbedarf und –verbrauch der Botschaften vor.
Hinzu kommt, dass nicht in allen Bereichen eine eindeutige Abgrenzung der Ausgaben für den Staat bzw. für das Reich auf der einen Seite und der hauptstadtbedingten Ausgaben auf der anderen Seite nicht möglich ist. Der Bereich Kultur- und Wissenschaftsförderung ist sehr eng mit der Hauptstadt verbunden und entsprechende Ausgaben lassen sich eindeutig der Hauptstadt zuordnen. Im Bereich Militär können zwar die zentralstaatlich und an der Spitze der Militärverwaltung Preußens bzw. des Reichs vorhandene hauptstadtbedingten Einrichtungen (z.B. der Generalstab, die Kriegsakademie) berücksichtigt werden, dagegen sind die in der Umgebung Berlins verstärkt etablierten allgemeinen Truppenkräfte hinsichtlich ihrer Hauptstadtrelevanz nicht zweifelsfrei zu bestimmen.
Kern der Darstellung der Finanzierung der Hauptstadt Berlin ist demnach in dieser Untersuchung der Themenbereich, der am engsten mit der eigentlichen politischen Hauptstadt in Verbindung steht: die Geldausgaben, die dem Gesamtsozialprodukt von Berlin in seiner Doppelfunktion als Hauptstadt Preußens und des Deutschen Reichs aus den obersten Verfassungsorgangen von Legislative, Judikative und Exekutive aufgrund der aufgestellten jährlichen Haushaltspläne zugeflossen ist. Neben diesen engeren administrativ-politischen Kern des Staates ist der Bereich Kultur und Wissenschaft, und hier insbesondere diejenigen Ausgabenpositionen aus den Staatshaushalten, die einzelnen Einrichtungen von zentralstaatlicher Bedeutung exakt zuzuordnen sind, in die Betrachtung mit einbezogen worden. (vrgl. S. 64f) Für die weiteren Bereiche wurden nur diejenigen Einrichtungen und Institutionen in die Berechnung mit einbezogen, die eindeutig als hauptstadtbedingte Institution identifiziert werden können. Jene in Berlin ansässigen Einrichtungen, die sich auf der Ebene unterhalb der jeweiligen zentralstaatlichen Verwaltungsspitze befinden und auch in anderen Provinzen bzw. Städten vorhanden waren, werden nicht erfasst.
Angesichts des langfristigen Untersuchungszeitraums war bei der Erfassung der Ausgaben eine Deflationierung der Werte notwendig, um auf diese Weise die Geldentwicklung in dem langen Untersuchungszeitraum zu berücksichtigen und den Vergleich der Hauptstadtfinanzierung in den verschiedenen Epochen sinnvoll zu gestalten.
Quellenproblematik:
Die wesentlichen Quellen für die vorliegende Studie sind die gedruckten Haushaltspläne des preußischen Staates und des Deutschen Reichs. Die staatlichen Etats bilden eine homogene, nach den jeweiligen Kriterien der Haushaltsermittlung und –aufstellung zustande gekommene Quellenform der Ausgabenstrukturen beider Staaten dar. Sie eignen sich daher für eine Längsschnittuntersuchung über mehrere Epochen der neueren Geschichte Deutschlands. Die staatlichen Haushaltspläne bilden in dieser Untersuchung somit die Quellengrundlage für die Analyse der Hauptstadtfinanzierung. Problematisch hinsichtlich der Homogenität der Massenquellen ist der Umstand, daß infolge der Entwicklung von Verfassung und Verwaltung und vor allem durch politische Transformationsprozesse der Staatsorgane und der Verwaltung in der Zeit vom Kaiserreich zum Dritten Reich einige Verwaltungsbereiche neu zugeordnet wurden. Anders ausgedrückt, die Systematik der Haushaltspläne hat sich verändert. Der Autor hat die Einrichtungen von Regierung und obersten Verwaltungsbehörden, soweit sich ihre Zusammensetzung durch die Neustrukturierungen nicht zu stark geändert haben, in ihrer Zusammensetzung unverändert in die Berechnung mit einbezogen. Wenn die Zuordnungen und die Systematik der Ausgabenstrukturen in den Haushaltsplänen sich im Verlauf der vierundsiebzig Jahre des Untersuchungszeitraumes so stark verändert haben, dass eine Vergleichbarkeit über die Zeit nicht mehr gegeben ist, wurden vom Autor rechnerische Anpassungen vorgenommen. Weiterhin ist der Vergleich und die Zusammenführung von Haushaltsplänen verschiedener staatlicher und kommunaler Gebietskörperschaften methodisch problematisch, da die Haushaltspläne nicht ohne Weiteres miteinander vergleichbar sind aufgrund unterschiedlicher Erfassungssystematiken. Während die preußischen Haushaltsrechnungen generell mit Bruttoveranlagungen arbeiteten, wurden die Reichshaushalte bis in das späte Kaiserreich mit Nettowerten zusammengestellt. Somit umfassen die staatlichen Haushaltspläne nicht alle Gesamtausgaben eines Staates, sonder immer nur einen bestimmten Anteil, der sich je nach dem Privatisierungsgrad öffentlich-staatlicher Leistungen auch noch jährlich unterscheidet. Außerdem wurden nicht alle hauptstadtrelevanten Ausgaben berücksichtigt, da beispielsweise Veränderungen in den Rechtsformen von staatlichen Einrichtungen wie der Reichsbahn sowie Privatisierungen durchgeführt wurden, so daß das Gesamtvolumen der zu berücksichtigenden Einrichtungen variiert. Der Autor ist so verfahren, daß aus den Haushaltsplänen errechenbare Bruttogesamtzahlen bei praktizierten Nettoetatisierungen berücksichtigt wurden, soweit dies die Zahlen erlaubten. Gänzlich privatisierte Einrichtungen, die nicht im staatlichen Haushaltsplan berücksichtigt wurden, hat der Autor auch nicht in die Gesamtrechnung aufgenommen. Alle eigentlich hauptstadtrelevanten, aber aufgrund der jeweiligen Rechtsordnung nicht mehr im Staatshaushalt zu findenden Verwaltungseinrichtungen wie etwa die Reichspost, Reichsbahn oder Reichsdruckerei, sind also nicht erfaßt worden, weil sie im Laufe der 20er Jahre in selbständige Unternehmen umgewandelt wurden. Ebenso unberücksichtigt blieb für die NS-Zeit die NS-Parteibürokratie.
