Der Beitrag untersucht das Spannungsverhältnis zwischen der russischen Intelligenz und dem Volk und der Volkskultur im Rahmen des Konzepts der politischen Kultur. Der Autor knüpft an eine russische Debatte über Rolle und Selbstverständnis der Intelligenz Ende der siebziger Jahre an, in deren Verlauf sich eine Frontstellung zwischen (nun niedriger bewerteter) Volkskultur und den gesellschaftspolitischen Vorstellungen der Intellektuellen abzeichnet. Diese Situation wird verständlich zu machen versucht, indem die historische Entwicklung des Verhältnisses von Intelligenz und russischem Volk nachgezeichnet wird. Eine wichtige Rolle spielt hier das nach der Oktoberrevolution entwickelte Demokratieverständnis in der Bevölkerung, das "zu einem festen Bestandteil der... Legitimation des sowjetischen Regimes geworden" ist. Der Autor geht danach noch auf die Folgen des Sowjetisierungs-Prozesses unter Stalin und der Institutionalisierung von Selbstkritik und Selbstzensur innerhalb der Intelligenz näher ein. Vertreter er Intelligenz waren an diesem Prozeß nicht nur als Opfer, sondern auch als aktive Täter beteiligt. Das Problem antagonistisch erlebter Werte zwischen Volk und Intelligenz ist nach Ansicht des Autors primär auf die berufsständische Segmentierung der russischen Gesellschaft zurückzuführen. (PF)
Als Beitrag zur Geschichte des russischen Liberalismus analysiert der Vortrag, welche gesellschaftlichen Gruppen mit welchen Zielen hinter der Reformpolitik zu Beginn der Regierungszeit Alexanders II. standen. Einleitend wird dargelegt, auf welche spezifische Schwierigkeiten die Übernahme westeuropäisch-liberaler Politikmuster in Rußland traf, wo als Trägerschichten für den Liberalismus nur der Adel und das beamtete Bildungsbürgertum in Frage kamen. Der Vortrag untersucht dann einerseits die Übereinstimmungen und Differenzen in den politischen Zielen des liberalen Adels und der Reformbürokratie sowie die aus der Kooperation beider hervorgegangene Reformpolitik um 1860, wobei das Schwergewicht auf den Agrarreformen liegt. Insgesamt beurteilt der Verfasser das "Mit- und Gegeneinander" von Adelsliberalismus und aufgeklärter Bürokratie als ein "produktives Zusammenspiel", in dem der "Geist des bürgerlichen Zeitalters" auch in Rußland eindrang. Trotzdem konnte auch dies die "Strukturelle Schwäche" des russischen Liberalismus, die durch das Fehlen eines umfassenden Bürgertums und den ausgeprägten Dualismus von Traditionalismus und Orientierung an Westeuropa in der politischen Kultur Rußlands bedingt war, nicht überwinden. (JF)
In: Geschichte, Politik und ihre Didaktik: Zeitschrift für historisch-politische Bildung ; Beiträge und Nachrichten für die Unterrichtspraxis, Band 16, Heft 1-4, S. 95-104
Als der Generalsekretär L. I. Breshnew 1977 das sechzigjährige Jubiläum der Revolution feierte, hielt er mit dem Schlagwort vom "entwickelten Sozialismus" einen Zustand fest, der das Vermächtnis der Revolution als einen Besitzstand beschwor. Dieses Schlagwort war 1971 auf dem XXIV. Parteitag der KPdSU in Umlauf gesetzt worden und sollte ein gleichgewichtiges Wachstum mit einer stärkeren Berücksichtigung der Konsumwünsche der Bevölkerung signalisieren. Die alternde Sowjetführung verstand "entwickelten Sozialismus" als das realisierte, aber zunehmend pragmatisch umgesetzte Erbe Lenins (und Stalins). Der Name des letzteren wurde seit 1967 nur noch im Zusammenhang mit dem Triumph im Großen Vaterländischen Krieg genannt, obwohl die Nachkriegsstruktur der Sowjetunion auf den Fundamenten ruhte, die Stalins Regime gelegt hatte. Was Breshnew unter seiner Definition von Sozialismus subsumierte, gab sich als das Resultat einer Spirale von Kämpfen und Siegen aus. Nun konnte sich im entwickelten Sozialismus eine "sozialistische Lebensweise" entfalten. Diese wurde auf dem XXV. Parteitag (1976) als eine "Atmosphäre genuinen Kollektivismus und Kameradschaft" beschrieben, "als Solidarität und Freundschaft aller Nationen und Völker des Landes", und schließlich als "moralische Gesundheit, die uns stark und standhaft macht". In diesem Sozialkitsch manifestierte sich die Selbstzufriedenheit eines juste milieu, der Breshnew-Generation, die unter Stalins Terror sozialisiert, einen beispiellosen Aufstieg aus subalternen Schichten erlebt hatte und den eigenen Erfolg - zu Recht oder zu Unrecht - mit den Siegen im Großen Vaterländischen Krieg und dem Aufstieg der Sowjetunion zur Weltmacht verknüpfte.