Das kritische Potenzial des Bühnentanzes wird meist in der Aufführung lokalisiert. Diese Studie zeigt, dass es bereits im künstlerischen Schaffensprozess zu verorten ist. Am Beispiel von Xavier Le Roy und Thomas Lehmen werden choreographische Arbeitsweisen vorgestellt, die Kritik an den Produktionsbedingungen von Tanz üben. Während das Feld kultureller Produktion in der Tanzforschung überwiegend ausgeklammert bleibt, wird es hier mitgedacht und zwar als konstitutiv für die "kritische Praxis". Ziel ist es, mit Hilfe von Konzepten der Kritik aus Kultur- und Kunsttheorie, einen vergemeinschaftlichten Kritikbegriff im zeitgenössischen Tanz zu bestimmen.
Der menschliche Schatten im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit - Grundlage der Untersuchung von Kathrin Tillmanns bildet die artifizielle Präsenz des Schattens in ausgewählten Artefakten der visuellen und performativen Künste des 20. und 21. Jahrhunderts. Ihr Fokus richtet sich auf künstlerische Formen des Ausdrucks innerhalb der Bereiche Fotografie, Video, Tanz und Relational Architecture. Die Studie zeigt, dass der Schatten des menschlichen Körpers nicht mehr einzig als ästhetische, poetische Erscheinung zu fassen ist, sondern vielmehr als Teil eines Gefüges, welches zwischen medientechnologischen Ästhetisierungen, sozialen Verhaltensweisen und nicht zuletzt der Glaubwürdigkeit möglicher Bilder diffundiert.
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"Alle reden von künstlerischer Forschung – doch kaum jemand hat dazu konkrete künstlerische oder gestalterische Arbeiten oder gar Werke im Kopf" heißt es in der Ankündigung eines im Sommersemester 2019 als Kooperationsveranstaltung der UdK Berlin und der Kunsthochschule Weißensee angebotenen Blockseminars.[1] Mit Tiere auf der Bühne. Eine ästhetische Ökologie der Performance begegnet Maximilian Haas dieser Diagnose mit einer Arbeit, die in Form und Inhalt durchaus als Pionierleistung gelten kann. Haas verbindet seine eigene dramaturgische Konzeption von Tanz- und Performancestücken mit den Prozessphilosophien von Whitehead, Simondon und Deleuze/Guattari sowie dem Denken Donna Haraways und gelangt so zu einem Verständnis des Performativen, das die ästhetische Wirkmächtigkeit von nichtmenschlichen Lebewesen und Materie als konstitutive Elemente einbezieht. Die als Dissertation an der Kunsthochschule für Medien Köln eingereichte Studie begibt sich auf ein wissens- und kulturpolitisch brisantes Terrain. 'Forschung' mit und durch die Mittel und Methoden der bildenden und darstellenden Künste zu betreiben, schreiben sich Graduiertenkollegs und Kunsthochschulen ebenso auf die Fahnen wie Galerien, Theaterbühnen und Projekträume, Künstler_innen und Kurator_innen sowie an Universitäten beschäftigte Wissenschaftler_innen. Die Sonderstellung der Arbeit zeigt sich schon darin, dass der Autor zwei gängige Optionen bereits im Ansatz vermeidet: Weder werden theoretische und künstlerische Praktiken so weit verflüssigt, dass sie differenzlos ineinander aufgehen und die Theoriefähigkeit von Kunst oder die Ästhetizität von Theorien exemplifizieren, noch wird umgekehrt die Unvereinbarkeit diskursiver und ästhetischer Wissensformen zur Überhöhung einer der beiden Seiten zugespitzt. "Theorie und Praxis", erklärt Haas zu Beginn, "bildeten schon in der Projektentwicklung reziproke Register der Auseinandersetzung – die wissenschaftliche und die künstlerische Arbeit bildeten sich aneinander aus und folgten doch ihrer je eigenen Dynamik" (S. 10). Dieses Prinzip der "Co-Autonomie" (ebd.) bestimmt den Aufbau der Arbeit: Den vier Theoriekapiteln sind reportageartige Reflexionen zu drei von Haas als Dramaturg mit dem Regisseur David Weber-Krebs realisierten Aufführungen in Amsterdam, Hamburg und Berlin eingeschoben. In Form von Performance und Choreografie variieren diese das Grundmotiv eines Tiers – des Esels 'Balthazar' –, das sich gemeinsam mit menschlichen Darsteller_innen auf einer Bühne befindet. Die Theorieteile lassen sich zwar eigenständig lesen, erhalten ihren Fokus aber durch die Fragen, die vom dramaturgischen Setting angestoßen und weitergetrieben werden. Im ersten Theoriekapitel wird ein Vokabular für das Verhältnis von Mensch und Tier entwickelt, um von einer Kritik ihrer Trennung aus andere Arten ihrer Beziehung denk- und darstellbar zu machen. Haas rekonstruiert dazu Jacques Derridas Auseinandersetzung mit der Abwertung der Tiere bei Descartes, Kant und Heidegger. Sein Zwischenfazit markiert schon den Einsatz der praktischen Arbeit. Da Derrida mit seiner Kritik auf der Ebene des Begriffs bleibe, könne er nicht "die konkreten Veränderungen im Denken und Sein der Menschen