In: The journal of modern African studies: a quarterly survey of politics, economics & related topics in contemporary Africa, Band 25, Heft 4, S. 613-642
Ausführliche Diskussion der von Leutnant Jerry Rawlings nach einem erfolgreichen Staatsstreich seit 1982 eingeleiteten Reformpolitik, nachdem dieser erkannt hatte, daß er einen praktisch bankrotten Staat übernommen hatte. Kurzer Rückblick auf die Kolonialzeit und die postkoloniale Politik vor seiner Machtübernahme. Maßnahmen der neuen Militärregierung (Provisional National Defence Council - P.N.D.C.) auf den Gebieten der Verwaltung, des Rechtswesens, der Wirtschaft, der internationalen Beziehungen. Beurteilung der Entwicklung. Größte Herausforderung der Zukunft wird sein, wie das Regime auf weitere Demokratisierungswünsche seiner politisch wachen Bevölkerung reagiert. (DÜI-Hlb)
Das Weiterbildungsverhalten der erwachsenen Bevölkerung ist ein Thema, das im Rahmen bildungspolitischer Zielvorstellungen einen hohen Stellenwert erlangt hat. Es besteht Einvernehmen darüber, dass diese Diskussion eine fundierte empirische Datenbasis benötigt, um die vielfältigen Formen des Lernens im Erwachsenenalter (adult learning) sichtbar zu machen und die Entwicklung der Weiterbildungsbeteiligung beobachten zu können. Die europäische Rahmenverordnung über statistische Erhebungen im Bildungsbereich verpflichtet alle europäischen Länder zur Durchführung eines Adult Education Surveys im Abstand von jeweils fünf Jahren. Vor diesem Hintergrund beauftragte das BMBF bisher zwischen den europäischen AES-Erhebungen zusätzlich rein nationale AES-Erhebungen. Zielgruppe des deutschen AES 2018 ist die deutschsprachige Wohnbevölkerung in Deutschland von 18 bis 69 Jahren. Die Zielpersonengruppe der rein nationalen AES-Erhebung 2018 ist somit analog angelegt zur letzten deutschen AES-Erhebung 2016. Computergestützt wurden insgesamt 5.836 Personen mündlich-persönlich befragt (CAPI: Computer Assisted Personal Interviews). Die Auswahl der Befragungspersonen erfolgte mit Hilfe einer mehrfach geschichteten, Zufallsstichprobe mit drei Auswahlstufen nach ADM-Standard.
Ausgehend von der ´Classification of Learning Activities´ (CLA)6 werden im AES folgende Bildungs- und Lernaktivitäten unterschieden: (a) formal education: formale/reguläre Bildung, (b) non-formal education: non-formale Weiterbildung, (c) informal learning: informelles Lernen. Die Aktivitäten werden einzeln erfasst und durch Nachfrageblöcke näher beschrieben. Im AES kann die Analyse daher von einer personenbezogenen Perspektive (Weiterbildungsbeteiligung) zu einer systembezogenen Perspektive (Strukturen der Gesamtheit von Weiterbildungsaktivitäten) wechseln. Insofern liegen drei Datensätze für den AES 2018 vor: (1) Datensatz auf Basis der Befragungspersonen von 18 bis 69 Jahren (AES-Personendatensatz), (2) Datensatz auf Basis der von den Befragungspersonen genannten Weiterbildungsveranstaltungen (NFE-Datensatz) und (3) Datensatz auf Basis der von den Befragungspersonen genannten informellen Lernaktivitäten (INF-Datensatz).
Im Rahmen der AES-Erhebung 2018 wurde auch die Zusatzstudie Digitalisierung in der Weiterbildung (AES-Digi) umgesetzt, bei der es um den Einsatz und die Nutzung von Digitalisierung im Zusammenhang des Bildungsverhaltens Erwachsener ging.
Themen: 1. Berufsbezogene Informationen: Erwerbsstatus; berufliche Situation; Bezug von Arbeitslosengeld; Art des Arbeitslosengeldes; Praktikum; Dauer des aktuellen Erwerbsstatus (Monat, Jahr); berufliche Situation im Befragungsmonat; berufliche Situation im Befragungsmonat minus 1 Monat bis minus 12 Monate; Ausüben einer bezahlten Tätigkeit; frühere und derzeitige Erwerbstätigkeit; Jahr und Monat der letzten Erwerbstätigkeit; frühere Erwerbstätigkeit endete im Referenzzeitraum (z.B. im Befragungsmonat); betriebliche Ausbildung oder bezahltes Praktikum in den letzten 12 Monaten; Grund für das Praktikum (im Rahmen einer betrieblichen Ausbildung, im Rahmen eines Studiums, im Rahmen einer anderen schulischen oder beruflichen Bildung oder aus einem anderen Grund).
2. Charakteristika der beruflichen Haupttätigkeit: Erwerbstätigkeit in den letzten 12 Monaten; Wochenarbeitszeit; Vollzeit/Teilzeit; Beruf; abgeschlossene Berufsausbildung erforderlich; Tätigkeit entspricht dem erlernten Beruf; berufliche Stellung (gruppiert); sozialversicherungspflichtig Beschäftigte bzw. abhängig Beschäftigte; differenzierte berufliche Stellung; Laufbahngruppe; Gruppe der Selbständigen; Beschäftigung festangestellter Mitarbeiter; Anzahl der Mitarbeiter im Betrieb; weniger als 10 oder mehr als 10 Personen im Betrieb tätig (Betriebsgröße, gruppiert); Wirtschaftsbereich (NACE-Code); Art des Betriebes; Öffentlicher Dienst; Branche; Betrieb ist Teil eines größeren Unternehmens; Anzahl Beschäftigte im Gesamtunternehmen; Zeitpunkt des Beschäftigungsbeginns beim aktuellen bzw. beim letzten Arbeitgeber; früherer Erwerbstätigkeit endete im Referenzzeitraum; befristeter oder unbefristeter Arbeitsvertrag; Erfordernisse der beruflichen Tätigkeit; Arbeitslosigkeit im letzten Jahr; Dauer der Arbeitslosigkeit in Monaten; Einstellung zur eigenen Schulzeit (Spaß am Schulunterricht, schlecht gefühlt, gerne länger zur Schule gegangen, Lernen fiel schwer, angestrebten Schulabschluss erreicht, Angst vor Lehrern, viel Interessantes gelernt); Schulschwänzen; Klasse wiederholt).
a) Schulbildung: besuchte Schulform; keine Schule besucht; besuchte Klassenstufe derzeit bzw. bei Verlassen der Schule; angestrebter Schulabschluss; Schule mit Abschluss beendet oder ohne Abschluss verlassen; Art des Schulabschlusses; Schulbesuch im Ausland: Klassenstufe bei Verlassen der Schule; ausländische Schule mit Abschluss beendet oder ohne Abschluss verlassen; Art des Schulabschlusses; angestrebter Schulabschluss bei Schulabbruch im Ausland; erfolgreiche Anerkennung des ausländischen Schulabschlusses in Deutschland; wichtigster Grund für den Schulabbruch ohne Abschluss; Zeitpunkt (Jahr und Monat) des Verlassens der Schule; Schule innerhalb der letzten 12 Monate mit oder ohne Abschluss beendet.
b) Ausbildung: Art der beruflichen Ausbildung (berufsvorbereitende Maßnahme, Anlernausbildung oder berufliches Praktikum, Berufsgrundbildungsjahr (BGJ), Berufsfachschule, betriebliche Lehre, Vorbereitungsdienst für Beamte des mittleren Dienstes, Berufsfachschule, die einen Berufsabschluss vermittelt, Schule des Gesundheitswesens, Ausbildungsstätte bzw. Schule für Erzieher/-innen, Fachschule der DDR, Fachakademie (Bayern), Fortbildung zum Meister oder Techniker, Fachwirt/Fachkaufleute; Fachschule oder Fachakademie, Studium an einer Berufsakademie, Studium an einer Verwaltungsfachhochschule, Studium an der Fachhochschule oder Universität, Promotionsstudium, anderer Bildungsgang (offen), keine berufliche Bildung bzw. Hochschulbildung); derzeit in einer Ausbildung; Ausbildung mit Abschluss oder ohne Abschluss beendet; letzte abgebrochene Ausbildung; Jahr der Beendigung der beruflichen Ausbildung ohne Abschluss; mehr als eine Ausbildung begonnen; andere berufliche Ausbildung vor der derzeitigen; Abschluss der vorangegangenen Ausbildung bzw. des Studiums; Art des Hochschulabschlusses; Beruf oder Fachgebiet der derzeitigen Ausbildung; Zeitpunkt (Monat und Jahr) des Ausbildungsabschlusses; Erwerb des Abschlusses in Deutschland oder im Ausland; erfolgreiche Anerkennung dieses im Ausland erworbenen Abschlusses in Deutschland; Qualifikationsniveau; höchster beruflicher Abschluss
4. Beteiligung an verschiedenen Lernformen in den letzten 12 Monaten: Formal Education (FED) - Reguläre Bildungsgänge: Gesamtzahl der in den letzten 12 Monaten besuchten regulären Bildungsgänge; Besuch regulärer Bildungsgänge in den letzten 12 Monaten; Beteiligung an formalen Bildungsgängen (FED); durchgängig in schulischer oder beruflicher Ausbildung in den letzten 12 Monaten und Zeitumfang der Ausbildung; ausgewählter Bildungsgang für FED-Fragen; bezogen auf die derzeitige bzw. zuletzt beendete Ausbildungsmaßnahme wurde gefragt: Jahr und Monat, in dem FED beendet wurde; derzeitiger Besuch des Bildungsgangs; Monat und Startjahr des Bildungsgangs; Erwerbsstatus vor Beginn des Bildungsgangs; Erstausbildung oder Teil einer weiterführenden Bildungsphase; Voraussetzungen für den Bildungsgang; Art des Bildungsgangs; Gründe für die Teilnahme; Zufriedenheit mit dem Bildungsgang; FED Digitalisierung: Häufigkeit der Bereitstellung von Lernmaterialien oder Dokumenten im Internet; die im Internet bereitgestellten Materialien beinhalten in erster Linie Textdokumente; der Kurs umfasste (auch) Ton- oder Videodokumente; die im Internet bereitgestellten Materialen werden in bestimmen zeitlichen Abständen freigeschaltet; bei Nutzung des bereitgestellten Internetangebots Rückmeldung vom Computer erhalten; Häufigkeit der Internetnutzung für den Austausch mit Lehrenden oder anderen Teilnehmern; Art des Austausches per Internet: Häufigkeit virtueller Treffen zu festgelegten Zeiten, Hinterlassen von Anmerkungen oder Kommentaren, Austausch mit anderen Teilnehmenden, die Teilnehmenden wenden sich bei Fragen online an Lehrende oder andere; Bildungsaktivität findet rein online/ überwiegend online im Internet statt vs. überwiegend/ vollständig in einer Veranstaltung vor Ort; Bereiche der Computer- bzw. Internetnutzung bei den Bildungsanbietern (z.B. im Vorfeld Informationen über das Bildungsangebot im Internet gelesen, Online-Test durchgearbeitet, etc.).
5. Non-formal Education(NFE) - non-formale (Weiter-)Bildungsaktivitäten): NFE-Teilnahme im letzten Jahr; Anzahl der NFE-Aktivitäten; in den letzten 12 Monaten Teilnahme an Kursen, Lehrgängen, Seminaren oder Schulungen, kurzzeitigen Bildungs- und Weiterbildungsveranstaltungen, Schulungen am Arbeitsplatz, Privatunterricht in der Freizeit; Anzahl und Inhalt (Thematik) dieser Kurse.
6. Angaben zu ausgewählten Weiterbildungsaktivitäten: Veranstaltungsart; Form der Weiterbildungsaktivität; Anzahl der Unterrichtsstunden (Kursvolumen) in den letzten 12 Monaten; Bezeichnung der Weiterbildungsaktivität; Andauern der Aktivität; Dauer der Aktivität; Anzahl Tage, Wochen, Monate der Weiterbildungsaktivität; Umfang der Weiterbildung in Stunden, Erwerbsstatus bei Beginn der Aktivität und bei Stattfinden der Aktivität; Voraussetzungen für die Teilnahme (z.B. bestimmter Bildungsnachweis, Berufserfahrung, etc.); Art des verlangten Bildungsnachweises (Nachweis über einen akademischen Abschluss/ einen Studienabschluss oder einen anderen Nachweis); Kriterien bei der Wahl des Angebotes; Durchführung der Weiterbildungsaktivität während bezahlter Arbeitszeit oder Freistellung für Bildungszwecke; Anteil der Weiterbildung während der Arbeitszeit; Grund für Freistellung für Bildungszwecke; Grund für Teilnahme an der Weiterbildung: betriebliche Anordnung, Vorschlag von Vorgesetzten oder aus eigenem Antrieb; Teilnahme aus beruflichen oder privaten Gründen; Digitalisierung (NFE-Teilnehmer): Weiterbildungsaktivität hat den Erwerb von Kenntnissen und Fähigkeiten zum Gegenstand, die aufgrund der zunehmenden Digitalisierung im Rahmen der Arbeit benötigt werden, wollte lernen, wie ich das Internet zur Informationsbeschaffung nutzten kann, wollte den Umgang mit bestimmten digitalen Technologien erlernen (z.B. einer Software), wollte mehr über soziale, ethische oder rechtliche Aspekte der Digitalisierung (z.B. Datenschutz) lernen; Organisator oder Auftraggeber der Aktivität (z.B. Arbeitgeber, andere Firma, Arbeitsagentur, etc.); Aktivität selbst organisiert oder beauftragt; Einrichtung oder Person, die die Aktivität angeboten und durchgeführt hat; im Rahmen der Aktivität Prüfung abgelegt; Erhalt eines Zeugnisses oder einer Bescheinigung und Art dieses Zeugnisses; Leistungspunkte bzw. ECTS auf dem Zeugnis, dem Zertifikat oder dem sonstigen Leistungsnachweis und Anzahl der Leistungspunkte; Zeugnis oder Bescheinigung gesetzlich vom Arbeitgeber verlangt für bestimmte Tätigkeiten; Aktivität war ein anrechenbarer Bestandteil eines modular gegliederten Bildungsgangs; Abschluss der Aktivität; bereits andere Teile dieses Bildungsgangs besucht oder Besuch weiterer Teile geplant; angefallene Kosten für Weiterbildung; volle oder teilweise Kostenübernahme der Teilnahme- und Prüfungsgebühren bzw. von Lernmaterialien durch den Befragten; Kostenübernahme der Weiterbildung erfolgte durch den Arbeitgeber, das Arbeitsamt, eine andere öffentliche Einrichtung, Nutzung der Bildungsprämie, Nutzung regionaler Bildungsgutscheine, Eltern, Partner oder Familie, Finanzamt, sonstige, keine davon, es fielen keine Kosten an; Kostenübernahme der Weiterbildung durch die eigene Firma bei Selbstständigen; Weiterbildungsart: Teilnahme an betrieblicher Weiterbildung, an individueller berufsbezogener Weiterbildung oder an nicht berufsbezogener Weiterbildung; Zufriedenheit mit der Weiterbildung insgesamt; Bewertung des Nutzens der Kenntnisse der Weiterbildung insgesamt; erwarteter zukünftiger Nutzen der erworbenen Kenntnisse der Weiterbildung; Häufigkeit der Internetnutzung für Materialien oder Dokumente für die Weiterbildungsaktivität; die im Internet bereitgestellten Materialien beinhalten in erster Linie Textdokumente; der Kurs umfasste (auch) Ton- oder Videodokumente; die im Internet bereitgestellten Materialen werden in bestimmen zeitlichen Abständen freigeschaltet; bei Nutzung des bereitgestellten Internetangebots Rückmeldung vom Computer erhalten; Häufigkeit der Internetnutzung für den Austausch mit Lehrenden oder anderen Teilnehmern; Art des Austausches per Internet: Häufigkeit virtueller Treffen zu festgelegten Zeiten, Hinterlassen von Anmerkungen oder Kommentaren, Austausch mit anderen Teilnehmenden, die Teilnehmenden wenden sich bei Fragen online an Lehrende oder andere; Bildungsaktivität findet rein online/ überwiegend online im Internet statt vs. überwiegend/ vollständig in einer Veranstaltung vor Ort; Non-formale Weiterbildungsaktivität mit digitalen Medien; Teilnehmer an Bildungsaktivität mit digitalen Medien (FED/NFE); Art der Nutzung digitaler Geräte für die Weiterbildungsaktivitäten (computergestützte Vorträge, eigene Internetrecherche, Software oder App vorgestellt, wird selbst Software entwickelt, arbeite alleine oder mit anderen mit einer Software, kommen computergestützte Programme oder Lern-Apps zum Üben zum Einsatz, wird mit Computersimulationen, - spielen oder spielerischen Ansätzen gearbeitet, nichts davon); Grund für die Nutzung digitaler Geräte für die Aktivität (im Vorfeld Informationen über das Bildungsangebot im Internet gelesen, Online-Test über eigene Stärken und Schwächen durchgearbeitet, im Vorfeld über das Internet über das Bildungsangebot beraten lassen, Bildungsangebot über das Internet gebucht, Bildungsangebot über das Internet bezahlt (z.B. per Online-Banking), im Vorfeld Materialien und Dokumente zum Kurs aus dem Internet abgerufen, Teilnahme an einer Prüfung am Computer, nichts davon).
7. Transparenz und Beratung: Zugang zur (Weiter-)Bildung: Überblick über Weiterbildungsmöglichkeiten; Suche nach Informationen über Weiterbildung in den letzten 12 Monaten; erfolgreiche Informationsbeschaffung; Wunsch nach mehr Informationen und Beratung über Weiterbildungsmöglichkeiten; Art der Information und Beratung über Bildungs-und Weiterbildungsmöglichkeiten (kostenlose Informationen von einer Einrichtung oder Organisation bzw. Informationen gegen Bezahlung, kostenlose Beratung von einer Einrichtung oder Organisation bzw. Beratung gegen Bezahlung, nichts davon); Einrichtung bzw. Informationsquelle für das kostenlose Informations- oder Beratungsangebot (z.B. Bildungseinrichtung, Weiterbildungseinrichtung, Arbeitsagentur, Arbeitgeber, Arbeitnehmervertretung, Kammer bzw. Berufsverband, spezielle, unabhängige Beratungseinrichtung, Infotelefon Weiterbildungsberatung); Zweck des kostenlosen Informations- oder Beratungsangebots (bessere Kenntnis der Weiterbildungsmöglichkeiten, Einstufung der Kompetenzen und Fähigkeiten durch z.B. einen Test, Möglichkeiten einer Anerkennung eigener Kompetenzen oder früherer Lernleistungen kennenlernen, anderer Zweck); Art der kostenlosen Beratung (persönliches Gespräch, Telefonat, Austausch mit anderen Personen im Internet oder per E-Mail, Nutzung einer interaktiven IT-Anwendung über das Internet oder Apps auf dem Smartphone, Bücher, Zeitschriften, Broschüren, Flyer, Programme von Weiterbildungsanbietern, Websites, TV-Sendungen zum Thema, nichts davon); Zufriedenheit mit der Beratungsstelle, mit dem Beratungsergebnis, mit der Kompetenz des Beraters, und mit der Beratung insgesamt; Nutzen der Beratung.
8. Informelles Lernen (INF) bzw. Selbstlernen in den letzten 12 Monaten: Lernweg (Lernen von Familie, Freunden oder Kollegen, Lesen von Büchern oder Fachzeitschriften, Nutzung von Lehrangeboten am Computer oder im Internet, Wissenssendungen in anderen Medien, Führungen in Museen oder historischen Orten, Besuche von Büchereien oder offenen Lernzentren, nichts davon); für bis zu zwei Lernaktivitäten wurde erfragt: Thema der informellen Lernaktivität; wichtigster Lernweg; Motivation für das Selbstlernen (berufliche oder private Gründe); Zeitpunkt des informellen Lernens (in der Arbeitszeit bzw. in der Freizeit).
9. Digitalisierung: Häufigkeit der Internetnutzung zu verschiedenen Zwecken (kurzfristig Information abrufen, Lernen, Einschätzung anderer erfahren, Austausch mit anderen in Chats, andere Menschen kennenlernen, Posten, Meinungsäußerung, Spielen, Videos ansehen); Unterstützung beim Lernen durch verschiedene Aspekte der Internetnutzung (Bereitstellung von Material im Internet, Aufforderung zur eigenständigen Recherche im Internet, arbeite selbst mit einer bestimmten Software, gemeinsame Arbeit an einem digitalen Projekt); Einstellung zu digitalen Medien beim Lernen (z.B. Bildungsaktivitäten ohne den Einsatz von digitalen Medien nicht mehr denkbar, etc.); Bewertung verschiedener Aspekte im Hinblick auf einen erleichterten Zugang zu Lern- oder Informationsangeboten im Internet (Angebote teilweise auf Englisch, kostenloser Zugang zu den Inhalten, barrierefreie Inhalte, Inhalte in leichter Sprache, selbst entscheiden, wann und wo man lernt, Datenschutz gewährleistet).
Demographie: Geschlecht; Alter (Geburtsjahr, Geburtsmonat, Alter offen und gruppiert); erste gelernte Sprache in der Kindheit (Muttersprache); Muttersprache(n) bei Zweisprachigkeit mit und ohne Deutsch; deutsche Staatsangehörigkeit; Migrationshintergrund; andere Staatsangehörigkeit; Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft; Staatsangehörigkeit vor Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft; in Deutschland geboren; anderes Geburtsland; durchgängig in Deutschland in Jahren; Anzahl der Jahre in Deutschland; 11 und mehr Jahre in Deutschland, und zwar; Alter bei Zuzug nach Deutschland; Aufenthaltsstatus (unbefristete/ befristete Aufenthaltsgenehmigung, geduldet); Haushaltsart; Zusammenleben mit einem Partner; Alter des Partners/der Partnerin (gruppiert); Familienstand; Kinder; Gesamtzahl der Kinder; Anzahl und Alter (gruppiert) der Kinder im Haushalt; Kinder unter 5 Jahren im Haushalt; Kinder von 5 bis 13 Jahren im Haushalt; weitere Personen im Haushalt; Altersgruppe weiterer Personen im Haushalt (Haushaltszusammensetzung); Haushaltsgröße; Haushaltsnettoeinkommen; Zufriedenheit mit dem Haushaltseinkommen; Selbsteinschätzung der Sprachkenntnisse in Deutsch und in Englisch. Angaben zu den Eltern: Geburtsland Deutschland; Geburtsland der Eltern; deutsche Staatsangehörigkeit; Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit; Migrationshintergrund Generationen 1 und 2.
Zusätzlich verkodet wurde: ID (Befragter, informelle Lernaktivitäten, Kurse); West-Ost; Ortsgröße (BIK); politische Gemeindegrößenklasse; Gewichtungsfaktoren und Hochrechnungsfaktoren; Teilnahme an FED und/oder NFE in den letzten zwölf Monaten; Breitbandverfügbarkeit über leitungsgebundene/ drahtlose Technologien im Haushalt; Definition Migrationshintergrund bis AES 2016; Haushaltsgröße: Gesamt AES (Anzahl Personen im Haushalt zwischen 18 und 69 Jahren), Trend AES (Anzahl Personen im Haushalt zwischen 18 und 64 Jahren), EU-Kern-ZP (Anzahl Personen im Haushalt zwischen 25 und 64 Jahren); Hilfsvariablen (z.B. zur Bestimmung des Bildungsgangs); FED-Teilnehmer 1./2. Phase; Matrix der NFE-Aktivitäten genannt; Aktivitäten für Nachfragen in Schleife x genutzt; ausgewählte Aktivität (Kurs); Kurs; Kurse insgesamt in den Nachfrageschleifen 1 bis 12; Weiterbildungsform(en) in Nachfrageblock 1 bis 12.
Der AES-2018-Datensatz enthält eine Reihe von Informationen, die nach internationalen Klassifikationssystemen vercodet werden können. Die im Fragenprogramm erfassten Bildungsaktivitäten werden nach ISCED-Level 2011 (Fragen zum Bildungshintergrund) und nach ISCED-Fields 2013 (FED-, NFE- und INF-Aktivitäten) vercodet. Hierfür wurden von Kantar Public die im AES 2007 entwickelten Prozesse im Rahmen des AES 2016 überarbeitet und die erforderlichen Variablen-Definitionen grundlegend (für ISCED-Level) bzw. ein computergestütztes Vercodungssystem (für ISCED-Fields 2013) neu entwickelt.
Das vorliegende Datenhandbuch soll der Forschung zu den Aspekten internationaler Migration das adäquate Datenmaterial an die Hand geben. Anregung für diese Datensammlung wurde 1924 durch das Komitee zu den wissenschaftlichen Aspekten menschlicher Wanderung des Social Science Research Council gegeben. Die Durchführung der statistischen Studie wurde dem National Bureau of Economic Research (NBER) in New York (Prof. Dr. Willcox) anvertraut, welches unterstützt wurde von der Abteilung Migration des International Labour Office (ILO bzw. Internationale Arbeitsorganisation (IAO), Prof. Dr. Ferenczi) in Genf (Schweiz). Das vorliegende Datenhandbuch geht über die Zusammenstellung bekannter, vorliegender Statistiken der einzelnen Länder hinaus. Viele Materialien wurden neben den schon publizierten öffentlichen Statistiken in den Archiven zusätzlich gesichtet und aufbereitet.
Die Forscher sammelten nationale Statistiken und stellten sie in internationalen Tabellen zusammen, soweit es die Datenlage erlaubte. Die besondere Herausforderung dieser Arbeit lag in der Tatsache, dass die Unvollständigkeit der nationalen Migrationsstatistiken steigt, je weiter die Daten in die Vergangenheit zurückreichen. Für jedes Land wurde die Anzahl der Auswanderer nach dem von ihnen angegebenen Zielland bzw. Einwanderungsland erhoben. Weiterhin wurden im Gegenzug für jedes Land die Einwanderer nach dem Land ihrer Abfahrt erfasst. Damit sollte für jedes Land ein Überblick der dieses Land betreffenden Migrationsflüsse erstellt werden. Interkontinentale Wanderungsbewegungen stellen den Schwerpunkt dieser Studie dar. Die kontinentale Wanderung innerhalb Europas und anderen Teilen der Welt wurde jedoch ebenfalls erfasst.
Das Material für die Statistiken wurde beschafft durch die Korrespondenz mit dem ILO und seinen Mitglieds-Staaten (Vereinte Nationen), durch die Zusammenarbeit mit den statistischen Ämtern der jeweiligen Länder und durch Sichtung der Archive.
In den nationalen Datentabellen werden die Migranten zum Zeitpunkt ihrer Abreise aus dem Land ihres gegenwärtigen Aufenthalts bzw. zum Zeitpunkt ihrer Ankunft in dem Land ihres zukünftigen Aufenthaltes erfasst. Bevölkerungsstatistiken oder Arbeitsmarktstatistiken, in denen auch die ausländische Bevölkerung erfasst wird und die daher eine indirekte Schlussfolgerung auf Wanderungsbewegungen zulassen, sind von den Autoren nicht berücksichtigt worden. (Ferenczi und Willcox, 1969, S. 67) Dort, wo Migrationsstatistiken auf der Basis von unterschiedlichen Methoden erhoben wurden, wie z.B. Hafen-Statistiken, Reisepass-Statistiken, oder Grenz-Statistiken, sind die entsprechenden Werte berücksichtigt worden und in den Tabellen wurde auf die Quelle hingewiesen. Dort, wo in den nationalen Migrationsstatistiken Auswanderer nach dem Zielland oder Einwanderer nach ihrem Herkunftsland klassifiziert wurden, wird sich in der Statistik indirekt auf ein anderes Land bezogen. Für die jeweiligen anderen Länder, welche in diesen nationalen Datentabellen erwähnt werden, stellen diese Statistiken eine Art 'indirekte Wanderungsstatistik' dar. Indirekte Statistiken beziehen sich normalerweise auf die Nennung von Ländern (z.B. Herkunftsland). Dort, wo diese Nennungen fehlen, wurde die Nationalität oder die Volkszugehörigkeit der Migranten herangezogen. Weiterhin wird in den Daten zwischen Bürgern des Landes (Dänen, d.h. in Dänemark geborene Bürger) und Ausländern unterschieden. Hierbei wurde immer die Definition des jeweiligen Landes für Staatsbürger und für Ausländer bei der Datenerhebung herangezogen. (Ferenczi und Willcox, 1969, S. 67) Ebenfalls wurde zwischen kontinentalen und interkontinentalen Migrationsbewegungen unterschieden. Eine Migration wird als kontinental bezeichnet, wenn sie zwischen den Territorien verschiedener Länder des gleichen Kontinents stattfindet. Sie wird als interkontinental bezeichnet, wenn Länder unterschiedlicher Kontinente betroffen sind. (Ferenczi und Willcox, 1969, S. 68) Als Regel geben die Autoren folgende persönliche Charakteristiken der Migranten an: Geschlecht, Alter, Nationalität, Beruf, Land des letzten ständigen Aufenthaltsortes und das Land des zukünftigen ständigen Aufenthaltsortes. Diese Eigenschaften wurden auf der Basis der 'International Labour Conference' von 1922, Empfehlung Nr. 19, gewählt. Für Migrations-Statistiken sind die staatlichen Territorien von besonderer Bedeutung. Historische Grenzverläufe und ihre Veränderungen über die Zeit sind von besonderer Bedeutung. So ist es z.B. irreführend, den heutigen Begriff des 'Vereinten Königreichs von England' (United Kingdom) zu verwenden, da seine heutige Bedeutung durch die Etablierung des Freien Irischen Staates sich verändert hat. Daher wird der Begriff 'Britische Inseln' von den Autoren verwendet. Dort, wo sich historische Territorien über die Zeit verändert haben, wurde das neue Territorium in der Hauptüberschrift und das ältere Territorium unterhalb der Hauptüberschrift genannt (z.B.: Ungarn – vor dem Krieg und nach dem Krieg; Irish Free State – Ireland, etc.) (Ferenczi und Willcox, 1969, S. 68) Wo frühere Territorien aufgehört haben, ein selbständiges politisches oder administratives Gebiet zu sein, wurde es unter dem früheren vorherrschenden Gebiet klassifiziert (z.B. wurden Bosnien und Herzegovina unter Österreich platziert). In allen Tabellen werden die Migranten in 12-Monats-Perioden dargestellt, soweit es möglich war. Rechnungsjahre wurden meistens von Kalenderjahren getrennt dargestellt, wobei eine Information über die exakte Periode des Rechnungsjahres in den Anmerkungen gegeben wurde. Wo Statistiken nur für Fünfjahres- oder Zehnjahres-Zeiträume vorlagen, wurde in den Originalquellen nach den jeweiligen Jahresdaten recherchiert. Es kamen für die Studie nur Statistiken offizieller Quellen zur Anwendung. Nur in seltenen Fällen wurde auf sekundäre Quellen zurückgegriffen (Briefe, offizielle Korrespondenzen). Der Vorzug wurde den offiziellen Statistiken mit dem spätesten Datum gegeben. Die Nationalen Statistiken des vorliegenden Datenhandbuches berichten die Berufe in der Klassifikation, die in den Quellen verwendet wurde. Wo möglich, wurde die Untergliederung mit den sechs Klassen 'Landwirtschaft', 'Industrie und Bergbau', 'Transport und Handel bzw. Kommunikation', 'Hausdienstleistungen und Handwerk', 'freie Berufe und öffentliche Dienstleistungen', sowie 'andere Berufe, keinen Beruf, Beruf unbekannt' gewählt. Familienmitglieder, die nicht berufstätig waren, wurden in Kategorie 6 (andere Berufe, keinen Beruf, Beruf unbekannt) eingeordnet. (Ferenczi und Willcox, 1969, S. 70) In den nationalen Datentabellen, in denen die Einwanderer nach dem Land des letzten ständigen Aufenthaltsortes oder nach ihrer Nationalität aufgeführt werden, wurde meistens die Klassifikation der genutzten offiziellen Quelle des jeweiligen Landes beibehalten, wobei die genutzte Klassifikation der USA als Arbeitsgrundlage für eine Vereinheitlichung der Kategorien diente. Wenn die jeweiligen nationalen Untergliederungen sehr viel mehr Klassifikationen hatten als jene der USA, wurden diese Untergliederungen den größeren Gruppen der US-Klassifikation angepasst. Wo es schwierig war, ein Territorium einem Land zuzuordnen, wurde die Klassifikation des 'International Statistical Institute' (ISI) herangezogen. In anderen Fällen wurde die Nationalität oder die Volkszugehörigkeit nach geographischen oder politischen Gesichtspunkten gewählt (z.B.: Juden (nicht spezifiziert) wurden unter den Gruppen 'andere Europäer' aufgeführt. Juden (polnisch) wurden unter 'Polen' aufgeführt. Türken (nicht spezifiziert) wurden unter 'Türken in Asien' aufgeführt, etc.). (Ferenczi und Willcox, 1969, S. 70)
Italien
Vor 1876 wurde die seit mindestens einem halben Jahrhundert bestehende und ab 1860 an Bedeutung gewinnende interkontinentale Auswanderungsbewegung aus Italien nicht durch detaillierte Statistiken einer zentralen Stelle erfasst. Von alters her gab es Wanderungen aus Italien in den Balkan, zur östliche Mittelmeerküste (also in das Gebiet der heutigen Staaten Syrien, Libanon, Israel, Jordanien, was auch als die Levante bezeichnet wird), Nordafrika, Ägypten, Korsika, aber auch in die europäischen Nachbarstaaten, Frankreich, Schweiz, Österreich, etc. Im neunzehnten Jahrhundert erlebte diese Kurzstreckenemigration eine enorme Entwicklung und übertraf bis 1885 bis 1890 die Auswanderung nach Übersee bei weitem. Bei der italienischen Volkszählung von 1861 wurde der erste Versuch unternommen, den Umfang der vorübergehenden Auswanderung in andere Teile Europas zu bestimmen.
I Hafenstatistik von Genua
Die Auswanderung nach Ländern in Übersee begann nach den Napoleonischen Kriegen und beschränkte sich bis in die sechziger Jahre auf die Bewohner Norditaliens. Die frühesten Angaben zur italienischen Auswanderung, sowohl genehmigte als auch nicht genehmigte Auswanderungen, sind für 1819 und spätere Jahre in den Provinzen Lombardei und Venedig - damals unter österreichischer Herrschaft - zu finden. Es ist jedoch unmöglich, die Überseegebiete von der kontinentalen Auswanderung zu unterscheiden, vor allem von Wanderungen in andere Teile Italiens. Nach den Einwanderungsstatistiken der südamerikanischen Länder und der Vereinigten Staaten nahm die Auswanderungsbewegung aus dem nördlichen Teil Italiens im Zeitraum 1840-60 größere Ausmaße an. Die Auswanderer, reisten über Genua aus, auch wenn sie aus Süditalien kamen. Da diese Tatsache seit langem bekannt war, schien es wichtig, genaue Statistiken für diesen Hafen zu erstellen. Die erste Übersee-Reederei wurde 1840 in Genua gegründet. Im Jahre 1846 gab es einen regelmäßigen Schiffs-Verkehr über Marseille und Spanien nach La Plata und Brasilien. Bis 1869 repräsentierte die Hafen-Statistik von Genua die Migration für ganz Italien. Eine rechtliche Grundlage für die Erstellung regelmäßiger Passagierlisten und damit für die Erstellung von Auswanderungsstatistiken bildete die Verordnung Nr. 3251 des Königreichs Sardinien über die Regelung des Personenverkehrs auf Überseestrecken im Jahre 1859. In Genua bemühten sich die Autoren vergeblich, die Original-Listen zu finden, auf denen die Statistiken beruhen, und sie suchten die Unterlagen zusätzlich im Marinebüro des Hafens und im Polizeipräsidium Genuas. Die Passagierlisten sind einmal durch ein Feuer, und später durch Entsorgung vernichtet worden. Die Genauigkeit, mit der die Zahlen von Genua die tatsächlichen Übersee-Emigranten aus ganz Italien beziffern, lässt sich an den Angaben in den Publikationen von Carpi (Carpi, L. (1874): Delle Colonie e della Emigrazione italiana all'Estero. Milan.) und Florenzano (Florenzano, G. (1874): Della Emigrazione italiana in America. Maples.) zur Auswanderung über andere italienische Häfen für 1870, 1872 und 1873 bewerten. Folgende Einschränkungen hat die Hafen-Statistik Genuas: 1. Die Auswanderungsstatistik von Genua umfasst nicht die illegalen Auswanderer, die sich auf ausländischen Schiffen außerhalb der italienischen Häfen einschifften. 2. Viele Auswanderer aus Übersee haben die kontinentalen Grenzen als temporäre Auswanderer oder ohne Pass überquert und sind somit nicht in der Hafen-Statistik erfasst. 3. Schließlich reisten immer mehr Italiener mit der Bahn zu ausländischen Auswanderungshäfen, und tauche damit ebenfalls nicht in der Hafen-Statistik Genuas auf. 4. Es sind – wie schon erwähnt – die frühen Aufzeichnungen durch Feuer und durch behördliche Entsorgungsmaßnahmen vernichtet worden. Für italienische Auswanderer, die über französische Häfen nach Nord- oder Südamerika reisen, sind nach 1856 Angaben verfügbar. Diese Angaben ermöglichten es den Autoren, die Zahlen von Genua zu vervollständigen.
II Die Statistik von L. Carpi (wiss. Publikation)
L. Carpi hat 1869 den ersten Versuch unternommen, die wachsende italienische kontinentale und interkontinentale Auswanderung zu untersuchen und eine Zusammenarbeit der italienischen Präfekten zu erlangen. Die Tabellen bieten einen allgemeinen Überblick über die Auswanderung – sowohl temporäre als auch illegale bzw. nicht genehmigte Auswanderungen – in den Jahren 1869-1875. Den Angaben von Carpi´s Reisepass-Statistik für das Jahr 1869 folgend unterscheidet sich die genehmigte Auswanderung (vorwiegend in nichteuropäische Länder) nur wenig von den Statistiken des Hafens von Genua. Von den 14040 illegalen Emigranten, die Capri erwähnt und die offiziell registriert wurden und damit nicht vollständig sind, muss ein kleiner Teil über italienische Häfen ausgewandert sein, aber der größte Teil sollte der Auswanderung durch ausländische Häfen oder in andere Teile Europas zugeschrieben werden. Aus verschiedenen Gründen, insbesondere wegen der zunehmenden Auswanderung über andere Häfen, weichen seine Zahlen für den Zeitraum 1871 bis 1873 stärker von denen Genuas ab.
III Statistiken des Nationalen Statistischen Amtes
Von 1876 bis 1920 veröffentlichte das Statistische Amt jährlich offizielle Berichte. Bis 1904 basierte die Statistik auf kommunalen Bescheinigungen, die Anträge auf Auswanderung genehmigten. Personen, denen Pässe ausgestellt wurden, wurden nicht unbedingt als Auswanderer erfasst. Ein Auswanderer ist eine Person, für die die folgende Definition für Auswanderer gemäß des Auswanderungsgesetzes vom November 1919 gilt: Es gilt jeder Staatsbürger als Auswanderer … , der das Land ausschließlich zum Zwecke der Arbeit oder zur Ausübung einer geringfügigen Tätigkeit verlässt oder der sich wieder mit Ehefrau oder Ehemann, Eltern oder anderen Vorfahren, mit Kindern oder anderen Nachkommen, mit Geschwistern und anderen Verwandten zusammenschließt, die zuvor zum Zwecke der Arbeit ausgewandert sind. Des Weiteren gilt jeder als Auswanderer, der an einen ausländischen Bestimmungsort zurückkehrt, den er zuvor unter den in diesem Abschnitt genannten Bedingungen als Auswanderer verlassen hat, um in Italien sich anzusiedeln. Bis 1903 unterschied die italienische Statistik periodische bzw. saisonale Auswanderung von der dauerhaften Auswanderung, aber es war nicht immer möglich, sich auf diese Unterscheidungen zu verlassen, die auf den Angaben des Auswanderers basierten. 1915 wurde die Erhebungsmethode verändert, indem die vierteljährliche Überprüfung der Reisepässe ersetzt wurde durch den Einsatz von Formularen, mit deren Einsatz die örtlichen Polizeibehörden Informationen von den Auswanderern erhoben. Hierdurch konnten exaktere, umfangreichere Informationen erhoben werden. Die Publikation dieser erhobenen Daten in 'Statistica della emigrazione italiana per l'estero' gibt die Daten hinsichtlich der räumlichen Verteilung der Auswanderer (d.h. nach ihren Wohnorten in Italien), nach Orten in Europa oder nach Orten in Übersee wieder. Statistiken über zurückkehrende Auswanderer basieren auf Passagierlisten, die von den Betreibern der Schifffahrts-Gesellschaften an italienische Behörden weitergeleitet wurden.