Das Zahlenmaterial aus den gedruckten Haushaltsplänen wurde punktuell durch Überlieferungen in den staatlichen Archiven ergänzt. Dies war besonders für die Zeit des Nationalsozialismus notwendig, in der zahlreiche Finanzierungen in den Etats einzelner Verwaltungen und Ministerien versteckt wurden. (vergl. S. 83f) Für die Zeit des Nationalsozialismus gilt, dass finanzhistorische Studien für diese Zeit mit einer qualitativ ganz eigenen Materie konfrontiert werden. Im Vergleich zum Kaiserreich und der Weimarer Republik ist hinsichtlich des Haushaltsplanes ein Bruch vorhanden, da z.B. 1944 mehr als ein Drittel der städtischen Ausgaben Aufwendungen für den Krieg und seine Folgen betrafen. Weiterhin wurde Berlin infolge der Ausbaupläne zur Welthauptstadt Germania zu umfangreichen Ausgaben gezwungen, die aus kommunaler Kasse finanziert werden mussten. Eine entsprechende Einbettung der Zahlenreihen in die politischen Rahmenbedingungen ist unverzichtbar, um Fehlinterpretationen zu vermeiden. Insgesamt entspricht die NS-Finanzpolitik, die eine starke Ausweitung der Staatsschulden in Kauf nahm, um diese Defizite durch Ausbeutung eroberter Länder gegenzufinanzieren, nicht einer ordentlichen Haushaltsführung. Desweiteren müssen die zugrunde liegenden rassistischen Tendenzen der NS-Politik einschließlich Diebstahl, Sklaven- und Zwangsarbeit sowie die Zusammenarbeit mit SS-Wirtschaftsbetrieben mit berücksichtigt werden.
Untersuchungszeitraum:
Der festgelegte Untersuchungszeitraum von 1871 bis 1945 bietet sich aus verschiedenen Gründen an. Die Daten markieren den Beginn und das Ende der ersten Phase Berlins als Hauptstadt. Die Ausdehnung des Zeitraums von der Kaiserzeit über die erste deutsche Demokratie – die Weimarer Republik – bis hin zum Ende der nationalsozialistischen Diktatur ermöglicht das Einbeziehen der Auswirkungen unterschiedlicher politischer Systeme und deren Transformationen auf den Umfang hauptstädtischer Finanzierung. Der große Zeitraum ermöglicht auch die Identifizierung aussagefähiger, von Zufälligkeiten freier Trends, so daß beispielsweise durch konjunkturelle Entwicklungen bedingte Strukturveränderungen richtig eingeordnet werden können. Aus Zeitgründen musste hinsichtlich der Behandlung des gesamten Untersuchungszeitraums anstelle einer Gesamtaufnahme aller Etatjahre zwischen 1871 und 1945 stichprobenartig vorgegangen werden. Dennoch sind die Stichjahre geeignet, einen generellen Trend der Ausgaben abzubilden. Die Einbettung der gefundenen Ausgaben für die Hauptstadt in die allgemeine makrohistorische Entwicklung der beiden Staaten und ihrer Finanzen ermöglicht die Vermeidung einer auf Berlin eingeschränkte Sicht und eröffnet eine Vergleichsebene zwischen Berlin und den beiden Staaten.
Datentabellen in HISTAT (Thema:…):
A. Vergleichende Übersichten: Hauptstadtbedingte Ausgaben – Preußen und Deutsches Reich im Vergleich
B. Der Haushalt des Deutschen Reichs
C. Der preußische Staatshaushalt
D. Haushalt der Stadt Berlin
E. Tabellen aus dem Textteil