berücksichtigen, die die Tiere bewirken" (S. 49f). Plausibel wird so der Ansatz, über Begriffsarbeit hinaus nach Formen zu suchen, um dieses Wirken und Tun der Tiere darzustellen, ihm wörtlich eine Bühne zu geben. Das nächste Kapitel kennzeichnet in einer dichten Beschreibung die erste Performance mit sechs menschlichen Performer_innen und einem Esel an der Theaterschool Amsterdam 2011 als gattungsübergreifende Begegnung. Zunächst wird dabei die reziproke Gewaltförmigkeit der Beziehung von Menschen und Esel deutlich. Die Aufführung läuft nicht nach Maßstab des Esels ab, kann aber auch von den Menschen nicht vollständig kontrolliert werden. Das Gewaltverhältnis kulminiert in einer Art Taufe, bei der eine Performerin den Namen des Esels 'Balthazar' ausspricht. Diese Benennung versteht Haas jedoch zugleich als einen ästhetischen Effekt der Depersonalisierung, der den Raum für eine Begegnung der Spezies öffnet. 'Balthazar' verweist auf Robert Bressons Film Au hasard Balthazar (1966), ist also kein Eigenname einer Figur, sondern Titel aller Esel, die als Darsteller in einem Kunstwerk fungieren. Ebenso depersonalisiert sind die Menschen, die keine individuellen Bühnenfiguren repräsentieren, sondern in Kleidungsstil und Bewegung bewusst generische Exemplare ihrer Gattung. Die Annäherung von Mensch und Tier geschieht so als Bruch mit dem ästhetischen Regime des bürgerlichen Theaters, das vom Auftreten von Subjekten als Individuen lebt und dadurch seine Zugehörigkeit zur onto-epistemischen Konfiguration der Moderne und des Humanismus bezeugt. Donna Haraways Konzepte der Figuration und des "dance of becoming" sind Zentrum des zweiten Theorieteils. Haraways Figurationsbegriff stellt das Primat der Beziehung von Subjekt und Materie in den Vordergrund, sodass nicht wie in der traditionellen Ästhetik ein menschliches Künstlersubjekt eine Figur aus der Materie herauspräpariert oder dieser aufzwingt. Dagegen hat man es mit einem gemeinsamen Werden von Subjekt und Materie zu tun, die für Haraway als verkörperte Begegnung bewegter Körper die Form des Tanzes annimmt. Haraways Überlegungen verdichtet Haas im zweiten Balthazar-Stück, einer 2013 auf Kampnagel in Hamburg aufgeführten Choreografie. Kern des Stücks ist die Idee der Einheit – ein Esel, eine weibliche Tänzerin und ein männlicher Tänzer bewegen sich gemeinsam auf der Bühne. Die Anwesenheit des Esels stört diese Einheit aber immer wieder, etwa, wenn dieser sich den Menschen in den Weg stellt oder sie anstupst. Weil der Esel nicht seinen materiellen Körper auf eine eigentlich theatral bedeutsame Figur hin transzendiert, wird er für Haas zur Figuration im Sinne Haraways. Indem eine solche Figuration in vielfältigen Beziehungen zum Außen des Bühnenraums steht, kristallisiert sich heraus, was im Untertitel des Buches als "ästhetische Ökologie der Performance" angekündigt wird: nicht nur die Beziehung von Mensch, Tier und Bühne, sondern alle Entitäten, die Bodenbeschaffenheit, Schrittgeräusche aus dem Nebenraum, "profane Details, die im Vorfeld nicht festzustellen sind, können von entscheidendem Einfluss auf die Struktur und den Verlauf der Figuration sein" (S. 147). Die Choreografie bietet Anlass, das Verhältnis von Organismus und Umwelt genauer zu fassen. Im Unterschied zu vielen aktuellen posthumanistischen Theorievorhaben gelingt es Haas überzeugend, den biologischen Umweltbegriff Jakob von Uexkülls nicht nur vor der Folie seiner Rezeption durch Gilles Deleuze und Felix Guattari unkritisch aufzunehmen. Er zeigt vielmehr, wie die beiden Philosophen mit Bezug auf die Funktion des Ästhetischen in den jeweiligen Konzeptionen eine "affirmative Umkehrung" (S. 175) der Umweltlehre vornehmen, die den Holismus und die Subjektzentriertheit Uexkülls überwindet. Statt wie Uexküll die planvolle Komposition der Umweltbeziehungen mit einer Symphonie Mahlers zu vergleichen, betonen Deleuze/Guattari mit Pierre Boulez ihre Unabgeschlossenheit. Als Subjekte stehen Tiere demnach in keinem statischen Verhältnis zu einer ihnen fest zugehörigen Umwelt, sondern sind in sich geteilte Vielheiten, Dividuen, die gerade aufgrund ihrer Unabgeschlossenheit Relationen mit anderen Subjekten eingehen. Den Einbezug nichtmenschlicher Entitäten und ihrer Empfindungen schärft Haas abschließend im Durchgang durch Alfred North Whiteheads kosmologisches Denken. Vor diesem Hintergrund kann dann auch Erika Fischer-Lichtes "Ästhetik des Performativen" um die performative Handlungsmacht von Materie, Pflanzen und Tieren erweitert werden. In diesem, wie auch in den vorangegangen Kapiteln, ist die Darstellung kenntnisreich kontextualisiert, ebenso ausführlich wie gut verständlich, sodass