IV Statistiken der Auswanderer-Behörde
Die Statistik der Auswanderer-Behörde wurde zunächst mit Hilfe von Passagierlisten der Schifffahrtsgesellschaften geführt. Sie beziehen sich auf italienische Übersee-Migranten, die sich an Seehäfen Englands ein- oder ausgeschifft (also dort an Bord oder von Bord eines Schiffes gegangen sind) haben oder die das Land verlassen haben, um sich in einem ausländischen Hafen einzuschiffen. Auswanderer, die als Zielland ein mediterranes Land – inkl. Marokko – angegeben haben, wurden als kontinentale Migranten erfasste. Die Auswanderungsstatistik enthält nicht die Angaben der Italiener für die ersten sechs Monate des Jahres 1920, die in ausländischen Häfen an Bord eines Schiffes gegangen sind. Bis 1920 wurden die Informationen bezüglich überseeischer Auswanderung erfaßt; erst danach sind auch Angaben zur kontinentalen Emigration aufgenommen worden. Die Einführung neuer Reisepässe, in denen festgehalten wurde, ob jemand auswandert oder wieder zurückkehrt, führte zu einer differenzierteren Erfassung der Wanderungsbewegung. Bezüglich der Statistik zu den Berufen der Auswanderer merkt der Autor an, das bis 1903 nur Personen über 14 Jahre erfasst wurden, während in den nachfolgenden Jahren von 1904 bis 1915 der Beruf von Personen über 15 Jahren erhoben wurde. Spätere wurde wiederum die Definition für die Erwachsenen geändert: 1916 bis 1920 wurde als erwachsen erfasst, der bis 15 Jahre und älter war, 1921 bis 1924 wurden Personen über 15 Jahre zu den Erwachsenen gezählt.
Tabellen
A. Hafenstatistik Genua A.01 Auswanderung nach Amerika, 1856-1873
B. Wissenschaftliche Publikation: Auswanderungsstatistik von L.Capri
B.01 Auswanderung italienischer Bürger, 1869-1876 B.02 Verteilung italienischer Auswanderer nach Geschlecht, 1871-1876 B.03 Verteilung italienischer Auswanderer nach Alter, 1872-1876 B.04 Verteilung italienischer Auswanderer nach Beruf, 1869-1876 B.05 Italienische Auswanderer nach Zielland ihrer Auswanderung, 1869-1876
C. Statistisches Amt Italien
C.01 Italienische Auswanderer nach außer-europäischen und mediterranen Ländern, 1876-1920 C.02 Italienische Auswanderer – Kinder bis 14 Jahre und Erwachsene ab 15 Jahre – nach Geschlecht und Alter, 1876-1914 C.02a Italienische Auswanderer nach Geschlecht und Altersgruppen, 1915 – 1920 C.03 Italienische Auswanderer ( – dauerhafte Auswanderung und saisonale Auswanderung – ) nach Geschlecht, 1876 – 1903 C.03a Italienische Auswanderer ( - dauerhafte Auswanderung und saisonale Auswanderung - ) nach Geschlecht und Altersgruppen, 1876 – 1903 C.04 Italienische Auswanderer nach Beruf, 1903 – 1915 C.04a Italienische Auswanderer im Alter über 15 Jahre nach Beruf, 1916 – 1920 C.05 Italienische Auswanderer nach Zielland ihrer Ausreise, 1876-1920 C.06 Verteilung der Auswanderer nach Beruf und Zielland ihrer Ausreise, 1915 - 1920 C.07 Interkontinentale Einwanderung von italienischen Bürgern und Ausländern nach gebuchter Passagierklasse (1. und 2. Klasse), 1884 – 1920 C.08 Interkontinentale Einwanderung nach Land des letzten Aufenthalts (Passagiere der 3. Klasse), 1884 – 1924
D. Statistik der Auswanderungs-Behörde Italiens
D.01 Interkontinentale Auswanderung italienischer Bürger nach Zielland, 1902 – 1924 D.02 Verteilung der italienischen Auswanderer in ausser-europäische Länder nach Geschlecht und Alter, 1921 – 1924 D.03 Verteilung der italienischen Auswanderer im Alter über 15 Jahre und mit Ziel eines ausser-europäischen Landes nach Beruf, 1921-1924 D.04 Italienischen Auswanderer mit Ziel eines europäischen Landes nach Geschlecht und im Alter bis 15 Jahre und über 15 Jahre (also Kinder und Erwachsene), 1921 – 1924 D.04a Italienische Auswanderer mit Ziel eines europäischen Landes nach Beruf und im Alter von über 15 Jahren, 1921 – 1924 D.05a Kontinentale Auswanderung der Italiener nach Zielland der Auswanderung (Reisepass-Daten), 1921-1924 D.05b Kontinentale Auswanderung nach Zielland (korrigierte Tabelle D.5 unter Verwendung zusätzlicher statistischer Informationen), 1921-1924 D.06 Einwanderung (Rückwanderung) von Italienern aus interkontinentalen Ländern nach Geschlecht und Alter, 1921 – 1924 D.07 Einwanderung (Rückwanderung) italienischer Bürger aus kontinentalen Ländern nach Geschlecht, 1921 – 1924
Wäre die Gegenwart eine andere, hätte im Mai 2020 die achte Ausgabe der Konferenz "Theater und Netz", einer Initiative von nachtkritik.de und der Heinrich-Böll-Stiftung, stattgefunden. Stattdessen ergab sich für Theaterschaffende, Kritiker*innen und Publikum reichlich Gelegenheit, das Verhältnis von Theater und Netz in actu auszuloten: Durch die Ausgangsbeschränkungen befeuert, verlagerte sich das Theatergeschehen in die digitale Experimentierstube. Im Oktober erschien nun der Band Netztheater, der in 21 Beiträgen die Erfahrungen der vergangenen sechs Monate reflektiert –fundiert durch die Expertise der im Format "Theater und Netz" seit 2013 geleisteten Pionierarbeit. Die Kürze der zwei- bis siebenseitigen Beiträge, gepaart mit der Erfahrungsdiversität aus Herstellung, Rezeption und wissenschaftlicher Auseinandersetzung, hat entscheidende Vorteile: Hier wird nicht lange umständlich unter Ausrufung irgendeines "Post-" herumgeredet oder die beliebte Formel strapaziert, Theater müsse "neu gedacht" werden. Die Beitragenden verbindet die gemeinsame Sache und so kommen sie rasch zum Punkt. Als Hybrid aus theoretischen Positionen und reflektierender Praxis bündelt die Publikation praktisch verwertbares und weiterentwickelbares Wissen kompakt und beinahe in Echtzeit. Daher verhandelt diese Rezension die Beiträge nicht chronologisch, sondern führt einander ergänzende Perspektiven zu zentralen Aspekten wie Dramaturgie, Community, Interaktion etc. kommentierend zusammen: Der Band eröffnet mit einem Praxisbericht des geglückten Burgtheater-on-Twitter-Experiments #vorstellungsänderung, das tausende Mittweeter*innen auch abseits des Abopublikums rekrutierte. Projekte wie dieses geben Hoffnung, dass die Theater, die sich im Netz oft als singuläre kulturelle Leuchttürme gebärden, durchaus von den Praktiken der Sozialen Medien profitieren können: Like, share, comment, retweet sind schließlich nichts anderes als digitale Kürzel für gemeinschaftsstiftende Interaktionen, basierend auf Emotion, Zuspruch, Diskussion und Multiplikation. Vielleicht sind in Zukunft ja auch vermehrt offen und öffentlich geführte Dialoge zwischen Theaterhäusern zu erwarten? Netztheater geht davon aus, dass die Suche nach digitalen künstlerischen Ausdrucksformen sich nicht erst daraus ergibt, dass Hygieneregeln und Distanzierungsvorgaben die Modi des Zuschauens kurzfristig verändert haben. Auch tradierte Annahmen über das Publikum sind zu überprüfen. In ihrem kollaborativen Text "Das Theater der Digital Natives" beobachten Irina-Simona Barca, Katja Grawinkel-Claassen und Kathrin Tiedemann, dass die Digitalisierung längst "in Form von Alltagstätigkeiten und Wahrnehmungsweisen" (S.16) im Theater angekommen sei. Das Theater ist kein geschützter Ort, an dem die Zeit stehen geblieben ist. Vielmehr tragen die Zuschauer*innen die Welt, in der sie leben, unweigerlich in ihn hinein. Das betrifft auch Praktiken des Multitaskings bzw. des 'Second Screen', also die Gleichzeitigkeit mehrerer Interfaces und Informationsquellen. Jahrhundertelang war der zentralperspektivische Blick der Barockbühne prägend für die Organisation einer exklusiven Aufmerksamkeit im Theater. Wiewohl es also eine neue Erfahrung für die Theaterhäuser ist, "Nebenbeimedium zu sein" (S. 20), wie Judith Ackermann betont, ist es höchste Zeit, diese 'verstreute' Aufmerksamkeit im Inszenierungsprozess aktiv mitzudenken und gezielt einzusetzen. Dabei ist die Diversität des Publikums inklusive der unterschiedlich ausgeprägten Media Literacy zu beachten, denn nicht alle Zuschauer*innen werden sich augenblicklich z. B. in einer gamifizierten virtuellen Umgebung zurechtfinden: "Indem ich im digitalen Raum Zusatzinformationen – Hintergrundinfos zum Stück, zur Produktion – zu meinen Inszenierungen streue, kann ich zum Beispiel auch dem 'analogen Publikum' einen Mehrwert bieten, der es aber nicht verschreckt." (S. 22) Für eine Dramaturgie des Digitalen ist Aristoteles allenfalls partiell ein guter Ratgeber. Zu viele Komponenten sind neben 'der Story an sich' an der Architektur der Erzählung beteiligt. Einige Elemente des 'klassischen' Storytellings lassen sich psychologisch für den digitalen Raum begründen: Das Überschreiten der 'Schwelle' etwa wird als zentraler Moment markiert, zumal die Spielregeln für das Dahinterliegende noch nicht festgelegt sind – die Verständigung auf "Floskeln, Rollen und Situationen" (S. 71) hat erst zu erfolgen. Friedrich Kirschner, Professor für digitale Medien an der Ernst Busch Berlin, schlägt vor, die zur Vermittlung von "Rollen- und Erlebnissicherheit" (ebd.) dringend nötigen Ausverhandlungsprozesse im Rahmen der jeweiligen Inszenierung ästhetisch zu gestalten. Dabei setzt er auf ein Miteinander, "das im Gegensatz zu den treibenden Kräften der Plattformhalter auf Erkenntnis gerichtet ist; das Handlungsfähigkeit vermittelt anstelle von Determinismus" (S. 73). In diesem Sinne schlägt Ackermann überdies vor, "modular" zu denken, also "leichte Ein- und Ausstiegsmöglichkeiten" zu schaffen, "indem man immer wieder die Möglichkeit gibt dazuzustoßen" (S. 21). Wiederholt wird das Serielle als Chance für neue Theaterformen ausgewiesen, beispielsweise um "durch gemeinsames, geteiltes Wissen über einen langen Zeitraum […] eine Beziehung zu Figuren auf[zu]bauen, sie mit der eigenen Lebensrealität ab[zu]gleichen und mit Freund/innen [zu] diskutieren" (S. 72), wie Kirschner in "Teilhabe als Notwendigkeit: Theater als Raum pluraler Gemeinschaften" schreibt. Um diese Gemeinschaftsbildung ist es auch Christiane Hütter zu tun: Die Community ist das Herzstück des Theaters, weshalb die künstlerische Energie aktuell vor allem darauf zu verwenden sei, "dass Leute wiederkommen, dass sich Routinen und Rituale entwickeln, dass serielle Formate entstehen" (S. 45). Diese Community aufzubauen, "das ist ein Handwerk, das eine Strategie, Zeit und Inhalte benötigt" (S. 30), weiß auch Christian Römer, Referent für Kulturpolitik und Neue Medien der Heinrich-Böll-Stiftung, in seinem Plädoyer "Für ein Theater @home!". Essentieller Bestandteil dieser Strategie, die vorerst noch strategisch auf eine Gemeinschaft "vor der Bezahlschranke" setzen müsse, sei die "Arbeit an der eigenen Identität als Theater im Netz" (ebd.). "Ein Schaufenster in die eigene Vergangenheit stärkt die Bindung des Publikums an 'sein' Theater." (S. 29) Man möchte hinzufügen, dass die "Verbindung zur [eigenen] Geschichte" (ebd.) auch nach Innen identitäts- und strukturbildend wirken und so womöglich die ein oder andere Erschütterung abfangen kann, die die Theaterschaffenden gegenwärtig persönlich und als Gemeinschaft erleben. Wie zugkräftig Selbstmarketing bzw. 'Branding' in Sachen Follower*innenschaft ist, lässt sich beispielsweise bei erfolgreichen Influencer*innen beobachten. Der Dramatiker und Dramaturg Konstantin Küspert zeigt in "Sozialmediale Theaterräume: Die performative Parallelwelt von TikTok" überaus schlüssig auf, welche "Grundelemente theatraler Praxis" in Social-Media-Formaten zu finden sind: "TikToks müssen, um erfolgreich zu sein, praktisch immer eine Pointe haben, meistens überraschend und lustig, und damit grundsätzliche Elemente einer Narration – teilweise regelrechte Fünf-Akt-Strukturen oder Rekontextualisierungen im Miniformat – nachbauen." (S. 26) Auffällig sind auch Praktiken des Samplings, wie sie schon in Hans-Thies Lehmanns Postdramatische[m] Theater, das jüngst seinen zwanzigsten Geburtstag feierte, zu finden sind: Denn auch bei TikToks wird "reinszeniert, kontextualisiert und koproduziert" (ebd.). Aber manchmal ist es gerade das Ähnliche, das trennt. Man stelle sich etwa einen Burgschauspieler auf der Bühne eines Kölner Karnevalsvereines vor. So verlockend wasserdicht die von Küspert angestrengte Gleichung auch anmutet, lässt sich eigentlich nur in der konkreten Anwendung überprüfen, "was vom eigenen Formenrepertoire übersetzbar ist" (S. 84). Der schmerzliche Verlust öffentlicher Orte, zu denen auch das Theater als Raum der gesellschaftlichen Verständigung gehört, zieht sich leitmotivisch durch die Texte des Sammelbandes. "Die Corona-Krise ist eine Krise der Versammlung" (S. 35), bringt Dramaturg Cornelius Puschke diesen Umstand zu Beginn seines "Plädoyer[s] für 1000 neue Theater" auf den Punkt. Dass es sehr wohl auch im Internet Formen von Gemeinschaftsbildung gibt, die sich auf dezentrale Weise organisieren, beobachtet Christiane Hütter mit kritischem Interesse: "QAnon und Konsorten glänzen mit orchestriertem Storytelling, outgesourced an viele, mit einem übergeordneten World-building-Framework, das Inkonsistenzen erlaubt" (S. 41). Eine Aufgabe des Theaters könnte es sein, positive Gegenangebote zu entwerfen, die dieser Sehnsucht nach Gemeinschaft, Austausch und gemeinsamer Erzählung entsprechen. Wie aber können solche Dialog und Austausch befördernden Formate aussehen? Die interdisziplinäre Künstlerin und Game Designerin Christiane Hütter, aus deren Feder insgesamt drei Texte des Bandes und zwei Interviews stammen, entwirft zu diesem Zweck eine "Typologie von Interaktion, Kollaboration und Partizipation" in übersichtlich tabellarischer Form, denn häufig enttäuschten 'interaktive Stücke' durch "Pseudo-Interaktions-Möglichkeiten" oder "asymmetrische Interaktion" (S. 44). Angesichts der pandemiebedingten Einschnitte in die Möglichkeit, durch Handlungen 'stattzufinden', ist es eine der wichtigsten Herausforderungen an Inszenierungsprozesse, die Agency der Zuschauer*innen sinnvoll zu integrieren. Die Nachtkritikerin Esther Slevogt plädiert explizit dafür, die Webseiten der Theater als "Portale in den digitalen Raum" und "Interfaces" (S. 109) zu behandeln. Diese verstehen sich gegenwärtig eher als Sende- denn als Empfangskanäle; die einstigen Gästebücher sind längst in selbstverwaltete Facebook-Gruppen migriert und bilden hier den kulturkritischen Versammlungsort einer recht spezifischen Theaterklientel. Eine Brücke zwischen analog und virtuell, Inszenierungs- und Alltagsgeschehen könnten hybride Formate herstellen. Der Theaterregisseur Christopher Rüping beschreibt Hybridität durchaus als Challenge, weil "sich die kulturellen Praktiken des einen und des anderen so beißen". Eine Inszenierung, die so divergente Rezeptionsbedingungen berücksichtigt, sei entsprechend komplex im Herstellungsprozess und müsste "auf achtzehn Ebenen gleichzeitig" funktionieren: "Interaktivität, die nur im digitalen Raum stattfindet, während ich analog zuschaue und davon ausgeschlossen bin, ist merkwürdig." (S. 94) Zudem ist es auch für Darsteller*innen eine neue Erfahrung, auf die weder Ausbildung noch bisherige Praxis sie angemessen vorbereitet haben. So stellt Ackermann die berechtigte Frage: "Wie kann den Schauspieler/innen das Gefühl vermittelt werden, dass sie keinen Film machen, sondern dass sie mit Personen interagieren, die nicht Teil der performenden Gruppe sind – auch wenn diese Personen nicht physisch kopräsent sind?" (S. 21) 'Gemeinsames Erzählen' prägt die Entstehungsgeschichte unserer Kultur, Gesellschaft und Sozialisation. Keine Entwicklung ohne Kooperation, keine Innovation ohne Vorstellungsvermögen. Netztheater könnte ein System der jahrhundertelangen Professionalisierung von Theater neu in Bewegung bringen, weil es Expertisen unterschiedlicher Provenienz bedarf und den Grundgedanken von Crowdsourcing in Schaffensprozesse integriert. Aber sind wir wirklich bereit für künstlerische Formate mit offenem Ausgang? Widerspricht das nicht dem Prinzip von Inszenierung? Müsste man das Profil der Regie – der ja gerade im deutschen Sprachraum besondere Deutungshoheit zukommt – womöglich neu definieren? Aktionen von Zuschauer*innen, die aktiv am Handlungsverlauf mitschreiben, sind schwer zu antizipieren; die Interventionen von Trollen und Bots brechen unerwartet in den Handlungsverlauf ein. Aber vielleicht ist es angesichts der Erschütterungen von 2020 gar keine dumme Idee, statt vorgefertigter Handlungsbögen flexibel adaptierbare Aktionsmodelle zu entwerfen, mit denen auf den Einbruch des Unvorhergesehen reagiert werden kann. Frank Rieger vom Chaos Computer Club beforscht Mixed-Reality-Projekte bereits seit den 1990er-Jahren. "Hybride Räume, digitale und interaktive Formate" hätten bereits eine lange Geschichte, allerdings gäbe es immer wieder "unrealistische Annahmen über das, was die Technik am Ende leisten können wird" (S. 61). Mitunter behindere aber gerade die entgegengesetzte Annahme die Umsetzung: "Man kriegt ein staatliches Theater für eine große Produktion nur dazu, das auch im digitalen Raum zu machen, wenn die das gleiche Gefühl von ernsthafter Technik haben" (S. 94), weiß Regisseur Christopher Rüping aus eigener Erfahrung. Andere Internetformate bewiesen, dass es nicht immer schweres Gerät erfordert, denn "im digitalen Raum dieses Erlebnis [von Gemeinschaft] zu stiften" sei etwas, das "jedem mittelmäßigen Streamer gelingt" (ebd.). Die Ursache für solche Trugschlüsse sieht Rieger in der Inselexistenz, die viele Theater fristen. Der Branche fehle noch immer eine "breite Kultur des ehrlichen Erfahrungsaustausches, der Diskussion von technischen, inhaltlichen und Projektmanagement-Fehlern" (S. 62), sodass das Rad immer wieder neu erfunden werden müsse. Dem entgegenzuarbeiten beabsichtigt die im vergangenen Jahr gegründete Dortmunder Akademie für Digitalität und Theater. Gemäß ihrer Open-Source-Strategie will sie "Nerdkultur […] ins Theater reinbekommen" (S. 67) und die Erkenntnisse ihrer prototypischen Arbeit in Tutorials, Talks und Wikis zugänglich dokumentieren. In ihrer Auswertung der Netztheaterexperimente des ersten Pandemie-Halbjahres bemerken die Bandredakteur*innen Sophie Diesselhorst und Christian Rakow, dass "das Gros […] piratischen Charakter" hatte. "Es entstammte der Freien Szene oder ging auf Initiativen von Einzel-Künstler/innen zurück, die sich ihre eigene Infrastruktur bauten und einfache technische Lösungen jenseits des Stadttheater-Apparats fanden." (S. 89) Man kann annehmen, dass dieser Innovationsgeist zumindest teilweise der Not geschuldet war. Denn selbst Projekte an etablierten Häusern sind häufig von externen Zusatzförderungen abhängig. Um über den eigenen Guckkasten hinauszudenken, haben einige Theater bereits Kontakt zu freien Künstler*innen und Kollektiven aufgenommen. "Es gibt viele kleine Aufträge von Theatern, die sagen: 'Wir wissen nicht, wie es weitergeht. Wollen Sie etwas ausprobieren?'" (S. 97), schreibt die britische Kritikerin Alice Saville. Diese vorsichtige Kontaktaufnahme birgt die Chance, das Gespräch darüber zu beginnen, wie sich festgefahrene Strukturen künstlerisch und wirtschaftlich öffnen lassen. Eine Möglichkeit wäre, Theater künftig als "Agenturen für das Dramatische" zu denken, wie am 13.11.2020 bei der Onlinetagung "Postpandemisches Theater" vorgeschlagen wurde, die ebenfalls auf die Initiator*innen des Sammelbandes zurückgeht. Für die Pluralität und Interdisziplinarität der Branche steht übrigens auch, dass keine der Autor*innenbiographien einen linearen Verlauf aufweist, geschweige denn sich auf eine einzige Berufsbezeichnung zurückführen ließe. Eine der aktuellen Herausforderungen besteht darin, Jobprofile zu überdenken. In Christiane Hütters Entwurf für ein "Theater der Gegenwart" ändert sich die Organisationsstruktur auch auf der Leitungsebene: "Es geht in Zukunft vor allem auch darum, die Gesamtprozesse zu koordinieren, Projektmanagement zu machen, Herstellungsleitung für Situationen, Care-Arbeit fürs Team." (S.45) Ein Kernanliegen der Publikation ist das Plädoyer für eine 'vierte', digitale Sparte – wobei zu bemerken ist, dass das digitale Theater sich diesen vierten Platz vielerorts mit dem Theater für junges Publikum teilt. Dieser Befund ist symptomatisch, werden doch Digitalität und Jugend oft zusammengedacht. Berücksichtigt man die zeitliche Dimension –"in naher Zukunft wird es nur noch Digital Natives geben" (S. 16) – wird rasch klar, dass es sich um eine voreilige Schlussfolgerung handelt. Die sich andeutende Marginalisierung verheißt wenig Gutes für die so dringend nötigen Finanzierungsstrukturen und Fördermodelle, zumal auch die Verantwortung, diese 'vierte Sparte' zu gestalten, damit demselben Personenkreis zugesprochen wird. Folgerichtig wird immer wieder sachlich bemerkt, dass zum Aufbau einer künstlerischen Infrastruktur tatsächliche Ressourcen in Form von Zeit, Geld und neuen Stellenprofilen am Theater benötigt werden. Einige Häuser haben bereits erste Schritte gesetzt und beschäftigen neben Positionen wie Social Media oder – neudeutsch – Community Management nun auch Programmierer*innen. Das Staatstheater Augsburg, das sich bereits im Frühjahr "einen Namen als VR-Hochburg mit einem umfangreichen Spielplan an Virtual-Reality-Produktionen" (S. 99) machte, hat mit Beginn der Spielzeit 2020/21 Tina Lorenz als "Projektleitung für Digitale Entwicklung" eingestellt; das Schauspielhaus Zürich holte für seine Webserie Dekalog den Designer für Virtuelle Interaktion, Timo Raddatz, ins Boot. Für eine "Digitale Sparte" argumentiert auch Elena Philipp, die die Münchner Kammerspiele, das Staatstheater Augsburg und das Hebbel am Ufer als Case Studies ins Feld führt. Die Nutzung digitaler Technologien beschränkt sich aber naturgemäß nicht nur auf die künstlerische Außenwirkung, sondern bietet auch ganz praktische Lösungen: Produktionsvorgänge –und sogar der ökologische Fußabdruck –können beispielsweise durch 'virtuelle Bauproben', 3D-Modelle und die Nutzung von Extended Reality (XR) wesentlich erleichtert werden. Mit der routinemäßigen Nutzung digitaler Technologien stehen auch neue Inhalte in Aussicht. Derzeit erfahre die Form zu große Aufmerksamkeit, zitiert Philipp Tina Lorenz, die konkrete Vorschläge für inhaltliche Schwerpunkte abseits der tausendsten Neuauflage von Goethe und Schiller macht: "Noch ist das Medium die Message, aber wir müssen Geschichten für das digitale Zeitalter entwickeln, über die Gig Economy, Smart Cities oder darüber, wie Kommunikation, Aktivismus und soziale Bewegungen im 21. Jahrhundert funktionieren." (S. 102) Der Blick der Herausgeber*innen inkludiert auch Länder, deren staatliche Subventionsstrukturen weit weniger privilegiert beschaffen sind als im deutschsprachigen Raum. Alice Saville stellt in ihrem Beitrag "Keine Show ohne Publikum" einige Beispiele aus "Großbritanniens immersive[r] Theaterszene im Lockdown" vor, die ja aufgrund ihrer Organisationsform –weit mehr Touring Companies als feste Ensembletheater –ein gewisses Training in innovativer Raumgestaltung besitzt. Der Stadtplaner und Theaterleiter Trevor Davies berichtet von seinen Erfahrungen mit der hybriden Performancereihe "Wa(l)king Copenhagen", für die 100 Künstler*innen eingeladen wurden "ab dem 1. Mai 2020 über 100 Tage lang 100 kuratierte zwölfstündige Walks […] über stündliche Livestreams digital [zu] übertragen" (S. 54). Und die Kuratorin und Kritikerin Madly Pesti erzählt am Beispiel Estlands, bei dem sich die Einwohnerzahl und die Summe der jährlichen Theaterbesuche entsprechen, von der gelungenen Kooperation von Theaterhäusern und Rundfunk, die auf ein über Jahrzehnte gepflegtes Verhältnis zurückgeht: Da die Rechte der beteiligten Künstler*innen vom Estnischen Schauspielerverband vertreten wurden, konnte eine Sonderregelung für die Dauer des Ausnahmezustands verhandelt werden, um die künstlerischen Arbeiten im kulturellen Webportal des Nationalrundfunks kostenlos zugänglich zu machen. Angesichts des vergleichsweise neuen Terrains muss das Theater sich fragen, was es aus den Erfahrungen anderer Branchen lernen kann. Denkt man beispielsweise an die wirtschaftlichen Nöte des Onlinejournalismus und die mühsame Etablierung von Paywalls, ist es sinnvoll, frühzeitig über Verwertungsmodelle bzw. den Preis von 'gratis' nachzudenken. Es gilt zu prüfen, inwiefern Limitation (zeitlich, kapazitär, Ticketing), Exklusivität (Sonderformate, Blicke hinter die Kulissen, Stichwort Onlyfans) oder Partizipations- und Mitgestaltungsoptionen als wertsteigernde Maßnahmen praktikabel und tragfähig sind. Im Kontext von Big Data ist zudem branchenweit zu diskutieren, wie sich Theaterhäuser zu privatisierten Plattformen, die ja den digitalen Raum dominieren, verhalten sollen. Erschwerend kommt hinzu, dass die ungeklärte Rechtesituation im deutschsprachigen Raum auf Netztheaterexperimente nachgerade innovationsfeindlich wirkt. "Man kann nicht Theater im Internet machen und dann aber straight die Copyright-Gepflogenheiten des Analogen anwenden wollen" (S. 93), spricht die Dramaturgin Katinka Deecke im Interview ein Feld mit raschem Klärungsbedarf an. Wiewohl alle Texte von den Lehren aus spezifischen Best Practices leben – schließlich werden die neuen Ausdrucksformate von Pionieren "des Ausprobierens, Aneignens und Entdeckens" (S. 76) entwickelt – versammelt die Publikation in einem eigenen "Produktionen"-Kapitel gezielt Besprechungen einzelner Projekte. Sinnigerweise stammen diese Texte mehrheitlich von Menschen, die berufsbedingt einen größeren Überblick über die Rezeption der Szene besitzen: Kritiker*innen und Redakteur*innen. So kommt Elena Philipps Untersuchung des "Aufbau[s] von Online-Programmen an Theatern" beispielsweise zu dem Schluss, dass "begleitend zu einer Theaterästhetik" – beispielsweise "für Virtual-Reality-Umgebungen" – auch "das Publikum dafür entwickelt" (S. 101) werden müsse. Der Umgang mit neuer Technologie ist schließlich für alle Beteiligten zunächst eine Terra incognita. Sophie Diesselhorst berichtet vom Online-Zusammenspiel der "Netztheater-Experimente aus Schauspielschulen", etwa der vielbeachteten Produktion Wir sind noch einmal davongekommen der Münchner Theaterakademie August Everding, die sich das Artifizielle des Mediums spielerisch überhöht zunutze machte und vermittels kluger Discord-Regie die Videokästchen in Bewegung setzte. Schade, dass die zitierten Experimente nicht zur Nachschau verlinkt bzw. verfügbar sind. Ein Grund hierfür könnte neben der prinzipiellen Unverfügbarkeit einmalig ausgestrahlter Livestreams sein, dass auch andere Quellen knapp einen Monat nach Erscheinen der Publikation bereits der 'Transitorik' des Internets zum Opfer gefallen sind. "Virtuelle[n] Festivalauftritte[n]" widmet sich Esther Slevogt, allen voran dem Berliner Theatertreffen mit seinen streambegleitenden Sonderformaten, die mittels Chat und Videotelefonie erstmals Fachdiskurse, die sonst wenigen Eingeweihten vorbehalten sind, mitsamt den dazugehörigen Gesichtern im Internet teilten. Für das Festival Radar Ost entwarf das Künstlerduo CyberRäuber ein weboptimiertes 360-Grad-3D-Modell des Deutschen Theaters, innerhalb dessen in verschiedenen 'Räumen', inklusive der Unterbühne, Veranstaltungen im Videoformat eingesehen werden konnten. Rückgriffe auf analoge Formate – die Berliner Volksbühne entschied sich etwa für eine Magazinanmutung bei der Gestaltung ihres Festivals Postwest – können laut Slevogt durchaus inspirierend sein: Als "Transfererleichterung für das Denken immaterieller Räume" genüge mitunter eine simple Lageplanskizze, wie es schon 1995 die Association for Theatre in Higher Education der Universität Hawai'i bewies. Wenn es gilt "Übergangsschleusen von der analogen in die digitale Welt benutzer/innenfreundlich zu gestalten", votiert Slevogt ganz klar für "Pragmatismus" (S. 109). Netztheater räumt mit dem weitverbreiteten Missverständnis auf, dass das Digitale allenfalls ein Substitut für 'das Echte' sei. Es ist an der Zeit, sich von falsch verstandenen Authentizitätsdiskursen und einer Überbetonung der 'leiblichen Ko-Präsenz', die die Theaterwissenschaft – die ja damit eine ganz eigene Agenda vertrat – an das Theater herangetragen hat, zu verabschieden. Netztheater will niemandem etwas wegnehmen. Es will das tradierte Theater keineswegs abschaffen, nicht den intimen Moment der Begegnung zweier Menschen ersetzen. Es sucht vielmehr nach technologisch unterstützten Erzähl- und Interaktionsformaten, in denen solche Begegnungen ebenfalls möglich sind. Das Digitale hat unser Denken bis in seine neurologischen Strukturen hinein verändert, die Art, wie wir kommunizieren und interagieren, wie wir uns organisieren, uns in der Welt verorten. Es hat sich in unser Verhältnis zu unseren Körpern eingeschrieben, unseren Zugang zu Wissen erleichtert und auf Herrschaftswissen basierende Hierarchien abgeschafft oder zumindest verschoben. Die Fülle an Information ist nahezu unnavigierbar geworden, Fake News haben unser Vertrauen in glaubwürdige Quellen erschüttert. Das Internet hat eine Vielzahl von alternativen Wahrheiten und alternativen Realitäten geschaffen. Das ist beängstigend, zumal in Zeiten einer Pandemie. Das 18. Jahrhundert hat das Theater als Laboratorium gedacht und die Bühne als Ort, an dem Probehandeln möglich ist, um etwas über unser Menschsein zu erfahren. Auch das Netztheater ist ein solches Laboratorium, ausgestattet mit den Gerätschaften der Gegenwart, die etwa Aufschluss darüber geben können, wie unsere Wahrnehmung beschaffen ist oder wie sich Aufmerksamkeit organisieren lässt. "Theater ist die Institution mit dem ältesten Wissen über die gesellschaftliche Kraft des Spielens." (S. 15) Philosophie und Soziologie veranschlagen im Spiel die Grundlage unseres Menschseins. Es wäre fatal, die verfügbaren virtuellen Spielzeuge und technischen Gadgets jenen Player*innen zu überlassen, deren Interessen wirtschaftlich, militärisch oder politisch getrieben sind. Indem wir unser über die Jahrtausende gewachsenes Wissen über Theatralität und Inszenierungsformen einsetzen, um spielerisch zu experimentieren, erlernen wir den Umgang damit und finden heraus, welche Weltgestaltung mit ihnen möglich ist. Die Lektüre der Beiträge zeigt deutlich: Die vielfach beschworene Minimaldefinition des Theaters – A geht durch einen Raum während B zuschaut – beinhaltet keinerlei Spezifikation, dass B sich dabei im selben Zimmer befinden muss.
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Unterrichtseinheit zum Thema Kinderrechte und deren Untersuchung und Umsetzung in der Schule (Grundschule, Klassenstufen 3/4, 3-4 (Doppel-)Stunden)
Die Kinderrechte als über die Menschenrechte hinausgehende Bestimmungen sind sowohl international anerkannt als auch Teil des baden-württembergischen Bildungsplans für die Grundschule. Darüber hinaus stellt die Kenntnis über die eigenen Rechte eine bedeutsame Ressource für Kinder dar.
Die Vorstellung einer Unterrichtseinheit zur Heranführung an die Kinderrechte und deren Untersuchung und Umsetzung im schulischen Kontext für die Klassenstufen 3/4 der Grundschule ist Inhalt des folgenden Blogbeitrags:Auf eine theoretische Einführung zum Hintergrund der Kinderrechte folgt die Begründung der Relevanz der Thematik. Daran schließen didaktische Überlegungen zu Zeitpunkt, Thema und Inhalten sowie Intentionen an. Der Teil Aufbau der Unterrichtseinheit beinhaltet eine Beschreibung der vier (Doppel-)Stunden, inklusive Vorschlägen zur Abwandlung und Anpassung an andere Klassenstufen sowie Informationen zu Alternativen, die erwogen wurden.Im Anhang findet man neben den Unterrichtsskizzen (Übersicht) Materialien und Formulierungsideen für die vorgestellte Unterrichtseinheit auch eine ausführliche Liste zu empfehlenden Unterrichtsmaterials anderer Websites und Organisationen sowie ein umfangreiches Literaturverzeichnis mit sowohl Online- als auch Printliteratur, um Möglichkeiten zur weiteren Vertiefung, beispielsweise im Hinblick auf die Partizipation von Kindern in der Schule oder bezüglich des Zusammenhangs zwischen Kinderrechten und Demokratie, zu geben.Die im Blogbeitrag angegebenen Literaturangaben finden sich entweder im Literaturverzeichnis oder in der Liste mit zu empfehlendem Unterrichtsmaterial. Ein Abkürzungsverzeichnis am Ende des Blogbeitrags ist ebenfalls vorhanden.Theoretische Einführung
Überblick
Die Kinderrechte sind in der Konvention über die Rechte des Kindes, auch 'Kinderrechtskonvention' (kurz: KRK, englisch: Convention on the Rights of the Child, kurz: CRC), festgeschrieben und damit völkerrechtlich verbindlich (vgl. BMZ 2023). Die KRK wurde 1989 durch die Vereinten Nationen (kurz: VN, englisch: United Nations, kurz: UN) angenommen und ist 1990 in Kraft getreten (vgl. Gareis/Varwick 2014, S. 192, ausführlicher siehe Historischer Verlauf). Sie ist einer der meistratifizierten Menschenrechtsverträge (vgl. DIMR 2023b), nachdem sie von allen Ländern mit Ausnahme der USA ratifiziert wurde (vgl. United Nations Human Rights Office of the High Commissioner 2023, ausführlicher siehe Ratifizierung). In Deutschland gilt die KRK seit 1992 (vgl. Auswärtiges Amt 2023, ausführlicher siehe Deutschland).
Die KRK umfasst 54 Rechte, die sich in mehrere Kategorien differenzieren lassen (ausführlicher siehe Inhalt und Aufbau). Außerdem existieren drei Zusatzprotokolle, die allerdings nicht in gleicher Zahl ratifiziert sind wie die KRK selbst (vgl. United Nations Human Rights Office of the High Commissioner 2023). Zentrales Prinzip ist es, im "besten Interesse des Kindes" zu handeln (vgl. BMZ 2023). Als Kind gilt dabei "jeder Mensch, der das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, soweit die Volljährigkeit nach dem auf das Kind anzuwendenden Recht nicht früher eintritt" (Artikel 1 der UN-KRK, UN-Generalversammlung 1989, S. 9).
Kinder benötigen "besonderen Schutz, besondere Förderung und besondere, kindgerechte Beteiligungsformen" (vgl. Maywald 2010), da sie "in vielerlei Hinsicht besonders verletzbar" (Auswärtiges Amt 2023) und von Erwachsenen abhängig sind. Durch die KRK werden Kinder erstmals als eigenständige (Recht-)Subjekte anerkannt (vgl. DIMR2023a, ausführlicher siehe Historischer Verlauf).
Das sich im Anhang befindliche Literaturverzeichnis beinhaltet unter 'Primärliteratur' Angaben zu fünf online frei zugänglichen Versionen der KRK: deutsch, deutsch mit Zusatzprotokollen, deutsch kinderfreundliche Version, verschiedene Sprachen kinderfreundliche Version, englisch.
Historischer Verlauf
Lange Zeit wurden Kinder als den Erwachsenen unterlegen betrachtet und waren "rechtlich und faktisch nicht gleichgestellt" (Maywald 2010). Erst 1924 wurde vom Völkerbund, dem Vorläufer der VN, eine Kindercharta, die Genfer Erklärung über die Rechte des Kindes (englisch: 'Geneva Declaration'), verabschiedet. Sie war allerdings nicht rechtsverbindlich (vgl. bpb 2019). Ihre Überarbeitung durch die VN mündete 1959 in die Erklärung der Rechte des Kindes, die das Kind erstmals auf internationaler Ebene als Rechtsträger anerkannte und den Begriff des Kindeswohls definierte (vgl. Maywald 2010). Anlässlich des 'Jahres des Kindes' 1978 schlug die polnische Regierung vor, die Erklärung der Rechte des Kindes von 1959 in einen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag umzuwandeln. Nach mehrjähriger Tätigkeit einer entsprechenden Arbeitsgruppe wurde am 20. November 1989 die heute gültige Kinderrechtskonvention einstimmig von der Generalversammlung der VN verabschiedet (vgl. bpb 2019). Dieses Datum gilt seither als der Tag der Kinderrechte (vgl. bpb 2017).
Die Links zur Genfer Erklärung über die Rechte des Kindes von 1924 und zur Erklärung der Rechte des Kindes von 1959 finden sich auch im angehängten Literaturverzeichnis unter 'Primärliteratur, Weitere Konventionen'.
Ratifizierung
Folgende Tabelle zeigt den Status der KRK und ihrer Zusatzprotokolle (Stand 2023). Die Daten entstammen einer interaktiven Karte des United Nations Human Rights Office of the High Commissioner.
"State Party" (ratifiziert)
"Signatory" (unterzeichnet)
"No Action" (nichts)
UN-Kinderrechtskonvention
196
1 (USA)
0
1. Zusatzprotokoll (Schutz vor Kinderhandel)
178
7
12
2. Zusatzprotokoll (Schutz in bewaffneten Konflikten)
173
7
17
3. Zusatzprotokoll (Individualbeschwerden)
50
16
132
Durch die freiwillige Handlung der Ratifizierung gehen die Staaten eine rechtlich bindende Verpflichtung ein (vgl. Würth/Simon 2012).
Stellenwert
Laut Maywald (2010) ist die KRK "insofern einmalig, als es die bisher größte Bandbreite fundamentaler Menschenrechte – ökonomische, soziale, kulturelle, zivile und politische – in einem einzigen Vertragswerk zusammenbindet." Die Relation zu den Menschenrechten ist dabei unzureichend bestimmt (vgl. Busen/Weiß 2023). Durch weitere Konventionen einen vergleichbaren Schutz erfahren Frauen, Wanderarbeiter*innen, Menschen mit Behinderungen sowie Gefolterte und Verschwundene (vgl. ebd.).
Inhalt und Aufbau
Die 54 Artikel der KRK lassen sich in drei Kategorien unterteilen: Schutzrechte, Förderrechte und Beteiligungsrechte (vgl. BMFSFJ 2023, BMZ 2023, DIMR2023a, Maywald 2010, Würth/Simon 2012).
Außerdem verfügt die KRK über vier Grundprinzipien: Nichtdiskriminierung, Kindeswohlvorrang, Recht auf Leben und Entwicklung sowie Beteiligung des Kindes und Berücksichtigung seiner Meinung (vgl. Auswärtiges Amt 2023, BMFSFJ 2023, BMZ 2023, Würth/Simon 2012). Sie sind in den Artikeln 2, 3, 6 und 12 festgehalten (vgl. DIMR 2023b), weswegen diese als die wichtigsten Artikel der KRK bezeichnet werden (vgl. Maywald 2010).