die Lektüre gewinnbringend auch als Einstieg in die jeweils behandelten Konzepte der Denker_innen funktioniert. Während Haraways Begriffe sehr erhellend auf die praktische Arbeit bezogen sind, gelingt das bei Whitehead nicht ganz so nachdrücklich. Überhaupt nimmt Haas nur an einer Stelle mit Bezug zu Deleuze eine kritische Distanz zu den heute seltsam neoliberal klingenden prozessphilosophischen und neomaterialistischen Ereignis- und Werdens-Semantiken ein. Eine Vertiefung dieser kritischen Intuition hätte die Eigenständigkeit seines Ansatzes noch stärker profilieren können. Interessant ist zudem, dass der Autor im Vorwort einen Wechsel des Theorieregisters während des Arbeitsverlaufs andeutet. Standen zuerst Theorien der Passivität im Fokus, so haben diese der "integrativen Systematik der Ökologie", den Vortritt lassen müssen, "in der ein jedes Element stets zugleich aktiv und passiv, tätig und erleidend ist" (S. 11). In den Aufführungsberichten sind es jedoch oft jene nicht einfach der Aktivität entgegengesetzten Phasen des Zögerns und des gestauten Handlungsflusses, bei der sich die Bühnensituation anschaulich im Text überträgt. Daher ist der Wechsel einerseits etwas schade, andererseits wirft die damit erzeugte Spannung von Theorie und Praxis die weiterführende Frage auf, ob nicht Passivität und Erleiden als zentrale Beziehungsmodalitäten auch in umweltliche Theoriemodelle aufgenommen werden könnten. Diese Bemerkungen unterstreichen noch einmal – neben den vielfältigen Anschlüssen an kulturwissenschaftliche Diskurse – die Aktualität des theoriepolitischen und methodischen Rahmens, in dem Haas' Studie verortet ist. Eindrucksvoll demonstriert er, worin die Potentiale künstlerischer Forschung bestehen, indem er das Performative als Scharnier ins Spiel bringt, das quer zur Unterscheidung von Kunst und Forschung liegt. Wenn der Esel das moderne Theater als "Anthropomorphisierungsmaschine" (S. 92) zu erkennen gibt, wird er nicht allein zum Bühnenakteur, sondern selbst zu einem Agenten künstlerischer Forschung. Die in der Wissenschaftsforschung besonders für die experimentellen Naturwissenschaften thematisierte Abgabe von Kontrolle und Souveränität als unverzichtbares Moment in jedem Forschungsprozess wird damit explizit, wird zur offenen Methode, die aber immer nur auf Tuchfühlung mit ihrer jeweiligen Praxis entfaltet und nicht auf eine anwendbare Methodologie zurückgeführt werden kann. Wo auch immer in Zukunft künstlerisch forschend geredet, gearbeitet und gelehrt wird – Tiere auf der Bühne wird dabei mit Sicherheit viele Diskussionen bereichern und zu Recht einen Platz auf den einschlägigen Lektürelisten einnehmen. [1] "Künstlerische Forschung, eine Recherche" (Kathrin Busch, SoSe 2019, UdK Berlin/Kunsthochschule Weißensee), https://www.vdl.udk-berlin.de/qisserver/rds?state=verpublish&status=init&vmfile=no&publishid=30551&moduleCall=webInfo&publishConfFile=webInfo&publishSubDir=veranstaltung
Seit Jahrhunderten ist der Sport Teil unseres Lebens und hat sich zu einer Komponente unserer Gesellschaft entwickelt, die nicht mehr wegzudenken ist. Dessen Wichtigkeit und Ausprägungen waren und sind noch heute sehr stark von den jeweiligen aktuellen, gesellschaftlichen Umständen geprägt und beeinflusst. Ziel dieser Arbeit ist es, der Sportkultur in Österreich und der Sportbegeisterung der Zuseher und Zuseherinnen auf den Grund zu gehen. Zunächst sollen die gesellschaftlichen und politischen Einflüsse analysiert werden. Dabei werden nicht nur die aktuellen Beweggründe unserer Gesellschaft für die Ausübung des aktiven, wie auch des passiven Sports behandelt, sondern auch die Parallelen und Überschneidungen im Normen- und Wertesystem von Sport und Gesellschaft. Anschließend sollen unterschiedliche Genderfragen thematisiert werden, wie beispielsweise die Geschlechterrollen in Stadien oder der Sexismus im Sport. Im darauf folgenden Abschnitt soll auf die Fans eingegangen werden. Nach dem Versuch der Definition und Abgrenzung des Begriffs aus unterschiedlichen Perspektiven, wird nach der Motivation der Zuseher und Zuseherinnen gefragt sowie der Inszenierungscharakter der Fangruppen beleuchtet. Dabei sollen vor allem die aus dem Fußball bekannten Choreografien besprochen werden. Des Weiteren sollen die Emotionen in den Fokus gerückt werden, die ohne Frage eine zentrale Komponente im Sport einnehmen. In diesem Abschnitt werden neben den Eindrücken meiner Interviewpartner und partnerinnen, auch die Auswirkungen der Coronapandemie beleuchtet beziehungsweise die Fanausschreitungen kurz angeschnitten. Abgeschlossen wird diese Arbeit mit dem theoretischen Hintergrund der für meine Forschung verwendeten