Schlussendlich umfasst die KRK vier Verfahrensregeln: die Verpflichtung der Staaten zur Bekanntmachung der Kinderrechte (Art. 42), die Einsetzung eines Ausschusses der VN für die Rechte des Kindes (Art. 43), die Berichtspflicht über die Maßnahmen zur Verwirklichung der Kinderrechte (Art. 44) sowie die Mitwirkungsmöglichkeiten von Nichtregierungsorganisationen (Art. 45) (vgl. Maywald 2010).
Die drei Zusatzprotokolle der KRK wurden im Anschluss an den 20. November 1989 verabschiedet.Fakultativprotokoll zur Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten: 12. Februar 2002Fakultativprotokoll über den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und Kinderpornografie: 18. Januar 2002Fakultativprotokoll: Individualbeschwerde-, Staatenbeschwerde- und Untersuchungsverfahren: 14. April 2014 (vgl. DIMR 2023b)
Umsetzung
Die KRK als völkerrechtliches Übereinkommen stellt "nicht Gesetzgebung im geläufigen Sinne, sondern Vertragsrecht" (Maywald 2010) dar, was lediglich Verpflichtungen der Vertragsstaaten begründet. Diese sogenannten Staatenpflichten sind bei menschenrechtlichen Verträgen die folgenden:Respektierungspflicht / duty to respect: "der Staat ist verpflichtet, Verletzungen der Rechte zu unterlassen"Schutzpflicht / duty to protect: "der Staat hat die Rechte vor Übergriffen von Seiten Dritter zu schützen"Gewährleistungspflicht / duty to fulfill: "der Staat hat für die volle Verwirklichung der Menschenrechte Sorge zu tragen" (Maywald 2010)
Darüber hinaus verpflichten sich die Vertragsstaaten zu internationaler Zusammenarbeit (vgl. Würth/Simon 2012).
Die konkrete Umsetzung der Kinderrechte wird durch die nationalen Gesetzgebungen der einzelnen Länder geregelt. Lediglich Artikel 2, 3, 6 und 12 (ausführlicher siehe Inhalt und Aufbau) als sogenannte unmittelbar anwendbare Rechte (englisch: self executing rights) sind davon ausgenommen (vgl. ebd).
In der Bundesrepublik Deutschland haben die Kinderrechte beispielsweise in Form des Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung und des Rechts aller Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr auf einen öffentlichen Betreuungsplatz Eingang in das Grundgesetz gefunden (vgl. bpb 2019).
Überprüfung
Die VN verfügen, wie in Artikel 43 der KRK gefordert (vgl. Maywald 2010), über einen 'Ausschuss für die Rechte des Kindes' (kurz: Kinderrechtsausschuss), der die Einhaltung der KRK überwacht und als Adressat für Individualbeschwerden dient (vgl. Auswärtiges Amt 2023).
In Deutschland erfolgt die Kontrolle der Umsetzung der Kinderrechte durch eine unabhängige Monitoring-Stelle, die beim Bundesfamilienministerium eingerichtet ist (vgl. bpb 2019).
Artikel 44 beschreibt weiterhin, dass die Vertragsstaaten regelmäßig über ihre Maßnahmen zur Verwirklichung der Kinderrechte zu berichten haben (vgl. Auswärtiges Amt 2023). Dies geschieht in Form von Staatenberichten, wodurch die KRK als "eher schwaches völkerrechtliches Instrument" (Gareis/Varwick 2010, S. 197) gilt. Der Fünfte und Sechste Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland wurde im April 2019 dem Kinderrechtsausschuss vorgelegt (vgl. Auswärtiges Amt 2023). Ein Link zum Download ist auch im Literaturverzeichnis dieses Blogbeitrags unter 'Primärliteratur' zu finden.
Deutschland
In Deutschland erlangte die KRK 1992 Gültigkeit (vgl. Auswärtiges Amt 2023) – zu Beginn allerdings mit Einschränkungen, nachdem nicht klar war, ob sie mit dem deutschen Ausländerrecht, konkret mit der Möglichkeit, minderjährige nicht-deutsche Staatsangehörige in ihre Herkunftsländer auszuweisen oder abzuschieben, kollidieren würde (vgl. bpb 2017). Die erklärten Vorbehalte wurden 2010 zurückgenommen (vgl. BMFSFJ 2023), wodurch die KRK verbindlich geltendes Recht wurde (vgl. DIMR 2023c).
Die KRK hat Auswirkungen auf die nationale Gesetzgebung der Bundesrepublik (ausführlicher siehe Umsetzung). Dennoch sind die Kinderrechte in Deutschland bisher kein eigener Teil des Grundgesetzes. Dies ist Gegenstand einer Debatte. Als Argumente für die Aufnahme werden genannt:die Stärkung des Bewusstseins für die Rechte von Kindern;die Verbesserung der Position von Kindern gegenüber dem Staat und im Konfliktfall gegenüber ihren Eltern;die Stärkung der elterlichen Verantwortung, die Rechte des Kindes zur Geltung bringen;die Förderung der Berücksichtigung von Kindesinteressen im politischen Raum sowie der damit einhergehende Ausdruck des hohen Rangs von Wohl und Rechten von Kindern (vgl. Maywald 2010).Außerdem können Kinder zum aktuellen Zeitpunkt, im Gegensatz zu anderen Grundrechtsträgern, ihre Rechte an vielen Stellen nicht selbst einfordern, da sie weiterhin als Objekte betrachtet werden (vgl. bpb 2017). Das Deutsche Institut für Menschenrechte spricht darüber hinaus davon, dass die Kinderrechte in Deutschland grundlegend "noch nicht ernst genommen und oftmals leichtfertig übergangen" werden (DIMR 2023a).Gegenstimmen einer Aufnahme der Kinderrechte in das Grundgesetz berufen sich darauf, dass dies nicht dazu führen würde, dass Kinder mehr Rechte erhielten (vgl. bpb 2023a). Eine Rechtsangleichung wird vom UN-Kinderrechtsausschuss empfohlen und entspricht einer Vorgabe der Grundrechte-Charta der EU (vgl. Maywald 2010).
In Bezug auf die Umsetzung der Kinderrechte in Deutschland werden von unterschiedlichen Seiten Forderungen gestellt. Sie beziehen sich unter anderem auf die Schaffung von Bildungsgerechtigkeit (vgl. Maywald 2010). Weiterhin verlangt wird die Erhebung von mehr kinderrechtsbasierten Daten zur Untersuchung der Wirkung politischer Maßnahmen, die gezielte Stärkung der Selbstorganisation von Kindern und Jugendlichen, insbesondere in öffentlichen Bildungseinrichtungen und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, sowie, nach Vorbild anderer Vertragsstaaten, die Errichtung leicht zugänglicher Kinderrechtsinstitutionen und -stellen im direkten Lebensumfeld von Kindern (vgl. DIMR 2023a).Kinder selbst fordern laut der Bundeszentrale für politische Bildung ein Recht auf Taschengeld, das Recht zu wählen sowie ein Recht auf Arbeit, das sich auf die Aufwertung der sozialen Stellung von arbeitenden Kindern und so die Stärkung ihrer Verhandlungsmacht bezieht (vgl. bpb 2023a).Relevanz der Thematik
"Die Kinderrechte und die Geltung und grundlegende Einhaltung dieser Rechte in Deutschland sind eine bemerkenswerte Errungenschaft, die vielen Kindern wahrscheinlich gar nicht bewusst ist" (Bohlen 2021). Dieses von der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlichte Zitat fasst hervorragend zusammen, weswegen die Behandlung der Kinderechte im Unterricht von Relevanz ist:Die Kinderrechte bieten, wie bereits in der theoretischen Einführung beschrieben, bis dato nie dagewesene rechtliche Möglichkeiten für Kinder. Deren Einforderung durch Kinder kann allerdings nur geschehen, wenn sie über ihre Rechte im Bilde sind. Schule im allgemeinen und der Politik- beziehungsweise in der Primarstufe der Sachunterricht im besonderen hat den Auftrag, die Mündigkeit der Schüler*innen zu fördern (vgl. Detjen 2007, S. 211). Demnach obliegt Schule auch die Aufgabe, über die Kinderrechte zu informieren. Dies entspricht darüber hinaus dem "pädagogischen Blickwinkel" nach Kahlert (2010, S. 267), der Sachunterrichtsplanung als "begründungspflichtige Anforderung an professionelles Lehrerhandeln" (ebd., S. 264) mit mehreren, zu begründenden Dimensionen beschreibt (vgl. ebd., S. 267), indem folgende Leitfrage beantwortet wird: "Warum ist dies [der Inhalt, Anm. LS] sinnvoll für die Persönlichkeitsentwicklung des einzelnen Kindes?" (ebd.).
Im Kontext von Sachunterricht wird durch die Thematisierung von Kinderrechten weiterhin die Umsetzung sowohl der ersten als auch der zweiten Dimension der Allgemeinbildung nach Klafki (2005) erreicht, da nicht nur Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit gefördert werden, sondern die Kinderrechte auch Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung haben (vgl. ebd.). Ferner wird der Behandlung der epochaltypischen Schlüsselprobleme der Ungleichheit innerhalb von Gesellschaften und der internationalen Ungleichheit nachgekommen (vgl. ebd.). Der "kulturelle Stellenwert" als zweite Komponente der begründungspflichtigen "bildungstheoretischen Dimension" nach Kahlert (2010, S. 267) und der Frage danach, "welche Bedeutung es für das Zusammenleben heute und in Zukunft hat, wenn Kinder in der Schule diesem Inhalt begegnen" (ebd.), wird somit ebenfalls Rechnung getragen.
Auch der baden-württembergische Bildungsplan von 2016 für das Fach Sachunterricht fordert die Auseinandersetzung mit dem Thema Kinderrechte explizit. Im Bereich der inhaltsbezogenen Kompetenzen für die Klassenstufen 3/4 wird unter '3.2.1 Demokratie und Gesellschaft 3.2.1.4 Politik und Zeitgeschehen' Folgendes genannt:"DenkanstößeWie wird die aktive Umsetzung von Grund- und Kinderrechten in der Klasse und Schule gestaltet?Wie reagiert die Schule auf Missachtung der Kinderrechte im Schulalltag? [...]TeilkompetenzenDie Schülerinnen und Schüler können(1) zentrale ausgewählte Grund- und Kinderrechte beschreiben und auf konkrete Situationen in Deutschland und andere Länder übertragen(Ministerium für Jugend, Kultus und Sport Baden-Württemberg 2016, S. 36)
Außerdem wird mit der Thematisierung der Kinderrechte der prozessbezogenen Kompetenz '2.5 Reflektieren und sich positionieren' nachgekommen:"Die Schülerinnen und Schüler können[…] 2. Empathiefähigkeit entwickeln und Perspektivwechsel vornehmen (zum Beispiel […] in der Auseinandersetzung […] mit Grund- und Kinderrechten […])" (ebd., S. 12)
Im Bereich der Denkanstöße besonders betont wird die Umsetzung der Kinderrechte in der Schule. Vor diesem Hintergrund scheint die Forderung des Deutschen Instituts für Menschenrechte, insbesondere in Bildungseinrichtungen mehr Beteiligungsmöglichkeiten für Kinder zu schaffen (vgl. DIMR 2023a, ausführlicher siehe Theoretische Einführung, Deutschland), noch bedeutsamer.Didaktische Überlegungen
Zeitpunkt
Da die Grundrechte ebenfalls Teil des Bildungsplans sind (ausführlicher siehe Relevanz der Thematik), bietet es sich an, die Unterrichtseinheit zu Kinderrechten in zeitlicher Nähe zu einer Behandlung der Grundrechte durchzuführen.
Themen und Inhalte
Die Unterrichtseinheit beschäftigt sich mit der Umsetzung von Kinderrechten, zuvorderst im Kontext Schule. Dies begründet sich zum einen in der durch die Denkanstöße des baden-württembergischen Bildungsplans gelegten Basis (ausführlicher siehe Relevanz der Thematik). Zum anderen wird angestrebt, Schüler*innen die Kinderrechte als solche Rechte zu vermitteln, über die sie selbst verfügen und die sie in ihrem direkten Umfeld jederzeit einfordern können. Hintergrund bildet auch die Einschätzung des Deutschen Instituts für Menschenrechte, dass diese Möglichkeiten, insbesondere im Bildungskontext, bisher nicht in ausreichender Anzahl und Erreichbarkeit vorhanden sind (vgl. DIMR 2023a, ausführlicher siehe Theoretische Einführung, Deutschland). Partizipation ermöglicht darüber hinaus, die eigene Selbstwirksamkeit zu erfahren, was ein positives Selbstkonzept fördert. Eine Auseinandersetzung mit weiteren erwogenen Schwerpunkten der Unterrichtseinheit erfolgt im Teil Aufbau der Unterrichtseinheit, Erwogene Alternativen.Die Themen der ersten beiden Unterrichtsstunden sind als Fragen formuliert: 'Kinderrechte – Welche Rechte habe ich?', 'Kinderrechte – Wie können wir sie umsetzen?'. Daraus ergeben sich drei Vorteile: Erstens wird dem Unterrichtsprozess Geschlossenheit verliehen, da sich die Frage als roter Faden durch die Stunde zieht und die einzelnen Unterrichtssituationen miteinander verbindet (vgl. Tänzer 2010, 132). Zweitens ermöglicht eine Frage, den Unterricht weniger lehrkraftzentriert zu gestalten, da die Schüler*innen selbst Lösungen finden sollen (ebd.). Und drittens verlangt eine Frage nach einer Antwort, was motivationale Aspekte fördert und eine Ergebnissicherung einschließt. Die dritte und gegebenenfalls vierte Unterrichtsstunde sind mit 'Kinderrechte – Wir setzen sie um!' betitelt, was den produzierenden Charakter der Stunde verdeutlicht sowie durch das Personalpronomen 'Wir' den Klassenzusammenhalt fokussiert und einen Hinweis auf die Sozialform liefert.
Die KRK umfasst 54 Rechte, die nicht alle Inhalt des Unterrichts sein können und müssen. Im Bildungsplan wird die Formulierung "ausgewählte Grund- und Kinderrechte" (Ministerium für Jugend, Kultus und Sport Baden-Württemberg 2016, S. 36) genutzt. Die folgende Tabelle bietet eine Übersicht über diejenigen Kinderrechte, die vor dem Hintergrund einer ausführlichen Recherche und unter Beachtung der Adressat*innengerechtigkeit für die Unterrichtseinheit vorgeschlagen werden. Die Auswahl obliegt der Lehrkraft.Es wird empfohlen, die vier Grundprinzipien der KRK (Art. 2, 3, 6, 12) in jedem Fall zu thematisieren. Weiterhin ist es sinnvoll, darüber zu sprechen, dass die KRK Artikel beinhaltet, die die Umsetzung der Kinderrechte regeln (Art. 43-54). Schlussendlich wird im Verlauf der Unterrichtseinheit der Film "Kinderrechte raten" der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb 2022d) eingesetzt, weswegen es sich anbietet, auch die dort vorkommenden Kinderrechte vorab anzusprechen.Die Anzahl der weiteren Kinderrechte kann je nach Klassenstufe, -größe und -zusammensetzung variiert werden (ausführlicher siehe Ablauf der Unterrichtseinheit, Abwandlungen / Anpassung an andere Klassenstufen). Insbesondere im Zusammenhang mit Krieg und Flucht sollten die Vorerfahrungen und mögliche Traumata der Schüler*innen berücksichtigt werden. Sensibilität ist geboten.
Artikel
Offizielle Bezeichnung
Kinderfreundliche Bezeichnung (in Anlehnung an Deutsches Komitee für UINCEF 2023a, 2023h, BMFSJ 2018)
Inhaltliche Begründung (ausführlicher siehe Theoretische Einführung, Inhalt und Aufbau)
Didaktische Begründung
2
Achtung der Kinderrechte; Diskriminierungsverbot
Recht auf Gleichheit
4 Grundprinzipien / unmittelbar anwendbares Recht
3
Wohl des Kindes
Recht auf das Beste für jedes Kind
6
Recht auf Leben
Recht auf Leben
12
Berücksichtigung des Kindeswillens
Recht auf eine eigene Meinung und darauf, ernst genommen zu werden
13
Meinungs- und Informationsfreiheit
Beteiligungsrecht
Einteilung logo!: Öffentliche Rechte (vgl. BMFSJ 2018, S. 40)
16
Schutz der Privatsphäre und Ehre
Recht auf Privatsphäre
Schutzrecht
Einteilung logo!: Private Rechte (vgl. BMFSJ 2018, S. 33)
17
Zugang zu den Medien; Kinder- und Jugendschutz
Recht auf Medien
Beteiligungsrecht
Film bpb "Kinderrechte raten" (vgl. bpb 2022d)
22
Flüchtlingskinder
Recht auf besonderen Schutz und Hilfe für Flüchtlingskinder
Schutzrecht
Einteilung logo!: Schutz vor Ausbeutung und Gewalt (vgl. BMFSJ 2018, S. 52ff.)
23
Förderung behinderter Kinder
Recht auf besondere Förderung und Unterstützung für behinderte Kinder
Förderrecht
Poster UNICEF (vgl. Deutsches Komitee für UINCEF 2023g)
24
Gesundheitsvorsorge
Recht auf Gesundheit
Förderrecht
Einteilung logo!: Recht auf Fürsorge (vgl. BMFSJ 2018, S. 32)
27
Angemessene Lebensbedingungen; Unterhalt
Recht auf gute Lebensverhältnisse
Schutzrecht
Einteilung logo!: Recht auf Fürsorge (vgl. BMFSJ 2018, S. 30)
28
Recht auf Bildung; Schule; Berufsausbildung
Recht auf Bildung
Förderrecht
Film bpb "Kinderrechte raten" (vgl. bpb 2022d)
31
Beteiligung an Freizeit, kulturellem und künstlerischem Leben; staatliche Förderung
Recht auf Spiel und Freizeit
Förderrecht
Film bpb "Kinderrechte raten" (vgl. bpb 2022d)
32
Schutz vor wirtschaftlicher Ausbeutung
Recht auf Schutz vor ausbeuterischer Kinderarbeit
Schutzrecht
Einteilung logo!: Schutz vor Ausbeutung und Gewalt (vgl. BMFSJ 2018, S. 45)
38
Schutz bei bewaffneten Konflikten; Einziehung zu den Streitkräften
Recht auf Schutz im Krieg
Schutzrecht
Einteilung logo!: Schutz vor Ausbeutung und Gewalt (vgl. BMFSJ 2018, S. 50f.)
43-54
"Diese Artikel erklären, wie die Vereinten Nationen in Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen wie UNICEF dafür sorgen wollen, dass die Kinderrechte eingehalten werden." (UNICEF 2023a)
u.a. Verfahrensregeln (Art. 42-45)
Hinweise zu den didaktischen Begründungen:Das Buch "Die Rechte der Kinder. von logo!einfach erklärt" (BMFSJ 2018) beinhaltet eine sinnvolle Einteilung, die über die Einteilung in Schutz-, Förder- und Beteiligungsrechte hinausgeht. Das Poster "Kinderrechte" von UNICEF (Deutsches Komitee für UINCEF 2023g) umfasst mit dem 'Recht auf besondere Förderung und Unterstützung bei Behinderung' ein Kinderrecht, das grundlegend von Bedeutung und im schulischen Kontext vor dem Hintergrund des Inklusionsbestrebens im Bildungssystem besonders relevant erscheint.Der Film "Kinderrechte raten" der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb 2022d) kommt im Verlauf der Unterrichtseinheit zum Einsatz.
Intentionen
In dem 2013 veröffentlichten Perspektivrahmen Sachunterricht spricht die Gesellschaft für Didaktik des Sachunterrichts davon, dass Ausrichtung und Anliegen des Sachunterrichts […] als zu fördernde Kompetenzen und Kompetenzerwartungen" (GDSU 2013, S. 12) beschrieben werden können. Nach Weinert (2001, S. 27f.) sind Kompetenzen "die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können".
Die folgenden Ziele stellen Lernziele dar, die sich sowohl auf Inhalt als auch auf Methoden beziehen (vgl. Tänzer 2010, S. 104). Sie werden auch als Verhaltensdispositionen bezeichnet, was verdeutlichen soll, dass sie "nicht zwangsläufig beobachtbar" (ebd., S. 102) sind. Die Ziele sind nach Stunden sortiert und orientieren sich in ihrer Reihenfolge an deren Aufbau.
Erste (Doppel-)Stunde
Die Schüler*innen könnenBedürfnisse / Wünsche von Kindern erkennen und nennenBedürfnisse / Wünsche von Kindern priorisieren / gewichtenKinderrechte nennenBedürfnissen / Wünschen von Kindern entsprechende Kinderrechte zuordnenzwischen Bedürfnissen / Wünschen und Rechten von Kindern unterscheideneine Verbindung zwischen den Kinderrechten und dem eigenen Leben herstellen
Zweite (Doppel-)Stunde
Die Schüler*innen könnenbegründen, warum bestimmte Kinderrechte bedeutsam sinddie Umsetzung von Kinderrechten in der Schule beurteilenVorschläge zur Verbesserung der Umsetzung von Kinderrechten in der Schule machen
Dritte (Doppel-)Stunde
Die Schüler*innen könnenin einer Gruppe auswählen, welche Inhalte zu einem bestimmten Kinderrecht auf einem Plakat Platz finden sollenin einer Gruppe ein Plakat zu einem Kinderrecht gestaltenin einer Gruppe ein Plakat zu einem Kinderrecht präsentieren
Aufbau der Unterrichtseinheit
Die folgenden Ausführungen sind auch als Übersicht in tabellarischer Form verfügbar. Die Übersicht orientiert sich an klassischen Unterrichtsskizzen, um im Unterricht als Leitfaden genutzt werden zu können. (Sie befindet sich auch noch einmal im Anhang.)
Die Unterrichtseinheit besteht aus drei obligatorischen Stunden und einer fakultativen Stunde. Sie können je nach Vorwissen, Arbeitstempo etc. der Schüler*innen als Einzel- oder als Doppelstunden durchgeführt werden.
Erste (Doppel-)Stunde: Kinderrechte – Welche Rechte habe ich?
Die erste (Doppel-)Stunde mit dem Thema 'Kinderrechte – Welche Rechte habe ich?' dient dazu, die KRK kennenzulernen und ihren Nutzen und ihre Schwerpunkte zu verstehen. Außerdem werden "ausgewählte [...] Kinderrechte" (siehe didaktische Überlegungen, Thema und Inhalte) besprochen und eigene Ausgaben der KRK angefertigt.Dafür werden in einem ersten Schritt (Einstieg) Bedürfnisse / Wünsche von Kindern durch die Schüler*innen genannt. Als Sozial- und Sitzform wird ein Stuhlkreis empfohlen. Die Lehrkraft (LK) notiert die Bedürfnisse / Wünsche auf bunten Karten, die in die Mitte des Stuhlkreises gelegt werden. Dies bietet den Vorteil, dass die daraufhin folgende Diskussion zum Stellenwert der einzelnen Bedürfnisse / Wünsche durch Verschieben der Karten visualisiert werden kann. Sie soll zeigen, dass einige Bedürfnisse zentraler, umfassender oder weitreichender sind als andere. Von großer Bedeutung ist hierbei, dass kein Konsens innerhalb der Klasse erzielt werden muss. Kindern können unterschiedliche Dinge wichtig sein. Ein offener Austausch, während welchem jede Meinung gehört wird, dient der Horizonterweiterung oder der Festigung des eigenen Standpunkts. Es sollte darauf geachtet werden, zwischen den Bedürfnis-Karten ausreichend Platz zu lassen, um zur Verdeutlichung des Nutzens der Kinderrechte in der Phase der Erarbeitung Kinderrechte-Karten hinzulegen zu können (ausführlicher siehe unten). Die Bedürfnis-Karten sollten nicht vorher vorbereitet sein. Dies würde unter Umständen die Assoziationsfreiheit der Schüler*innen einschränken, da der Eindruck entstehen könnte, bestimmte, 'richtige' Bedürfnisse nennen zu müssen. Je nach Gesprächsverlauf kann die LK eine Frage dazu stellen, wie die genannten Bedürfnisse / Wünsche garantiert werden könnten, um damit zur nächsten Phase, der Hinführung, überzuleiten. (Eine Formulierungsidee hierzu findet sich im Anhang.)In der Phase der Hinführung informiert die LK die Schüler*innen über die KRK, genauer über ihre Entstehung, ihren Ratifizierungsstatus, ihren Umfang und die Umsetzung durch Staaten und Organisationen sowie ihre Überprüfung mittels Staatenberichten und dem Kinderrechtsausschuss der VN. (Auch hier kann eine Formulierungsidee im Anhang eingesehen werden.) Es bietet sich an, in diesem Zusammenhang die Artikel 1 und 2 der kinderfreundlichen Version der KRK (Deutsches Komitee für UNICEF 2023a) vorzulesen, um konkrete Einblicke zu gewähren, über die Existenz eines Gesetzestextes explizit für Kinder zu informieren sowie zu der Phase der Erarbeitung überzuleiten. Die kinderfreundliche Version der KRK kann hier sowohl online heruntergeladen als auch kostenfrei als Printausgabe bestellt werden. Im Anschluss an die Hinführung kann die KRK im Klassenzimmer platziert werden, um den Schüler*innen die Möglichkeit zu geben, ihre Rechte zu jeder Zeit nachlesen zu können.In der Phase der Erarbeitung werden die Schüler*innen dazu aufgefordert, mögliche Kinderrechte zu nennen. Diese werden in Form vorbereiteter Kinderrechte-Karten (Kopiervorlagen unter Material Unterrichtseinheit Kinderrechte im Anhang) den bereits im Stuhlkreis liegenden Bedürfnis-Karten zugeordnet. Gegebenenfalls können weitere Bedürfnis-Karten beschriftet werden. Als Differenzierung können an dieser Stelle Murmelphasen zu zweit eingebaut werden. Auf den Kinderrechte-Karten befindet sich eine kinderfreundliche Beschreibung des entsprechenden Kinderrechts (siehe didaktische Überlegungen, Thema und Inhalte) sowie eine Visualisierung, die eine Situation darstellt, in der das Kinderrecht zur Anwendung kommt / kommen sollte. Es wird empfohlen, die Kinderrechte-Karten auf weißes Papier zu drucken, um sie visuell gut von den bunten Bedürfnis-Karten unterscheiden zu können. Bei Nennung eines nicht vorbereiteten Kinderrechts kann dieses problemlos auf einem weiteren, weißen Blatt Papier notiert werden. Eine Diskussion über mögliche Visualisierungen regt die Auseinandersetzung mit dem Kinderrecht weiter an. Es sollte in jedem Fall auf die Exemplarität der ausgewählten Kinderechte eingegangen werden und ein Austausch über den Zusammenhang zwischen Bedürfnissen und Kinderrechten und somit den Nutzen der KRK stattfinden. (Eine Formulierungsidee findet sich im Anhang.) Weiterhin wichtig ist es, die Ausgestaltung der Kinderrechte gut zu erklären und alle aufkommenden Fragen zu beantworten, um die Etablierung von Fehlkonzepten, zum Beispiel in Bezug auf Kinderarbeit, zu vermeiden. Es kann dazu kommen, dass einigen Wünschen kein Kinderrecht zugeordnet werden kann. An dieser Stelle kann die LK, sofern dies nicht bereits ohne ihr Zutun geschieht, einen Austausch über die Gründe dafür – beispielsweise die Nichtauswahl des entsprechenden Kinderrechts oder die eingeschränkte Reichweite des Wunsches – anstoßen. Es bietet sich an, den Unterschied zwischen einem Recht und einem Wunsch explizit zu verdeutlichen (ausführlicher siehe Formulierungsideen).Zur Ergebnissicherung gestalten die Schüler*innen in Einzelarbeit ihre eigene Ausgabe der KRK. (Eine Kopiervorlage für die einzelnen Seiten findet sich unter Material Unterrichtseinheit Kinderrechte im Anhang.) Pro Kinderrecht soll eine Seite gestaltet werden. Die Anzahl der Kopien hängt demnach von Klassenstärke und Anzahl der ausgewählten Kinderrechte ab. Die gestalteten Seiten können anschließend mit einem Heftstreifen oder einem Faden gebunden werden. Die Anordnung der Kinderrechte innerhalb ihrer Konvention soll von den Schüler*innen selbst bestimmt werden, um zu bewirken, dass sie noch einmal individuell über die Bedeutsamkeit der entsprechenden Kinderrechte nachdenken. Logistisch empfiehlt sich die reguläre Sitzform. Währenddessen kann die LK die sortierten Bedürfnis- und Kinderrechte-Karten gut sichtbar im Klassenzimmer anbringen, um den Schüler*innen zu ermöglichen, sich die gemeinsame Erarbeitung jederzeit wieder ins Gedächtnis zu rufen.Sollte es Schüler*innen geben, die früher fertig werden als andere, kann auf geeignetes, kostenfreies Zusatzmaterial der Bundeszentrale für politische Bildung und / oder der Kinder-Nachrichtensendung logo! zum Thema Kinderrechte zurückgegriffen werden. (Hinweise dazu finden sich auch in der letzten Zeile der Übersicht über die Unterrichtseinheit. Außerdem sei auf die Liste mit zu empfehlendem Unterrichtsmaterial im Anhang verwiesen).
Zweite (Doppel-)Stunde: Kinderrechte – Wie können wir sie umsetzen?
Die zweite (Doppel-)Stunde beschäftigt sich mit dem Thema 'Kinderrechte – Wie können wir sie umsetzen?', wobei es sich um die Umsetzung in der Schule handelt (ausführlicher siehe didaktische Überlegungen, Thema und Inhalte).Zuvor werden die Inhalte der letzten (Doppel-)Stunde wiederholt. Ein Film der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb 2022b, 0:27-2:52) bereitet drei Kinderrechte so auf, dass sie durch die Betrachter*innen erraten werden können. Der Film muss dazu nicht in kompletter Länge gesehen werden, zumal insbesondere sein Schlussteil keinen sinnvollen Zusammenhang zur Unterrichtseinheit aufweist. In Anlehnung an Diskussionsvorschläge der Bundeszentrale für politische Bildung wird vorgeschlagen, im Anschluss an die Nennung des Kinderrechts noch einmal seine Bedeutsamkeit zu thematisieren. Außerdem bietet es sich unter Umständen an, ebenfalls wiederholend auf den Inhalt des Kinderrechts einzugehen. (Formulierungsideen finden sich im Anhang.) Um auch die weiteren, in der vorausgegangenen Stunde eingeführten Kinderrechte zu wiederholen, folgt eine Übertragung des Formats des Films auf die Klassenebene: Freiwillige Schüler*innen beschreiben ein Kinderrecht, ohne dessen Bezeichnung zu nennen, während die anderen raten. Die Diskussion über Inhalt und Bedeutsamkeit als etablierte Struktur und relevanter Teil, um das Verständnis zu sichern, mögliche Lücken zu ergänzen und Fehlvorstellungen zu korrigieren, schließt an. Als Sitzform wird der Kinositz vorgeschlagen. In dem zweiten Teil der Wiederholung kann das entsprechende Kind zur Beschreibung seines Kinderrechts vor die Klasse treten und mit Überblick über seine Mitschüler*innen Antworten entgegennehmen. Dieser Teil der Stunde bringt eine natürliche Differenzierung mit sich, solange alle Schüler*innen auf freiwilliger Basis die Rolle eines vortragenden oder eines zuhörenden und gegebenenfalls ratenden Kinds einnehmen.Die Phase der Erarbeitung beinhaltet eine Untersuchung und Diskussion der Umsetzung der Kinderrechte in der Schule. Dies kann, je nach Vorerfahrungen und regulärer Sitzform der Klasse, in Partner- oder Gruppenarbeit geschehen. Ein Arbeitsblatt, das vier Spalten umfasst und so neben der Möglichkeit der Verschriftlichung der Zustände auch Platz für das Notieren von Lösungsvorschlägen bietet, dient der Ergebnissicherung des Austausches. (Die Kopiervorlage des Arbeitsblatts befindet sich auch im Anhang unter Material Unterrichtseinheit Kinderrechte.) Entsprechend der Möglichkeiten der Einhaltung der Aufsichtspflicht kann erwogen werden, die Schüler*innengruppen im Schulgebäude oder auf dem Schulgelände Hinweise auf Kinderrechte finden zu lassen. Vermutlich wird beispielsweise das Recht auf Gesundheit eher bedacht, wenn die Kinder vor oder in der Mensa stehen. Auch hier empfiehlt es sich, Zusatzmaterial für schneller arbeitende Schüler*innen zur Verfügung zu stellen.Um die Ergebnisse vergleichen und einordnen und die Lösungsvorschläge diskutieren zu können, wird in der Phase der Ergebnissicherung im Stuhlkreis ein Austausch durch die LK moderiert. Sie hat an dieser Stelle außerdem die Möglichkeit, auf Kinderrechte hinzuweisen, die nicht genannt werden. Sollte die Idee nicht von der Klasse selbst kommen, kann die LK als eigenen Vorschlag die Plakatgestaltung einbringen, die in der kommenden, dritten (Doppel-)Stunde durchgeführt werden soll. Die weiteren Lösungsvorschläge können auf einem Plakat gesammelt und im Klassenzimmer angebracht werden, um in der vierten (Doppel-)Stunde darauf zurückgreifen zu können.
Dritte (Doppel-)Stunde: Kinderrechte – Wir setzen sie um!
(Doppel-)Stunde 3 'Kinderrechte – Wir setzen sie um!' beinhaltet die Gestaltung von Plakaten zu den Kinderrechten, um die Bekanntheit dieser in der Schule zu erhöhen.Für die Durchführung in Gruppen wird empfohlen, die Schüler*innen nach klasseneigenen Methoden einzuteilen und vorab über das Verhalten in Gruppen, wie beispielsweise die Rollenverteilung oder den Umgang miteinander, zu sprechen. Je nach Anzahl der "ausgewählten [...] Kinderrechte" (siehe didaktische Überlegungen, Thema und Inhalte), können die Gruppen unterschiedlich groß sein. Es kann sich auch auf einige zentrale Kinderrechte beschränkt werden. Die Zuordnung von Kinderrechten zu entsprechenden Gruppen kann per Zufallsprinzip oder beispielsweise anhand der von den Schüler*innen in der vorherigen, zweiten (Doppel-)Stunde in PA / GA gefundenen und geschilderten Kinderrechte erfolgen. Das bereits angesprochene Zusatzmaterial kann erneut für schneller arbeitende Schüler*innen zum Einsatz kommen. Eine weitere Möglichkeit ist, diese Schüler*innen andere Gruppen unterstützen zu lassen. Die kinderfreundliche Version der KRK und die sortierten Bedürfnis- und Kinderrechte-Karten im Klassenzimmer sowie die eigenen Ausgaben der KRK können als inhaltliche Stütze dienen. Es bietet sich darüber hinaus an, vorab zu klären, welche Inhalte die Plakate umfassen sollen, um eine möglichst hohe Informationsdichte und Einheitlichkeit aller Plakate zu gewährleisten.In der Phase der Ergebnissicherung werden die Plakate im Kinositz präsentiert, bevor sie gemeinsam im Schulhaus angebracht werden. Die LK stellt ebenfalls ein Plakat vor, was Informationen zu Hilfemöglichkeiten / Anlaufstellen beinhaltet, die bei Verletzung oder Missachtung der eigenen Kinderrechte oder der anderer aufgesucht beziehungsweise kontaktiert werden können. (Eine Plakatvorlage und Ideen zur Präsentation finden sich im Anhang unter Material Unterrichtseinheit Kinderrechte und Formulierungsideen.)
Vierte (Doppel-)Stunde: Kinderrechte – Wir setzen sie um!
Die vierte (Doppel-)Stunde ist fakultativ. Sie befasst sich ebenfalls mit dem Thema 'Kinderrechte – Wir setzen sie um!' und bietet Raum, die weiteren Lösungsvorschläge der Schüler*innen aus der Erarbeitungsphase der zweiten (Doppel-)Stunde anzugehen.Darüber hinaus könnten auch das Aufzeigen der Möglichkeit der Partizipation in einem Kinderparlament in der eigenen oder einer nahe gelegenen Stadt oder die Vorbereitung einer Teilnahme an der UNICEF-Aktion 'Wir reden mit!', die jedes Jahr am Tag der Kinderrechte (20.11) stattfindet (vgl. Deutsches Komitee für UNICEF 2023i), Inhalt sein. Zu der Planung und Durchführung eines eigenen Projekts können Informationsmaterialien bei der Bundeszentrale für politische Bildung eingesehen werden (vgl. Sander 2013).