Methoden Interview, Diskursanalyse und Selbstreflexion sowie der Analyse meiner durchgeführten Interviews mit Fans aus dem Fußball, dem Basketball und dem Eishockey und einem zusammenfassenden Resümee. ; For centuries, sport has been part of our lives and today it has become a component of our society that that makes it barely impossible to imagine life without it. Its importance and characteristics were and still are strongly influenced by the respective current social circumstances. The aim of this work is to get to the bottom of the sports culture in Austria and the sports enthusiasm of the viewers. First, the social and political influences will be analysed. In doing so, not only the current motivators of our society for the practice of active as well as passive sports will be reflected upon, but also the parallels and overlaps in the norms and value system of sports and society. Subsequently, different gender issues will be addressed, such as gender roles in the stadium or sexism in sports. The following section will focus on fans. After an attempt to define and delimit the term from different perspectives, the motivation of the spectators will be asked and the way of presentation of the fan groups will be discussed. In particular, the choreographies known from soccer will be discussed. Furthermore, the focus will be on emotions, which are without question a central component in sports. In this section, in addition to the impressions of my interview partners, the effects of the corona pandemic and the fan riots will be briefly discussed. This paper will conclude with the theoretical background of the methods used for my research - interview, discourse analysis and self-reflection - as well as the analysis of my conducted interviews with fans from soccer, basketball and ice hockey and the subsequent summary. ; vorgelegt von Stefanie Jamnig, BA ; Abweichender Titel laut Übersetzung des Verfassers/der Verfasserin ; Zusammenfassung in deutscher und englischer Sprache ; Masterarbeit Karl-Franzens-Universität Graz 2021
Die Autorin präsentiert eine neue Sichtweise auf die Arbeit des Tanztheaters Wuppertal: Die Entwicklung und Aufführung der Stücke, die Weitergabe von choreografischem Material und die Reaktionen der Öffentlichkeit werden als komplexe, voneinander abhängige und wechselseitige Übersetzungsprozesse dargestellt. Das Buch rückt zum ersten Mal die künstlerische Forschung vor allem bei den internationalen Koproduktionen des weltweit bekannten Ensembles in den Fokus und bietet umfangreiches empirisches Material in Form von Interviews mit Tänzer*innen, Mitarbeiter*innen und Publikum sowie ethnografische Studien an den koproduzierenden Orten. Eine Praxeologie des kulturellen und ästhetischen Übersetzens wird als tragfähiges Schlüsselkonzept für die Erforschung von Tanz und Kunst eingeführt.
Überformen und überschreiben sind stets wiederkehrende Begriffe, wenn es darum geht dramaturgische und ästhetische Formen der NS-Massenspiele zu charakterisieren, während überbieten und die rhetorische Stilfigur der Hyperbole die politische Propaganda kennzeichnen. Joseph Goebbels Proklamation eines Theaters der Hunderttausend – mit der er sowohl Benito Mussolinis Aufruf zu einem Theater der Zwanzigtausend und Max Reinhardts Theater der Fünftausend überbietet – verdeutlicht gleichzeitig, dass ästhetische und gouvernementale Praktiken während der NS-Zeit nicht nebeneinander existieren, sondern zutiefst miteinander verschränkt sind. Der Frage nach der wechselseitigen Bezogenheit von Ästhetik und politischer Propaganda (S. 9) geht Evelyn Annuß denn auch in ihrer material- und detailreichen Studie zur Volksschule des Theaters konsequent nach. "Nationalsozialistische Massenspiele", so der Untertitel der Publikation, umfassen die zunächst von Goebbels unterstützten und später verworfenen Thingspiele, die von der Rosenberg-Fraktion favorisierte Landschaftsbühne bis hin zu den Festspielen im Rahmen der Olympiade 1936 und darüber hinaus. Annuß beschränkt ihre Studie jedoch nicht auf eine historische Untersuchung ästhetischer Formkonzepte und der damit einhergehenden Formprobleme, sondern verbindet diese mit einer umfassenden diskursanalytischen und mediengeschichtlichen Herangehensweise. Dadurch ergibt sich eine diachrone und synchrone Achse der Analyse, die das Phänomen der NS-Massenspiele zeitlich sowohl be- als entgrenzen. Konkret bedeutet dies, dass Annuß die (weitgehend) chronologisch geordneten Fallbeispiele einerseits dramaturgisch und formspezifisch untersucht und andererseits mit "Denkfiguren" konfrontiert, die diesen vorausgehen oder nachfolgen. So bilden im ersten Kapitel mit dem Titel "Regierungskünste" zwei Inszenierungen von Hanns Niedecken-Gebhard – das im Sommer 1933 inszenierte Stück Heilige Heimat in Ober-Ingelheim sowie Das Spiel von Job dem Deutschen im November 1933 in der Messehalle Köln – den Ausgangspunkt, um zentrale Konzepte des sich herausbildenden Massentheaters herauszuarbeiten. Unter dem Vorzeichen von Volkswerdung und Vergemeinschaftung kommt dem Chor als Kollektivfigur eine Schlüsselposition zu, der sich zugleich als Formproblem gegenüber der dramatischen personae einerseits und der Inszenierung der Führerinstanz andererseits erweist. Annuß verschränkt die dramaturgische und formspezifische Analyse, mit der sie etwa die Anlehnung an die historische Avantgarde, Expressionismus und Mysterienspiel (Reinhardt) aufzeigt oder die Liturgie als Formzitat verdeutlicht – mit einer Diskursanalyse, die die Anforderungen der Propaganda, die Vereinnahmung und Gleichschaltung von bestehenden Vereinskulturen wie Laienspiel sowie die AkteurInnen aus den Bereichen Theaterwissenschaft und Kultur berücksichtig. Daneben scheut sie nicht vor Exkursen zu zeitgenössischen TheatermacherInnen wie Einar Schleef oder Christoph Schlingensief zurück, um formspezifische Differenzen zu verdeutlichen. Bereits im ersten Kapitel zeichnen sich die grundlegenden Spannungslinien in Bezug auf die Formprinzipien der Massenspiele einerseits und das Verhältnis von Kunst und Propaganda/Politik andererseits ab: es geht hierbei insbesondere um das Verhältnis von Chor und Einzelfigur und um das Ausloten der Schnittstelle zwischen Fiktion und Politik. Wird mit den Inszenierungen von Niedecken-Gebhard Bewegung als zentrales Dispositiv von Massenspielen und Propaganda ausgewiesen, so kreisen die folgenden Kapitel um die Dispositive des Hörens im Zusammenhang mit dem Thingspiel und des Visuellen im Rahmen der Landschaftsbühne. Die "Okkupation des Hörraumes" (S. 85) zeichnet die Autorin auf der Grundlage der politischen Massenveranstaltungen anlässlich der 1. Maifeier 1933 sowie des Erntedankfestes am Bückeberg am 30. September 1934. Mit Rekursen auf Richard Wagners Meistersinger und Johann G. Fichtes "erziehungsstaatlich begründete Stimmmodell" (S. 87), wird die Mobilisierung der Massen durch die Führerstimme (S. 85) beziehungsweise die akustische Produktion von Erlebnisgemeinschaften verdeutlicht, die mit dem massiven Einsatz von Technik und der Möglichkeit von live-Übertragung über Radio einhergeht. In einer vergleichenden Darstellung kommunistischer Chorstücke, sozialdemokratischer Weihespiele und dem NS-Chorspiel rückt die "Okkupation der Vertikale" (S. 117) in den Blick, die sowohl auf die Inszenierung der Stimme (als Sound) als auch auf die Choreografie des Chores im Raum zutrifft. Gilt in den Anfangsjahren des nationalsozialistischen Regimes die propagandistische Aufmerksamkeit vor allem der affektiven Aktivierung des Publikums im Sinne der Volkswerdung, so steht die Entwicklung des Architekturtheaters und der Thingbühne im Zeichen der Disziplinierung. In den Blick rücken hierbei nicht nur die Allianz von Technik, Medien, Kulturbereich und Propaganda, sondern auch die Anschlussfähigkeit der sich etablierenden Theaterwissenschaft (S. 202) – mit Carl Niessen als einem der Protagonisten des Thing-Netzwerkes. Insofern sich bei Thingstätten szenischer Raum und Versammlungsraum geradezu programmatisch überschneiden, wird wiederum das Verhältnis von Fiktion und Politik virulent, hinsichtlich der Formproblematik jedoch vor allem die Allegorisierung der Einzelpersonen in den Thingspielen. Einen Ausweg bietet Lothar Müthel mit der Inszenierung von Der Weg ins Reich in Heidelberg (1935). Der Chor erhält hier Züge des Ornaments, die Volksgemeinschaft wird nicht durch Affizierung evoziert, sondern schuldet sich der Drohung, verkörpert durch die Gestaltung der Gegenseite als komische Figur, die es auszuschließen gilt. Hier zeichnet sich der Weg der Volkwerdung und Gefolgschaft im Sinne einer Politik der exklusiven Inklusion ab (S. 452). Lässt sich das Nationalsozialistische Thingprojekt mit Annuß als Labor und durchaus modernes Experimentierfeld politischer Kundgebung zur Produktion von Erlebnisgemeinschaften lesen, so trifft dies ebenso auf die Landschaftsbühne, das Konkurrenzproject der Rosenberg-Fraktion, zu. Entscheidend ist hierbei, dass das Landschaftstheater das Formproblem Chor und Allegorie über das Visuelle zu lösen versucht und hierbei bei der Wahrnehmungsregulierung des Films anknüpft. Als weiteres theatrales Mittel der Organisation der Perspektive erweist sich das Panoptikum, das Ende des 19. Jahrhunderts seine Konjunktur erlebte. Überraschend und zugleich bezeichnend ist hierbei, dass