Abwandlungen / Anpassung an andere Klassenstufen
InsgesamtAnpassung der Anzahl der "ausgewählte[n] [...] Kinderrechte"
Erste (Doppel-)StundeEinstieg: Bedürfnisse mündlich, keine PriorisierungHinführung: Anpassung der InformationsmengeErarbeitungKinderrechte-Karten: keine Schrift, nur VisualisierungZusammenhang von Kinderrechten und Bedürfnissen mündlichErgebnissicherung: in zu gestaltenden Ausgaben der KRK ist kinderfreundlicher Titel des Kinderrechts / Schlagwort zur Verdeutlichung des Kinderrechts (z.B. Bildung, Gesundheit…) bereits vorhanden (von LK vor dem Kopieren auf Kopiervorlage notiert), Kinder malen ausschließlich dazu
Zweite (Doppel-)StundeErarbeitung: gemeinsamer Gang durch das Schulhaus / über das Schulgelände und Thematisierung der Kinderrechte vor Ort, kein ABErgebnissicherung: Sammeln von Lösungsvorschlägen im Plenum, LK notiert Vorschläge auf Plakat mit
Dritte (Doppel-)StundeGestaltung von Bildern zu Kinderrechten (anstatt von Plakaten): auch in EA möglich, freie Wahl des Kinderrechts möglichErgebnissicherung: keine Präsentation, Anbringen der Bilder unterhalb vorbereiteter Schriftzüge mit kinderfreundlichen Titeln der Kinderrechte (durch LK vorbereitet)
Vierte (Doppel-)StundeBereits angepasst an die Interessen der Schüler*innenAnpassung an Kapazitäten der Schüler*innen
Erwogene Alternativen
Alternative
Begründung für deren Ausschluss
Kinderrechte in aller Welt
- 'Kinder in aller Welt' eigenes Thema des baden-württembergischen Bildungsplans für Klassen 1/2 und 3/4: Standards für inhaltsbezogene Kompetenzen > Kultur und Gesellschaft (vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport 2016, S. 17, 35)- großer Vorbereitungs- und Zeitaufwand, um zu vermeiden, dass sich Stereotype / Generalisierungen / Machtgefälle (gebildet – ungebildet, reich – arm, modern – vormodern) etablieren und auf die Klassenebene übertragen werden
Fokus auf ein Recht im Besonderen
- wurde bereits in Blogbeitrag Kinderrechte unterrichten mit Astrid Lindgren (Reusch 2018) umgesetzt - Wahl eines Kinderrechts und somit Hervorhebung dieses Kinderrechts schwierig (wenn dann Recht auf Bildung (s. unten))
Umsetzung in Deutschland: Bildungs-ungerechtigkeit
- eher anspruchsvoll und umfangreich - von Bundeszentrale für politische Bildung für Klassen 5-8 empfohlen (vgl. Sander et al. 2013)
Debatte: Kinderrechte ins Grundgesetz
- aktuelle Thematik, Unterrichtseinheit könnte schnell inhaltlich überarbeitet werden müssen - Berücksichtigung des Kontroversitätsgebots (Beutelsbacher Konsens) schwierig
Abkürzungsverzeichnis
CRC = Convention on the Rights of the Child
BMFSFJ = Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
BMZ = Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
bpb = Bundeszentrale für politische Bildung
DIMR = Deutsches Institut für Menschenrechte
EA = Einzelarbeit
GA = GruppenarbeitGDSU = Gesellschaft für Didaktik des Sachunterrichts
KRK = Konvention über die Rechte des Kindes, kurz: Kinderrechtskonvention
LK = Lehrkraft
PA = Partnerarbeit
UN = United Nations (engl. für: Vereinte Nationen)
UNICEF = United Nations International Children's Emergency Fund
VN = Vereinte NationenAnhang
Übersicht Unterrichtseinheit Kinderrechte
Material Unterrichtseinheit Kinderrechte
Formulierungsideen Unterrichtseinheit KinderrechteListe zu empfehlendes Unterrichtsmaterial KinderrechteLiteraturverzeichnis Kinderrechte
1. Kapitel: Einleitung Das Kapitel der Einleitung erläutert die Zielsetzung und Fragestellung dieser Arbeit unter Angabe der verwendeten Primärquellen, zu denen die Zeitungsartikel, Archivdokumente, die Transkriptionen der qualitativen Interviews gehören sowie den aktuellen Forschungsstand. Ziel dieser Arbeit ist es zum einen, auf inhaltlicher Ebene die Auto- und Heterobilder sowie Stereotype in der westdeutschen und britischen überregionalen Presse herauszuarbeiten und diese vor dem Hintergrund des außenpolitischen bilateralen Verhältnisses zu interpretieren. Zum anderen sollen jene Eigen- und Fremdbilder strukturell in die Argumentationen der jeweils nationalen Pressetexte eingeordnet werden und auf ihre Funktion hin überprüft werden. In der vorliegenden Dissertation wird angenommen, dass Stereotype und Bilder "des Anderen" gezielt in die Argumentationen der nationalen Pressetexte eingebettet sind und dort argumentative Funktionen erfüllen, wie etwa die Verstärkung eines Arguments oder die Herstellung von Plausibilität, Interpretation und Einordnung eines Ereignisses oder dessen gesellschaftliche Legitimation. Daher verbindet diese Arbeit die Methodik der "Kritischen Diskursanalyse" (KDA) mit der "Imagologie". Das Forschungsparadigma der KDA lautet nach Siegfried Jäger, den Diskurs auf seine ikonographischen Mittel hin zu untersuchen. Manfred Beller und Joep Leerssen definieren den Forschungsanspruch der Imagologie wie folgt: "Imagology aims to understand a discourse rather than a society". Weder die KDA gelangt zu einer näheren Klassifizierung der zu untersuchenden "ikonographischen Mittel", noch unternimmt die "Imagologie" den Versuch, den Begriff "discourse" näher zu bestimmen. Daher wird in dieser Arbeit diese Lücke geschlossen und beide Methodiken an ihrer Schnittstelle miteinander verbunden. Es ist das Hauptanliegen dieser Arbeit, die diskursive Konstruktion des deutsch-britischen Verhältnis im jeweiligen Pressediskurs beider Länder im Untersuchungszeitraum dieser Arbeit tiefgreifend zu analysieren und die dem jeweiligen Diskurs zugrundeliegenden "Aussagen" im Sinne Foucaults herauszuarbeiten. Zudem sollen allgemein-gültige Ergebnisse zur Tradierung von Stereotypen und dem positiven und negativen Tenor der überregionalen Berichterstattung unter Berücksichtigung des außenpolitischen Kontextes in Betracht gezogen werden. Die Auswirkungen des Pressediskurses auf das öffentliche Denken soll anhand von Archivdokumenten bzw. von qualitativen Interviews punktuell gezeigt werden. 2. Kapitel: Diskurs und Kritische Diskursanalyse Im zweiten Kapitel wird zunächst der Diskursbegriff nach Michel Foucault mit den Wirkmechanismen und Strukturen von Diskursen begründet. Wichtig dabei ist der "Wissen/Macht-Komplex", der die diskursive Aushandlung von "allgemein gültigem Wissen" innerhalb einer Gesellschaft beschreibt. Dieses "Wissen" enthält die Tradierung gültiger Argumentationsformen inklusive Eigen- und Fremdbilder in der Presse. Der Begriff "Aushandlung" impliziert dabei, dass es sich um einen diffizilen diskursiven Prozess handelt. "Wissen und Macht" sind laut Foucault intrinsisch miteinander verbunden. Macht generiert Wissen, Wissen impliziert Macht. Demnach haben die als gültig ausgehandelten Argumentationsformen und Bilder in den Pressetexten eine Wirkungsmacht, Bewusstsein innerhalb einer Gesellschaft formen. In Foucaults diskursanalytische Theorien, die selbst keine konkreten Analyseschemata zur Untersuchung von (Medien-) Diskursen beinhalten, fließen die Weiterführungen von Sara Mills, Ruth Wodak und Norman Fairclough mit ein. Konkrete Vorgaben zur praktischen Analyse von Mediendiskursen legte der Linguist Sigfried Jäger des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung vor. Jäger definiert verschiedene Diskursebenen innerhalb einer Gesellschaft, bei denen der Mediendiskurs zwischen der Politiker- und Alltagsebene angesiedelt ist. Jäger beschreibt, dass der Mediendiskurs in sich relativ homogen ist, da die großen Leitmedien ihre Informationen von wenigen offiziellen Presseagenturen beziehen. Dies bedeutet, dass die Nachrichten zur Aktualität im Fernsehen relativ gleich denen im Radio oder den Zeitungen sind. Im Fall dieser Arbeit ist bestätigt, dass die Presse den dominanten Mediendiskurs sowohl in der BRD als auch in GB zur politischen Information darstellt. Die Pressetexte mit ihren Argumenten, ihrem Tenor und den Selbst- und Fremdbildern zu den Ereignissen der zweiten Berlin-Krise hatten demnach eine große Wirkung auf ihre Leser, zu denen nachweislich auch die Regierungsoberhäupter Adenauer und Macmillan zählen. Trotz der angenommen Homogenität des Mediendiskurses besitzt jede Presse- und Medieninstitution eine eigene "diskursive Position" gemäß ihrer Ausrichtung, die nachhaltig den Tenor ihrer Nachrichten bestimmen. Grundsätzlich teilt man in einer Gesellschaft Wissen darüber, welche Ausrichtung die "großen Zeitungen" haben. So ist etwa der Guardian und die SZ sozialliberal, die Times, FAZ, Die Welt und der Daily Telegraph konservativ eingestellt. Darüber hinaus teilt Jäger die Presseberichterstattung in ihre Bestandteile. Diese sind etwa die Berichterstattung über ein bestimmtes Thema, den "Diskursstrang". Pressetexte, die ein bestimmtes Thema behandeln, nennt er "Diskursfragmente". Demnach bilden alle Diskursfragmente zu einem Thema den Diskursstrang, der sich diachron gemäß der (außen-)politischen Situation entwickelt. Jäger bezeichnet ihn metaphorisch als "Fluss von Wissen durch die Zeit". Analysiert man ein Ereignis, über das in den Medien viel berichtet wird, stellt dies ein "diskursives Ereignis" dar. Für Jäger stellen diese Orientierungspunkte dar, da sie eine "Momentaufnahme" des Diskursstranges abbilden und zeigen, welche Bilder, Argumente und diskursiven Mechanismen zu einem bestimmten Zeitpunkt tradiert wurden bzw. "gültig" waren. Die diachrone Aneinanderreihung von Ergebnissen aus mehreren diskursiven Ereignissen zeigt dann Entwicklungen und Veränderungen in einem Diskursstrang auf, dessen Einwirkungen vor dem Hintergrund der politischen Ebene interpretiert werden können. 3. Kapitel: Imagologie und Stereotypenforschung Das Kapitel behandelt die Bildung, Funktionen und Tradierung von Eigen- und Fremdbildkonstruktionen als kulturelle Konstrukte im öffentlichen Diskurs, dem die Berichterstattung angehört. Ursprünglich in der vergleichenden Literaturwissenschaft situiert, weiten Beller & Leerssen das Untersuchungsfeld der Imagologie von literarischen Texten auf Texte "as forms of cultural representation" aus. Dem sind Zeitungsartikel überregionaler Qualitätszeitungen ebenso zuzuordnen. In diesem Kapitel werden die "Images" als Oberbegriff erläutert, aus denen sich das Bild, Stereotyp, Vorurteil und Feindbild ableiten. Zudem wird das Nationenbild behandelt. Der Schwerpunkt der Darstellungen in dieser Arbeit liegt dabei auf dem Stereotypenbegriff. Eingehend erläutert dieses Kapitel die identitätsstiftende Funktion von Eigen- und Fremdbildern, wobei ebenso die Aspekte des Wandels und der Beständigkeit von Stereotypen beleuchtet werden. Die Eigen- und Fremdbildkonstruktionen werden in den Kontext der Presseberichterstattung, insbesondere der Auslandsberichterstattung, eingebettet und deren Merkmale skizziert. Demnach wird die Struktur der Presseberichterstattung erläutert, in dem die Stereotype und Bilder eingebettet werden. Ebenso wird die Relation zwischen verbalem Ausdruck eines Stereotyps und dessen kognitive Assoziierung behandelt, wobei der konturierte Charakter eines Stereotyps gezeigt werden soll. 4. Kapitel: Methodische Vorgehensweise Dieses Kapitel fasst, basierend auf der erläuterten Methodik der Kritischen Diskursanalyse aus Kapitel 2 und den Grundlagen der Stereotypenforschung in Kapitel 3 die konkrete Vorgehensweise und methodische Anwendung dieser Arbeit zusammen. Behandelt wird die konkrete Auswahl relevanter Pressetexte für die quantitative und qualitative Analyse von westdeutschen und britischen Zeitungsartikeln der jeweils drei großen überregionalen Tageszeitungen, die das Korpus dieser Dissertation bilden (Times, Daily Telegraph, Manchester Guardian, FAZ, SZ und Die Welt). Die diskursiven Ereignisse des Untersuchungszeitraumes werden erläutert, ebenso wie die Klassifizierung der drei untersuchten Diskursstränge, die das deutsch-britische Verhältnis zur Zeit der zweiten Berlin-Krise von 1958 bis 1962 diskursiv aushandeln. Die konkrete Vorgehensweise aus Struktur- und Feinanalyse, die auf die drei Diskursstränge angewandt wird, wird geschildert. Dabei wird bereits der "Tenor der Berichterstattung" geschildert, der die drei untersuchten Diskursstränge dominiert. Neben der Tradierung von negativen, neutralen oder positiven Stereotypen im überregionalen Pressediskurs eines Landes entscheidet auch die subtilere "Stimmung" im Pressetext über die Formulierung eines positiven oder negativen Fremdbildes. Die Ergebnisse dieser Untersuchung zeigen in Abgleich mit den Archivdokumenten zum politischen Hintergrund, dass der Tenor der Berichterstattung eines Landes über die fremde Nation an das außenpolitische Verhältnis gebunden ist – zur Zeit von Macmillans Moskau-Reise im Februar 1959 stellt die britische Außenpolitik eine Bedrohung für den Kurs Adenauers dar mit der Konsequenz, dass in beiden Pressediskursen ein negativer Tenor mit einer großen Anzahl negativer Fremdbilder zirkulierte. Als Macmillan 1960 von seiner Entspannungspolitik in Zentraleuropa Abstand nimmt und sich der kontinentaleuropäischen Wirtschaftsbeziehungen zuwendet, verbessert sich sowohl der Tenor als auch die wechselseitigen Heterobilder über den Anderen in beiden Pressediskursen. Demnach hängt die negative Tradierung von Fremdbildern von der diskursiven Konstellation ab, die in den überregionalen Leitmedien dem außenpolitischen Kurs der jeweiligen Regierung folgt. 5. Kapitel: Das britische und westdeutsche Pressewesen Im 5. Kapitel wird das westdeutsche Pressewesen dem britischen gegenübergestellt. Zunächst soll gezeigt werden, dass die Zeitungen im Untersuchungszeitraum dieser Arbeit das dominante Leitmedium zur politischen Information darstellen, da die "ephemeren" Medien wie Radio und Fernsehen zwar in beiden Ländern zahlenmäßig (bereits) weit verbreitet waren, sich zur intensiven politischen Information jedoch (noch) nicht durchgesetzt hatten. Dies hat zur Folge, dass der Presseberichterstattung über die britische und westdeutsche Außenpolitik zur zweiten Berlin-Krise eine noch größere Wirkungsmacht zukommt, deren inhaltliche Analyse sich eignet, dominante Grundaussagen des britischen und westdeutschen Pressediskurses in Form von Argumentationsmustern und der Tradierung von Fremdbildern zu Legitimierungszwecken herauszuarbeiten. Von diesen kann angenommen werden, dass sie eine sehr starke Wirkmacht zur Bewusstseinsbildung über die jeweils fremde Nation bei den Lesern hatten, zu denen nachweislich auch die führenden Politiker beider Länder zählten. Danach werden die sechs überregionalen Zeitungen in ihrer Pressegeschichte sowie ihrer zahlenmäßigen Verbreitung vorgestellt und ihre "Diskursposition", d.h. in ihrer (politischen) Ausrichtung im gesellschaftlichen Diskurs, genannt. Da diese Arbeit eine relative Homogenität der überregionalen Leitmedien annimmt, wird die Diskursposition der einzelnen Tageszeitungen in dieser Untersuchung vernachlässigt. Es werden zudem wesentliche Unterschiede des westdeutschen und britischen Pressewesens erläutert und die Kriterien einer "überregionalen Tageszeitungen" definiert. Abschließend werden beide Pressewesen miteinander verglichen und in den historischen Kontext der zweiten Berlin-Krise eingeordnet. 6. Kapitel: Die zweite Berlin-Krise als diskursiver Kontext Dieses Kapitel erläutert die außen- und weltpolitischen Hintergründe des längsten Konfliktes des Kalten Krieges, die im August 1961 zur sichtbaren Teilung Deutschlands in Ost- und West führte. Der historische Hintergrund wird mit Archivdokumenten aus dem Bundesarchiv Koblenz sowie dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes gestützt. Gezeigt werden die Rollen und Verantwortlichkeiten der alliierten Siegermächte Großbritannien, den USA und Frankreich gegenüber den sowjetischen Forderungen Chruschtschows, das Viermächteabkommen aufzukündigen und die alliierten Truppen aus Westberlin abzuziehen. Mit der Schilderung des historischen Hintergrundes wird zudem der Untersuchungszeitraum dieser Arbeit festgelegt, der mit dem Chruschtschow-Ultimatum vom 27.11.1958 beginnt und mit dem Beginn der Kuba-Krise im Oktober 1962 endet. Neben der Schilderung des Verlaufes der zweiten Berlin-Krise wird das deutsch-britische Verhältnis in diesem Zeitraum eingehend geschildert. Betont werden die Rolle Großbritanniens in der Außenpolitik Adenauers sowie umgekehrt, Deutschland bzw. Berlin in der britischen Außenpolitik. Darüber hinaus behandelt dieses Kapitel dominante Deutschlandbilder der britischen Öffentlichkeit sowie die Englandbilder der westdeutschen Bevölkerung. Inhalte politischer Dokumente stützen vorherrschende Haltungen beider Regierungen zueinander, die dem Zweck dienen, Einflüsse auf den jeweiligen Pressediskurs eines Landes zu erkennen, bzw. aus diskursanalytischer Sicht, die Politikerebene von der Medienebene zu trennen. 7. Kapitel: Kategorisierung der Diskursstränge Hier werden die drei in dieser Arbeit analysierten Diskursstränge inhaltlich umrissen. Diskursstränge, die Bilder des Anderen enthalten, jedoch nicht wechselseitig in beiden auftreten, werden in Punkt 7.4 genannt. Dabei handelt es sich um Diskursstränge, die spezifisch für ein Land stehen, die fremde Nation jedoch thematisieren. So behandelt Großbritannien verstärkt das Thema "NS-Prozesse" im eigenen spezifischen Diskurs anders als dies in der westdeutschen Presse geschieht. 8. Kapitel: Diskursstrang 1: Der Staatsbesuch von Theodor Heuss: Oktober 1958 Mehrere Faktoren begründen den Staatsbesuch von Theodor Heuss als ersten offiziellen Empfang eines deutschen Regierungsoberhauptes durch die britische Monarchin seit 1907 als diskursives Event zu behandeln und in die Analyse miteinzubeziehen, obwohl er Ende Oktober 1958, knapp einen Monat vor dem Beginn der zweiten Berlin-Krise, durch das Chruschtschow-Ultimatum stattfand. Erstens repräsentieren sowohl der Bundespräsident als auch die britische Monarchin die Bevölkerung ihres Landes und nicht die außenpolitische Linie. Demnach steht das Verhältnis beider Bevölkerungen zueinander im Mittelpunkt der Berichterstattung. Zweitens bestätigen mehrere Quellen, dass der Heuss-Besuch das Ende der Nachkriegsära im deutsch-britischen Verhältnis einläutete. Demnach stand dem Besuch eine große diskursive Aushandlung über die Presse beider Länder bevor, das deutsch-britische Verhältnis, das sich insbesondere durch den Zweiten Weltkrieg zu einer Feindschaft wandelte, neu auszuhandeln. Von britischer Seite bestand eine große Reserviertheit und Kühle gegenüber dem westdeutschen Gast, die die britische Presse dominierte. Die westdeutschen Zeitungen berichteten ausführlich über die Ehrung und Würde des königlichen Empfangs und bezogen sich anschließend auf das negative Echo der britischen Zeitungen. Die britische Presse zeichnete dabei das Bild des "deutschen Charakters" als obrigkeitshörigen, gefügigen, materialistischen und unmoralischen Deutschen, der seine Vergangenheit mit dem Konsum des Wirtschaftswunders verdrängt. Heuss dagegen sei "not this kind of German". Von deutscher Seite seien "Engländer auch keine Italiener". Nationale Bilder des Anderen dienen der Legitimierung und Einordnung in den eigenen diskursiven Kontext, die Haltung und Reaktion des Anderen logisch zu interpretieren. Sowohl die qualitative als auch quantitative Analyse der Presseartikel in den westdeutschen und britischen Zeitungen ergeben, dass das Bild vom Anderen in seiner Anzahl negativ ist, was auf ein vorherrschend negatives Bild und Grundaussauge insbesondere im britischen Diskurs gegenüber den Deutschen schließen lässt. Es zeigt sich zudem, dass die dominanten Unterthemen der britischen und westdeutschen Presse analog zu der Hierarchie der am meisten verwendeten negativen Fremdbildern sind. Demnach überwiegt zahlenmäßig in der britischen Presse das Bild des unmoralischen und militanten Deutschen, das in Analogie zum am meisten vorhandenen Unterthema der NS-Vergangenheit steht. Von deutscher Seite ist das Bild der kühlen, reservierten und unhöflichen Briten dominant, das am gewichtigsten das Unterthema der "Reaktion der britischen Bevölkerung und der britischen Presse" interpretierend unterstützt. Heterobilder und -stereotype sind demnach in die Struktur der Presseberichterstattung eingebettet und erfüllen bestimmte Funktionen, meist die der Verstärkung der Argumentationen zur Herstellung von Plausibilität und Logik. Indem die westdeutsche Presse die Briten als "arrogant allem Fremden gegenüber" charakterisiert, dient dies der Einordnung und Erklärung für die berichtete kühle Reaktion der britischen Bevölkerung auf den deutschen Gast. Indem die britische Presse ein Kontinuitätsbild der Deutschen als "militant und unmoralisch" tradiert, ist die reservierte Haltung der eigenen Bevölkerung gegenüber den unmoralischen Deutschen gerechtfertigt. Zugleich stilisieren sich die Briten selbst als "moralisch" im Hinblick auf ihre politische Tradition und Konstitution. Die diskursive Aushandlung des deutsch-britischen Verhältnis zum Heuss-Staatsbesuch dient der "Aktualisierung" des jeweiligen Fremdbildes, wodurch aus diskursanalytischer Sichtweise "viel Wissen produziert wird". Die mediale Neuaushandlung der deutsch-britischen Beziehungen wird durch Berichte etwa des deutschen Botschafters in London sowie von Heuss selbst ergänzt, die erläutern, dass es sich um eine berichtete kühle Reserviertheit der britischen Bevölkerung gegenüber dem deutschen Staatsgast handelt und nicht um eine tatsächlich erlebte Ablehnung aus Sicht beider Politiker. Theodor Heuss berichtigte diese Tatsache sogar in seiner Neuansprache an das deutsche Volk vom 31.01.1958, bei der er sagte, dass er viel Wärme erfahren habe und dass verantwortliche Journalisten einberufen wurden. Trotz der überwiegend negativen Tradierung der Bilder des Anderen während des Heuss-Besuchs ist eine Verbesserung des Tenors in beiden nationalen Pressediskursen zu erkennen, die etwa im Januar bei den wohlwollenden Berichten über die Assoziierung Großbritanniens an den europäischen Markt deutlich erkennbar ist, jedoch durch die Herausforderungen der zweiten Berlin-Krise ab Januar 1959 deutlich in den Hintergrund rückt. 9. Kapitel: Bilaterale Krise zwischen Adenauer und Macmillan: 1959 Der Diskursstrang der bilateralen Krise zwischen Adenauer und Macmillan im Jahr 1959 bildet den "Kern" der in dieser Arbeit durchgeführten Diskursanalyse. Dies ist damit zu begründen, dass der Diskursstrang von Oktober 1958 bis Januar 1959 eine positive Entwicklung aufzeigt, die durch das zunächst relativ harmonische persönliche Verhältnis zwischen Adenauer und Macmillan aufgrund außenpolitischer Übereinstimmung gekennzeichnet ist. Adenauers Position als Befürworter des britischen Anliegens, sich wirtschaftlich in Europa nicht zu isolieren durch die Schaffung einer Freihandelszone als Gegengewicht zur 1957 gegründeten EWG der Kontinentaleuropäer stößt zunächst auf Wohlwollen der außenpolitischen Interessen Macmillans und Adenauers, der stets eine engere Einbindung Großbritannien an Europa anstrebte. Durch das Chruschtschow-Ultimatum Ende November 1958 und der sich Mitte Januar 1959 herauskristallisierenden entgegengesetzten Positionen im Ost-West-Konflikt verschlechterte sich das bilaterale Verhältnis um ein Vielfaches, das nach der unilateralen Moskau-Reise Macmillans Ende Februar 1959 im April 1959 seinen Höhepunkt nimmt. Der bilaterale Konflikt wird auf den polarisierenden Charakterisierungen des weichen Macmillans gegenüber eines starren Adenauers auf die Personen des britischen und westdeutschen Regierungsoberhauptes übertragen. Von westdeutscher Seite wird dem Misstrauen gegenüber der britischen Außenpolitik mit Beschwichtigungen reagiert. Zugleich tritt Amerika als "Beschützer" vor den Russen ins Zentrum der westdeutschen Argumentation. Macmillans ergebnislose Moskau-Reise wird in der westdeutschen und britischen Presse unterschiedlich interpretiert: die Briten sehen sie weitestgehend als Erfolg, da Chruschtschow gegen Ende doch noch einer Außenministerkonferenz zustimmte, die ab Mai in Genf stattfand. Die Zeitungen der BRD werten sie einschlägig als "Fehlschlag". Macmillans einseitige Initiative wirft zugleich die Frage einer "Paris-Bonn-Achse" auf, da die Moskau-Reise noch stärker zu einer Polarisierung innerhalb der westlichen Allianz führt: de Gaulle steht entschieden zur starren Haltung Adenauers gegenüber der UdSSR, Amerika befürwortet eher Verhandlungen wobei die britische Regierung vollkommen auf Verhandlungen mit Chruschtschow setzt, um die Berlin-Frage zu lösen. Die Begriffe "schwach" in der westdeutschen Presse und "suspicious" in der britischen sind die im Verlauf des Jahres 1959 am häufigsten tradierten Bilder des Anderen. Die deutschen Zeitungen stilisieren Macmillans Außenpolitik und Großbritannien als schwächste Alliierte wohingegen die britische Presse Adenauer als "misstrauisch" gegenüber britischen Motiven charakterisiert. Im April äußerte sich Adenauer im Rundfunk über "Drahtzieher", die bewusst das deutsch-britische Verhältnis in Großbritannien verschlechtern. Ohne direkt die "Wire-Pullers" zu nennen, bezieht die britische Presse Adenauers Anschuldigungen Mitte April 1959 auf sich. Es kommt zum Times-Artikel: "Anglo-German relations at low ebb" sowie zur Bemerkung im Daily Telegraph: "No conspiracy is needed since anti-German feelings exist without being artificially inspired". Adenauers kritische Äußerungen halten von Juni bis September 1959 an. Während der ersten Phase der Genfer Außenministerkonferenz bleibt ein negativer Tenor in der westdeutschen Presse gegenüber britischen Motiven bestehen, wobei Adenauers Kritik an der britischen Außenpolitik in Zusammenhang mit der (ergebnislosen) Genfer Konferenz zu sehen ist. Ab September ist eine eindeutige Distanzierung sowohl der britischen als auch deutschen Presse zu Adenauers Äußerungen zu bemerken. Dies liegt in der quantitativen Anzahl von Artikeln begründet als auch in der qualitativen Analyse der Presseartikel. Über die dritte Adenauer-Kritik an Großbritannien wird verhältnismäßig wenig und sehr "nüchtern" berichtet. Daher ist eine Einflussnahme der Regierungen auf eine Verbesserung des bilateralen Verhältnisses in der Presseberichterstattung zu verzeichnen. Als Adenauer im Oktober 1959 bekannt gibt, Ende November 1959 zu bilateralen Gesprächen mit Macmillan nach London zu reisen, richtet sich der Tenor beider Pressediskurse auf die Hoffnung und Zuversicht, dass beide Staatsmänner ihre Differenzen beseitigten. Insbesondere in der britischen Presse ist eine stark betonte Verbesserung des Tenors gegenüber Deutschland zu vermerken, die etwa in Berichten wie "the prospects for next week's talks are excellent" zum Ausdruck kommt. Die deutsche Presse bezeichnet die Verschlechterung des deutsch-britischen Verhältnis als "unnötigen Hader". Auch die Nachbereitung der bilateralen Gespräche hinterlässt einen positiven Einschlag. Die öffentliche Haltung des westdeutschen Außenministers sowie Adenauers selbst, eine Assoziierung der neu gegründeten EFTA mit der EWG zu befürworten, sowie Macmillans Distanzierung von einem Disengagement in Zentraleuropa führt zu jener bilateralen Verbesserung. Die Analyse ergab, dass die britische Presse Adenauer negativ als "old, suspicious, rigid und authoritarian" im April, Juni und September im Rahmen seiner Kritik an Macmillan charakterisiert. Britische Außenpolitik wird in der zweiten Hälfte von 1959 als "nüchtern" und "pragmatisch" stereotypisiert, in der ersten als "weich, schwach und flexibel". Auffallend ist, dass, je mehr über die verschlechterten deutsch-britischen Beziehungen berichtet wird, desto stärker das deutsch-französische hervortritt. Die Dominanz der Unterthemen in beiden Pressediskursen im Jahr 1959 zeigt, dass das Gewicht vom außenpolitischen Prinzip bestimmt ist. Für die deutsche Presse sind dies die deutsch-französischen Beziehungen und die außenpolitische Haltung Großbritanniens im Ost-West-Konflikt, für die britische Presse sind dies die Thematik um die Freihandelszone bzw. EFTA sowie die erstarkende Position der BRD als ("gleichberechtigter", "dominanter") NATO-Partner. Die überregionalen Leitmedien folgen demnach den außenpolitischen Kurs der jeweiligen Regierung. 10. Kapitel: Hinwendung zu Europa? Großbritannien und die EWG ab 1960 Der dritte Diskursstrang behandelt schwerpunktmäßig die diskursive Aushandlung des britischen Selbstbildes in seiner Hinwendung zu Europa gemäß der britischen Außenpolitik. Mit der zunehmenden und schnell wachsenden Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die zur politischen Union werden soll, verliert die von Großbritannien gegründete EFTA an Kraft. Neben Kennedys Wunsch nach einer Europäischen Integration, die Großbritannien als Mitglied der EWG sehen will, wird die Einheit der westlichen Allianz gegenüber der Sowjetunion auf die Wirtschaft übertragen. Bei Macmillans Besuch in Washington im April 1961 wird dieser Prozess beschleunigt, als der britische Premier am 31.07.1961 im Unterhaus verkündet, ein Beitrittsgesuch zur EWG in Brüssel zustellen. Der Diskursstrang ist zunächst in drei Phasen zu teilen: 1) Deutsch-britische Annäherung zwischen EWG und EFTA von Januar 1960 bis Februar 1961, 2) Erwägung und Beschluss des britischen EWG-Beitrittes: März bis Dezember 1961, 3) Wachsende Skepsis und Distanz Adenauers zum britischen EWG-Beitritt: Januar bis Oktober 1962. Das der Diskursstrang eine starke Fokussierung auf dem britischen Selbstbild besitzt und das Verhältnis Großbritannien vermehrt gegenüber den EWG-Staaten und weniger bilateral behandelt wird, wurde hier auf eine Feinanalyse verzichtet. Ziel der Strukturanalyse ist es, vor dem Hintergrund der zeitweiligen Abwesenheit außenpolitischer Differenzen zwischen beiden Ländern eine starke Verbesserung des Tenors in der britischen und westdeutschen Presseberichterstattung festzustellen, wobei es im Februar 1961 zu einem berichteten "Höhepunkt" im deutsch-britischen Verhältnis beim bilateralen Treffen zwischen Adenauer und Macmillan in London kommt, der neben dem positiven Tenor auch gerade in der positiven Darstellung Adenauers in der britischen Presse zeigt. Die positive Darstellung Adenauers ist mit seiner Befürwortung eines britischen EWG-Beitrittes verbunden. Auch hier kommt das deutsch-französische Verhältnis zum Tragen: die britische Presse erhofft sich mit Adenauer einen Fürsprecher gegenüber de Gaulle zu haben bzw. die deutsch-französische Achse aufzuweichen. Adenauer dagegen ist über die positive Haltung der Briten gegenüber einer Europäischen Integration positiv gestimmt. Während sich in der zweiten Phase des Diskursstrangs die bilaterale Aushandlung der deutsch-britischen Beziehungen entfernt, da die britischen Zeitungen etwa das Selbstbild um den Verlust der eigenen Souveränität aushandeln und die Berlin-Krise mit dem zweiten Chruschtschow-Ultimatum vom Juni 1961 und der darauf folgenden Abriegelung des Ost-Sektors von Berlin im August 1961 die Aufmerksamkeit der westdeutschen Zeitungen auf den Ost-West-Konflikt richten. Die dritte Phase ab Januar 1962 wird eingeleitet durch Macmillans Besuch in Bonn Anfang Januar 1962. Dabei werden erste Verschlechterungen in der beiderseitigen Berichterstattung deutlich, die sich um die Stationierungskosten der britischen Rhein-Armee ranken, die aufgrund der Teilung Deutschlands im Rahmen der NATO aufgestockt werden muss. Im März äußert sich Adenauer erstmals öffentlich gegenüber einem französischen Journalisten kritisch dem britischen EWG-Beitritt gegenüber. Politische Dokumente vom Dezember 1961 belegen, wie sehr Adenauer de Gaulles distanzierter Haltung zu einem britischen EWG-Beitritt zustimmt, da sonst das politische Konzept der EWG nicht umgesetzt werden könne. Im Juni 1962 äußerte sich der Bundeskanzler erneut konkret kritisch, indem er behauptet, dass eine wirtschaftliche Assoziierung Großbritanniens zur EWG nicht gleich eine Vollmitgliedschaft des Vereinigten Königreiches bedeuten muss. Die westdeutsche Presse distanziert sich zunehmest von Adenauers kritischen Äußerungen wohingegen die britischen Zeitungen Ludwig Erhards und von Brentanos Zustimmung zitieren. Mit Adenauers Staatsbesuch in Paris Anfang Juli und der zelebrierten deutsch-französischen Aussöhnung in der Kathedrale von Reims kommen Feindbilder gegenüber den militanten Deutschen in der britischen Presse erneut hervor. Adenauer wird für die britische Europapolitik zur Bedrohung, da eine demonstrierte Aussöhnung mit de Gaulle gleichbedeutend sei mit einer Distanzierung Bonns vom britischen Anliegen und von einer Fürsprache Adenauers bei de Gaulle für die britische Sonderstellung. Weitere kritische Äußerungen Adenauers im August 1962 verstärken diese Haltung. Die westdeutsche Presse distanziert sich dabei nachweislich von den Äußerungen des "alten Herrn" und folgen dem Konsens der Bonner Außenpolitik. Mit dem Beginn der Commonwealth-Konferenz in London im September und dem aufkommenden Konflikt der Kuba-Krise endet der Untersuchungszeitraum dieser Arbeit. 11. Kapitel: Ergebnisse und diskursanalytische Schlussfolgerungen Zu den zentralen Schlussfolgerungen zählt die Aussage, dass die britische und westdeutsche überregionale Presse den allgemeinen Konsens der Außenpolitik verfolgt. Abweichende Haltungen einzelner Personen, auch gerade die der Regierungsoberhäupter, werden gegebenenfalls ausgegrenzt. Somit hält der überregionale Pressediskurs die Funktion einer Korrektur inne. Einflussnahmen der Politikerebene auf den Tenor der überregionalen Berichterstattung wurden kenntlich gemacht, etwa ab September 1959 vor dem Adenauer-Besuch in London. Die Formulierung negativer Fremdbilder und Stereotype ist in den Zeiten des außenpolitischen Konfliktes quantitativ erhöht. Ein interessantes Ergebnis ist die Dichotomie der tradierten Bilder von Adenauer und Macmillan: im April 1959 stilisiert die westdeutsche Presse Macmillan als "weich" und "flexibel" wohingegen die britischen Zeitungen Adenauer als "rigid" und "authoritarian" charakterisieren. Die Herausbildung negativer Stereotype ist damit zu begründen, dass die fremde Nation zur Bedrohung für die eigenen Interessen wird, wie im Fall von Macmillans Moskau-Reise oder Adenauers zunehmender Distanzierung zum britischen EWG-Beitritt. In Zeiten der akuten Bedrohung ist zusätzlich eine quantitative wie qualitative Abhängigkeit der britischen und westdeutschen Presseartikel festzustellen. So verlaufen beide Diskursstränge parallel zueinander. Aus qualitativer Sicht finden zahlreiche direkte und indirekte Bezüge der westdeutschen Presse zu britischen Artikeln sowie umgekehrt statt. Im dritten Diskursstrang, der vor dem Hintergrund der vorläufigen Abwesenheit von bilateralen Spannungen artikuliert wurde, treten die direkten Bezugnahmen zwischen der britischen und westdeutschen Presse zurück. Darüber hinaus verbessert sich der Tenor nachhaltig. In dem Moment, als erneut Spannungen auftraten, wie ab Juni 1962, tritt sogar das Bild des militanten Deutschen erneut in der britischen Presse auf. Somit hängen negative Fremdbilder vom außenpolitischen Kurs der Regierung und der Position der anderen Nation im bilateralen Verhältnis in den überregionalen Zeitungen ab. Zudem werden Forschungsausblicke vorgelegt, die sich auf einen Vergleich etwa des dritten Diskursstrangs mit dem gegenwärtigen EU-Austritt Großbritanniens beziehen oder sich mit den Dynamiken des deutsch-französischen Verhältnisses beschäftigen. 12. Kapitel: Ausblick: Wandel der Stereotype in der deutsch-britischen Presseberichterstattung(?) Das Kapitel möchte einen Ausblick zum Wandel bzw. zur Beständigkeit von den hier untersuchten Bildern des Anderen im gegenwärtigen deutsch-britischen Verhältnis liefern. Dazu werden einerseits Parallelen zum gegenwärtigen EU-Austritt Großbritanniens gezogen. Andererseits werden mittels der Aussagen von Interviewpartnern aus dem deutsch-britischen Verhältnis Ergebnisse und Ausblicke vorgelegt, die zur weiteren Erforschung der deutsch-britischen Pressebeziehungen einladen sollen. ; This doctoral dissertation examines the use of national stereotypes used in British and West German quality newspapers during the second Berlin Wall Crisis (1958 to 1962). As the Berlin Wall Crisis represents the tensest controversy within Cold War history, the national press coverage of West Germany and Great Britain is highly defined by reports on the political events. These are temporarily characterised by the direct confrontation between the West German chancellor Konrad Adenauer and the British Premier Harold Macmillan. The density and acuteness of this Cold War crisis, however, reduces the respective press releases on German and British affairs to a mere political coverage; thus, the analysis of the prevailing British and German newspapers can be regarded as a political discourse analysis. The methodological approach employed in this work follows the Critical Discourse Analysis according to Ruth Wodak [1], Norman Fairclough [2] and Sara Mills [3] with the aim of displaying the mutual use of auto- and hetero-images of "the Germans" and "the British" in the respective national media and consequently, the discursive construction of national identity. The discourse analysts' view is supplemented here by the imagologist approach of Manfred Beller [4], which concerns the construction of national images of the Self and the Other in public national discourse. Referring to the above-mentioned dominance of politically related reports in past national press coverage, Critical Discourse Analysis represents a highly suitable methodological approach as it aims at examining the discursive mechanisms of power and ideology in which a text is set. Considering this, Sara Mills defines Critical Discourse Analysis as a "political analysis of text" [5]. The time period examined in this work does not only mark the peak of the East-West conflict but also implements the substantial formation and structure of the European Union as it is still prevalent today. Major negotiations in the national press of that time, such as the entrance of Great Britain into the European Economic Community (EEC) beginning in the late 1950s, reveal arguments, attitudes and images in national press coverage about European affiliation of which many are still valid today. This can be currently noticed in British demands for a European reform as well as in a possible exit from the European Union in 2017. Accordingly, the diachronic view from the news coverage between Germany and Britain during the Berlin Wall Crisis is accomplished by this present outlook on German-British relations. This double-tracked approach allows both a complex portrayal of the historical development of German-British relationship and a definition of the mechanisms of auto- and hetero-images as they occur and change in trans-national media discourse. References: [1] Ruth Wodak and Michael Meyer (Eds.). Methods of Critical Discourse Studies. London: Sage, 32016. [2] Norman Fairclough. Critical Discourse Analysis. The Critical Study of Language. Edinburgh: Longman, 22010. [3] Sara Mills. Discourse. London: Routledge, 1997. [4] Manfred Beller and Joep Leerssen (Eds.). Imagology. The Cultural Construction and Literary Representation of National Characters. A Critical Survey. New York: Rodopi, 2007. [5] Mills: Discourse, p. 131. ; Arrogante und nüchterne Briten, ein Bundespräsident, der nicht deutsch sein kann, da er den Briten sympathisch ist oder militante Deutsche, die gemocht werden wollen - so schreiben die überregionalen britischen und westdeutschen Tageszeitungen während einer der brisantesten Krisen des Kalten Krieges übereinander. Die zweite Berlin-Krise (1958 bis 62) repräsentiert dabei eine schicksalhafte Zeit sowohl für die Bundesrepublik als auch für das Vereinigte Königreich. Themen wie die Suche nach einer gemeinsamen westlichen Strategie als Antwort auf sowjetische Ultimaten und die Teilung Deutschlands, die ambivalente britische Außenpolitik gegenüber Berlin, die deutsch-französischen Annäherungen und die Einbindung des Vereinigten Königreiches in die kontinentaleuropäische Wirtschaft dominieren die Pressediskurse beider Nationen. Diese Studie untersucht die diskursiven Mittel, mit denen die überregionale Presse außenpolitische Ereignisse in den eigenen nationalen Referenzrahmen integriert, und welche Rolle dabei textuelle Stereotype und Charakterisierungen spielen. Mithilfe der Methode der Kritischen Diskursanalyse will diese Arbeit anhand qualitativer und quantitativer Darstellungen jeweils diskursive Mechanismen der westdeutschen und britischen Tagespresse aufzeigen und damit ein kleines Stückchen Licht in die mediale Tradierung eines komplexen deutsch-britischen Verhältnisses bringen.
Inhaltsangabe: Einleitung: Eine der stärksten Volkswirtschaften der Europäischen Union steht vor großen Herausforderungen. Seit längerem ist bekannt, dass in steuerlicher Hinsicht der Wirtschaftsstandort Deutschland nicht mehr den internationalen Wettbewerbsstandards entspricht. Gründe hierfür liegen in einer, im internationalen Vergleich, zu hohen nominalen bzw. effektiven Steuerbelastung und in einem unübersichtlichen Steuersystem. Nationale als auch internationale Investoren orientieren sich bei ihrer Standort- und Finanzplatzwahl nicht zuletzt an den Gegebenheiten des jeweiligen Besteuerungssystems. Für Deutschland ergeben sich hieraus, trotz ansonsten guter Standortvoraussetzungen, wie etwa Infrastruktur, Qualifikationsniveau der Arbeitnehmer oder Rechtssicherheit, erhebliche Wettbewerbsnachteile. Folge der hohen Steuerbelastung und Vielschichtigkeit des Besteuerungssystems: Unternehmen sorgen durch wirtschaftliche und rechtliche Gestaltung dafür, dass ein erheblicher Teil der in Deutschland erwirtschafteten Gewinne in Ländern mit niedrigeren Steuersätzen versteuert werden. Sie nutzen die gegebenen Standortvorteile, entziehen sich aber durch Gewinnverlagerungen der Besteuerung. Die Herausforderungen der heutigen Zeit bestehen des Weiteren in der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, der Schaffung von Ausbildungsplätzen, dem Abbau der Staatsverschuldung, der Bewältigung des demografischen Wandels und einer vernunftgeprägten Reaktion auf den Veränderungsdruck der Globalisierung. Diese Gegebenheiten begründen unter anderem eine tiefgreifende Veränderung des Besteuerungssystems, zugleich aber auch unseres Gemeinwesens, um die wirtschaftliche Anziehungskraft des Standortes Deutschland zu sichern. Es geht sowohl um die Wiederherstellung der finanziellen Handlungsfähigkeit des Staates für notwendige Zukunftsinvestitionen, als auch um die Verbesserung der Rahmenbedingungen für mehr Wachstum und Beschäftigung. Zur nachhaltigen Sicherung der deutschen Steuerbasis muss der Abwanderung von Unternehmen und des damit verbundenen Kapitals ins Ausland langfristig konsequent entgegengewirkt werden. Nicht allein durch die Verlagerung von Unternehmensgewinnen verliert Deutschland seine Steuergrundlagen, sondern auch durch die Übertragung von Kapitalvermögen der privaten Haushalte in Länder mit einer günstigeren Besteuerungsmodalität. Das deutsche Abgabensystem wird von vielen Bundesbürgern, sowie von in- und ausländischen Investoren, als undurchsichtig, investitionsfeindlich und kompliziert bewertet. Diese Empfindungen spiegeln sich wieder in hohen Tarifsätzen, einer Vielzahl von Gestaltungsvarianten und komplexen Rechtsnormen, wobei verschiedene Steuerarten in vielfältiger Weise miteinander verknüpft werden. Die zahlreichen Sonder- und Ausnahmeregelungen führen dabei nicht zuletzt zu Hemmnissen bei wirtschaftlichen Entscheidungen. Auch die ausufernde Bürokratie wird, in Bezug auf Wachstum und Flexibilität, nicht nur aus Sicht der Wirtschaft, als einengender Faktor erlebt. Selbst nach Ansicht des Bundesrechnungshofes ist eine generelle Vereinfachung des Steuerrechts unerlässlich, da die Steuerverwaltung längst nicht mehr in der Lage ist, die Vielfalt der verflochtenen Regeln entsprechend dem Willen des Gesetzgebers umzusetzen. Deutschland braucht neue Attraktivität im internationalen Wettbewerb um Investoren. Die Steuerbelastung von Unternehmen und privaten Haushalten ist dabei ein nicht zu vernachlässigender Parameter. Eine Neuordnung u. a. im Bereich der Besteuerung von Unternehmen und im Bereich privater Kapitaleinkünfte erscheint dringend geboten. Zur Ingangsetzung der notwendigen Modernisierung wurde bereits im Koalitionsvertrag der Regierungsparteien vom 11.11.2005 die Ausarbeitung einer weitgehend rechtsform- und finanzneutralen Unternehmensteuerreform vereinbart. Ein transparentes, wettbewerbsfähiges Unternehmensteuerrecht auf einer rechtsformneutralen Basis und ein modernes Besteuerungssystem, unter anderem im Bereich der Kapitalerträge, kann die notwendigen Impulse für Investoren und somit für Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum geben. Eine wichtige Voraussetzung ist ein international attraktiver und leistungsfähiger 'Finanzplatz Deutschland'. Angesichts der europäischen und weltumspannende Vernetzung sämtlicher Märkte und des immer schärfer werdenden globalen Wettbewerbs müssen alle Kräfte zusammengeführt werden, die zur Förderung des Standorts Deutschland beitragen können. Nach langer und kontroverser Diskussion wurde mit Beschluss des Bundestags vom 25. Mai 2007 und der Zustimmung des Bundesrats am 6. Juli 2007 das Unternehmensteuerreformgesetz 2008 (UntStRefG 2008) auf den Weg gebracht. Die Ausfertigung durch den Bundespräsidenten erfolgte am 14.08.2007. Mit der Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt am 17. August 2007 trat das Gesetz rechtsverbindlich in Kraft (Artikel 14 UntStRefG 2008). Das Thema Unternehmensteuerreform 2008 (UntStRef. 2008) ist derzeit nicht nur in der Fachpresse allgegenwärtig. Bislang lag der Schwerpunkt in der öffentlichen Diskussion hinsichtlich der UntStRef. 2008 vor allem auf den Änderungen der Unternehmens-besteuerung, insbesondere der Absenkung der Unternehmensteuersätze. Es sei kritisch darauf verwiesen, dass sich hingegen erheblich größere Auswirkungen für die Mehrzahl der Steuerpflichtigen ab dem 1.1.2009 aus der Einführung einer Abgeltungsteuer (AbgSt) auf Kapitalerträge ergeben. Die steuerberatenden Berufe, aber auch Berater im Finanzdienstleistungssektor, werden zunehmend mit Fragen rund um das UntStRefG 2008 konfrontiert. Neben Problemstellungen zu Gestaltungsfragen der Gewinnbesteuerung bei Unternehmen, treten vor allem und aktuell verstärkt Nachfragen in Bezug auf die AbgSt in den Vordergrund. Hierbei reicht das Informationsbedürfnis von der Wirksamkeit der neuen Regelungen, dem Umfang der Besteuerung, dem Steuersatz bis hin zu steueroptimierenden Lösungen. Mit Umsetzung der AbgSt ist für Anleger, deren steuerliche Berater und Finanzdienstleister ein aktuell umfassendes Wissen über den bevorstehenden Systemwechsel im Steuerrecht und den sich daraus ergebenden Konsequenzen unentbehrlich. Gang der Untersuchung: Die vorliegende Diplomarbeit beschäftigt sich mit dem Themenkomplex der UntStRef. 2008 und dem hierdurch verwirklichten UntStRefG 2008. Im Mittelpunkt der Betrachtungen steht die Einführung einer AbgSt auf Einkünfte aus Kapitalvermögen. Das Ziel ist es, das System der AbgSt in Deutschland innerhalb des Einkommensteuergesetzes (EStG) kritisch kompakt darzustellen, die Auswirkungen auf einzelne Kapitalerträge darzulegen und Lösungsansätze zur steuerlichen Optimierung im Blick auf die kommenden Veränderungen zu erarbeiten. Die Arbeit ist in fünf Kapitel untergliedert. Der Einleitung folgt im zweiten Kapitel zunächst die Schaffung der theoretischen und begrifflichen Grundlagen, wobei systematisch an das Kernthema herangeführt wird. Ausgangspunkt bilden dabei das allgemeine Einkommensteuerrecht sowie im speziellen der steuerliche Umfang und die steuerliche Behandlung von Erträgen aus Kapitalvermögen. Mit der Verabschiedung des UntStRefG 2008 wurde implizit die Umsetzung einer AbgSt zum 1.1.2009 auf Kapitaleinkünfte begründet. Nach Darstellung der gesetzlichen Rahmenbedingungen ab diesem Zeitpunkt und einer eingehend kritischen Wertung zur Einführung der AbgSt, beschäftigt sich Kapitel drei mit den sich daraus ergebenden steuerlichen Konsequenzen für ausgewählte Kapitalerträge. Daraufhin werden im vierten Kapitel konkrete Lösungsansätze, unter Berücksichtigung der Ergebnisse der vorangestellten Abschnitte, zur steuerlichen Vorbereitung und steuerlichen Optimierung, unter dem Gesichtspunkt der AbgSt, erarbeitet. Kapitel fünf schließt die Arbeit mit einer kritisch würdigenden Zusammenfassung und einem weiterführenden Ausblick ab. Ein dem Anhang folgendes Glossar erläutert zusätzlich Fachbegriffe aus dem Finanzdienstleistungsbereich (Anlageprodukte), um das Sachverständnis über den Steuersektor hinaus zu erhöhen.Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis: AbkürzungsverzeichnisVI TabellenverzeichnisIX AbbildungsverzeichnisX Verzeichnis des AnhangsXI 1.Rechtfertigung der Themenwahl1 1.Aktuelle Problemstellung1 1.2Ziel der Arbeit und Gang der Umsetzung4 2.Theoretische und begriffliche Grundlagen5 2.1Einkommensteuer5 2.1.1Bedeutung und Grundlagen der Einkommensteuer5 2.1.2Ermittlung der Einkommensteuer6 2.2Einkünfte aus Kapitalvermögen8 2.2.1Grundsätze und Umfang der Besteuerung8 2.2.2Verhältnis zu anderen einkommensteuerlichen Normen9 2.2.3Kapitalertragsteuer und Zinsabschlag10 2.2.4Investmentsteuergesetz (InvStG)11 2.3Wesentliche Änderungen durch das Unternehmensteuerreformgesetz 200812 2.3.1Ziele der Unternehmensteuerreform 200812 2.3.2Kernpunkte des Unternehmensteuerreformgesetzes 200813 2.3.2.1Gewinnsteuersätze der Einkommen- und Körperschaftsteuer13 2.3.2.2Gewerbesteuer14 2.3.2.3Dividendeneinkünfte im Einkommensteuerrecht15 2.3.2.4Abgabenordnung16 2.3.2.5Überblick weiterer Änderungen16 2.4Die Abgeltungsteuer nach dem Unternehmensteuerreformgesetz 200818 2.4.1Ziel der Einführung und Eckpunkte der Abgeltungsteuer18 2.4.2Abgeltung durch gesonderten Steuersatz19 2.4.3Persönlicher und sachlicher Anwendungsbereich21 2.4.4Ausnahmetatbestände zur Abgeltungsteuer22 2.4.5Einkunftsermittlung im Rahmen der Abgeltungsteuer26 2.4.6Abgeltungsteuer - Kritische Wertung zur Einführung29 3.Steuerliche Behandlung ausgewählter Kapitalerträge32 3.1Besteuerung von Kapitalerträgen im Privatvermögen32 3.1.1Dividendenerträge im Privatvermögen32 3.1.1.1Besteuerung von Dividenden im Veranlagungszeitraum 200832 3.1.1.2Besteuerung von Dividenden ab Veranlagungszeitraum 200933 3.1.1.3Steuerbelastung im Vergleich34 3.1.2Veräußerung von Beteiligungen an Kapitalgesellschaften35 3.1.2.1Veräußerung von Beteiligungen an Kapitalgesellschaften 200835 3.1.2.2Veräußerung von Beteiligungen an Kapitalgesellschaften 200936 3.1.2.3Steuerbelastung im Vergleich37 3.1.3Zinsbesteuerung37 3.1.3.1Besteuerung von Zinsen im Veranlagungszeitraum 200837 3.1.3.2Besteuerung von Zinsen ab Veranlagungszeitraum 200938 3.1.3.3Steuerbelastung im Vergleich38 3.1.4Besteuerung von Investmentfondsanteilen39 3.1.4.1Besteuerung von Investmentfondsanteilen 200839 3.1.4.2Besteuerung von Investmentfondsanteilen 200941 3.1.4.3Einschätzung steuerlicher Auswirkungen42 3.1.5Besteuerung von Lebens- und Rentenversicherungen 2008/200943 3.1.5.1Besteuerung von Altverträgen (Abschluss vor 1.1.2005)43 3.15.2Besteuerung von Neuverträgen (Abschluss nach 31.12.2004)44 3.1.5.3Veräußerung von Versicherungsansprüchen45 3.2Besteuerung von Kapitalerträgen außerhalb des Privatvermögens46 3.2.1Dividendenerträge im Betriebsvermögen (Personenunternehmen)46 3.2.1.1Besteuerung von Dividenden im Veranlagungszeitraum 200846 3.2.1.2Besteuerung von Dividenden ab Veranlagungszeitraum 200946 3.2.1.3Steuerbelastung im Vergleich47 3.2.2Besteuerung von Kapitalanteilsveräußerungen und Zinserträgen 2008/2009 im Betriebsvermögen (Personenunternehmen)48 4.Steueroptimierende Lösungsansätze zur Abgeltungsteuer49 4.1Grundsätzliche Überlegungen49 4.2Steueroptimierende Lösungsansätze vor dem 1.1.200950 4.2.1Bestandsschutz – Kauf von Aktien und Fondsanteilen50 4.2.2Steuerstundung – kurzfristige Verlagerung von Zinserträgen51 4.2.3Steuerstundung – Abschluss vermögensbildender Versicherung52 4.2.4Werbungskostenabzug – Umqualifizierung von Erträge54 4.2.5Weitere Empfehlungen vor dem 1.1.200955 4.3Steueroptimierende Lösungsansätze ab dem 1.1.200956 4.3.1Steueroptimierung mit Hilfe eines Freistellungsauftrages56 4.3.2Vermögenstransfer auf Kinder58 4.3.3Veränderung des Beteiligungsumfangs an Kapitalgesellschaften60 4.3.4Steueroptimierende Immobilieninvestitionen63 4.3.5Weitere Empfehlungen ab dem 1.1.200964 5.Zusammenfassung und Ausblick66 Anhang71 Glossar (Anlageprodukte)103 LiteraturverzeichnisXIIITextprobe:Textprobe: Kapitel 3.1.2, Veräußerung von Beteiligungen an Kapitalgesellschaften: Veräußerung von Beteiligungen an Kapitalgesellschaften 2008: Grundsätzlich sieht das EStG 2008 eine Belastung von Erträgen aus der Veräußerung u. a. von Wertpapieren aus dem Privatvermögen nicht vor. Eine Ausnahme erfährt dieser Grundsatz durch den Katalog privater Veräußerungsgeschäfte des § 23 EStG (siehe 2.2.2). Der Verkauf von Anteilen an Kapitalgesellschaften (Wertpapiere) wird hier explizit aufgeführt. Werden Anteile an einer Kapitalgesellschaft innerhalb eines Zeitraumes von nicht mehr als einem Jahr zwischen Anschaffung und Veräußerung verkauft, so sind diese steuerpflichtig. Unerheblich hierbei ist, in welcher Höhe der Verkäufer an der Kapitalgesellschaft beteiligt ist und in welchem Umfang der Verkauf erfolgt. Ein so entstandener Veräußerungsgewinn unterliegt dem HEV und ist somit nur hälftig steuerpflichtig. Tatsächliche Werbungskosten können gesetzeskonform zur Hälfte in der Einkunftsermittlung Berücksichtigung finden. Der steuerpflichtige Gewinn unterliegt dem persönlichen ESt-Satz, eine KapESt-Abzug erfolgt nicht. Etwaige Verluste können bis zur Höhe der Gewinne aus privaten Veräußerungsgeschäften des gleichen Kalenderjahres ausgeglichen werden. Ein Verlustausgleich gemäß § 10d EStG ist nicht möglich. Eine Verrechnung von Verlustrück- bzw. Verlust-vorträgen ist ausschließlich innerhalb der privaten Veräußerungsgeschäfte zulässig. Erfolgt der Verkauf nach einer einjährigen Behaltefrist (Spekulationsfrist), bleiben Gewinne steuerfrei. Gleiches gilt bei einem Veräußerungsgewinn im Kalenderjahr unter 512,00 EUR innerhalb der Einjahresfrist (§ 23 Abs. 3 S. 6 EStG). Diese Freigrenze wird erst nach Gewährung der hälftigen Steuerbefreiung berücksichtigt, so dass sich diese Grenze faktisch verdoppelt. Anzumerken sei noch, dass auf die Vorrangigkeit des § 23 EStG vor den Regelungen des§17EStGzuachtenist(siehe 2.2.2). Liegt eine wesentliche Beteiligung i. S .d. § 17 EStG vor und erfolgt ein Verkauf innerhalb der Spekulationsfrist, greift die Besteuerung nach dem Grundsatz des § 23 EStG. Werden Anteile außerhalb dieser Frist verkauft unterliegen sie, im Falle der gewerblichen Zuordnung, dem HEV im Rahmen der Veranlagung zum persönlichen ESt-Satz. Gewinne sind unter der Maßgabe des Freibetrags nach § 17 Abs. 3 EStG zur Besteuerung heranzuziehen. Veräußerungsverluste bleiben hierbei unter Beachtung der Missbrauchsregelung des § 17 Abs. 2 S. 6 EStG unbeschränkt ausgleichs- und abzugsfähig. Veräußerung von Beteiligungen an Kapitalgesellschaften 2009: Durch das UntStRefG 2008 erfolgt eine Überführung der privaten Wertpapierveräußerungsgeschäfte in den Bereich der Einkünfte aus Kapitalvermögen (§ 20 Abs. 2S. 1 Nr. 1 EStG F. 09) ab 2009. Diese Norm korrespondiert mit § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG F. 09, der die laufenden Erträge aus Kapitalbeteiligungen erfasst. Zukünftig unterliegt der Verkauf von Anteilen an Kapitalgesellschaften im Privatvermögen, bei einer nicht wesentlichen Beteiligung, unabhängig einer Haltefrist, grundsätzlich dem Steuerabzug mit Abgeltungswirkung. Das HEV wird ersatzlos gestrichen. Diese Neuerungen gelten allerdings erst für nach dem 31.12.2008 angeschaffte Beteiligungen (§ 52a Abs. 10 EStG). Als BMG gilt der Unterschiedsbetrag zwischen Einnahmen der Veräußerung, nach Abzug der im unmittelbaren sachlichen Zusammenhang mit dem Verkauf stehenden Aufwendungen und den Anschaffungskosten (§ 20 Abs. 4 EStG F. 09). Des Weiteren sind massive Einschränkungen in Bezug auf die Verlustverrechnung zu verzeichnen (siehe 2.4.5). Unter bestimmten Voraussetzungen haben Steuerpflichtige aber die Möglichkeit, sich vom System der AbgSt befreien zu lassen (§ 32d Abs. 2 S. 1 Nr. 3 EStG F. 09). Dies gilt allerdings nicht für Verkaufsgewinne, sondern nur für Erträge im Sinne des § 20 Abs. 1 Nr. 1 und 2. Eine Freigrenze wie die des § 23 EStG F. 09 kennt § 20 EStG F. 09 nicht. Anwendung indessen findet der neue Sparer-Pauschbetrag. Bei einer wesentlichen Beteiligung i. S. d. § 17 EStG werden gewerbliche Einkünfte begründet, die dem neuen TEV unterliegen. Vorteilhaft erscheint, dass eine Gewinn- bzw. Verlustverrechnung, im Gegensatz zu § 20 EStG F. 09, mit anderen Einkunftsarten statthaft ist. Die Freibetragsregelung des § 17 Abs. 3 EStG besteht unverändert fort. Steuerbelastung im Vergleich: Für das Kalenderjahr 2008 ergibt sich durch den Verkauf einer im Privatvermögen gehaltenen Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft eine Steuerbelastung von 23,74 %, wohlgemerkt innerhalb der Ein-Jahres-Frist und unabhängig der Beteiligungshöhe, bei einem Steuersatz von 45 % zzgl. SolZ. Außerhalb der Haltefrist sind Gewinne bei einer Beteiligung unter 1 % steuerfrei. Bei einer Mindestbeteiligung von 1 % (§ 17 EStG) entsteht dagegen ebenfalls eine steuerliche Belastung von 23,74 % (Steuersatz 45 %). Diese Last vermindert sich, sofern§ 17 Abs. 3 EStG zu einer Verringerung des steuerpflichtigen Gewinns führt. Mit Wegfall der Spekulationsfrist und Aufhebung des HEV im Jahr 2009 unterliegt der Verkauf von Beteiligungen unter 1 % an einer Kapitalgesellschaft im Privatvermögen, unabhängig vom Zeitpunkt, grundsätzlich der AbgSt. Durch eine Steuerlast von26,38 % wird das Anlagerisiko von Privatanlegern in diese Form von Kapitalanlagen nicht mehr belohnt. Auch die Besteuerungslast von Beteiligungen im Privatvermögen von mindesten 1 % wird zukünftig steigen. Durch Einführung des TEV wächst die Steuerbelastung 2009 auf 28,49 % (Steuersatz 45 %) an. (Anh. XVI) Hieraus ableitend ergeben sich ab dem Jahr 2009 deutliche Verschlechterungen in diesem Bereich, wobei der schmerzlichste Eingriff in die privaten Vermögensanlagen und -planungen zweifelsohne der Verlust der Spekulationsfrist darstellen dürfte. Dieser Fakt ist gerade auch im Hinblick auf Maßnahmen der privaten Altersvorsorge nicht unerheblich. Profiteure sind dagegen 'Kurzfristspekulanten' (Verkauf < 1 Jahr), deren Steuerbelastung sich ab 2009 auf maximal 25 % beschränkt.
Aus der Einleitung: Seit mittlerweile über 30 Jahren ist das zentralandine Land Bolivien Schauplatz des Konflikts um die Coca-Pflanze. Im weiten Spannungsbogen des Konflikts kollidieren die traditionelle, mythisch-spirituelle Weltsicht der Indios im Bezug auf die planta divina mit den Verwertungsinteressen der Spaß- und Konsumgesellschaften westlicher Prägung. Als Rohstoff für die Drogenproduktion international geächtet, erwachsen für Bolivien aus der exzessiven Coca-Produktion erhebliche politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Probleme. In diesem Zusammenhang lassen sich anhand des Coca-Kokain-Komplexes exemplarisch einige typisch entwicklungsgeografische Problemfelder nachzeichnen: - Die Wirtschaftsstrukturen rund um die Coca sind von reiner Ressourcenextraktion und dem Verbleib des allergrößten Teils der Wertsteigerung in den Konsumentenländern gekennzeichnet. Durch den Umfang der Coca-Kokain-Ökonomie entstehen für Bolivien zudem bei nur geringer Exportdiversifikation prekäre gesamtwirtschaftliche Abhängigkeiten vom Export eines Agrarprodukts und seiner Derivate. - Durch die weitgehende Illegalität dieses Sektors wird Bolivien international unter erheblichen politischen Druck gesetzt und damit die nationale Selbstbestimmung eingeschränkt. Darüber hinaus wird die nationale Souveränität infolge der nicht angemessenen Beteiligung Boliviens an Entscheidungsprozessen und der Intervention verschiedener nicht-bolivianischer Akteure unterminiert. - Die rein antidrogenpolitisch motivierte Stigmatisierung der Coca reflektiert nicht ihren traditionellen Stellenwert für die indianischen Gesellschaften und zeigt so die fortgesetzte Nicht-Anerkennung und Nicht-Achtung der Lebens- und Wirtschaftsweisen der bolivianischen Urbevölkerung. Diese Form kultureller Marginalisierung verweist auf die fortgesetzte politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Marginalisierung eines Großteils der autochthonen Bevölkerung. Im Rahmen eines neu aufkeimenden indianischen Selbstbewusstseins im Kampf um die indigene Emanzipation gewinnt dieser Umstand erheblich an gesellschaftlicher Brisanz und Sprengkraft. An diesen Gegebenheiten hat sich trotz eines über 20 Jahre währenden, intensiven Antidrogenkrieges nur wenig geändert. Die zahllosen antidrogenpolitischen Strategien können damit weitgehend als gescheitert angesehen werden. Die grundsätzlich veränderten politischen Konstellationen des Landes nach den Wahlen im Dezember 2005 leisteten jedoch einer gänzlich neuen Herangehensweise an die Problematik Vorschub, die insbesondere aus drei politischen Prämissen von Präsident und Regierungspartei herrührt: - der Rolle und Bedeutung von Morales als erstem indigenen Präsidenten Südamerikas; - der politischen Herkunft Morales' aus der Coca-Bauernbewegung; - der sozialistischen Ausrichtung der Regierungspartei. Vor diesem Hintergrund sind neue Untersuchungen, die sowohl die historischen Strukturen und Prozesse als auch mögliche aktuelle Veränderungen in den genannten Problemfeldern unter den veränderten politisch-ökonomisch-sozialen Vorzeichen analysieren, absolut notwendig. Durch die Ergebnisse solcher Studien wird es möglich, die Auswirkungen einer veränderten Coca-Politik zu vergleichen und zu bewerten. Eine theoretisch stringente Untersuchung, die sowohl die historischen als auch die aktuellen Entwicklungen des Coca-Kokain-Komplexes einbezieht, steht trotz der Fülle von Sekundärmaterial bisher noch aus. Die vorliegende Arbeit will in bescheidenem Rahmen einen Beitrag leisten, diese Lücke schließen zu helfen. Die Untersuchungen dieser Arbeit werden in den theoretischen Rahmen der Dependenztheorien eingebettet, da sie einen konsistenten Erklärungszusammenhang der oben genannten Problemfelder anzubieten scheinen. Gleichwohl soll im Hinblick auf die entwicklungstheoretische Debatte dieser Rahmen nicht allzu eng aufgefasst werden. Weder wird ein globaler Gültigkeitsanspruch postuliert, noch wird angenommen, dass alle Theoreme im konkreten Fall zwingend gleichermaßen zutreffend sein müssen. Vielmehr sollen sie als theoretisches Modell verstanden werden, das es ermöglicht, sich einem Verständnis des Zusammenhangs von Entwicklung mit Strukturen und Prozessen des Coca-Kokain-Komplexes anzunähern. Insofern handelt es sich also bei der Untersuchung um eine theoriegeleitete Studie, in der Aktualität und Gültigkeit modelltheoretischer Annahmen anhand eines konkreten Fallbeispiels überprüft werden sollen. Die konkreten Zielsetzungen dieser Arbeit sind mit Bezug auf die oben genannten Problemfelder: 1. den Coca-Kokain-Komplex und seine historische Genese im undogmatisch aufgefassten, dependenztheoretischen Rahmen darzustellen. 2. die inhärenten Strukturen und Prozesse des Coca-Kokain-Komplexes zu analysieren und im Bezug auf ihre Auswirkungen auf eine dependenztheoretisch verstandene Entwicklungskonzeption zu bewerten. Zur Untersuchung dieser Fragestellungen wurden anlässlich eines Forschungsaufenthaltes zwischen Februar und August 2008 intensive Recherchen durchgeführt. Dabei konnte neben der gezielten Untersuchungsarbeit ganz allgemein ein Bild vom Land und der Thematik gewonnen werden. Die Beantwortung der untersuchten Fragestellungen wird durch die Auswertung und argumentative Kontextualisierung der im Rahmen des Forschungsaufenthaltes gewonnenen oder anderweitig verfügbaren Sekundärmaterialien erfolgen. Konkret wurden folgende methodische Schritte durchgeführt: - Intensive Bibliotheksrecherche (Verzeichnis der besuchten Bibliotheken im Anhang.). - Ausgiebige Interviews mit Experten fast aller relevanten Bereiche (Verzeichnis der Interviews im Anhang.). - Zeitungsrecherche in deutschen, bolivianischen und anderen Tages-, Wochen- und Fachzeitungen. - Internetrecherche auf einschlägigen Seiten und in dort veröffentlichten Dokumenten. - Beschaffung öffentlichen und nicht-öffentlichen Daten- und Informationsmaterials. - Intensive teilnehmende Beobachtung der politischen und sozialen Prozesse im Land mit besonderem Fokus auf die Problematik der refundación (Neugründung) Bolivien und die Coca-Thematik. Im Verlaufe der Untersuchung stellte sich heraus, dass viele der notwendigen Daten nicht zu beschaffen oder sehr widersprüchlich waren. Dies liegt vor allem an folgenden Eigenheiten des Untersuchungsgegenstandes: Drogenhandel: Diese illegale Wirtschaftsaktivität nicht wird offiziell erfasst, sie hat per se das Bestreben, unentdeckt zu bleiben und verfügt über potente Schutzpatrone. Politischer Gehalt: Die Problematik ist explizit politisch gefärbt, die Datenhandhabung, -erfassung und -publizierung hat daher erhebliche politisch-ökonomische Konsequenzen, wodurch Daten nicht nur wissenschaftlich, sondern nach politischem Kalkül zu betrachten sind. Insuffizienz des bolivianischen Staates: Für eine adäquate, konsequente und transparente Handhabung der Thematik fehlen finanzielle, logistische, personelle und institutionelle Ressourcen. Geografische Schwierigkeiten: Durch die Lage der Anbaugebiete und Boliviens an sich wird die Kontrolle von Coca- und Drogenproduktion sowie deren Handel erheblich erschwert. In den Produktionsgebieten, aber auch in den größtenteils unerschlossenen Grenzgebieten ist der Staat in weiten Teilen nicht oder kaum präsent. Hinzu kommen die Bedeutung nicht-quantifizierbarer Sachverhalte in dependenztheoretischen Ansätzen sowie die angesichts der Komplexität der behandelten Problemstellungen sehr beschränkten Möglichkeiten einer angemessenen, vollständigen und tiefgehenden Analyse im Rahmen einer studentischen Magisterarbeit. Trotz des bedeutenden illegalen Anteils dieses Wirtschaftssektors soll hier betont werden, dass die Mechanismen des Handels auf dieses Gut wie auf jedes andere zutreffen. Die Illegalität führt lediglich dazu, dass Gewinnspannen höher ausfallen und politische und polizeilich-militärische Kontrollmaßnahmen mit einem ungestörten Handelsverlauf interferieren. Die Drogenkontrolle gliedert sich in vier Teilbereiche: - Prävention und Rehabilitation: Vorbeugung von Drogenkonsum und Wiedereingliederung ehemaliger Konsumenten; - Erradikation: Vernichtung von Pflanzen, die als Drogenrohstoff dienen können; - Interdiktion: polizeiliche Arbeit zur Unterbindung von Drogenproduktion und -handel sowie zugehöriger Delikte; - Alternative Entwicklung: produzentenbezogener Entwicklungsansatz zur Schaffung ökonomischer Alternativen zur Drogenpflanzenproduktion. Die Arbeit wird die genannten Fragestellungen vor dem geografischen Hintergrund Boliviens bearbeiten. Dazu muss eingeschränkt werden, dass ein konkreter räumlicher Bezug aufgrund der Problemstellung als Makroanalyse eines ursächlich internationalen Problemkomplexes nur bedingt gelten kann. Zentrale analytische Kategorien wie zum Beispiel Abhängigkeit können nur anhand des Abstraktums des politischen Raumes, beziehungsweise des Wirtschaftsraumes Boliviens erarbeitet werden. Ein konkret eingrenzbarer räumlicher Bezug ist hauptsächlich im Zusammenhang mit dem Coca-Anbau, den Erradikationsmaßnahmen und der Produktion von und dem Handel mit Drogen gegeben. Außerdem waren die sozialen Konflikte größtenteils an die Produktionsgebiete gebunden, wie auch die drogenkontrollpolitisch motivierten Maßnahmen der alternativen Entwicklung sich direkt auf Coca-Anbau- und Abwanderungsgebiete konzentrieren. Lediglich für diese Bereiche lässt sich die Analyse also gezielt räumlich abgrenzen. Der zeitliche Horizont der Untersuchung wird vom Gegenstand bestimmt. Eine organisierte, explizit international ausgerichtete Drogenproduktion entstand in Bolivien erstmals unter dem Diktator Hugo Banzer Suárez, der 1971 die Macht ergriff. Alle folgenden Entwicklungen sind bis ungefähr August des Jahres 2008 berücksichtigt. Daten zu Coca-Anbau und Wirtschaft lagen für 2008 noch nicht vor, sodass viele aktuelle Aspekte mit Bezug auf das Jahr 2007 dargestellt werden. Die Arbeit formuliert im ersten Abschnitt A den zugrunde liegenden Entwicklungsbegriff (A: 1). Nach der Darstellung der Dependenztheorien und ihrer Grundannahmen (A: 2.1) werden diese in der entwicklungstheoretischen Diskussion verortet (A: 2.2). Anschließend wird kurz die Auswahl dieses theoretischen Ansatzes begründet (A: 2.3). Der folgende Abschnitt B stellt die allgemeinen Rahmenbedingungen des bolivianischen Coca-Kokain-Komplexes vor. Nach der botanischen und physiologischen Charakterisierung des Coca-Blatts (B: 1.1 - 1.2) werden die Anbaugebiete vorgestellt (B: 1.3). Anschließend wird ein kulturhistorischer Überblick über die Verwendung der Coca im lateinamerikanischen und bolivianischen Kontext gegeben (B: 2). Darauf folgt die Darstellung der Problematik des weltweiten Kokainkonsums und -handels. Auch auf die Grundlagen der Kokain-Herstellung wird an dieser Stelle eingegangen (B: 3). Das abschließende Kapitel (B: 4) widmet sich der Beschreibung der geschichtlich-politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Grundlagen des heutigen Boliviens. Der folgende Hauptteil der Arbeit (C) beschreibt die Entwicklung des Coca-Kokain-Komplexes in Bolivien. Dabei wird zunächst kurz auf historische Entwicklungen eingegangen (C: 1.1 - 1.2) und anschließend mit der Darstellung des UN-Einheitsabkommens zu Betäubungsmitteln die Grundlage der internationalen Drogenkontrolle vermittelt (C: 1.3). Anschließend werden die eigentlichen Entwicklungen des bolivianischen Coca-Kokain-Komplexes ausgeführt. Die Entwicklungen werden in drei Phasen eingeteilt. Die erste Phase markiert Entstehung und ersten Boom der bolivianischen Kokain-Ökonomie (C: 2). Ab 1987/88, dem Beginn der zweiten Phase (C: 3), wurde im Land durch die Schaffung eines umfangreichen rechtlichen und institutionellen Rahmens der Drogenkontrolle der Kampf gegen den Drogenhandel aufgenommen. In der letzten Phase hatte 2005 eine aus der Coca-Bauernbewegung stammende Regierung die Macht übernommen und es wurde versucht, neue und eigenständige Wege in der Coca-Politik zu gehen (C: 4). In dem abschließenden Analyseabschnitt D werden die Auswirkungen der historischen und aktuellen Entwicklungen des Coca-Kokain-Komplexes auf die dependenztheoretisch verstandene Entwicklungskonzeption untersucht.Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis: Einleitung1 ATHEORETISCHE EINBETTUNG6 1.Entwicklungsbegriff und Entwicklungsziele6 2.Entwicklungstheoretische Einbettung9 2.1Dependenztheoretische Grundaussagen und -annahmen9 2.2Die Dependenztheorien in der entwicklungstheoretischen Diskussion18 2.3Rechtfertigung der theoretischen Einbettung20 2.3.1Die Aktualität dependenztheoretischer Prämissen vor dem gewandelten Hintergrund des 21. Jahrhunderts20 2.3.2Dependenztheoretische Prämissen im bolivianischen Kontext22 BBOLIVIEN: RAHMENBEDINGUNGEN DES COCA-KOKAIN-KOMPLEXES23 1.Botanische Grundlagen und Einordnung der Anbaugebiete23 1.1Botanische Grundlagen23 1.2Physiologische Eigenschaften des Coca-Blattes24 1.3.Beschreibung der Anbaugebiete25 2.Kulturhistorischer Überblick über Nutzung und Verbreitung des Coca-Blattes29 2.1Coca in den präkolumbianischen Kulturen29 2.2Die aktuelle kulturelle und soziale Funktion der Coca in den indianisch geprägten Gesellschaften des bolivianischen Andenraums30 2.2.1Religiös-ritueller Gebrauch30 2.2.2Medizinischer Gebrauch31 2.2.3Sozialer Gebrauch31 2.3.4Aufputschender Gebrauch32 2.2.5Die Verbreitung traditioneller Coca-Nutzung in Bolivien32 3.Drogenkonsum und Drogenhandel34 3.1Kokainherstellung34 3.2Kokainkonsum in den USA, Europa und Lateinamerika35 3.3Internationaler Drogenhandel36 4.Politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen in Bolivien37 4.1Abriss der jüngeren bolivianischen Geschichte seit der nationalen Revolution 195237 4.2Wirtschaftliche Kenndaten40 4.3Gesellschaftliche Kenndaten41 CDER COCA-KOKAIN-KOMPLEX IN BOLIVIEN42 1.Der Bedeutungswandel der Coca von der Konquista bis zum Drogenrohstoff42 1.1Kirche, Silber und Coca42 1.2Coca im Wandel veränderter Nutzungsmöglichkeiten44 1.3Das Einheitsabkommen zu Betäubungsmitteln der UNO 196145 2.1971-1987: Militärdiktatoren und Kokainmafia. Die Entstehung der bolivianischen Kokain-Ökonomie46 2.1Die Entstehung der Kokain-Ökonomie unter Banzer46 2.2Die Narcocracia49 2.3Nach der Demokratisierung51 2.3.1Migrationsbewegungen in den Chapare51 2.3.2Militarisierung und soziale Konflikte53 2.3.3Alternative Entwicklung56 3.1987-2005: Der Krieg gegen die Drogen. Bolivianische Drogenkontrollpolitik unter US-amerikanischen Vorzeichen58 3.1Internationaler Rahmen der Drogenkontrollpolitik58 3.1.1Multilaterale Übereinkünfte58 3.1.2Grundlagen US-amerikanischer Drogenkontrolle im Ausland59 3.1.3Bilaterale Verträge62 3.2Antidrogenstrategien in Bolivien64 3.2.1Der 'Plan trienal' und die Gründung der bolivianischen Drogenkontrollinstitutionen64 3.2.2Das Gesetz 100865 3.2.3Bolivianische Ansätze66 3.2.4Die Opción Cero und der Plan für die Würde68 3.2.5Der Niedergang US-amerikanisch-bolivianischer Ansätze der Drogenkontrolle70 3.2.6Militärisch-polizeiliche Interdiktionsmaßnahmen72 3.3Soziale Widerstandsbewegungen73 3.4Alternative Entwicklung76 4.2005-2008: Der bolivianische Weg. Entwicklung mit Coca79 4.1Die politische Situation Boliviens nach der Wahl 200579 4.2Eckpfeiler der neuen Coca-Politik81 4.2.1Normativer Rahmen81 4.2.2Neuerungen im institutionellen Rahmen84 4.3Umsetzung und Einschätzung85 DDER BOLIVIANISCHE COCA-KOKAIN-KOMPLEX IM LICHTE DEPENDENZTHEORETISCHER MODELLVORSTELLUNGEN89 1.Grundlagen: Das Einheitsabkommen von 1961 und die revalorización der Coca89 2.Wirtschaft91 3.Politik98 4.Sozialer Kontext102 5.Entwicklung104 Schlussbetrachtung und Ausblick106 Anhang111 Verzeichnis der besuchten Bibliotheken112 Verzeichnis der Interviews113 Abbildung 1: Nährwertvergleich von 100g Coca-Blättern mit 50 pflanzlichen lateinamerikanischen Nahrungsmitteln117 Karte 1: Coca-Anbau in Bolivien, 2007118 Karte 2: Coca-Anbau in den Yungas und Apolo, 2007119 Karte 3: Coca-Anbau im Chapare, 2007120 Tabelle 1:Prävalenzen des Kokainkonsums 2007 oder letztes verfügbares Jahr in ausgewählten Ländern und Regionen121 Tabelle 2: Prävalenzen des Crack- und pasta base-Konsums 2007 in ausgewählten Ländern121 Tabelle 3: Coca-Anbau und Erradikation in Bolivien 1970 - 2008, nach Regionen122 Abbildung 2: Coca-Anbau und Alternativer Anbau im Chapare 1976 - 2003124 Tabelle 4: Bolivien: Coca-Kokain-Ökonomie 1980125 Tabelle 5: Bolivien: Coca-Kokain-Ökonomie 1993126 Tabelle 6: Bolivien: Coca-Kokain-Ökonomie 2007127 Literaturverzeichnis129Textprobe:Textprobe: Kapitel 4.3, Umsetzung und Einschätzung: Da der normative und institutionelle Rahmen der Coca-Politik der MAS-Regierung erst vor relativ kurzer Zeit festgeschrieben wurde, sind die konkrete Umsetzung und Auswirkungen derselben noch schwer zu erfassen oder zu bewerten. Insgesamt sorgen die fundamental geänderte Regierungspolitik, aber auch der Ausschluss der USAID aus dem Chapare Ende Juni 2008, sowie die Ausweisung des US-Botschafters Goldberg nach dem von Morales mit 63% der Stimmen gewonnenen referendum revocatorio Ende August 2008 für ein grundsätzlich verändertes Entwicklungspanorama in diesem Bereich. Revalorización: Die Neubewertung des Coca-Blatts konnte intern durch die Aufnahme in die neue Verfassung, sowie die Verabschiedung des PND und die veränderte Ausrichtung der Estrategia de Lucha Contra el Narcotráfico y Revalorización de la Hoja de Coca weitestgehend umgesetzt werden. Auf internationaler Ebene ist die angestrebte Neubewertung der Coca hingegen ungleich schwieriger umzusetzen. Das Projekt auf diplomatischer Ebene voran zu treiben sind der Außenminister David Choquehuanca und der Vizeminister des Viceministerio de Defensa Social y Sustancias Controladas (VDS-SC), Felipe Cáceres beauftragt, die beide über wenig diplomatische Erfahrung verfügen. Konkret ist bisher nur ein relativ erfolgloser Vorstoß gemacht worden. In den relevanten internationalen Politik- und Machtstrukturen spielt Bolivien eine nur untergeordnete Rolle. Die Änderung der Einheitskonvention ist ein langwieriger und komplizierter diplomatischer Prozess. Zur gänzlichen Herausnahme der Coca aus der Liste I müsste ein Plenarsbeschluss auf UN-Ebene erreicht werden. Aber auch für andere, geringfügigere Änderungen müsste mindestens ein Beschluss von circa 30 Staaten getroffen werden. Es ist extrem unwahrscheinlich, dass es Bolivien gelingen wird, eine solche Allianz zu schmieden: Die USA und – bisher – die EU stehen einem solchen Projekt ablehnend gegenüber. Gleichzeitig haben sie ausreichend Einfluss, dass auch andere Länder in ihrem Sinne abstimmen. Die beiden anderen Coca-produzierenden Ländern Peru und Kolumbien verweigern sich dem Projekt ebenfalls. Die Anbauflächen in diesen Ländern sind wesentlich größer, der traditionelle Konsum wesentlich geringer. So existiert einerseits keine Bolivien vergleichbare breite Verankerung der Coca in der lokalen Kultur, während andererseits die Probleme des organisierten Drogenhandels in beiden Ländern in politischer, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht wesentlich eklatanter sind. Für die Nachbarstaaten Chile, Argentinien und Brasilien stellt das bolivianische Kokain eine erhebliche Gesundheits- und Sicherheitsbedrohung dar. Im südamerikanischen Kontext ist folglich nur eine Unterstützung von Seiten Venezuelas und Ecuadors zu erwarten. Im globalen Kontext versucht Bolivien neue Allianzen als geostrategischen Gegenentwurf zur US-Hegemonie zu schmieden. In diesem Zusammenhang könnte das Projekt der revalorización Unterstützung durch Länder wie China, Nordkorea oder Südafrika erfahren, mit denen, wie auch mit den engen lateinamerikanischen Verbündeten Venezuela, Kuba und Ecuador Verhandlungen über den Handel mit alternativen Coca-Produkten für Verwendungen im medizinischen oder Nahrungsmittelbereich geführt wurden. Große Hoffnungen werden von Bolivien in die regelmäßige Revision des Wiener Abkommens gesetzt, die im Frühjahr 2009 ansteht. Kontrolle des Drogenhandels: Bei der Kontrolle des Drogenhandels ist Bolivien seit 2005 deutlich effektiver geworden. Gegenüber 2005 sind die Beschlagnahmungen um 55,6% gestiegen, während die Flächen im gleichen Zeitraum nur um 13,8% zunahmen. Bis zum August des Jahres 2008 war schon mehr Kokain und Base als im gesamten Vorjahr beschlagnahmt worden (17,94 t). Dennoch ist die absolute Zunahme des Coca-Anbaus auf zuletzt (2007) 28 900 ha bedenklich. 2007 wurden 62,11% der Yungas-Coca und nur 4,22% der Chapare-Coca auf den legalen Märkten Villa Fatima und Sacaba gehandelt (vergl. Tab. 6 (Anhang)). Damit erhöhte sich die potenzielle Kokain-Produktion in Bolivien von 2006 auf 2007 um 11% auf 104 t. Die wichtigste Coca-Anbauregion sind heute die Yungas (19 800 ha). Dort verschiebt sich der Coca-Anbau zunehmend in die tieferen, tropischen Lagen (La Asunta, Palos Blancos), wo höhere Erträge erzielt werden und infolge der spontanen Kolonisationsprozesse die staatliche Kontrolle noch nicht greift. Auch die Drogenproduktion ist heute nicht mehr an die Anbau-Gebiete gebunden. Insgesamt zeigt aber die gesteigerte Effektivität, wie auch die Zusage sich 2009 mit 16 Mio. US-$ erstmalig an der Finanzierung der Interdiktion in nennenswertem Maßstab zu beteiligen den Willen und die Fähigkeit der Regierung Morales gegen Drogenhandel und -produktion auf dem nationalen Territorium vorzugehen. Control social und cato-Regelung: Das Konzept der control social stellt ein effektives Instrument zur Kontrolle und Regulierung des Coca-Anbaus auf kooperativer, konfliktfreier Basis dar. Die Regierung wertet die Produzenten deutlich auf, indem sie nicht mehr nur als Objekt, sondern auch als Partner der Anbaukontrolle begriffen werden. Das Konzept der geteilten Verantwortung wird in dieser Hinsicht auch auf den Bereich Staat-Zivilgesellschaft ausgeweitet. Gleichzeitig wird die Rolle und Bedeutung der cocalero-Organisationen als regionale Verwaltungsinstitutionen anerkannt. Sie haben gegenüber ihren Mitgliedern erhebliche Durchsetzungs- und Kontrollmacht. Die Strafen (Lizenzverlust, Flächenverlust, Ausschluss aus der Gemeinschaft) sind effektive Abschreckungsmechanismen, die auf den traditionellen Sozial- und Wirtschaftsstrukturen der Anbaugebiete basieren. Durch das Konzept kann die racionalización von Coca-Feldern durchgeführt werden, ohne die hohen sozialen Kosten der erzwungenen Erradikation zahlen zu müssen. Obwohl von Zwangsmaßnahmen abgesehen wurde und kooperative Kontrollmechanismen in Zusammenarbeit mit den cocaleros angewendet wurden, konnten 2006 (6 073 ha) und 2007 (6 269 ha) die internationalen Erradikationsverpflichtungen erfüllt werden. Die cato-Regelung ermöglichte die Legalisierung der Lebensgrundlage eines Großteils der Chapare-Bauern. Ein cato erlaubt bei legaler Vermarktung ein jährliches Einkommen von knapp 1 400 US-$, das damit höher als das durchschnittliche PKE und deutlich über dem ländlichen landwirtschaftlichen Durchschnittslohn von 347 US-$ im Jahr liegt. Beide Regelungen haben wesentlich zur Befriedung der Anbaugebiete beigetragen und ermöglichen die Gestaltung der weiteren Coca-Politik auf einer legalen und kooperativen Basis. Auf dieser Grundlage kann ein neues Vertrauensverhältnis zwischen Staat und Produzenten aufgebaut werden, das dem geteilten Interesse der verminderten Drogenproduktion nur förderlich sein kann. Transformación productiva: Hauptprojekt der transformación productiva ist die Industrialisierung der Coca, anhand der bedeutendere Mehrwertgewinne erzeugt werden könnten. In Planung sind dafür aktuell drei Fabriken zur Herstellung von Coca-Tees. Darüber hinaus existieren viele und innovative Ideen und Ansätze, aber es ist in diesem Fall fraglich, ob ein ausreichender Markt in Bolivien zur Verfügung steht. Die bisher hergestellten alternativen Coca-Produkte haben keine besondere Akzeptanz in der bolivianischen Bevölkerung gefunden. Weitere Probleme ergeben sich aus dem Finanzierungsbedarf solcher Projekte. Auch Fachpersonal ist womöglich nicht ausreichend vorhanden. Über Absichtserklärungen ist der Ansatz der produktiven Transformation bisher nicht hinausgekommen. Dass, wie angestrebt, 4 000 ha Coca durch die industrielle Weiterverarbeitung im Land absorbiert werden könnten, erscheint ohne den Zugang zu Auslandsmärkten illusorisch. Alternative Entwicklung: Im Bereich alternative, beziehungsweise integrale Entwicklung gibt es bisher kaum Fortschritte. Insbesondere der Ausschluss der USAID aus dem Chapare und die befristete Arbeit in den Yungas beeinflussen die zukünftige Entwicklungen stark. Für die Regierungsprojekte besteht weiterhin Finanzierungsbedarf, der noch nicht geklärt werden konnte. Die mit der integralen Entwicklung beauftragte DIGPROCOCA ist bisher noch ausschließlich mit der Erfassung und Rationalisierung von Coca-Flächen beschäftigt.