Annuß die durch das Panoptikum gewährleistete Produktion des Realitätseffekts nicht nur mit Roland Barthes, sondern auch durch die Linse der panoptischen Montagen von Yadegar Asisi (2013) liest. Das Projekt des NS-Massenspiels endet zwar nicht mit den Festspielen im Rahmen der Olympischen Spiele, findet hier jedoch mit dem Ornament der Masse, bei dem das Publikum sich selbst zum Schau- und Hörobjekt wird (S. 408), seine abschließende Transformation. Den sich stets wieder manifestierenden Formproblemen und Formlösungen und den damit einhergehenden Subjektivierungsangeboten geht Annuß präzise, geradezu unermüdlich und unterstützt durch umfangreiches Bildmaterial nach, ausgehend von den Stadionspielen über Architekturtheater und Thingbühne zu den Landschaftsbühnen und mit den Olympischen Spielen 1936 wieder zurück in die Stadien. Im Postscriptum formuliert Annuß: "Die Geschichte nationalsozialistischer Massenspiele und der Medienmigration theatraler Regierungskünste lässt sich nicht angemessen schreiben, ohne das Verhältnis von Propaganda und Lagern, von Massenkultur und Massenvernichtung zu adressieren und dabei auch unsere Praktiken des Erinnerns zu reflektieren." (S. 440) Obwohl Ausschlussmechanismen sowie die Inszenierung rassistischer Blut- und Bodenpropaganda immer wieder angesprochen werden, bleibt die explizite Reflexion des genannten Verhältnisses dem Postscriptum vorbehalten. Weder die Präfiguration der Lager noch der Massenvernichtung in und durch die Massenspielen und Massenspektakel an der Schnittstelle von ästhetischer und politischer Praxis kommt explizit zur Sprache. Das heißt nicht, dass die nationalsozialistische Exklusions- und Vernichtungspolitik der in diesem buchstäblich schweren Buch verhandelten Frage der NS-Massenspiele nicht eingeschrieben wäre. Doch gerade die minutiöse, detaillierte Analyse von ästhetischen Formfiguren in Verbindung mit Fragen der Subjektivierungsangeboten stellt die Möglichkeit in Aussicht, das Verhältnis von Propaganda und Lagern im Sinne der Präfiguration zu untersuchen. Eine der Fragen, die sich hierbei stellt, ist, inwiefern neben Mechanismen des Überschreibens, Überformens und Zitierens nicht auch Strategien der Aneignung und Auslöschung im Spiel sind. Die Fülle an Material, die permanente Verschiebung der analytischen Perspektive, das Sezieren der den Fallbeispielen eingeschriebenen Diskursen sowie ihrem Nachleben macht die Volksschule des Theaters zu keinem einfach lesbaren Buch, die gewählte Form des Schreibens ist aber letztlich konsequent im Sinne eines kritischen Subjektivierungsangebots im Prozess der Lektüre.
Die Relation von Theater und Denken, die im vorliegenden Sammelband in ihren historischen und zeitgenössischen Manifestationen tiefgreifend analysiert wird, fällt, wie die Herausgeber Leon Gabriel und Nikolaus Müller-Schöll in der Einleitung betonen, weitaus komplexer aus als das Verhältnis der Illustration (S. 13), ja der Abbildbarkeit des Szenischen in der Theorie oder – umgekehrt – die Veranschaulichung theoretischen Denkens auf der Bühne: "Der Praxis des Theaters wird vielmehr bei aller Unterschiedlichkeit der hier versammelten Beiträge in jedem Fall eine Form der inhärenten Theorie zugeschrieben, die nicht in Begriffen formuliert, gleichwohl in Begriffe übersetzt werden kann" (ebd.). Welche Formen des Denkens im szenischen Raum des Theaters erst aufscheinen bzw. inwieweit das Nachdenken über Theater die Weichen für eine noch kommende szenische Praxis stellt, sind die Ausgangsfragestellungen der vorliegenden Beiträge, die einerseits von der szenischen Verfasstheit jedweden theoretischen Denkens ausgehen und andererseits einem dem Theater innewohnenden szenischen Denken auf die Spur zu kommen suchen. Dass die Dynamiken des Denkens und des theatralen Zeigens keineswegs miteinander überblendet werden können, vielmehr ineinander übersetzt werden müssen, dafür liefern bereits Platons sokratische Dialoge und die ihnen eigentümlichen Paradoxien ein eklatantes Beispiel: Bekanntlich wird aus ihnen jene theaterfeindliche Einstellung Platons ersichtlich, die häufig auf das biografische Moment zurückgeführt wird, er habe seine eigens geschriebenen Tragödien unter dem Einfluss seines Lehrers Sokrates verbrennen müssen. Doch Platons Vorbehalte gegenüber dem Theater sind gerade vor dem Hintergrund überraschend, dass seine philosophischen Schriften, ja die sokratischen Dialoge, an Dramatisierung und Theatralisierung kaum zu übertreffen sind. Interessant ist an diesem Punkt das Platon'sche Argument, mit dem das Theater von dem (philosophischen) Denken zugleich getrennt und mit ihm aufs Engste verbunden wird: Denn das Argument, warum das Theater die bestehende Ordnung Platon zufolge gefährde, ist in dem Umstand zu suchen, dass in der Tragödie ausgerechnet die kommentatorische, für eine philosophische Wahrheit bürgende Instanz ausgeschaltet werde, jene Erzählstimme, die dem Epos noch inhärent ist und die den Rezeptionsvorgang zu steuern vermöchte bzw. die Übermittlung einer Botschaft sichern könnte. Wenn Platon also in der Wechselrede der Politeia, die im philosophischen Register verankert ist, den Kampf gegen die Wechselrede verkündet, die das Terrain der Philosophie verlässt und die Bühne erobert, wird letztlich nur, quasi in den philosophischen Texten Platons, ein anderes Register für das Denken und Realisieren des Theaters eröffnet. Weniger die Frage nach der Philosophie des Theaters – im Sinne einer Ästhetik des Theaters – steht somit im Vordergrund des Sammelbandes und schon gar nicht die allzu schlüssigen Erklärungsmodelle theatralen Handelns, die aus der Anthropologie, Sozialwissenschaft oder Genderforschung stammen und komplexe theoretische bzw. gesellschaftliche Problemstellungen mit einfachen Theatermetaphern zu erhellen versuchen. Stattdessen lockt uns Leser*innen das breit gefächerte Panorama eines 'Denkens der Bühne' in mehrfachem Sinn – in jene Richtung, wo sich "Denk und Undenkbares ebenso wie Zeigen und Entzug, Sicht- und Unsichtbares verschränken" (S. 16). Dieses vielversprechende Programm wird in drei Themenkomplexen bzw. in exzellenten Beiträgen ausdifferenziert und vertieft. Im ersten größeren Abschnitt sind Aufsätze versammelt, die an Walter Benjamins Reflexion von Bertolt Brechts Arbeit anknüpfen. Die Autor*innen, die bereits einschlägige Monographien zu diesem Thema vorgelegt haben, greifen Denkfiguren von Benjamin und Brecht auf und übertragen sie in unterschiedliche Kontexte theatralen Denkens. Nikolaus Müller-Schöll kartographiert – mit Bezug auf Benjamins Sprachaufsatz bzw. seine Idee der Sprache "überhaupt" – ein Denken des Theaters als Mitteilbarkeit, als Dispositiv, d. h. als eine "nicht länger vom Mittelpunkt des 'Menschen' geprägte Bühnenpraxis" (S. 60), ein Geflecht von Verhältnissen statt Handlungen und Performanzen. Müller-Schöll mobilisiert ein komplexes Netzwerk von Referenzen, die neben Benjamin und Brecht von philosophischen (Derrida, Heidegger) bis hin zu künstlerischen Positionen (Le Roy) reichen. Dass zum Denken des 'Theaters überhaupt' nicht nur die Auftritte von Akteur*innen in Erwägung gezogen werden müssen, sondern auch der gesamte Apparat als Möglichkeitsbedingung szenischer Evokation, werden – wie Lydia J. Whites Close Readings zeigen – im 20. Jahrhundert in zwei theaterbezogenen Texten u. a. durch die Exponierung von Bühnenarbeitern reflektiert. Die Rede ist von Luigi Pirandellos Sechs Personen suchen einen Autor und Bertolt Brechts Der Messingkauf, die – so argumentiert White – "ein Denken über das und mit dem Theater am Schauplatz des Theaters selbst [inszenieren]" (S. 81). Freddie Rokem erschließt auf – mindestens – drei Ebenen eine Affizierungskraft theatralen Denkens, wenn er auf die Premiere des Habima Studios von S. An-Skis Der Dibbuk 1922 in Moskau verweist und die Figur des Dibbuk, die in der Regel "den Körper einer Person (meist einer Frau) einnimmt und durch ihren Mund spricht" (S. 97) als metatheatrale Figur der Schauspielerei, ja des Soufflierens in Augenschein nimmt. Ferner fördert Rokem – mit Benjamin – auch die geschichtlichen Koordinaten zutage, die dazu beigetragen haben, dass die Inszenierung des Ha Bima (Die Bühne), die über 1000 Mal aufgeführt wurde, zur am häufigsten besprochenen und untersuchten Produktion des hebräischen/israelischen Theaters avancierte und – im Sinne einer Dibbuk-Gestalt – "eine Kultur ohne existierendes Theater-Erbe buchstäblich vom Theater besessen" (ebd.) machte. Ebenfalls für die historischen Dimensionen des Theater-Denkens interessiert sich der norwegische Regisseur Tore Vagn Lid, der Brechts kritische Auseinandersetzung mit den Ideologemen naturalistischen Theaters aufgreift und nach deren aktuellen Resonanzen zur Zeit eines "neuen Realismus" (S. 128) fragt. Die zweite, mit der Überschrift "Szenische Konstellationen" betitelte Sektion widmet sich dem Denken des Theaters im Register der Philosophie. Die zentrale Stoßrichtung der hier versammelten Beiträge ließe sich daran anknüpfen, was Nikolaus Müller-Schöll in seiner Lektüre von Brechts "Die Straßenszene" als ein "Theater im Text der Theorie" (Müller-Schöll 1999) bezeichnet und als Möglichkeitsraum für das Denken eines zukünftigen Theaters angedeutet hat. Vor diesem Hintergrund ist auch Jörn Etzolds aufschlussreiche Analyse von Benjamins "untragischen