Inhaltsangabe: Einleitung: Das Phänomen der Ständestaatsideen von 1918 bis 1933: 'Alle Deutschen sind vor dem Gesetze gleich. Öffentlich-rechtliche Vorrechte oder Nachteile der Geburt oder des Standes sind aufzuheben.' Dieser Satz des Art. 109 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) sollte ab dem 11.August 1919 eine neue politische Epoche manifestieren: Alle Menschen sind gleich, die Überbleibsel der alten Stände sind Vergangenheit. Das 3-Klassen-Wahlrecht des Kaiserreiches wurde abgeschafft. Der Art. 21 lässt die Abgeordneten des Reichstages Vertreter des ganzen Volkes sein und nicht Vertreter eines Standes, ferner verspricht der Art.22 die freie und gleiche Wahl, unabhängig von Standeszugehörigkeiten: 'eDie Abgeordneten werden in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimr Wahl von den über zwanzig Jahre alten Männern und Frauen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt.' Die reaktionäre konservative Monarchie wurde durch die Novemberrevolution beseitigt. Sozialisten, Sozialdemokraten, Liberale und Demokraten arbeiteten an einer neuen Republik. Nur die Republikgegner und Antidemokraten beriefen sich noch auf die konstitutionelle Monarchie des Kaiserreiches oder suchten das Heil in neuen völkischen, nationalen Bewegungen. Ein einfaches 'zurück' war nach der Flucht des Kaisers am 10. November 1918 nur für wenige eine realistische Alternative. Egal ob das Ziel die Rätedemokratie, eine parlamentarische Monarchie oder den Ausbau des Weimarer Parlamentarismus darstellte: Die modernen demokratischen Ideen, die politische Gleichheit der Staatsbürger und der Parlamentarismus schienen nicht nur auf dem Papier in Deutschland angekommen zu sein. Auch die ersten Wahlergebnisse zeigten eine demokratische Mehrheit, während gemäßigte und radikale antidemokratische Gruppen nur mäßigen Erfolg hatten. Da scheint es wie ein Paradoxon der Ideengeschichte: Plötzlich erblüht eine Begrifflichkeit neu, auf ein Mal werden Buchtitel veröffentlicht, die fernab demokratischer Ideen eigentlich dem Spätmittelalter zuzurechnen sind: der Ständestaat. Zwischen 1918 und 1933, den ersten Anfängen (Abdankung des Kaisers am 9.November 1918) und dem Ende (Ermächtigungsgesetz am 23.März 1933) der ersten deutschen Republik, gibt es eine beachtliche Anzahl von Konzepten, die eine neue ständestaatliche Ordnung formulierten. All jene Ständestaatskonzepte unterliegen einem Konsens: Staat und Gesellschaft sollen in Glieder eingeteilt werden und diese Glieder werden zu einem Bestandteil der staatlichen Ordnung. Der Staat ist kein Vertrag zwischen Einzelindividuen, Ausdruck einer Aristokratie oder Resultat des Willens eines Königs, sondern eine Summe von Gliedern, evtl. selbst nur ein staatstragender Teil des Gesellschaftsganzen. Der Einzelne ist kein Teil des Staates, sondern Teil eines Standes. Diese Stände sind Glieder des Staates und haben mehr oder weniger an der staatlichen Hoheit teil. Viele dieser Ideen brachen mit allen Idealen der modernen Demokratie: Georg Weipperts 'Prinzip der Hierarchie' oder Othmar Spanns 'wahrer Staat' sind hierarchische Ständestaaten ungleicher Menschen. Bei anderen Konzepten hingegen (zum Beispiel der so genannte 'Werksgemeinschaftsgedanke' oder bei den berufsständischen Gesetzgebungsausschüssen von Heinrich Herrfahrdt) trägt die ständische Selbstverwaltung fast schon wieder moderne, auf Partizipation orientierte Züge. Es existiert ein breites Spektrum weiterer Ständestaatskonzepte, die in der Forschung weitestgehend vernachlässigt wurden. Ziel dieser Magisterarbeit soll es deshalb sein, die Spannbreite dieser Ständestaatskonzepte aufzuzeigen sowie eine kurze Ideengeschichte dieser Ständestaatskonzepte zu bieten. Dabei wird eine möglichst vollständige Darstellung aller Konzepte angestrebt und die Frage gestellt, was wirklich neu an diesen Ideen ist und wo simple ideengeschichtliche Rückgriffe neu verpackt wurden. Es ist ebenso Anspruch dieser Arbeit, eine umfassende Literaturliste zum Forschungsthema vorzustellen. Dabei sollen nicht nur die im Sinne der Forschungsfrage untersuchten Werke aufgeführt werden, sondern auch all jene Werke, die nur Teile einer neuen ständestaatlichen Ordnung behandeln oder ein unvollständiges Ständestaatskonzept formulieren. Es ist nicht das Ziel dieser Arbeit, soziologische oder biografische Hintergründe der Autoren zu erfassen, die Wirkung und Bedeutung der genannten Ständestaatskonzepte zu analysieren, Ursachenforschung für antidemokratisches Denken zu betreiben oder sozialpsychologische Gründe für das Aufkommen der Ständestaatsideen zu finden. Die moderne wissenschaftliche Literatur zeigt ein gespaltenes Bild: Die einen offenbaren einen einheitlichen Ständestaatsgedanken unter dem Paradigma des 'gliedhaften Organismus'. Dabei werden die Ständestaatsideen als organische Staatsauffassungen beschrieben, die sich gegen den mechanischen und künstlichen demokratischen Liberalismus stellen. Der Staat wird hier 'Idee und Leben', der 'Inbegriff physischen und geistigen Lebens' mitsamt allen notwendigen Gegensätzen. Ohne Gegensätze, ohne eine Gliederung von Staat und Gesellschaft, wäre der Staat leblos. Doch kann man die Ständestaatskonzepte nach 1918 einfach unter der Formel des 'lebendigen Staates' vereinen? Die andere Richtung der Fachliteratur tendiert dazu, die Idee vom ständisch gegliederten Staat als Randphänomen unterschiedlicher antidemokratischer Zirkel zu betrachten. Diese stellten dem demokratischen Ideal ein hierarchisches Staatsbild gegenüber, das sich gegen jede Form der Gleichheit wehrte. Die demokratische Verirrung politischer Gleichheitsrechte, insbesondere das Recht der freien und gleichen Wahl, werde von diesen Zirkeln durch autoritäre Ständestaatsmodelle mit völkischem Hintergrund ersetzt. Der Ständestaatsgedanke wird hier als Hilfskonstrukt konservativrevolutionärer, nationalkonservativer, deutschvölkischer oder nationalrevolutionärer Ideologien vorgestellt. Die Vorherrschaft des Ökonomischen im staatlichen Bereich sollte gebrochen werden. Der Staat würde durch das Leitbild des ständisch gegliederten Staates seine Autorität und politische Hoheit zurückerhalten. Während letztere Exponenten wissenschaftlicher Literatur kaum Gemeinsamkeiten zwischen den Ständestaatsideen sehen und eher die Neuartigkeit korporativer und berufsständischer Ideen betonen, ziehen es die Erstgenannten vor, den Ständestaatsgedanken als unbeholfenen Rückgriff in die mittelalterliche und romantische Ideenwelt zu betrachten. Lässt sich bei diesem Zwiespalt überhaupt eine Ideengeschichte beschreiben? Und wenn ja, vollzieht diese nur Neuauflagen alter Gedankenwelten oder stellt sie fernab der Begriffsverwendung unabhängige Neuentwicklungen des Ständestaatsgedankens dar? Kann man die Ständestaatskonzepte der Weimarer Republik wirklich pauschal beurteilen als antidemokratische, antimoderne Rückgriffe fast schon mittelalterlicher Ständestaatsideen? Gab es hierbei auch Weiterentwicklungen überkommener Ständestaatsideen? Sind die Ständestaatskonzepte zwischen 1918 und 1933 Neuauflagen, Weiterentwicklungen oder Neuentwicklungen?Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis: 1.Einleitung1 1.1Das Phänomen der Ständestaatsideen von 1918 bis 19331 1.2Aktueller Forschungsstand, Quellenlage und Hinweise zur Quellenrecherche4 1.3Vorgehensweise7 2.Vorbetrachtungen12 2.1Begriffsbestimmungen12 2.1.1Ständestaat12 2.1.2Gliederung, Hierarchie und Organismus13 2.1.3Stand und ständische Staatsordnungen16 2.1.4Berufsstand und berufsständische Staats- oder Wirtschaftsordnungen19 2.1.5Korporationen, Korporativismus und korporative Staats- oder Wirtschaftsordnungen22 2.2Die Ständestaatsideen und Konzepte bis 191826 3.Die deutschen Ständestaatskonzepte von 1918 bis 193332 3.1Theoretisch und wissenschaftlich begründete Konzepte32 3.1.1Der Universalismus (1921)33 3.1.2Das 'Prinzip der Hierarchie' bei Georg Weippert (1932)39 3.1.3Paul Karrenbrock und der völkische Berufsständestaat (1932)42 3.1.4Der 'Drang zur Gemeinschaft' bei Franz Jerusalem (1925)46 3.2Konfessionell begründete Konzepte48 3.2.1Der berufsständische Gedanke in der katholischen Soziallehre48 3.2.1.1Der Solidarismus bei Oswald Nell-Breuning (1932)49 3.2.1.2Die katholische Romantik bei August Pieper (1926)55 3.2.2Der protestantische Ständestaat bei Rudolf Craemer (1933)59 3.3Politisch begründete Konzepte62 3.3.1Altkonservative und Monarchisten62 3.3.1.1Der Ständestaat im altkonservativen und monarchistischen Kreis62 3.3.1.2Der monarchistische Ständestaat bei Max Wundt (1925)63 3.3.1.3Edgar Tatarin-Tarnheydens berufsständisches Rätesystem (1922)66 3.3.1.4Die Stein'sche Selbstverwaltungsidee bei Wolfgang Freiherr von Dungern (1928)70 3.3.1.5Friedrich Everling und die Rückkehr zum 'gesunden Mittelalter' (1924)74 3.3.1.6Die 'Steuergemeinschaften' bei Julius Bunzel (1923)78 3.3.2Jungkonservative81 3.3.2.1Der ständische Gedanke unter Einfluss von Arthur Moeller van den Bruck81 3.3.2.2Der Korporativismus im Sinne von Max Hildebert Boehm (1920)83 3.3.2.3Die konservative 'neuständische Verfassung' nach Heinz Brauweiler (1925)88 3.3.2.4Die berufsständischen Gesetzgebungsausschüsse bei Heinrich Herrfahrdt (1919/1932)91 3.3.2.5Autoritarismus und ständische Gliederung bei Edgar Jung (1927)96 3.3.2.6Der deutsche 'stato corporativo fasci' nach Carl Düssel (1933)99 3.4Nationalökonomisch begründete Konzepte: Die Werksgemeinschaftsideen104 3.4.1Ständestaat und Werksgemeinschaft104 3.4.2Die Werksgemeinschaften bei Paul Bang(1927)105 3.4.3Die berufsständische Weiterentwicklung des Werksgemeinschaftsgedankens bei Gerhard Albrecht (1932)108 4.Schlussbetrachtung: Die Ständestaatskonzepte von 1918 bis 1933 zwischen Neuauflagen, Weiterentwicklungen und Neuentwicklungen.111 4.1Entwicklungsgeschichtliche und inhaltliche Gemeinsamkeiten111 4.2Die wesentlichsten Unterschiede114 4.3Alternative Klassifizierungsmöglichkeiten115 4.4Neuauflagen ständestaatlicher Konzepte: Typen und ihre Merkmale118 4.5Weiterentwicklungen ständestaatlicher Konzepte: Typen und ihre Merkmale120 4.6Neuentwicklungen ständestaatlicher Konzepte: Typen und ihre Merkmale122 4.7Fazit und Ausblick125 5.Abbildungsverzeichnis127 6.Literaturverzeichnis128 6.1Die deutschen Ständestaatskonzepte von 1918 bis 1933128 6.2Abhandlungen zu Teilfragen einer neuen ständestaatlichen Ordnung sowie unvollständige Ständestaatskonzepte aus dem Zeitraum von 1918 bis 1933131 6.3Weiterführende und zeitgenössische Literatur bis 1945 im Kontext der untersuchten deutschen Ständestaatskonzepte von 1918 bis 1933134 6.4Weiterführende Literatur nach 1945141Textprobe:Textprobe: Kapitel 3.1.1, Der Universalismus (1921): Der Universalismus, aufbauend auf dem Werk Othmar Spanns, ist die wohl bekannteste und umfangreichste Ständestaatskonzeption aus dem untersuchten Zeitraum. Die von Spann begründete Schule umfasst ein umfangreiches Bild verschiedener Autoren, die jedoch alle auf seinen Gedankengängen aufbauen. Er entwickelte nicht nur ein umfangreiches und in sich geschlossenes Ständestaatskonzept, sondern auch ein Gesellschafts- und Weltbild. Obwohl Österreicher, hatte Spann auch in Deutschland einen enormen Einfluss. Zunächst zur Genealogie. Othmar Spann bekennt sich zur romantischen Geisteshaltung und bezieht mittelalterlich-universalistische Ideen mit ein. Von der Scholastik übernimmt er den Satz 'Das Ganze ist vor dem Teil' sowie das Bild von einer Gesellschaft als göttliche Schöpfungsordnung. Vom deutschen Idealismus übernimmt er die These 'Gesellschaft ist Geist' und das Bild vom Staat als Ganzheit, von der Romantik übernimmt er unter anderem die Kritik an der Aufklärung, Rationalismus und Individualismus. Der Universalismus selbst ist in Methodik und Inhalt deutlich vom mittelalterlich-kirchlichen Weltbild geprägt. So ist die Nähe zu Thomas von Aquin und seiner metaphysischen hierarchischen Weltordnung deutlich. Mehrfach erwähnte er den Aufbau der katholischen Kirche als ideales Vorbild der Gesellschaft. Seine Philosophie basiert auf der Ganzheitslehre. Demnach definiert er das Ganze nach vier Lehrsätzen : 'Das Ganze als solches hat kein Dasein (1); es wird in den Gliedern geboren (2); darum ist es vor den Gliedern (3); es geht in den Gliedern nicht unter (4).' Diese Lehrsätze werden nun auf Staat und Gesellschaft übertragen. Der Staat als solcher, als Organismus, ist nicht zu finden. Der Organismus ist nur in seinen Gliedern erkennbar. Die Glieder wiederum bestehen nur als Ganzes. Sie können nur sein als Darstellungen der ihnen übergeordneten Ganzheit. Durch die Geburt des Ganzen aus den Gliedern folgt logisch die Gliederung des Staates und der Gesellschaft. Alles Erkennbare in Staat und Gesellschaft, auch der Bürger an sich, sei nur Ausgegliedertes, das dem Ganzen als Glied angehöre. Diese bei Spann noch umfangreichere 'Ganzheitslehre' ist die Grundlage seiner Ständestaatskonzeption und Vorlage des Universalismus. Ein Stand ist nach Spann ein Glied der geistigen Gemeinschaft, der Ganzheit: 'Die Stände sind die Sendlinge und Schößlinge einer Stammeinheit, die sich in vereinzelt-selbstständige Organe spaltet und scheidet (differenziert). Sie sind Bestandsformen eines Urstandes, des geistigen Lebens, sie sind das Mannigfaltige in der Einheit.' Walter Heinrich formuliert Stände als 'organisierte Lebenskreise mit ihren arteigenen Verrichtungen für das Ganze.' Sie sind 'Leistungsgemeinschaften auf Grund von Lebensgemeinschaften.' Diese Lebenskreise bestehen in jeder Gesellschaft, unabhängig davon, ob sie einen ständischen Status besitzen. Und gerade diese Lebenskreise sind es, die erst die Vielfalt der Gesellschaft ausmachen. Der Einzelne ist nicht autark, sondern ist Teil einer Einheit. Die Gestalt der Stände ist bestimmt durch die Ausgliederungsordnung. Das Ganze stellt sich in verschiedenen Teilinhalten und Teilganzen dar. Teilganze der Gesellschaft sind z.B. Religion, Wissenschaft, Kunst, Sinnlichkeit; Sittlichkeit, Sprache oder Recht. Diese Ausgliederung findet aber ausschließlich in einer Stufenordnung (Hierarchie) statt und nicht in einem Nebeneinander: 'Die Glieder der Ganzheit haben nicht alle den gleichen Ganzheitsgehalt, somit nicht alle die gleiche Ganzheitsnähe – also verschiedenen Rang.' Die Folgerung für die Gesellschaft: Organische Ungleichheit statt atomistischer Gleichheit der Teile. Das gesamte Gesellschaftsbild Othmar Spanns kennt nur Rangordnungen. Das Ganze der Gesellschaft gliedert sich in 'Gezweiungen' und Gemeinschaften, Stand bedeutet für ihn zuerst die Eigenschaft als Glied des Ganzen. Durch verschiedene widersprüchliche Folgerungen dieser Ausgliederung definiert Spann die Stände später nur noch nach ihren Verrichtungserfordernissen: Artgleiche Verrichtungen werden in einem Stand zusammengefasst. Die Stände sind zunächst geistige Stände, nicht reale Stände, die nur geistigen Inhalt haben. Er unterteilt auch noch den 'Vollstand', zu dem ein geistiger Stand wird, wenn er anfängt zu handeln ('handelnder Stand'). Der geistige Stand bleibt 'VorStand'. Spann unterscheidet die Stände nach dem Grad ihrer Geistigkeit. Dabei kennt er drei Stufen geistiger Gemeinschaften: Jene mit vitalem Inhalt, höhere geistige aber reproduzierende und die geistig schöpferischen Gemeinschaften. Er unterteilt den Stand der niederen Handarbeiter, den Stand der höheren Arbeiter und den schöpferischen Stand. Jeder Stand und zusätzliche 'besondere Stände' werden ebenfalls vielfach unterteilt. Diese äußerst vielfältige Unterteilung gibt er in späteren Werken auf. So fasst er die niederen Handarbeiter, den Stand der höheren Arbeiter und den Stand der Wirtschaftsführer in einen rein wirtschaftlichen 'Nährstand' zusammen. Zu diesem kommen ein allgemeiner politischer Stand (Staat) mit dem Wehrstand und Priesterstand (Kirche) sowie der schöpferische Lehrstand hinzu. All diese Unterteilungen differenziert er in Neuauflagen seines Werkes 'Der wahre Staat' neu. Er führt schlussendlich auch die 'Berufsstände' ein, jedoch ohne den Beruf als ausschlaggebendes Kriterium zu nutzen. Die Berufsstände sind dabei, anders als bei den berufsständischen Konzepten, keine eigenständigen Stände, sondern Teilstände des Gesamtstandes der Wirtschaft. Da Sachfragen nur von den Fachleuten erledigt werden können, sollen auch nur jene die 'Sachsouveränität' ausüben, also die Selbstregierung innerhalb der Stände ausüben. Innerhalb der Stände definiert sich auch die Freiheit des Einzelnen. An Stelle der liberalen Freiheiten entsteht die organische Freiheit innerhalb der ständischen Bindung. An Stelle der 'Freiheit und Gleichheit' des Naturrechts tritt das Prinzip 'Gleichheit unter Gleichen' mit einer 'verhältnismäßigen Gleichheit'. Rechte und Pflichten sind je nach Stand unterschiedlich. Der Universalismus sieht sich als Antipode zu Demokratie und Parlamentarismus . Es bedürfe einer Gegenrenaissance zum Individualismus. Damit verbunden ist die Ungleichheit der Menschen: 'Gleichheit unter Gleichen. Unterordnung des geistig Niederen unter das geistig Höhere – Das sind die Baugesetze des wahren Staates.' Hinzu kommt die Ablehnung des gleichen Stimmrechts: 'Jeder Einzelne ist ein gleichwertiges Atom, Nietzsche und sein Stiefelputzer haben dieselbe Stimme, jeder wird mit gleichem Gewicht in die Waagschale geworfen und mitgewogen: die Mehrheit soll herrschen!' und weiter: 'Man soll die Stimmen nicht zählen, sondern wägen, nicht die Mehrheit soll herrschen, sondern das Beste.' Die beste politische Gestaltung der Stände unterliegt der Maßgabe, dass auch die besten Herrschen. Die ideale Staatsform ist folglich jene, 'welche die Besten zur Herrschaft bringt' , die eine Herrschaftshierarchie der Glieder und eine weitgehende Dezentralisation vorsieht. Statt einem Volk und einer Regierung gelte der Satz 'Viele Teilstände und Volkskreise, viele Teilregierungen und Standesgewalten.' Dies beinhalte jedoch auch die begrenzte Selbstbestimmung, Selbstverwaltung und Selbstregierung der Stände. Der Staat selbst wird nach Spann nicht durch ein Parlament oder eine demokratisch legitimierte Regierung geführt, sondern durch einen staatstragenden, 'politischen Stand' . Dieser ist vergleichbar mit einem Adel. Der Staat selbst ist Höchststand und 'Oberleiter der Stände' : 'Der Staat kommt von sich her; er beruht weder auf einem berufsständischen Wirtschaftsparlament, noch auf einem Parlament, das 'alles Volk' umfasst; er beruht, wie jeder Stand, auf einem eigenen Kreis von Menschen, die sich seinen arteigenen Aufgaben widmen und ihn tragen.' Diese Staatsführung ist betont autoritär und folgt dem Führerprinzip. Lediglich die berufsständisch organisierte Wirtschaft solle von einem wirtschaftlichen Ständehaus vertreten werden, in dem jedoch nur allgemeine Angelegenheiten der Wirtschaft behandelt werden. Er formuliert dabei einen dualen, doppelständischen Aufbau: Es gibt wirtschaftliche Stände und politische Stände, die jedoch keine strukturellen Unterschiede aufweisen.
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Exakt 20 Jahre nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 kündigte der derzeit amtierende US-Präsident Joe Biden den Abzug aller amerikanischen Truppen aus Afghanistan an. "Es ist Zeit, Amerikas längsten Krieg zu beenden" (Böhm 2021, 92). Bereits vor dem Einmarsch amerikanischer und britischer Truppen am 7. Oktober 2001, bekannt als die Operation "Enduring Freedom", hatte Amerika Stützpunkte der in Afghanistan ansässigen Terrorgruppe Al-Qaida attackiert. Der Grund hierfür waren die durch Mitglieder der Gruppe geplanten und durchgeführten Anschläge auf amerikanische Botschaften in Tansania und Kenia im Jahr 1998. "Aber die Schwelle der Kriegserklärung gegen Terroristen wurde nicht überschritten, auch um Letztere politisch nicht aufzuwerten" (Böhm 2021, 94).Als Wendepunkt gilt der 11. September 2001. Neunzehn Terroristen der Terrorgruppe Al Qaida entführten vier Passagierflugzeuge. Zwei dieser Flugzeuge wurden in die Twin Towers des World Trade Centers gesteuert. Ein weiteres zerstörte den westlichen Teil des Pentagons in Washington. Das vierte stürzte in einem Feld in New Jersey ab. Insgesamt starben durch diese vier Flugzeuge fast 3000 Menschen aus 80 verschiedenen Ländern (vgl. Hoffmann 2006, 47).Die Anschläge veränderten die Wahrnehmung der durch den Terrorismus bestehenden Bedrohung. Bereits wenige Tage nach den Anschlägen verkündete der damalige US-Präsident George W. Bush den "Global War on Terror" (Böhm 2021, 92), eine Kriegserklärung an den Terrorismus. Damit definierte er die Auseinandersetzung mit dem Terrorismus als Krieg.Neben dieser Auslegung gilt auch die Interpretation des Verhältnisses zwischen terroristischen Gruppierungen und Amerika feindlich gesinnten Staaten als entscheidend. Unmittelbar nach den Anschlägen wurde zunächst nur die Bekämpfung der Terrorgruppe Al-Qaida und des Taliban-Regimes in Afghanistan priorisiert. In den darauffolgenden Monaten wurden neben diesen auch den Terrorismus unterstützende, autoritäre Staaten und Staaten mit Zugang oder Beschaffungsmöglichkeiten von Massenvernichtungswaffen zu möglichen Zielen von Militäraktionen zur Bekämpfung des Terrorismus (vgl. Böhm 2021, 92; Kahl 2011, 19).Durch die Anschläge am 11. September 2001 wurde neben der "seit längerem bekannte Dimension der internationalen Kooperation von terroristischen Gruppen […] die neue Dimension der transnationalen Kooperation, Durchführung, Logistik und Finanzierung terroristischer Gewalt deutlich" (Behr 2017, 147).Im Rahmen dieses Beitrags wird der Terrorismus als eine Herausforderung für die Vereinten Nationen vor und nach den Anschlägen vom 11. September 2001 thematisiert. In diesem Zusammenhang wird der Frage nachgegangen, inwiefern diese die Sicherheitspolitik der Vereinten Nationen beeinflusst haben. In einem ersten Schritt wird eine Klärung des Begriffs Terrorismus vorgenommen. Im Anschluss daran wird auf die Strategien der Vereinten Nationen zur Bekämpfung des Terrorismus vor dem 11. September 2001 eingegangen. Darauf folgt eine Darstellung der direkten Reaktionen der internationalen Staatengemeinschaft auf die Anschläge. In einem letzten Schritt werden die daraus resultierenden Folgen für die internationale Sicherheitspolitik näher beleuchtet.BegriffsklärungIn einem ersten Schritt gilt es nun, den Begriff des Terrorismus näher zu definieren. Der Begriff leitet sich von dem lateinischen Wort terror ab, das als Schrecken oder Furcht übersetzt werden kann (vgl. Pfahl-Traughber 2016, 10). Nach dem Terrorismusexperten Bruce Hoffmann wird unter dem Begriff des Terrorismus die "bewusste Erzeugung und Ausbeutung von Angst durch Gewalt oder die Drohung mit Gewalt zum Zweck der Erreichung politischer Veränderung" (Hoffmann 2006, 80) verstanden.Dementsprechend ist eine terroristische Tat zunächst einmal gekennzeichnet durch die Androhung oder die Ausübung von Gewalt. Im Hinblick auf die Intensität der ausgeübten Gewalt wird deutlich, dass keine humanitären Konventionen respektiert werden und terroristische Anschläge sich oft durch "besondere Willkür, Unmenschlichkeit und Brutalität" (Waldmann 2005, 14) auszeichnen."Die Gewalttat hat primär einen symbolischen Stellenwert, ist Träger einer Botschaft, die in etwa lautet, ein ähnliches Schicksal kann jeden treffen, insbesondere diejenigen, die den Terroristen bei ihren Plänen im Wege stehen" (Waldmann 2005, 15). Basierend auf dieser Tatsache bezeichnet der Soziologe Peter Waldmann den Terrorismus "primär [als] eine Kommunikationsstrategie" (Waldmann 2005, 15).Auf der psychologischen Ebene verfolgt der Terrorismus das Ziel, über die unmittelbaren Ziele und Opfer hinaus bei einer bestimmten Gruppe Furcht hervorzurufen, um für deren Einschüchterung zu sorgen. Als Zielgruppe kommt neben Staaten, Regierungen und einzelnen religiösen oder ethnischen Gruppen auch die allgemeine öffentliche Meinung in Frage (vgl. Hoffmann 2006, 80).Davon ausgehend verfolgt der Terrorismus mit der Erzeugung von Furcht und Schrecken auf der politischen Ebene das Ziel, das Vertrauen in eine bestehende politische Ordnung zu erschüttern (vgl. Waldmann 2005, 16). Im Hinblick auf die politische Dimension des Terrorismus grenzt Waldmann diesen bewusst vom Staatsterrorismus ab. Nach Waldmann kennzeichnen terroristische Anschläge ihre planmäßige Vorbereitung und ihre Aktivität aus dem Untergrund heraus.Im Gegensatz dazu handelt es sich bei Staatsterrorismus um ein Terrorregime, errichtet durch staatliche Machteliten. Von Seiten des Staates kann zwar Terror gegenüber seinen Bürgern ausgeübt werden, er ist jedoch nicht in der Lage, die genannten Strategien gegen die eigene Bevölkerung einzusetzen (vgl. Pfahl-Traughber 2016, 17; Waldmann 2005, 12).Bei den Akteuren handelt es sich um einen Zusammenschluss von Handlungswilligen, die sich in annähernd bürokratischen Strukturen organisieren, wobei Hierarchien und informelle Abhängigkeiten entstehen. In den meisten Fällen verfügen diese Gruppierungen über eine "geringe quantitative Dimension […] handelt es sich doch überwiegend um kleinere Personenzusammenschlüsse von wenigen Aktivisten" (Pfahl Traughber 2016, 12).Diese agieren im Untergrund, da sie weder über den erforderlichen Rückhalt innerhalb einer Bevölkerung noch über die erforderliche Kampfstärke verfügen. Am Beispiel von Al-Qaida in Afghanistan wird deutlich, dass ein Hervortreten aus dem Untergrund, beispielsweise durch die Errichtung von Lagern, das Risiko impliziert "angegriffen und vernichtet zu werden" (Waldmann 2006, 13).Hinsichtlich der Bezeichnung werden im Sprachgebrauch zwei Arten von Terrorismus, der internationale und der transnationale Terrorismus, unterschieden. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob das Phänomen des Terrorismus eher als international oder transnational zu bezeichnen ist. Nach Steinberg zeigt sich aus historischer Sicht ein fließender Übergang von dem internationalen Terrorismus hin zum transnationalen Terrorismus.Der internationale Terrorismus zeichnet sich in erster Linie durch "zahlreiche grenzüberschreitende Aktionen [aus], bei denen häufig vollkommen unbeteiligte Bürgerinnen und Bürger fremder Staaten zu Schaden kamen." (Steinberg 2015). Ferner ist für den internationalen Terrorismus charakteristisch, dass die terroristischen Aktivitäten durch Staaten unterstützt werden. Zu den Unterstützerstaaten in der Vergangenheit zählten insbesondere Verbündete der ehemaligen Sowjetunion wie beispielsweise Syrien oder Libyen.Als historisches Beispiel für den internationalen Terrorismus gelten die Attentate auf israelische Sportler*innen während der Olympischen Spielen in München 1972 durch palästinensische Terroristen. Mit dem Fall der UdSSR verloren diese Staaten ihren Schutz vor Sanktionen westlicher Nationen. Damit endete nach und nach auch die Unterstützung terroristischer Gruppierungen. Es folgte ein fließender Übergang vom internationalen Terrorismus hin zum transnationalen Terrorismus.Der Unterschied besteht darin, dass die terroristischen Aktivitäten nicht mehr durch einen Staat unterstützt werden. Die Gruppierungen werden privat mit Geld und Waffen unterstützt oder bauen eigene, substaatliche Logistik- und Finanzierungsnetzwerke auf. Der Terrorismus gilt zudem als transnational, "weil sich die terroristischen Gruppen auf substaatlicher Ebene länderübergreifend miteinander vernetzen und sich dementsprechend aus den Angehörigen verschiedener Nationalitäten zusammensetzen" (Steinberg 2015).Basierend auf diesen Erkenntnissen ist ab den 1990er Jahren nicht mehr von internationalem Terrorismus, sondern vielmehr von transnationalem Terrorismus zu sprechen (vgl. Steinberg 2015). Dies hat auch Auswirkungen auf die Organisationsstrukturen terroristischer Gruppierungen. Sie zeichnen sich durch "Dezentralisierung, Entterritorialisierung und durch Überlagerung und Fragmentierung zwischen wechselnden, funktional orientierten Akteuren aus" (Behr 2017, 150).Ein Beispiel für den Übergang von einer internationalen Organisation hin zu einem transnationalen Netzwerk stellt die im Zusammenhang mit dem 11. September 2001 stehende Terrorgruppe Al-Qaida dar. Vor den Anschlägen galt sie als eine internationale Organisation, die über ein "recht einheitliches Gebilde" (Hoffmann 2006, 425) verfügt. In Folge der Reaktionen auf die Anschläge entwickelte sie sich als eine transnationale Bewegung "mit gleich gesinnten Vertretern an vielen Orten, die über ein ideologisches und motivierendes Zentrum locker miteinander verbunden sind, aber die Ziele dieses noch verbleibenden Zentrums gleichzeitig und unabhängig voneinander verfolgen" (Hoffmann 2006, 425).Nach Vasilache ist "der gebräuchliche Terminus des internationalen Terrorismus irreführend, da er keine gängige Strategie eines Staates gegen einen anderen, sondern ein transnationales Phänomen ist, das vor Staatsgrenzen nicht halt macht" (Vasilache 2006, 151). Als Begründung führt er an, dass terroristische Anschläge oftmals von einzelnen Gruppierungen ausgehen, wobei auf die unterschiedlichen Motive in einem nächsten Schritt eingegangen wird. Weiterhin begründet er seine Aussage mit der Tatsache, dass das Ziel von staatlich initiiertem Terrorismus nicht direkt ein anderer Staat ist, sondern vielmehr zivile Ziele verdeckt attackiert werden (vgl. Vasilache 2006, 151).Anders als Steinberg spricht Vasilache also nicht von einer historischen Veränderung vom internationalen Terrorismus hin zum transnationalen Terrorismus, sondern bezeichnet das Phänomen Terrorismus generell als transnational. Da beide in der Ansicht übereinstimmen, zum Zeitpunkt der Anschläge am 11. September 2001 handele es sich um die transnationale Form des Terrorismus, wird im weiteren Verlauf von transnationalem Terrorismus gesprochen.Im Hinblick auf die Motive terroristischer Gruppierungen können im Wesentlichen vier Motive benannt werden, die sich überschneiden oder einander angleichen können. In diesem Zusammenhang wird von der Tatsache ausgegangen, dass terroristische Gruppierungen mit ihren Zielen und ideologischen Rechtfertigungen nicht zufällig entstehen, "sondern einen bestimmten gesellschaftlich-historischen Hintergrund widerspiegelt, der seinerseits wieder durch ihr Vorgehen eine spezifische Aktivierung erfährt" (Waldmann 2005, 100).Der sozialrevolutionäre Terrorismus möchte die politischen und gesellschaftlichen Strukturen nach der Ideologie von Karl Marx verändern (vgl. Waldmann 2005, 99). Ein Beispiel hierfür stellt die Rote Armee Fraktion (kurz: RAF) dar, die in den 1970er Jahren in Deutschland terroristische Anschläge verübte.Wenn unterdrückte Völker oder Minderheiten das Ziel von mehr politischer Autonomie oder staatlicher Eigenständigkeit mit terroristischen Strategien verfolgen, handelt es sich um ethnisch-nationalistischen Terrorismus. Als Exempel hierfür kommt die baskische ETA infrage, die aus einer Studierendenorganisation heraus entstanden ist und sich in den 1960er Jahren zunehmend radikalisierte (vgl. Waldmann 2005, 103f.).Unter die dritte Form des Terrorismus, "der militante Rechtsradikalismus" (Waldmann 2005, 115), fallen unterschiedliche Gruppen wie beispielsweise die Ku-Klux-Klan-Bewegung in Amerika. Trotz der unterschiedlichen Ausprägungen können bei all diesen Gruppen im Wesentlichen zwei Merkmale ausgemacht werden: zunächst einmal kämpfen sie für den Erhalt bestehender Strukturen und wollen keine strukturellen Veränderungen hervorrufen. Zudem richtet sich diese Form des Terrorismus in erster Linie nicht gegen das politische System, sondern vielmehr gegen einzelne Gruppen der Gesellschaft (vgl. ebd., 115). Ferner kennzeichnet den rechtsradikalen Terrorismus auch eine andere Strategie und eine andere Erscheinungsform. Bei den Aktivisten handelt es sich um "Teilzeitterroristen" (ebd., 117), die typischerweise in ihrer Freizeit agieren. Ihre Aktivitäten sind nicht im Untergrund, sondern werden vielmehr offen durchgeführt. Hinzu kommt, dass die Anschläge teils geplant und teils spontan erfolgen, mit dem Ziel, die Opfer zum Verlassen des Ortes oder Landes zu bewegen (vgl. ebd., 117f.).Bei der vierten Form des Terrorismus handelt es sich um religiös motivierten Terrorismus. Beispiel hierfür ist die bereits mehrfach angesprochene Terrorgruppe Al-Qaida. Sie entstand als Reaktion auf den Angriff der Sowjetunion auf Afghanistan Ende der 1970er Jahre. Die Brutalität der Invasion sorgte für eine große Solidarität innerhalb der islamischen Welt und führte zu einem Zuzug von zahlreichen islamischen Glaubenskämpfer*innen aus anderen Ländern, darunter auch Osama Bin Laden. Dieser gewann im Laufe der 1980er Jahre immer mehr an Einfluss und gründete mit dem Abzug der Sowjets Ende des Jahrzehnts Al Qaida mit dem Ziel, an einer anderen Front weiterzukämpfen. Es erfolgte ein Strategiewechsel "des Djihads nach innen, gegen verräterische Herrscher in den islamischen Staaten, auf die Strategie eines Djihads nach außen, gegen den Westen" (ebd., 152).Ein definitorisches Problem von Terrorismus ergibt sich aus der Tatsache, dass auf der internationalen Ebene bislang keine einheitliche Definition gefunden wurde. Im Rahmen der Resolution 1566 aus dem Jahr 2004 definierte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen den Begriff Terrorismus wie folgt als "Straftaten […], die mit dem Ziel begangen werden, die ganze Bevölkerung, eine Gruppe von Personen oder einzelne Personen in Angst und Schrecken zu versetzten, eine Bevölkerung einzuschüchtern oder eine Regierung oder eine internationale Organisation zu einem Tun oder Unterlassen zu nötigen […]" (UN-Resolution1566 2004).Neben dieser existieren weitere nationale und internationale Definitionen, wie unter anderem die der Europäischen Union oder die Definitionen einzelner amerikanischer Behörden. Auf der politischen Ebene können die Schwierigkeiten hinsichtlich einer einheitlichen Definition anhand folgender Punkte näher beleuchtet werden: zunächst einmal werden Handlungen von unterschiedlichen Staaten unterschiedlich eingestuft. Für die einen handelt es sich um gewalttätige terroristische Angriffe; andere stufen die Aktivitäten als politisch legitimierte Handlungen in Ausübung des Selbstverteidigungsrechts während eines nationalen Befreiungskampfes ein.Ferner herrscht Uneinigkeit darüber, ob eine Definition auch den Staatsterrorismus umfassen sollte oder ob sie lediglich die motivationalen Hintergründe der Täter umfasst. Anhand der genannten Schwierigkeiten wird deutlich, dass die Einschätzung, ob es sich bei der Bedrohung um eine terroristische Bedrohung handelt und ob es sich bei der Organisation um eine terroristische Organisation handelt, dem nationalen Verständnis oder dem Verständnis der jeweiligen Institution unterliegt. Folglich könnte die Klassifizierung missbraucht werden, um ungewünschte innerstaatliche Gruppierungen oder andere mit dem Begriff zu stigmatisieren und deren Verfolgung zu rechtfertigen (vgl. Finke/Wandscher 2001, 168; Kaim 2011, 6).Abschließend gilt es noch zu klären, ob terroristische Aktivitäten als Kriegshandlungen bezeichnet werden können oder ob vielmehr eine Trennung der beiden Begriffe erforderlich ist. Als unmittelbare Reaktion auf die Anschläge des 11. Septembers bekundete Amerika immer wieder seinen Krieg gegen den Terror. Neben Präsident Bushs "global war on terror" sprach auch der amerikanische Verteidigungsminister Donald H. Rumsfeld im Zuge der Anschläge von einer neuen Kriegsart, "die sich vor allem neuer Technologien bedienen, asymetrisch verfahren und deswegen auch nicht leicht zu erkennen sein würde" (Czempiel 2003, 113).Diese Verwendung des Kriegsbegriffes in Verbindung mit