Helden" und Hölderlins Empedokles zu betrachten, die nicht mehr auf der klassischen Bühne der Repräsentation in Erscheinung treten. Etzold fragt nach der möglichen Beschaffenheit einer anderen, künftigen Bühne, die er unter dem Konzept der Gegend beschreibt. Einer anti-illusionistischen und -repräsentativen Bühnengestaltung hat sich auch der französische Theateravantgardist Antonin Artaud verschrieben, dessen Theater der Grausamkeit von Timo Ogrzal gleichermaßen als eine Konstellation ins Auge gefasst wird, welche "eher ein Kommen des Anderen und eben nicht seine Präsentation [verspricht]" (S.165). Und Marten Weise versucht in seiner beeindruckend feinfühligen Heidegger-Lektüre trotz des Schweigens des Philosophen zu seiner Idee des Theaters die Konturen eines ebenfalls noch nicht existierenden Theaters aufzuspüren, die man als "Theater der Lichtung oder der passiv verfassten Ek-sistenz" (S. 179) bezeichnen könnte. Im abschließenden Teil des Kapitels öffnet sich die Sicht auf das Denken von Konstellationen jenseits jeglicher herkömmlicher Theatervorstellungen, auf "Kon-Figurationen" (S. 198) aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts, die nichts anderes als "eine Niederlage des erkennenden, urteilenden Subjekts" (S. 183) bezeugen. Ulrike Haß verschränkt in ihrem Beitrag epistemologische, historische und ästhetische Krisenmomente, die zur Entstehung der Phänomenologie, zur ethnographischen Entdeckung von Mythen als subjektlose Wissensordnungen, zu neuen 'Konstellationen des Mit' in den Künsten oder zu Adolphe Appias 'rhythmischen Räumen' geführt haben und auch in konkreten Kompositionen – wie in Jean-Luc Godards Montageverfahren oder dessen Übersetzung in den Bühnenraum durch Mark Lammert – beobachtbar wurden. All die Positionen der Sektion erschließen Denkbewegungen, die den*die Leser*in aus dem Universum althergebrachter Vorstellungen des Theaters befreien und das Szenische an den Schnittstellen der Philosophie-, Kultur- und Technikgeschichte neu zu entwerfen suchen. Im dritten Kapitel kommen schließlich künstlerische Praktiken von William Kentridge, Laurent Chétouane und Walid Raad zum Tragen, die ein anderes Denken der Zeit, des Raumes bzw. des Sehens im Theater ermöglichen. Julia Schade bettet ihre aufschlussreiche und politische Lesart von Kentridges Rauminstallation The Refusal of Time in eine facettenreiche Recherche zu Zeitvorstellungen ein und mobilisiert abweichende Ideen von Zeitlichkeit, die von Scholem und Benjamin über Derrida und Hamacher bis hin zu Kentridge und Peter Galison reichen bzw. uns gestatten, Zeit jenseits der bekannten Muster vom Zyklischen und Linearem zu denken. Leonie Ottos Beitrag schließt an die Frage der Neuperspektivierbarkeit von Zeitlichkeit mit der überzeugenden Fundierung eines neuen räumlichen Denkens auf der Bühne an. In Rekurs auf Laurent Chétouanes Choreografie Hommage an das Zaudern gelingt es Otto, das Denken von seinen herkömmlichen Konnotationen (ergebnisorientiert, theoretisch, nahezu körperlos) zu befreien und es als ein räumliches, bewegtes, immer schon in seinem "Bezogen-sein" (S. 226) sich ereignendes, "geteilte[s], zerteilte[s] und verteilte[s] Denken" (S. 228) auf der Bühne zu fundieren. Zum Schluss lädt Leon Gabriel uns zum Denken eines 'Theaters der Affizierbarkeit' ein, wenn er kraft seiner tiefgreifenden Analyse von Walid Raads Scratching on Things I Could Disavow dafür plädiert, die bekannte Sehordnung der Live-Art außer Gefecht zu setzen und Modalitäten des 'Nicht-Sehens' aufzuwerten: "Nichts-Sehen heißt dann, aufnahmefähig für etwas zu werden, das nicht dem Raster des 'Sehens', d. h. nicht der gängigen Wahrnehmung entspricht, darin auch keinen Platz und keine Welt hat." (S. 241) Will man die hier nur skizzierten Schlaglichter auf 'Das Denken der Bühne' in einen größeren Zusammenhang stellen, dann könnte man bei den vorliegenden Beiträgen von äußerst anregenden Impulsen für das Neu-Denken des Verhältnisses von Theorie und Praxis, Philosophie und Kunst, Rhetorik und Performanz des Theaters sprechen und damit verbunden von einem Plädoyer für ein neues Verständnis des Szenischen, das in den beiden außerordentlich bereichernden und die Publikation rahmenden Aufsätzen Jacques Derridas und Samuel Webers zum Ausdruck kommt und darin besteht, es jenseits seiner ontologischen Bestimmbarkeit und der Stillstellung seiner (Denk-)Bewegungen zu verstehen. Literatur: Müller-Schöll, Nikolaus: "Theater im Text der Theorie. Zur rhetorischen Subversion der 'Lehre' in Brechts theoretischen Schriften". In: Brecht 100 2000. The Brecht Yearbook 24. Hg. v. Maarten van Dijk, Ontario: University of Wisconsin Press 1999, S. 265-276.