terroristischen Anschlägen offenbart einen strategischen Zug der US-Regierung. "Dehnt man den Kriegsbegriff auf terroristische Akte aus, legitimiert dies den Angegriffenen auch zu Kriegshandlungen" (Geis 2006, 12). Der Regierung ist es infolgedessen möglich, über rechtsstaatliche Mittel hinaus Maßnahmen zu ergreifen und sie kann zudem von einer breiten Unterstützung innerhalb der eigenen Bevölkerung ausgehen (vgl. Geis 2006, 12). Bei der Frage, ob der transnationale Terrorismus als eine Form des Krieges bezeichnet werden kann, offenbart sich aus politikwissenschaftlicher Sicht eine erhebliche Kontroverse.Neben der Kategorisierung zwischen den alten und neuen Kriegen existiert auch die Unterscheidung zwischen großen und kleinen Kriegen. Diese "basiert auf der Art der Vergesellschaftungsform der Kriegführenden" (Geis 2006, 21). Im Fall des großen Krieges sind die Akteure in gleichem Maß vergesellschaftet, ein Staat kämpft gegen einen anderen Staat. Im Falle eines kleinen Krieges besteht eine "asymetrische Konfliktstruktur zwischen ungleich vergesellschaftlichen Akteuren: Staatliche Kombattanten treffen auf nichtstaatliche Kämpfer" (Geis 2006, 21).Ob unter die kleinen Kriege auch der Terrorismus zu subsumieren ist, ist jedoch umstritten. Zunächst einmal wird dagegen angeführt, dass der Preis auf normativer Ebene zu hoch sei. Eine Unterscheidung beider bedeutet einen Fortschritt des Völkerrechts, da die Trennung immer eine Unterscheidung zwischen politisch legitimierter Gewalt im Zuge einer Kriegshandlung und illegitimer Gewalt, ausgeübt im Zuge eines Verbrechens, ermöglicht.Hinzu kommen Bedenken "bezüglich der Folgen eines ungehegten Counterterrorismus der angegriffenen Staaten" (Geis 2006, 22). In einem permanenten Kriegszustand hätten demokratische Staaten die Möglichkeit, die Erweiterung des Sicherheitsapparates und Bürgerrechtseinschränkungen zu legitimieren (vgl. ebd., 21f.). Als weiteres Argument wird angeführt, dass eine Trennung beider Begriffe aus analytischer Sicht sinnvoll sei, da es sich beim Terrorismus primär um eine Kommunikationsstrategie handele. Dieser fehlen neben der territorialen Dimension auch die wechselseitig beständige Gewaltanwendung und das Charakteristikum eines Massenkonflikts (vgl. ebd., 23).Für eine Subsumierung des Terrorismus unter den Kriegsbegriff spricht insbesonders die Sichtweise der Vereinten Nationen, die im Zuge der Anschläge vom 11. September 2001 den Vereinigten Staaten von Amerika das Recht auf Selbstverteidigung gemäß Art. 51 UN-Charta zugesprochen hat (vgl. Resolution 1373 2001). Auf diese Tatsache wird zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal eingegangen. Anschließend wird der Sichtweise der Vereinten Nationen gefolgt und folglich der Terrorismus unter den Begriff des Krieges subsumiert.Reaktionen der Vereinten Nationen auf Terrorismus vor dem 11. September 2001In einem nächsten Schritt gilt es, auf die Reaktionen der Vereinten Nationen auf das Phänomen des Terrorismus vor dem 11. September 2001 einzugehen. Hierbei wird zunächst auf das unterschiedliche Verständnis in Bezug auf den Sicherheitsbegriff näher eingegangen. Seit den 1970er Jahren gilt nicht mehr nur die politische Souveränität und die territoriale Integrität der einzelnen Staaten als das zu schützende Objekt der Sicherheitspolitik.Neben der zu schützenden staatlichen Sicherheit geriet auch die Gesellschaft, definiert als ein "Zusammenschluss von Individuen" (Kaim 2011, 3), in den Mittelpunkt sicherheitspolitischen Handelns. In den 1990er Jahren erfolgte die Aufnahme einer weiteren Dimension in Gestalt der menschlichen Sicherheit in den Diskurs rund um den Sicherheitsbegriff und die damit verbundenen Aufgaben. Nach diesem Verständnis ist die Sicherheit, die Freiheit und der Wohlstand des Individuums zu schützen. Es zeigt sich jedoch, dass die Dimensionen in der politischen Praxis nicht getrennt voneinander betrachtet werden können. Der Schutz des Individuums umfasst ebenso die Gesellschaft, in der es lebt, und letzlich auch den Staat (vgl. Kaim 2011, 3f.).Aus sicherheitspolitischer Perspektive gilt der "Terrorismus als entterritorialisiertes Sicherheitsrisiko" (Behr 2017, 151), das zu drei Konsequenzen führt. Zunächst einmal sind terroristische Aktivitäten nicht voraussagbar. Es besteht das Risiko, dass sie sich zu jeder Zeit an jedem Ort ereignen können. Hinzu kommt, dass die Akteure anders als Staaten keine politische Einheit darstellen. Vielmehr ereignen sich einzelne, verstreut zusammenhängende Handlungen ohne einen genau ausmachbaren Anfang oder Ende. Folglich kann auf das sicherheitspolitische Risiko Terrorismus nur reagiert werden, wenn die Maßnahmen "Handlungs- und Organisationslogiken transnationaler Politik erfassen und übernehmen" (Behr 2017, 151).Die Problematik des transnationalen Terrorismus als Herausforderung für die Vereinten Nationen und ihrer Sonderorganisationen führte zu einer Reihe von Abkommen mit der Intention der Beseitigung und Bekämpfung der Problematik. In diesem Zusammenhang kristallisierte sich ein pragmatischer Ansatz heraus. "[B]esonders häufig auftretende terroristische Aktivitäten [wurden] zum Gegenstand spezifischer Konventionen gemacht" (Finke/Wandscher 2001, 169).Nahezu alle von der Generalversammlung und den Sonderorganisationen verabschiedeten Abkommen können aufgrund bestimmter Kernelemente als Antiterrorkonventionen bezeichnet werden. Zu den besagten Kernelementen gehört zunächst einmal die Verpflichtung der Vertragsstaaten, die in dem jeweiligen Abkommen genannte strafbare Handlung in das jeweilige innerstaatliche Recht aufzunehmen und angemessen zu bestrafen.Hinzu kommt, dass verdächtige Personen entweder durch den Staat selbst zu verfolgen sind oder an einen anderen, verfolgungswilligen Staat ausgeliefert werden müssen. Eine Auslieferung kann nur dann verweigert werden, wenn das Auslieferungsgesuch aufgrund religiöser, ethischer, nationaler, rassistischer oder politischer Gründe erfolgt ist. Ferner sind die Vertragsstaaten dazu verpflichtet, untereinander zu kooperieren und sich gegenseitig Rechtshilfe zu gewähren (vgl. Finke/Wandscher 2001, 169).Das erste derartige Übereinkommen stellt das Haager Abkommen von 1970 zur Bekämpfung der widerrechtlichen Inbesitznahme von Luftfahrzeugen dar. Darauf folgte das Montrealer Abkommen von 1971 zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit der Zivilluftfahrt (vgl. ebd., 169). Die besagten Abkommen ordnen bestimmten Aktivitäten zwar das Adjektiv terroristisch zu, stufen diese jedoch nicht als Bedrohung des Weltfriedens ein oder führen zu der Anordnung von Zwangsmaßnahmen gemäß Kapitel VII der UN-Charta durch den Sicherheitsrat.Dies änderte sich mit der Explosion einer Bombe an Bord des Pan-American-Flugs 103 über der schottischen Ortschaft Lockerbie im Jahr 1988. Hier wurden zwei Staatsangehörige Libyens für die Anschläge verantwortlich gemacht, und das Land von den Vereinigten Staaten und Großbritannien zu deren Auslieferung aufgefordert. Der libysche Staat verweigerte das. Als Reaktion darauf wurde der Terrorakt im Rahmen der Resolution 731 durch den Sicherheitsrat als Bedrohung des Weltfriedens gemäß Kapitel V Artikel 24 eingestuft.Durch Resolution 748, ebenfalls 1992 verabschiedet, wurde die Nichtauslieferung durch Libyen als "eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" (Finke/Wandscher 2001, 171) bezeichnet und Zwangsmaßnahmen gemäß Kapitel VII UN-Charta gegen das Land erlassen (vgl. Behr 2017, 147; Finke/Wandscher 2001, 170f.).Der Einsatz von Zwangsmaßnahmen gemäß Kapitel VII der UN-Charta erwies sich als wirksames Mittel der Terrorismusbekämpfung im Hinblick auf die Durchsetzung bestimmter Maßnahmen. Hierunter fallen insbesonders Maßnahmen, die zwar Gegenstand geltender Antiterrorkonventionen sind, diese durch die betreffenden Staaten jedoch nicht ratifiziert wurden oder die Konvention selbst noch nicht in Kraft getreten ist (vgl. Finke/Wandscher 2001, 171).Diese Strategie des Sicherheitsrates etablierte sich insbesonders hinsichtlich der Situation in Afghanistan. In Folge der Anschläge auf amerikanische Botschaften in Nairobi und Daressalam erließ der Sicherheitsrat mit der Resolution 1267 Individualsanktionen gegen die afghanischen Taliban. Der Grund hierfür war die Tatsache, dass diese den Verantwortlichen für die Anschläge, der Terrorgruppe Al-Qaida und ihrem Anführer Osama bin Laden, Unterstützung gewährte.Insbesonders durch das Einfrieren der finanziellen Mittel, aber auch durch ein Waffenembargo und ein Reiseverbot, sollten diese zur Auslieferung Bin Ladens gezwungen werden. Um die Umsetzung dieser Maßnahmen zu gewährleisten, setzte die Resolution zudem einen Unterausschuss des Sicherheitsrates ein (vgl. Kreuder-Sonnen 2017, 159).Direkte Reaktionen der Staatengemeinschaft auf den 11. September 2001Als erste Reaktion auf die Anschläge des 11. September 2001 wurde vom Sicherheitsrat bereits am Tag nach den Anschlägen die Resolution 1368 erlassen. In dieser wurde der Terrorismus einstimmig als "Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" (UN-Resolution 1368 2001) im Sinne von Art. 39 UN-Charta bezeichnet. Zugleich wurde auf das Recht zur individuellen und zur kollektiven Selbstverteidigung verwiesen (vgl. UN-Resolution 1368 2001).Noch im gleichen Monat, am 28 September 2001, wurde das Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung mit Resolution 1373 bekräftigt und die internationale Staatengemeinschaft aufgefordert, "durch terroristische Handlungen verursachte Bedrohungen […] mit allen Mitteln im Einklang mit der Charta zu bekämpfen" (Resolution 1373 2001).Neben dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen reagierte auch der Nordatlantikrat umgehend. Am 12. September erklärte der damalige Generalsekretär George Robertson die Anschläge zum kollektiven Verteidigungsfall, wodurch Artikel 5 des NATO-Vertrages in Kraft trat. Nach diesem ist jeder Mitgliedstaat verpflichtet, mit von ihm ausgewählten Mitteln zu helfen (vgl. Robertson 2001).Aus amerikanischer Sicht dienten die Anschläge nicht nur dem Zweck der Tötung von amerikanischen Zivilisten, "Bush sah darin die gesamte westliche Zivilisation herausgefordert" (Czempiel 2003, 114). In seiner Rede am 20. September 2001 warnte der amerikanische Präsident alle Staaten hinsichtlich der Unterstützung und der Beherbergung von Terroristen. Innerhalb der Regierung wurde hinsichtlich der Bekämpfungsstrategie "offen von Präemption gesprochen" (Czempiel 2003, 115).Als Adressaten der amerikanischen Drohung kamen insgesamt 60 Länder mit aktiven terroristischen Organisationen in Frage (vgl. ebd., 114). Auch wenn die meisten Attentäter der Anschläge ursprünglich aus Saudi-Arabien stammten, erhärtete sich zunehmend der Verdacht, dass ihre Aktivitäten von Afghanistan aus gelenkt wurden. Im Zuge dessen wurde das Land als "Prototyp" (ebd., 115) für die Terrorismusbekämpfung ausgewählt. Mit der Operation "Enduring Freedom" starteten amerikanische und britische Truppen am 7. Oktober 2001 Angriffe auf Talibanstützpunkte wie etwa auf Regierungsgebäude in Kandahar und Kabul (vgl. Bruha/ Bortfeld 2001, 162; Czempiel 2003, 115).Der Umstand, dass sich am Tag nach den Anschlägen der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit diesen befasste "ist ein erstaunlicher Beweis für die politische Klugheit der USA" (Tomuschat 2002, 20) hinsichtlich der Legitimation der Reaktion auf diese. In diesem Zusammenhang gilt es sich jedoch zu fragen, ob die genannten Resolutionen das Land tatsächlich zu einem Recht auf Selbstverteidigung gemäß Artikel 51 UN-Charta legitimieren.In Resolution 1368 findet sich in Bezug darauf ein entscheidender Widerspruch, welcher die rechtlich bedeutsamen Aussagen schwer greifbar macht. Dieser bekräftigt das Recht auf individuelle und kollektive Sicherheit im Sinne der Charta, bezeichnet die Angriffe jedoch lediglich als eine Bedrohung des globalen Friedens und der Sicherheit. Die bekundete Entschlossenheit, die Bedrohung "mit allen Mitteln zu bekämpfen" (UN 2001, 315), kann nicht als eine Ermächtigung für einzelne Staaten aufgefasst werden, sondern steht für die grundsätzliche Bereitschaft der internationalen Gemeinschaft.Anders als Resolution 1368 enthält Resolution 1373 mehr rechtlich eindeutige Aussagen. Bereits in der Präambel wird auf die Anwendung der Maßnahmen gemäß Kapitel VII UN-Charta verwiesen. Zudem bestätigt sie die Zulässigkeit des Einsatzes "aller Mittel" durch die Opfer von terroristischen Anschlägen (vgl. UN 2001, 316f.). Es zeigt sich also, dass eine Berechtigung zu der Ausübung des Selbstverteidigungsrechts gemäß Art. 51 UN-Charta durch die Vereinigten Staaten im Rahmen der genannten Resolution durchaus vorliegt (vgl. Tomuschat 2002, 20f.).Nun stellt sich die Frage, ob die Verbindungen zwischen den Anschlägen und dem Taliban-Regime derart offensichtlich waren, dass die militärischen Aktionen gegen die Taliban in Afghanistan unter die Ausübung des Selbstverteidigungsrechts fallen. In diesem Zusammenhang kann man sich nicht auf die genannten Resolutionen berufen, da diese nicht aufzeigen, "gegen wen Gegenwehr zulässig sein soll" (Tomuschat 2002, 21). Folglich gilt es, die Reaktionen des Sicherheitsrates und der Generalversammlung näher zu betrachten.Es zeigt sich, dass beide Institutionen die amerikanisch-britische Militärintervention nicht verurteilten. Vielmehr verabschiedete der Sicherheitsrat am 12. November 2001 einstimmig Resolution 1377. In dieser wurde der Terrorismus als "eine der schwerwiegendsten Bedrohungen des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit im 21. Jahrhundert" (UN-Resolution 1377 2001) bezeichnet. Mit dieser Qualifikation wurde implizit der Einsatz von äußersten Mitteln gestattet, da die Resolution keine "Grenzen und Schranken von Gegenmaßnahmen enthält" (Tomuschat 2002, 21). Letztendlich kann man also davon ausgehen, dass die Vereinten Nationen die Ausübung des Selbstverteidigungsrechts gemäß Art. 51 UN-Charta durch die USA als Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 zumindest implizit gebilligt haben (vgl. Tomuschat 2002, 21f.).Als Reaktion auf die Anschläge wurden die bislang geltenden Individualsanktionen gegen die afghanischen Taliban und das Terrornetzwerk Al-Qaida mithilfe der Resolution 1390 zu allgemeinen, dauerhaft geltenden Maßnahmen gegen den transnationalen Terrorismus umgewandelt. Damit wurde nicht nur der Adressatenkreis erweitert, es wurde zusätzlich auch die räumliche und die zeitliche Begrenzung aufgehoben.Jede Person, die von einem Staat als Terrorverdächtiger genannt wurde, bekam ab diesem Zeitpunkt die Sanktionen im Hinblick auf das Privatleben, das private Eigentum, auf den Sozialstatus und das Unterhalten von geschäftlichen Beziehungen zu spüren. Fundierte Beweise für eine Aufnahme in die sogenannte "Schwarze Liste" (Kreuder-Sonnen 2017, 160) durch die Staaten waren ebenso wenig notwendig wie eine Begründung gegenüber dem Individuum (vgl. Kreuder- Sonnen 2017, 160).Folgen für die SicherheitspolitikAngesichts der aufgezeigten Gegenmaßnahmen als direkte Reaktion auf die Anschlage des 11. Septembers 2001 wird deutlich, dass man "bezüglich der Reaktion auf den Terrorismus von einer neuen Ära" (Waldmann 2005, 229) ausgehen muss. Es zeigt sich, dass sowohl bei diesen Anschlägen als auch bei terroristischen Anschlägen in den Folgejahren "die durchschnittliche Zahl der Opfer pro Anschlag […] kontinuierlich ansteigt" (Waldmann 2005. 16).Infolgedessen spricht auch Waldmann im Kontext von terroristischen Anschlägen von Kriegshandlungen. Seiner Ansicht nach hat das zunehmende Ausmaß der Anschläge dazu geführt, dass diese nicht mehr als `low intensity´ war, sondern vielmehr als `high intensitiy´ war eingestuft werden müssen. Der Grund hierfür ist seiner Ansicht nach die Tatsache, dass der Begriff des low intensity war neben dem fehlenden Einsatz von konventionellem Kriegsgerät und größeren Truppenverbänden auch einen begrenzten Personen- und Sachschaden impliziert (vgl. Waldmann 2005, 16f.).Auf der internationalen Ebene spiegelten sich die Reaktionen auf das zunehmende Ausmaß der Anschläge vor allem in den zahlreich erlassenen Konventionen und Resolutionen wieder. Hinzu kommt die Tatsache, dass terroristische Anschläge erstmals zu militärischen Interventionen in Länder geführt haben, die sich in erheblicher Entfernung von dem betroffenen Land befinden. Zumindest im Fall von der militärischen Intervention in Afghanistan herrschte eine seltene Einigkeit zwischen den Großmächten im Sicherheitsrat.Ferner führten die Ereignisse zu einem erheblichen Medieninteresse (vgl. Waldmann 2005, 229). Anhand dessen lässt sich "[d]ie neue Einschätzung des gewaltigen, vor allem dem internationalen Terrorismus zugeschriebenen Drohpotentials" (ebd., 230) feststellen. Diese führte zu drei als signifikant zu bezeichnenden Veränderungen im Hinblick auf die Politik und die Einstellung in Bezug auf den Terrorismus (vgl. ebd., 230).Zunächst einmal bewirkte der transnationale Terrorismus in den westlichen Nationen nicht nur einen "politischen Rechtsruck" (ebd., 230) aller regierenden Parteien. Er wirkte sich auch auf alle Ebenen der Gesellschaft aus. Dieser Wandel auf der nationalen Ebene wirkte sich auch auf die Entscheidungen internationaler Gremien aus. Die bislang vorhandene Balance zwischen der individuellen und kollektiven Sicherheit auf der einen Seite und den Grund- und Freiheitsrechten auf der anderen Seite hat sich zunehmend zugunsten des Sicherheitsaspektes verschoben (vgl. ebd., 230).Insbesonders um den Informationsaustausch zwischen den Staaten gewährleisten zu können und damit ein gemeinsames Vorgehen gegen die Bedrohung zu ermöglichen, wurden internationale Instanzen zur Koordinierung geschaffen (vgl. Behr 2017, 151; Waldmann 2005, 231). Ferner erfolgte eine erhöhte Aufmerksamkeit und Ressourcenbereitstellung für national und international agierende Behörden hinsichtlich terroristischer Aktivitäten und damit verbunden eine Reihe neuer, zu diesem Zweck erlassener Gesetze.Neben dem Informationsaustausch wurden auch die Möglichkeiten der Polizei und anderer Instanzen erweitert, um Anschläge bereits im Planungs- und Vorbereitungsstadium erkennen und verhindern zu können. Hierzu gehören beispielsweise Einreiseverbote für Mitglieder islamistischer Gruppierungen. Neben den erweiterten präventiven Maßnahmen wurden auch Notfallszenarien entwickelt, die im Fall eines Anschlags in Kraft treten (vgl. Waldmann 2005, 232).Im Hinblick auf die dargestellten Veränderungen stellt sich in einem nächsten Schritt die Frage, inwiefern weitere Maßnahmen aus der Sicht der Vereinten Nationen erforderlich sein könnten. Nach dem Terrorismusexperten Peter Waldmann "wird keine Unterscheidung zwischen Maßnahmen auf der nationalen und der internationalen Ebene getroffen, weil beide längst immer enger ineinander greifen und in die gleiche Richtung zielen" (Waldmann 2005, 239).Als zentrale Handlungsmaxime benennt Waldmann in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass die Strategien gegenüber terroristischen Netzwerken beziehungsweise dem Terrorismus im Allgemeinen "klar, konsistent und glaubhaft" (Waldmann 2005, 239) sein sollen. Hinsichtlich des Umgangs mit dem islamistischen Terrorismus besteht die größte Problematik darin, dass westliche Nationen ihre Glaubhaftigkeit bezüglich ihrer Leitlinien teilweise verlieren. Insbesonders den Vereinigten Staaten von Amerika wird vorgeworfen, dass sie ihren Prinzipien der Demokratie, des Grundrechtsschutz und der Rechtsstaatlichkeit zugunsten von politischen und wirtschaftlichen Interessen teilweise nicht treu sind (vgl. ebd., 240)."Dass sie aus machtpolitischen Erwägungen jederzeit dazu bereit sind, mit Diktaturen Bündnisse zu schließen, und hinter ihrem quasi messianischen Diskurs, es gelte in der ganzen Welt demokratische Verhältnisse herzustellen, nun allzu deutlich das dringende Bestreben durchscheint, der eigenen Wirtschaft lukrative neue Erdölfelder zu erschließen." (Waldmann 2005, 240).Hinsichtlich der Maßnahmen auf der internationalen Ebene gilt es zunächst auf die Transnationalität näher einzugehen. Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei terroristischen Gruppen in den meisten Fällen nicht um eine Gruppe aus einem Land, sondern um Angehörige unterschiedlicher Länder, die sich länderübergreifend miteinander vernetzt haben. Um dem begegnen zu können, erscheint es unabdingbar, dass auch Staaten grenzübergreifend miteinander kooperieren. Dies würde eine erhebliche Bereitschaft der Teilnehmenden zu einem Teilverzicht auf ihre staatlichen Souveränitätsräume und ihrer Souveränitätsrechte bedeuten.Hinsichtlich der nationalen und internationalen Rechtsordnungen im Allgemeinen verlangen transnationale Rechtsverstöße auch eine entsprechende Weiterentwicklung des Rechts auf internationaler Ebene. Transnationale Verbrechen können nicht durch an nationale Grenzen gebundenes Recht bekämpft werden, da aufgrund der unterschiedlichen Verfassungen rechtsfreie Sphären auf globaler Ebene entstehen. Folglich ist eine Ausweitung des transnationalen Rechts erforderlich. Hierfür müsste das Völkerrecht, bislang mit dem Staat als Rechtsperson und einer rechtlichen Bindung auf dem staatlichen Territorium, entterritorialisiert werden (vgl. Behr 2017, 151; Schmalenbach 2004, 266).Neben der Kooperation von Staaten und der Erweiterung des internationalen Rechts spricht Ernst-Otto Czempiel von einer "dreigeteilte[n] Strategie" (Czempiel 2003, 57) hinsichtlich der Verhinderung weiterer terroristischer Anschläge. Kurzfristig ist es die Aufgabe der Staaten, weitere Anschläge zu verhindern. In diesem Zusammenhang offenbart sich jedoch eine in demokratischen Staaten schwierige Güterabwägung hinsichtlich des Schutzes der kollektiven Sicherheit und der individuellen Freiheitsrechte (vgl. Czempiel 2003, 57).Die bürgerliche Freiheit stellt in demokratischen Staaten ein hohes Gut dar. Auf der anderen Seite würde der fortschreitende Ausbau des staatlichen Sicherheitsapparates eine "allmähliche Aushöhlung der individuellen Grund- und Freiheitsrechte um des Schutzes angeblich höherwertiger Güter willen" (Waldmann 2005, 242) bedeuten. Die Folge wäre eine Entwicklung des Rechtsstaates hin zu einem "präventiven Sicherheitsstaat" (Waldmann 2005, 242) mit einer teilweisen Abkehr von demokratischen Grundsätzen (vgl. Hofmann 2006, 446; Waldmann 2005, 242).Infolgedessen gilt es mittelfristig, sich mit dem Hintergrund der Akteure auseinanderzusetzen. "Als besonders fruchtbare Brutstätte gelten die zahlreichen `failing states´, also die gescheiterten oder zerfallenen Staaten" (Czempiel 2003, 58). Am Beispiel Afghanistans wird deutlich, dass der Westen einen erheblichen Anteil an dem Scheitern des Landes und an der Entstehung der dort ansässigen Terrorgruppe hatte.Im Zuge des Konflikts mit der Sowjetunion hatte Amerika die Kämpfer unterstützt. Mit dem sowjetischen Abzug endete auch die amerikanische Unterstützung, und das zerstörte Land wurde ebenso wie die von Amerika ausgebildeten Kämpfer sich selbst überlassen. Es gründete sich die Terrorgruppe Al Qaida mit dem neuen Feind in Gestalt der USA. Die Entwicklungen in Afghanistan haben gezeigt, dass bei jeder Einmischung von außen neben den kurzfristigen auch die langfristigen Konsequenzen zu bedenken sind und dass "das Objekt der Einmischung auch politisch und wirtschaftlich davon profitiert" (Czempiel 2003, 58).Aus langfristiger Sicht gilt es, die "Quellen des Terrorismus auszutrocknen" (ebd., 58) und eine Veränderung des Kontextes zu erwirken. In diesem Zusammenhang ist die Stabilisierung der "failing states" von entscheidender Bedeutung. Czempiel spricht von einer Neuordnung der Welt, "die immer mehr als ein Quasi-Binnenraum begriffen und mit entsprechender Strategie bearbeitet werden muss" (ebd., 59). Neben der Verringerung der Dominanz des Westens ist eine Änderung der Werteverteilung und ein Lösen der großen Konflikte erforderlich (vgl. ebd., 59).FazitDie Anschläge in den Vereinigten Staaten von Amerika am 11. September 2001 wirkten sich nicht nur traumatisch auf das "Selbst- und Machtbewusstsein der USA" (Czempiel 2003, 40) aus, sie versetzten auch den Rest der Welt in "Angst und Schrecken" (Czempiel 2003, 40). Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erschien eine militärische Auseinandersetzung zwischen zwei Staaten unwahrscheinlich. Vielmehr stellte der Terrorismus als eine "neue Bedrohung von innen durch gesellschaftliche Akteure" (ebd., 57) das größte sicherheitspolitische Risiko insbesonders für westliche Industriestaaten dar. (vgl. ebd., 57). "Der Terror soll Angst und Schrecken verbreiten, ein Gefühl allgemeiner Unsicherheit erzeugen und offene Panik auslösen" (Hofmann 2006, 445). Hinzu kommt, dass mit dieser Form der psychologischen Kriegsführung das Vertrauen innerhalb der Gesellschaft in die politische Führung und in den Staat im Allgemeinen zerstört werden soll.Aus historischer Sicht existiert das Phänomen des Terrorismus seit mehr als 2000 Jahren. "Er hat überlebt, weil es ihm gelungen ist, sich immer wieder an die veränderten Bedingungen und Gegenmaßnahmen anzupassen und die verwundbaren Stellen seines Gegners ausfindig zu machen, um sie für seine Zwecke zu nutzen" (Hofmann 2006, 446). Entsprechend muss bei Gegenmaßnahmen "das gesamte Spektrum der verfügbaren Mitteln […], psychologische und physische, diplomatische und militärische, ökonomische und moralische" (ebd., 445) eingesetzt werden.Es gilt nun abschließend eine Antwort auf die Frage zu finden, inwiefern die Anschläge im Herbst 2001 die Sicherheitspolitik der Vereinten Nationen verändert haben. Kurzfristig führten diese zu einer seltenen Einigkeit der ständigen Mitglieder im UN-Sicherheitsrat, was sich in den zahlreichen erlassenen Resolutionen wiederspiegelt. Darunter fällt auch die Tatsache, dass die internationale Gemeinschaft die Militärintervention in Afghanistan nicht verurteilte, sondern vielmehr den Vereinigten Staaten ihr Recht auf Selbstverteidigung gemäß Art. 51 UN-Charta einstimmig zugestand.Es erwies sich jedoch hinsichtlich der internationalen Zusammenarbeit als problematisch, dass keine einheitliche Definition des Begriffs Terrorismus besteht. Das könnte dazu führen, dass wirtschaftliche Sanktionen oder militärische Aktionen zur Durchsetzung eigener Interessen fälschlicherweise als Terrorismusbekämpfung etikettiert werden.Generell zeigt sich, dass die Anschläge einen erheblichen innenpolitischen Rechtsruck bewirkten, der sich auch auf die Entscheidungen internationaler Gremien auswirkte. Das wurde durch erweiterte Befugnisse für die Polizei und andere Exekutivorgane in Fragen der nationalen und internationalen Sicherheit sichtbar.Mit der Resolution 70/291 stellte der amtierende UN-Generalsekretär Antonio Guterres am 22. Februar 2017 strategische Handlungsoptionen für die Terrorismusbekämpfung vor. Zunächst einmal soll die Effizienz der Vereinten Nationen im Bereich der Terrorbekämpfung allgemein gestärkt werden. Zudem soll die Qualität der Vereinten Nationen hinsichtlich der Unterstützung der Mitgliedsstaaten bei der Umsetzung der UN-Terrorismusbekämpfungsstrategien hinterfragt werden. Hinzu kommt der Anstoß zu einer Debatte hinsichtlich der regionalen und internationalen Zusammenarbeit von Staaten und UN-Sonderorganisationen.Außerdem wurde Wladimir Iwanowitsch Woronkow auf Vorschlag von Guterres zur Umsetzung und Koordinierung der Vorschläge am 21. Juni 2017 als Untergeneralsekretär eingesetzt. Diese strategische Neuausrichtung wird als eine strategische Aufwertung der Terrorismusbekämpfung im Rahmen der Vereinten Nationen verstanden (vgl. Behr 2017, 152).Zusammenfassend zeigt sich also, dass sich die internationale Gemeinschaft der Tatsache bewusst ist, dass eine gemeinsame Strategie zur Bekämpfung des transnationalen Phänomens erforderlich ist. "Wenn wir den Terrorismus erfolgreich bekämpfen wollen, müssen wir ebenso unermüdlich, innovativ und dynamisch vorgehen wie unsere Gegner" (Hoffmann 2006, 446).LiteraturBehr, H. (2017): Die Antiterrorismuspolitik der UN seit dem Jahr 2001. In: Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. [Hrsg.]: Terrorismusbekämpfung und die Vereinten Nationen. S. 147-151.Böhm, A. (2021): Die Gesetzte des Dschungels. In: ZEIT Geschichte 4/21. S 92-97.Czempiel, E.-O. (2003): Weltpolitik im Umbruch. Die Pax Americana, der Terrorismus und die Zukunft der internationalen Beziehungen. München: Verlag C.H.Beck oHG.Finke, J./ Wadscher, C. (2001): Terrorismusbekämpfung jenseits militärischer Gewalt. In: Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. 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Wird Theater zum Film, wenn – wie bei Castorf, Hartmann, Pucher – auf der Bühne Videokameras und Projektionsflächen eingesetzt werden? Wird Film zum Theater, wenn – wie bei Lars von Triers Dogville – Konventionen und Ästhetiken von Theater übernommen werden? Wie lassen sich die Grenzgänge zwischen Theater und Stadtraumaktion bei Rimini Protokoll oder zwischen Theater und Politik bei Joseph Beuys und Christoph Schlingensief begrifflich fassen? Diesen Fragen stellt sich das Buch Theater im Kasten, das Andreas Kotte, Direktor am Institut für Theaterwissenschaft der Uni Bern im Chronos Verlag herausgegeben hat. Der Band umfasst fünf eigenständige Arbeiten sowie einen Anhang mit Interviews und einem exemplarischen Sequenzprotokoll. Jede einzelne der Arbeiten, als Lizentiatsarbeiten an der Uni Bern entstanden, besticht durch ausführliche und präzise Aufführungs- und Ereignisbeschreibungen, durch fundierte historische Kontextualisierungen und umfangreiche Materialdarstellungen. Theoretische Referenzen und Reflexionen hingegen sind, bestätigt Andreas Kotte im Vorwort, stark gekürzt worden. Zum einen, um Wiederholungen zwischen den sich überschneidenden Themen der Arbeiten zu vermeiden, vor allem aber, weil "die dichten Beschreibungen von Inszenierungen [.] als Bezugsgrössen stärker präsent [bleiben] als die bei jedem Paradigmenwechsel re-formulierten und dadurch scheinbar stets aktuellen Bewertungen" (S. 10). Die konservative – im Sinne von 'bewahrende' – Haltung von Kotte zeigt sich nicht nur im Verhältnis von 'Beschreibung' und 'Bewertung' (als ließen sich diese so einfach trennen), sondern auch in dem von 'Theater' und 'Medien'. "Den Mediengebrauch im Theater zu erforschen […] ist gerade dann unerlässlich, wenn man Theater nicht für ein Medium hält" (S. 7). Kotte möchte die Schnittstelle zwischen Theater und Medien als Reibungsfläche für verschiedene Theaterbegriffe nutzen, so fragt er: "Was passiert eigentlich, wenn szenische Vorgänge mediatisiert werden, wenn sich Theater in die Kästen verkriecht? Ins Telefon, in die Videokamera, […], in den Filmprojektor?" (S. 7) Für eine inhaltliche Auseinandersetzung freilich muss der Kasten des Filmprojektors verlassen und der Blick auf die Leinwand gerichtet werden. "Sehe ich einen Film oder bin ich schon im Theater?" lautet der kenntnis- und beispielreiche Beitrag von Sonja Eisl, die sich vielseitig am Genre 'Theaterfilm' abarbeitet. 'Theaterfilm' sieht Eisl als "Oberbegriff für Filme, die sich durch Aspekte von Theater oder Theatralität auszeichnen sowie für Filme, die sich theatraler Strategien bedienen oder diese thematisieren" (S. 35). Offen bleibt, warum es eines Genres 'Theaterfilm' überhaupt bedarf, worin dessen Chancen und Risiken liegen. Neben Filmen, die Schauspieler- und Theaterwelten als Sujet behandeln (All about Eve, To Be or Not to Be etc.) wird das Etikett auf Filme geklebt, die auf einer ursprünglich fürs Theater produzierten Dramenvorlage beruhen (Romeo and Juliet etc.) sowie auf Filme wie La vita è bella oder Le Fabuleux Destin d'Amélie Poulain, denen Inszenierungs- und Stilmittel des Theaters zugeschrieben werden. Eisl verpasst die Gelegenheit, sich kritisch mit möglichen Grenzziehungen auseinander zu setzen, obgleich sich ihr erstes Beispiel, Lars von Triers Dogville, dafür durchaus geeignet hätte. Statt dessen arbeitet sie in ihrer Analyse sehr schön wesentliche Charakteristika des Filmes heraus und erläutert plausibel, wie und warum gerade der weitgehend realistisch-psychologische Schauspielstil innerhalb des theatral-stilisierten, anti-realistischen Raumes eine Umkehrung erfährt und als künstlich und befremdend erfahren wird. Als zweites Beispiel dient ihr Von Triers Idioterne. Eisl plädiert dafür, dass sich die Theaterwissenschaft des Theaterfilmes annehmen solle, weil "keine andere Wissenschaft über derart profunde Analyseinstrumentarien […] bezogen auf Theater und Theatralität verfügt" (S. 82). Die Definitionskriterien indes, die Eisl anführt (Fischer-Lichtes "Kopräsenz" und Kottes "szenische Vorgänge" und "Konsequenzverminderung") sind nicht unbedingt hilfreich für eine Analyse von Idioterne. Handelt es sich tatsächlich, nur weil junge Menschen so tun, als seien sie behindert, um einen Theaterfilm? Gilt gleiches für Filme über Heiratsschwindler und Geheimagenten? Wenn die Schwierigkeit, Theater zu definieren, auf ein unscharf bleibendes Genre 'Theaterfilm' ausgeweitet wird, ist wenig gewonnen. Viel jedoch, wenn – wie Eisl das immer wieder hervorragend gelingt – mit theaterwissenschaftlichem Instrumentarium Filmelemente analysiert werden, die sich theatraler Konventionen bedienen. Das Spiel mit audiovisuellen Medien auf der Bühne analysiert Silvie von Kaenel in ihrem Beitrag "Was vermag Video auf dem Theater? Stefan Pucher – Matthias Hartmann – Frank Castorf". Als Material dienen ihr die Inszenierungen Homo Faber (Zürich 2004), 1979 (Bochum 2003) und Der Meister und Margarita (Wien/Berlin 2002). Alle drei Inszenierungen werden präzise dokumentiert und anschaulich beschrieben. Von Homo Faber findet sich im Anhang beispielhaft ein Sequenzprotokoll, das die zweistündige Inszenierung in drei Beschreibungsebenen und 37 Sequenzen gliedert. Das Bemühen um 'objektiv-wissenschaftliche' Berichterstattung führt u. a. auch zu einer Tabelle zum Inszenierungsvergleich, in der die Anzahl der Videosequenzen ebenso vermerkt ist wie die prozentuale Videoeinsatzdauer oder die Dauer der jeweils längsten Videosequenzen. Dieser auf Zahlen vertrauenden Objektivierung steht die Subjektivität der "Rezeption durch die Tagespresse" gegenüber, die Von Kaenel in Bezug auf 1979 wie folgt kontrastiert: "Das Videospiel verdrängt das Schauspiel, stützt es wesentlich oder wächst mit ihm zu einem Gesamtkunstwerk zusammen. Video verdoppelt, vergrössert, verfremdet, konkurrenziert, kommentiert […]. Video geht den Figuren tiefer auf den Grund oder verstärkt die Distanz zwischen [zu?] ihnen." (S. 126 bzw. 154) Wie ist bei derart verschiedenen Wahr-Nehmungen ein Nachdenken über die Wirkungen von Video auf dem Theater möglich? Von Kaenel stellt systematisch dieselben Fragen an alle drei Inszenierungen. Dabei geht es ihr um die 'Einsatzformen von Video' und darum, 'Was Video erzählt'. "Wie gehen die Schauspieler mit Kamera und Leinwand um? Wie beeinflusst das Video die Wahrnehmung des Zuschauers? […] Wie wirken sich die Videosequenzen auf den Inhalt aus? Wie auf die Dramaturgie?" (S. 94). Während diese Fragen in klare und interessante Antworten münden, erscheinen weitere Fragestellungen eher problematisch: ob Videoeinsatz die "Performativität" der Aufführung begünstige und ob er ihre "Bildhaftigkeit" verstärke, kann nicht plausibel beantwortet werden, solange beide Begriffe schwammig bleiben. Auch die Hypothese, der beschriebene Videoeinsatz sei überwiegend "intermedial" (im Gegensatz zu "bloss multimedial") bleibt aufgrund fehlender Begriffsklärungen undifferenziert. Anhand des (leider ebenfalls unklaren) Begriffes der "Authentizität" formuliert Von Kaenel indes interessante Ambivalenzen: Einerseits werde Theater gerade aufgrund der Unvermitteltheit, der körperlichen Anwesenheit und der 'theatralen Feedback-Schleife' als authentisch erfahren (S. 138), andererseits erlaube erst die Videokamera den Blick auf intime Details und das Mikrophon ein privates Sprechen. Die Leinwand ermögliche "'Echtzeit, Gelassenheit, maximale gestische Privatheit' [und damit] 'Realmomente', wie sie allenfalls im Film bisweilen glückten" (S. 140).1 Meister von "Realmomenten" im Theater sind Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel, bekannt unter dem Label Rimini Protokoll. Miriam Ruesch untersucht in "Call Cutta – bei Anruf Kunst" deren 2005 entstandenes "The world's first Mobile Phone Theatre". Die Inszenierung Call Cutta lässt sich beschreiben als "Theatergang durch Kreuzberg, mit Rimini Protokoll und indischen Dienstleistern" sowie als "Mischung aus Stadtführung, Geschichtslektion, Telefonflirt und Selbsterfahrungstrip" (S. 164).2 Im Zehnminutentakt starten Zuschauer am Berliner Theater Hebbel am Ufer 2 zu einem einstündigen 'Audiowalk', geführt und angewiesen via Handy von einer Person in einem indischen Call Center. Dieses Erlebnis wird von Ruesch plastisch und präzise beschrieben und eingebettet in eine Auseinandersetzung mit der Arbeitsweise von Rimini Protokoll. Neben den begrifflichen Überlegungen, die Ruesch vor allem unter Bezugnahme auf Fischer-Lichte (Ko-Präsenz und Ereignishaftigkeit), Lehmann (postdramatisches Theater und metonymischer Raum) und Kotte (Hervorhebung und Konsequenzverminderung) anstellt, bilden besonders die Selbsteinschätzungen der Beteiligten in den von Ruesch geführten Interviews einen aufschlussreichen Zitaten-Schatz. Helgard Haug ist wichtig, dass "Call Cutta im Rahmen von Theater" und nicht nur als "Stadtraumaktion" wahrgenommen werde (S. 199). Der Stadtraum werde, so Ruesch, bei einer traditionellen Stadtführung tendenziell als Wissensraum empfunden, bei Call Cutta hingegen als Erlebnisraum. Diese Raumunterscheidung wird um weitere Raumkonzepte von De Certeau, Lehmann, Löw und Roselt ergänzt. Ruesch differenziert außerdem physischen Raum und Wahrnehmungsraum, öffentlichen Raum und Stadtraum, visuellen und akustischen Raum, realen und imaginären, Gesprächs- und Kommunikations- sowie Handlungs- und Sinnesraum. Unter so viel "Raum" auf 13 Seiten leidet leider die Orientierung. Interessant ist, wie Ruesch versucht, in den 'Gesprächsraum' einzudringen. Was geschieht im Persönlichen, Zwischenmenschlichen, und welche Rollenzuteilungen finden statt? Die Call-Center-Mitarbeiter haben zwischen vorgegebenen Textpassagen Frei-Raum zur Improvisation und zum spontanen, privaten Gespräch; angeblich sind daraus langfristige Kontakte und "Telefonfreundschaften" entstanden. Was ereignet sich im intimen Zweiergespräch zwischen den vorgegebenen Regieanweisungen? Wie ist diese spezielle Gesprächssituation überhaupt begreifbar? "Die Agenten in Call Cutta [.] telefonieren zwar für Geld [.], der Grund ihres Anrufes ist jedoch Kunst." (S. 196) Worin besteht der Unterschied zwischen der Dienstleistung Kunst/Theater und anderen Dienstleistungen wie der Telefonseelsorge oder dem Telefonsex? Interessant ist die Frage, wie sich das gleichermaßen Anonymität und Intimität versprechende Medium Telefon auf das Theater auswirkt – und welche Grenzen die Inszenierung über Globalisierung und grenzenlose Kommunikation dabei öffnet oder (er)schließt. "Grenzgänge zwischen Kunst und Politik. Joseph Beuys und Christoph Schlingensief" lautet der Titel der gut recherchierten und eindrucksvollen Arbeit, in der Rahel Leupin offen legt, wie stark sich Schlingensief an Beuys orientiert. "Wir sind zwar nicht gut, aber da" (S. 280), sagt Schlingensief, und die Art, wie er und wie Beuys 'da' waren, wird von Leupin umfang- und zitatenreich dargestellt. Unter Einbeziehung der politischen Hintergründe, der inhaltlichen Aspekte und Ziele sowie der Reaktionen von Teilen der Öffentlichkeit (Zuschauer, Presse, Politiker) untersucht sie Aktionen von Beuys (vor allem sein Büro der Organisation für direkte Demokratie auf der documenta 5, 1972) und Schlingensief (vor allem seine Hamlet-Inszenierung, Zürich 2001). Die Arbeit fragt nach den Anliegen beider Künstler sowie deren Realisationen, vergleicht das Auftreten der beiden unter dem Aspekt von Präsentation, Repräsentation und Selbstpräsentation. Dabei sieht Leupin Beuys vor allem (wie in Kassel 1972) in einem Raum "zwischen Atelier und Klassenzimmer" (S. 236), er trete auf wie ein Lehrer, "mit missionarischem Eifer von seiner Gesellschaftsalternative überzeugt" (S. 278). Schlingensief hingegen inszeniere sich als postmoderner Theaterclown, der Dekonstruktion anstrebe, ohne Alternativen und Visionen anzubieten, er "spielt ein Was-Wäre-Wenn-Spiel ohne über einen konkreten gesellschaftspolitischen Entwurf zu verfügen" (S. 284). Deutlich wird dieser Unterschied unter anderem im Hinblick auf beider politisches Engagement, denn während Joseph Beuys Anfang der 1980er tatsächlich versucht habe, für die Grünen in den Bundestag zu gelangen, könne man nicht davon ausgehen, dass Schlingensief mit seiner Partei Chance 2000 im Bundestagswahlkampf 1998 tatsächlich ein politisches Mandat angestrebt habe. Schlingensiefs Ausrufe à la "Tötet Helmut Kohl!" seien nicht nur PR-wirksame, bewusste Provokationen, die ihm kurzzeitige Verhaftungen eingebracht haben. In ihnen offenbare sich auch Schlingensiefs ambivalente Haltung: Einerseits behauptet er eine Verachtung für den arrivierten Kunst- und Theaterbetrieb und möchte "in die Gesellschaft rein", andererseits ziehe er sich, sobald es ernst werde, auf die (Narren-)"Freiheit der Kunst" zurück, nutze Theater als Ort der Konsequenzverminderung. Als Gemeinsamkeit von Beuys und Schlingensief streicht Leupin heraus, dass beide zwar einerseits den traditionellen Kunstkontext sprengen wollten, ihn aber andererseits benutzen als rechtlichen Schutz sowie als Rahmen der Organisation und Finanzierung. Außerdem sei "beiden Künstlern […] gemeinsam, dass ihre Aktionen zwar einen einmalig unmittelbaren und spontanen Eindruck erwecken, trotzdem jedoch akribisch genau dokumentiert werden. Während Beuys dazu vor allem das Medium der Fotografie und des Films bevorzugte, braucht Schlingensief zusätzlich das Internet als Kommunikationsplattform und Instrument zur Öffentlichkeitsarbeit." (S. 277) Im Rahmen dieses Buches wäre eine reflektiertere Analyse gerade der medialen Gesichtspunkte (als Beuys 1986 starb, war das Internet erst im Entstehen) wünschenswert gewesen: Welche Medien und Mittel wählen die beiden Künstler? Wie und warum werden Handzettel, Buttons und Plakate, Kreide und Tafel, Megaphon, Foto, Video oder Internet eingesetzt und wie beeinflussen die Kommunikationsformen – sowie der Rahmen des Museums, Theaters, Bildschirmes – die Aktionen, Ästhetiken, Wirkungen? Gerade die Aktionen auf der documenta 5 (Beuys) und documenta X (Schlingensief) sowie die Wahlkämpfe hätten sich unter medialen Aspekten gut vergleichen lassen. Ein mangelnder Fokus aufs Mediale freilich ist den Autorinnen nicht vorzuwerfen, sind ihre Arbeiten doch als eigenständige Lizentiatsarbeiten entstanden und erst nachträglich zum "Theater-Kasten" zusammengewürfelt worden. Um eine Engführung der vier vorangehenden Arbeiten bemüht sich Nicolette Kretz in "Am I really here, or is it only art? Agierende und Schauende in der Aufführungsanalyse". Darin führt sie die in den anderen Arbeiten besprochenen Beispiele in aufführungsanalytischer Perspektive zusammen und entwirft eine (schau)bildliche Darstellung des Verhältnisses von Akteurshaltungen und rezeptiver Rahmung. Ist der Akteur "darstellend" oder eher nicht, und empfindet der Zuschauer die Aktion als "Theater" oder nicht? Kretz erstellt ein zweidimensionales Koordinatensystem mit der "Haltung des Akteurs" auf der X- und der "rezeptiven Rahmung" auf der Y-Achse. Eine Handlung, die vom Akteur als Theater gemeint und vom Rezipienten ebenso wahrgenommen wird, situiert sich nahe dem Nullpunkt am Achsenkreuz. Sie entfernt sich von diesem nach rechts oder oben (oder beides), wenn entweder Akteur oder Rezipient (oder beide) nicht mehr der Meinung sind, dass es sich beim Getanenen oder Gesehenen um Theater handelt. Folglich kann ein eingetragener Punkt im Laufe eines Ereignisses wild im Koordinatensystem umherwandern, etwa einen Sprung vollführen in dem Moment der Erkenntnis bei Call Cutta, in dem Kretz bemerkte, dass sie "etwas für Theater [gehalten hatte], was in Wirklichkeit vollkommen ungespielt war" (S. 302). Anschaulich illustriert wird der Wechsel von Akteurshaltungen bzw. rezeptiver Rahmung anhand der vielschichtigen Arbeiten des libanesischen Künstlers Walid Raad und der Atlas Group. Das Verfahren von Kretz schafft eine praktikable Möglichkeit, aufführungsanalytische Elemente zu systematisieren und zu visualisieren. In seiner Zweidimensionalität freilich bleibt das Modell unterkomplex. Zwar schlägt Kretz als dritte Achse und Dimension die der Medialität vor: "vom unmittelbaren Gegenüber über die audio-visuellen Medien hin zur grafisch unterstützten virtuellen Präsenz" (S. 315), dies bleibt jedoch eine unausgeführte Skizze. Außerdem fehlen im Modell Frame-konstituierende Aspekte des Raumes sowie eine Zeitebene, die eine Entwicklung berücksichtigen würde. Interessant bis amüsant ist die Anwendung des Koordinatensystems auf prominente Definitionsversuche von Theater. Von den neun Feldern, in die Kretz ihr Diagramm unterteilt, werden demnach mit der Theaterdefinition von Bentley drei, von Lazarowicz ein, von Fischer-Lichte sechs und von Kotte achteinhalb abgedeckt. Theater im Kasten besticht, wie aus den einzelnen Besprechungen deutlich wurde, durch ausführliche Beschreibungen theatraler Ereignisse, Anschaulichkeit und Materialintensität. Diese beschränkt sich auf Worte, es gibt keine Begleit-DVD und nur wenige Bilder in dem ansprechend gestalteten Hardcover-Band. Theater derart "einzukasteln" bietet freilich Risiken, zumal es um ein Theater der Erweiterungen geht, ein Theater, das Platz braucht, das Grenzen zum Film, zur Stadtraumaktion, zur Politik hin sprengt, das Offenheit erfordert und keinen zu engen Rahmen. Dennoch: Das selbstformulierte Ziel des Buches, "Partikel des Flüchtigen" zu dokumentieren, wurde eingelöst, die Partikel sind feinsäuberlich gesichtet, sortiert und liebevoll ausgestellt. Theater im Kasten bietet keine Theorie des Theaters, aber vielleicht einen kleinen Baukasten dafür. Dass in der Zusammenstellung der fünf Lizentiatsarbeiten die theoretische Flanke offen bleibt, verweist auf das Praktische an einem Kasten: Im Gegensatz zur Kiste ist er nur an fünf Seiten geschlossen und an einer offen und ermöglicht so stets neue Zugriffe. 1 Von Kaenel zitiert hier Cornelia Niedermeier, "Der Satan hat den Blues", in: Die Tageszeitung, 20.06.2002. 2 Ruesch zitiert hier Jan Oberländer, "Wer ist der Feind deines Feindes? 'Call Cutta'", in: Der Tagesspiegel, 05.04.2005.
La presente tesi affronta il tema della modulazione degli effetti delle sentenze di accoglimento della Corte costituzionale intrecciandolo con l'analisi dell'esperienza tedesca delle Unvereinbarkeitserklärungen, le quali costituiscono lo strumento privilegiato con cui il Bundesverfassungsgericht modula nel tempo gli effetti della declaratoria di incostituzionalità. L'analisi congiunta del modello italiano e tedesco consente di valutare sotto un diverso angolo prospettico la questione relativa ai limiti dell'efficacia retroattiva delle sentenze di accoglimento, la quale ha interessato l'attività della Consulta sin dai primissimi anni della sua attività. Nel primo capitolo della tesi verrà analizzata la disciplina relativa agli effetti delle sentenze di accoglimento, ragionando in particolar modo sul principio di retroattività che presidia la declaratoria di incostituzionalità; nel secondo capitolo, verrà dedicato ampio spazio alla prassi temporalmente manipolativa della Corte costituzionale, evidenziandone le esigenze sottese e i relativi nodi problematici. Il terzo capitolo ospiterà una ricognizione delle decisioni di incompatibilità tedesche: l'analisi, che prenderà le mosse da una riflessione sul dogma della nullità e dell'annullabilità della norma incostituzionale, interesserà non solo le ragioni che conducono il Bundesverfassungsgericht a scindere il momento dell'accertamento da quello della declaratoria dell'incostituzionalità, ma anche gli effetti che si ricollegano alle diverse varianti decisionali delle Unvereinbarkeitserklärungen. Infine, l'ultimo capitolo sarà dedicato ad un raffronto tra l'esperienza temporalmente italiana e quella tedesca: esso si strutturerà principalmente intorno al profilo relativo al rapporto tra Giudice costituzionale e legislatore, ovverosia il perno intorno al quale si muove (o, meglio, dovrebbe muoversi) la giurisprudenza temporalmente manipolativa. ; The present thesis deals with the issue of modulating the effects of the sentences of the Constitutional Court by intertwining it with the analysis of the German experience of the Unvereinbarkeitserklärungen, which constitute the privileged temporally manipulative instrument with which the Bundesverfassungsgericht modulates over time the effects of the declaration of unconstitutionality. The analysis of German and Italian constitutional justice makes it possible to assess under a different perspective angle the question concerning the limits of the retroactive effectiveness of the declaration of unconstitutionality, which has affected the activity of the Corte Costituzionale since the very first years of its activity. If in the first chapter of the thesis the discipline relative to the effects of the sentences of unconstitutionality will be analyzed, reasoning in particular on the principle of retroactivity which oversees the declaration of unconstitutionality itself, in the second chapter ample space will be dedicated to the temporally modulative practice of the Constitutional Court, highlighting the underlying needs as well as the related problem areas. The third chapter is devoted to the study of the German incompatibility decisions. The analysis, which starts from a reflection on the dogma of nullity and the annulment of the unconstitutional rule, concerns not only the reasons that lead the Bundesverfassungsgericht to split the moment of assessment from that of the declaration of unconstitutionality, but also the effects that relate to the different decision-making variants of the Unvereinbarkeitserklärungen. Finally, the last chapter is devoted to a comparison between the temporally modulative Italian and German experience: it will be structured mainly around the profile relative to the relationship between the constitutional judge and the legislator, which constitutes the pivot around which the temporally modulative case-law moves (or, better, should move). ; In dieser Doktorarbeit wird das Thema der Handhabung der Rechtswirkungen im Verlauf der Zeit der vom Verfassungsgerichts getroffenen Annahmeurteile (die "sentenze di accoglimento") mit besonderer Beachtung der Steuerung der zeitlichen Rechtswirkungen durch das Bundesverfassungsgericht untersucht. Vor der Erläuterung des Inhalts dieser Doktorarbeit erscheint es mehr als notwendig, einleitend kurz die Gründe für diese Überlegung zur deutschen Praxis hervorzuheben. In diesem Sinn ist die Behauptung des Verfassungsrichters Lattanzi zur Rechtsprechung im aktuellen Fall "Cappato" von großer Bedeutung: Es geht hier im Wesentlichen um die Ähnlichkeit des Typs der vom Verfassungsgericht getroffenen Entscheidung mit dem der deutschen Unvereinbarkeitsentscheidungen, die Hauptthema dieser Untersuchung sind, und zwar nicht nur, da diese einen zeitlichen Aufschub der Rechtswirkungen der Verfassungswidrigkeitserklärung (wenn auch auf eine ganz eigne Art) verfügen, sondern auch weil sie, wie in der deutschen Rechtslehre bestätigt, ein wichtiges Mittel zur Untersuchung der Beziehungen zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber darstellen. Auf der Ebene der Rechtslehre stellen die deutschen Unvereinbarkeitserklärungen den Gegenstand eines erneuten Interesses heute und sorgfältiger Untersuchungen in der Vergangenheit dar: In diesem Sinn ist das Studienseminar über die Modulation der Rechtswirkungen der von demselben Verfassungsgericht gefassten Annahmesprüche, bei denen die maßgebliche Rechtslehre die typischen Merkmale der Unvereinbarkeitsentscheidungen untersuchte, um eine mögliche Übertragung in die Sammlung der Entscheidungshilfen des Verfassungsgerichts zu erwägen, von Bedeutung. Bei jener Gelegenheit wurden viele Probleme eines solchen Entscheidungstyps vorgebracht: Insbesondere betrafen diese erstens die Schwierigkeit, ihre konkreten Rechtswirkungen zu erkennen, zweitens die Schwierigkeit, ihr in dem untätigen italienischen Parlament Folge zu leisten und drittens die abweichende Rolle, die das Bundesverfassungsgericht innerhalb der deutschen Regierungsform innehat. Es handelt sich um drei im letzten Teil dieser Doktorarbeit untersuchte Punkte, die in der Tat nicht wenige Probleme aufwerfen, vor allem angesichts der Aufnahme durch das Verfassungsgericht einiger Urteile, die unter verschiedenen Aspekten den deutschen Unvereinbarkeitserklärungen ähneln. Dabei handelt es sich insbesondere um die Urteile Nr. 243 von 1993, Nr. 170 von 2014, Nr. 10 von 2015 und Nr. 207 von 2018. Ein enger Vergleich mit der Ratio und den Problempunkten der deutschen Unvereinbarkeitserklärungen ist somit nützlich, nicht nur, um deren möglichen Chancen in der italienischen Verfassungsrechtsprechung zu erwägen, sondern auch, um eine noch offene Frage zu erörtern, die das Verfassungsgericht seit Anbeginn ihrer Tätigkeit als Hüter des Grundgesetzes betrifft. Nach dieser Einleitung wird im ersten Kapitel der Doktorarbeit die gesetzliche Regelung der Rechtswirkungen der Annahmeurteile untersucht; das zweite Kapitel ist der Analyse der zeitlich handhabenden Praxis des Verfassungsgerichts gewidmet. Das dritte Kapitel ist der deutschen Praxis der Unvereinbarkeitserklärungen gewidmet, während im vierten Kapitel die wichtigsten Punkte der Vergleichsstudie zwischen der zeitlich steuernden italienischen und der deutschen Praxis behandelt werden. Die Wahl eines solchen Aufbaus erklärt sich angesichts der Möglichkeit einer Analyse ex ante der mit der Handhabung der Rechtswirkungen der Annahmeurteile verbundenen Problempunkte, um dann das Verständnis ex post der Gründe, die diese Doktorarbeit zu einer Untersuchung der "flexiblen" Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geführt haben, zu erleichtern. Im letzten Kapitel schließlich wird versucht, einige Aspekte, die mit den heutigen Schwierigkeiten der zeitlich steuernden Rechtsprechung der Verfassungsgerichte zu tun haben, nach der Logik von Ähnlichkeit und Gegensatz hervorzuheben, darunter insbesondere die Beziehung zwischen Verfassungsorgan und Legislativorgan. Das erste Kapitel ist vollkommen der Regelung der Rechtswirkungen der Annahmeurteile gewidmet, die, wie bereits angedeutet durch Art. 136 des ital. GG, Art. 1 des ital. Verfassungsgesetzes Nr. 1 von 1948 und Art. 30, 3. Abs. des ital. Gesetzes L. Nr. 87 von 1953 vorgegeben sind. Das Kapitel ist in acht Abschnitte unterteilt, die teilweise auf den Entscheidungstyp der Unvereinbarkeitserklärungen Bezug nehmen. Der 1. Abschnitt (Rückkehr zu Kelsen zur Neuentdeckung möglicher, vom Verfassungsgericht umsetzbarer Perspektiven: Die Handhabung der Rechtswirkungen der Annahmeurteile im Verlauf der Zeit und die Beziehung zum Gesetzgeber) ist einführend der These Kelsens hinsichtlich der Beziehung zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber gewidmet, in Anbetracht der Tatsache, dass, wie im letzten Kapitel erläutert, gerade die Rückkehr zum Ursprung und somit zur Lehre Kelsens bezüglich der Wirkung der Verfassungswidrigkeitserklärung in dieser Doktorarbeit (mit der erforderlichen Vorsicht) als wünschenswert angesehen wird. Während im 2. Abschnitt (Der heutige Stand: ein "flexibles" Verfassungsgericht, fern vom ursprünglichen Gerüst der Rechtswirkungen der Annahmeurteile) eine zum Teil die Erläuterungen des zweiten Kapitels vorwegnehmende Überlegung zu einem Verfassungsgericht, das "fern" vom ursprünglichen Gerüst der Rechtswirkungen der Annahmeurteile ist, wird im 3. Abschnitt (Die Regelung der Rechtswirkungen der Annahmeurteile: Grundgedanken des Art. 136 ital. GG der verfassungsgebenden Versammlung. Einige Anregungen zur zeitlich handhabenden deutschen Praxis) versucht, zum Kern des Art. 136 der ital. GG vorzudringen, wo im ersten Absatz Folgendes vorgesehen ist: "Wenn das Gericht die Verfassungswidrigkeit einer gesetzlichen Vorschrift oder einer gesetzeskräftigen Maßnahme erklärt, endet deren Wirksamkeit ab dem Folgetag der Veröffentlichung der Entscheidung". Im Verlauf des Abschnitts wird versucht, einen Überblick der wichtigsten Entwürfe bezüglich des ursprünglichen Art. 136 ital. GG zu liefern, wobei der Entwurf der Abg. Mortati, Ruini, Cappi, Ambrosini und Leone kurz untersucht wird. Besonders interessant ist, auch zum Zweck einer Vergleichsstudie mit den deutschen Unvereinbarkeitserklärungen, der Entwurf des Abg. Calamandrei, der vorschlug, die Legislativorgane sollten im Anschluss an die Aufnahme eines Annahmeurteils sofort das Verfahren zur Gesetzesänderung einleiten, sodass sich, wenn auch mit der erforderlichen Vorsicht eine charakteristische Form der dem Legislativorgan zukommnenden "Nachbesserungspflicht" abzeichnet. Abschnitt 3.1. (Der Vorschlag Perassis: eine Modulation der Rechtswirkungen der Verfassungswidrigkeitserklärung ante litteram?) konzentriert sich in Übereinstimmung mit der deutschen Praxis auf den Vorschlag des Abg. Perassi, der vorsah, die Wirksamkeit des als verfassungswidrig erklärten Gesetzes sollte ab der Veröffentlichung erlöschen, außer bei Bedürfnis des Gerichts eine andere Wirkungsfrist (in jedem Fall nicht über sechs Monate) zu bestimmen; in diesem Sinn ist der Vorschlag des Abg. Perassi der österreichischen (und zum Teil der deutschen) Praxis ähnlich, und zwar einer Fristsetzung mit dem Ziel einer nützlichen Zusammenarbeit zwischen Verfassungsgericht und Legislativorgan. Perassi behauptete, dass "beim Erlöschen der Wirksamkeit einer gesetzlichen Vorschrift in bestimmten Fällen heikle Situationen auftreten können, da das Erlöschen dieser Vorschrift möglicherweise Probleme mit sich bringt, wenn man nicht vorsorgt". Die Annäherung an eines der wichtigsten Anwendungsgebiete der Unvereinbarkeitsentscheidungen, d.h. dem auf dem Argument der rechtlichen Folgen begründeten, ist in diesem Sinne eine unvermeidliche Pflicht. Gleichfalls interessant erscheint die Entgegnung auf die Voraussicht einer solchen Lösung durch den Abg. Ruini, der erklärte, eine derartige Regelung der Rechtswirkungen der Verfassungswidrigkeitserklärung würde praktisch eine Situation voller übermäßig belastender Folgen hervorrufen, in der insbesondere die Gerichte fortfahren würden, "eine verfassungswidrige Norm anzuwenden". Daher die Bedeutung, die der durch die mit Fortgeltungsanordnung ergänzten Unvereinbarkeitsentscheidungen dargestellte Problempunkt hat. In Abschnitt 3.2 (Zeitlicher Rahmen des Art. 136 ital. GG) wird versucht, Art. 136 ital. GG innerhalb seines zeitlichen Rahmens zu untersuchen. In Kürze: Während der wortwörtliche Gehalt der besagten Verfügung sich anscheinend (nach einem Teil der Rechtslehre) auf eine lediglich zielgerichtete Wirksamkeit der Verfassungswidrigkeitserklärung bezieht, stellt dieser doch, nachdem er sich durch Art. 1 des ital. Verfassungsgesetzes Nr. 1 von 1948 und Art. 30 des ital. Gesetzes L. Nr. 87 von 1953 gefestigt hatte, die verfassungsrechtliche Verfügung dar, auf die sich die ex tunc-Wirkung der Verfassungswidrigkeitserklärung gründet. Andererseits wäre es, wie ein anderer Teil der Rechtslehre behauptet, an und für sich nicht folgerichtig, ein System der Rechtswirkungen zu erfinden, das nur ex nunc-Wirkung hat, um dann anschließend den Richtern die Nichtanwendung des verfassungswidrigen Gesetzes "mit Wirkung lediglich nach eigenem Urteil" anzuvertrauen. In Abschnitt 3.3 (Räumlicher Rahmen des Art. 136 ital. GG) wird ein weiterer, an die Wirksamkeit der Verfassungswidrigkeitserklärung gebundener Punkt untersucht, nämlich die "räumliche" Ausdehnung der Wirksamkeit von Art. 136 ital GG. Außer der allgemein verbindlichen Wirksamkeit der Annahmeurteile, an welche die Untersuchung der von den Verfassungsgebenden gewählten Art der Normenkontrolle anknüpft, wird der mit der gerichtlichen oder gesetzgebenden Art der Verfassungswidrigkeitserklärung verbundene Rechtslehredisput, an den die "allgemeine" Wirksamkeit derselben unvermeidlich anknüpft, kurz untersucht. Während in den letzten vier Abschnitten der Art. 136 der ital. GG allein im Mittelpunkt steht, ist der 4. Abschnitt (Die "Revolution" des ital. Verfassungsgesetzes Nr. 1 von 1948) vollständig der "Revolution" gewidmet, welche das ital. Verfassungsgesetz Nr. 1 von 1948 darstellt. Für diese "Revolution" (oder besser die Spezifikation) ist der erste Artikel des besagten Gesetzes bezeichnend, wo es heißt: "Die amtlich erfasste oder von einer Partei im Verlauf eines Rechtsverfahrens erhobene und vom Richter nicht als offensichtlich unbegründet angenommene Frage der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes oder einer gesetzeskräftigen Maßnahme der Republik wird dem Verfassungsgericht zur Entscheidung übertragen". Im Wesentlichen hat der besagte Artikel als tragendes Element der Inzidentalität des Verfassungssystems Art. 136 ital. GG Bedeutung verliehen, nicht nur, indem die Bedeutung tatsächlich im Einzelnen erläutert wird, sondern vor allem dadurch, dass der Klage vor dem Verfassungsgericht dort, wo es angerufen wird, für alle zu entscheiden (mit wenn auch innerhalb bestimmter Grenzen allgemein verbindlichen Rechtswirkungen) eine "logische" Bedeutung auf Grundlage einer "genetisch zwiespältigen" Erneuerung verliehen wird, und zwar anhand eines konkreten Einzelfalls". Es erscheint notwendig, anzumerken, dass die besagte Verfügung in Bezug auf die Ratio Art. 100, 1. Abs. des deutschen GG ähnelt, auf dessen Grundlage die sogenannte konkrete Normenkontrolle beruht. Und tatsächlich übernimmt das zwischenrangige Verfahren eine grundlegende Rolle in Bezug auf die Handhabung der Rechtswirkungen der Verfassungswidrigkeitserklärung im Verlauf der Zeit, da es konkreter der in der Notwendigkeit, die diachronischen Rechtswirkungen der Verkündigung zu steuern, enthaltenen Ratio vollkommen antithetisch gegenübersteht. Wie können die Jura angesichts einer Handhabung der Rechtswirkungen der Verfassungswidrigkeitserklärung für die Zukunft geschützt werden? Während Art. 1 des ital. Gesetzes L. Nr. 1 von 1948 das zwischenrangige Verfahren kennzeichnet und definiert, so hat Art. 30, 3. Abs. des ital. Gesetzes Nr. 87 von 1953, der Hautuntersuchungsgegenstand des 5. Abschnitts (Die Rückwirkung der Annahmeurteile: Art. 30, 3. Abs. ital. Gesetz L. Nr. 87 von 1953) ein weiteres Element zur Erläuterung der Ratio der zeitlichen Orientierung, welche die Rechtsauswirkungen der Verfassungswidrigkeitserklärung im Verlauf der Zeit annehmen, hinzugefügt. Im Anschluss an das Inkrafttreten desselben, wo es heißt, "die als verfassungswidrig erklärten Normen können nicht ab dem Folgetag der Veröffentlichung der Entscheidung Anwendung haben", hat die Rückwirkung des Annahmeurteils begonnen, die Form der ius receptum anzunehmen, wie durch die maßgebliche Rechtslehre bestätigt. Nun war diese, mit Art. 1 des ital. Gesetzes L. Nr. 1 von 1948 in die Verfassung eingeführte "Errungenschaft" das Ergebnis einer umfassenden theoretischen Analyse und Überlegung: Es ist kein Zufall, dass einer der zentralen Mechanismen der Normenkontrolle eher das "Ergebnis der beharrlichsten Arbeit der Rechtslehre war, statt ein präziser Gesetzesentwurf" und hauptsächlich auf der Notwendigkeit beruhte, nicht nur den Grundsatz der Gleichheit, sondern auch den der Verteidigung zu bewahren, und dies unter Ausschluss der s.g. abgeschlossenen Rechtsbeziehungen, die bei Eintritt der Rechtskraft, Verjährung, Verwirkung und Vergleich bestehen. Hinzu kommt, dass das Prinzip der Rückwirkung der Verfassungswidrigkeitserklärung laut Art. 30, 3. Abs. ital. Gesetz L. Nr. 87 von 1953 – vielleicht auch angesichts der Möglichkeit die Rückwirkung der Verfassungswidrigkeitserklärung in verschiedenen Abstufungen und somit nicht absolut zu klassifizieren – auch Gegenstand einer erheblichen Kontroverse zwischen Verfassungsgericht und Strafkammer des Kassationshofs eben zum Thema der Nichtanwendung der als verfassungswidrig erklärten Norm war. In diesem Sinne treten die Urteile Nr. 127 von 1966 und Nr. 49 von 1970 hervor: beim ersten hatte das Verfassungsgericht über die notwendige Rückwirkung der Verfassungswidrigkeitserklärung von Prozessvorschriften befunden; mit der zweiten Verkündigung dagegen bestätigte das Gericht vollkommen überraschend, den Richtern "das letzte Wort" zu lassen. Dieses Prinzip kann nicht übergangen werden: So hatte beispielsweise im Anschluss an das in keiner Weise rückwirkende Urteil Nr. 10 von 2015 das Verfassungsgericht einer bedeutenden Form der Rebellion durch das vorlegende Gericht beigewohnt, das nicht befunden hatte, sich in Bezug auf die zeitliche Rechtswirkung der Verfassungswidrigkeitsaussprüche vom Gesetzesrahmen zu distanzieren. Gleichzeitig erhält auch in der zeitlich handhabenden deutschen Praxis die Rolle der Richter Bedeutung: Sollte beispielsweise der Gesetzgeber seiner Reformpflicht im Anschluss an die Aufnahme eines Unvereinbarkeitsspruchs nicht nachkommen und dadurch die Ratio der Unvereinbarkeitsentscheidung vollkommen zunichte gemacht werden, können die Richter angerufen werden, um "letztendlich" und in Übereinstimmung mit der Verfassung einzugreifen. Im 6. Abschnitt (Der zeitliche Rahmen der verfassungswidrigen Norm: Nichtigkeit oder Vernichtbarkeit? Eine Überlegung ausgehend vom amerikanischen und vom österreichischen Modell. Hinweise auf die Art der Annahmeurteile) lässt die Studie der gesetzlichen Regelung der zeitlichen Auswirkungen des Verfassungswidrigkeitsspruchs Raum für eine Untersuchung bezüglich der Vernichtbarkeit oder Nichtigkeit der als verfassungswidrig erklärten Norm und dies angesichts einer anfänglichen Überlegung zum amerikanischen und zum österreichischen Modell des Verfassungsrechts, die bekanntlich gegensätzlich zueinander eingestellt sind. Und tatsächlich ist die zeitliche Orientierung des Annahmeurteils nicht nur direkt an die Art derselben Verfassungswidrigkeitserklärung gebunden, sondern ist in ihrem Wesen indirekt an die Wahl des Modells zur Normenkontrolle geknüpft: Irgendwie scheint die ursprüngliche Zweideutigkeit des Art 136 ital. GG tatsächlich an die "gemischte" Natur des italienischen Verfassungsrechts anknüpfen zu können, das sich aus einigen typischen Elementen des amerikanischen Systems (Diffusivität der jedem Richter zukommenden Kontrolle) und dem österreichischen System (ausschließliche Zuständigkeit des Verfassungsgerichts in Bezug auf die Verfassungswidrigkeitserklärung einer nicht mit der Verfassung übereinstimmenden Norm mit allgemeiner Rechtswirkung) zusammensetzt. Nun wirkt die Wahl des Systems zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit auf die von der Ungültigkeit der verfassungswidrigen Norm angenommene Form ein, welche ihrerseits nach der typischen Logik des Teufelskreises die Art der Verfassungswidrigkeitserklärung beeinflusst: Im amerikanischen Verfassungsrechtssystems ist die verfassungswidrige Norm null and void, da sie dem Willen einer superior Norm widerspricht und somit unwirksam ist; im österreichischen System dagegen ist die verfassungswidrige Norm lediglich vernichtbar, und zwar deshalb, weil Grundlage des Systems die Idee ist, dass, da die gesamte politische Macht auf dem Gesetz gründet, "das Konzept eines von Beginn an nichtigen Gesetzes" vollkommen inakzeptabel ist. Übrigens darf nicht verwundern, dass im Bereich des amerikanischen Verfassungsrechts die Verfassungswidrigkeitserklärung eine Norm erklärender Art ist, während sie im Bereich des österreichischen Verfassungsrechts eine verfassungsgebende Natur annimmt. Nun teilt im Bereich des italienischen Verfassungsrechts nur eine Minderheit die Idee der Nichtigkeit der verfassungswidrigen Norm und somit des Annahmeurteils erklärender Natur, die Mehrheit teilt die These der Vernichtbarkeit der verfassungswidrigen Norm, die also der verfassungsgebenden Natur des Gerichtsspruchs entspricht. Dass die obigen Ausführungen wahr sind, ist daran zu erkennen, dass in der maßgebenden Rechtslehre bestätigt wurde, dass die Verfassungsgebenden dachten, ein im Wesentlichen von dem im österreichischen Grundgesetz vorgesehenen System der Verfassungsgerichtsbarkeit abgeleitetes System eingeführt zu haben. Auch erklärt sich die verfassungsgebende Bedeutung der Verfassungswidrigkeitserklärung angesichts der Betrachtung, dass das allgemeine Verbot, die verfassungswidrige Norm anzuwenden, tatsächlich nur im Zeitraum vor der Aufnahme der Verfassungswidrigkeitserklärung durch das Verfassungsgericht besteht. Wenn man zur nicht statischen sondern "dynamischen" Ebene der Verfassungswidrigkeitserklärung wechselt, ist Zagrebelskys Theorie zu betrachten, nach der im Anschluss an die Aufnahme des Annahmeurteils das Verfassungsproblem entsteht, dem bezüglich anderen institutionellen Stellen wie Richtern und dem Gesetzgeber umfangreicher Spielraum gelassen wird. In diesem Sinn ist das Verfahren der Unvereinbarkeitserklärungen interessant, welche eben hinsichtlich des "Verfassungsproblems" eingreifen, um dies dank der Mitarbeit anderer Verfassungsorgane, unter denen zumindest anfangs der Gesetzgeber zu nennen ist, zu lösen. Im 7. Abschnitt (Erste Zeichen für die Zulässigkeit eines Verfassungsgerichts als "Verwalter" der Rechtswirkungen seiner eigenen Entscheidungen) wird die mögliche Legitimation (auf theoretischer Ebene) des Verfassungsgerichts als Verwalter der Rechtswirkungen der Verfassungswidrigkeitsurteile angedeutet, wobei insbesondere die Tatsache diskutiert wird, dass der zeitgenössische Konstitutionalismus wegen seiner substantialistischen Eigenschaft die Suche der für den spezifischen Fall am besten geeigneten Lösung und somit die "Negativ-Neuqualifizierung der Automatismen" erfordert, um zu starre Lösungen zu vermeiden. In diesem Sinn ist die Praxis des Bundesverfassungegsricht und dessen Erfindung der Unvereinbarkeitsentscheidungen von großer Bedeutung. In der Tat ist ein "flexibler" Ansatz an den zeitlichen Faktor der Rechtswirkungen der Verfassungswidrigkeitserklärung in verschiedenen europäischen Erfahrungen erkennbar; andererseits ist das was als "Naivität der Verfassungsgebenden" bezeichnet wurde, und zwar die "allzu simple Formulierung des Art. 136 ital. GG" hauptsächlich auf zwei Ursachen zurückzuführen, erstens die Notwendigkeit des Schutzes des Prinzips der Gewaltenteilung, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg und zweitens der Schutz der Rechtssicherheit. Im 8. Abschnitt (Verwaltet das Verwaltungsgericht die Rechtswirkungen im Verlauf der Zeit?) tritt das Verfassungsrecht in den Hintergrund, um zumindest in Kürze über die Steuerung der Rechtswirkungen der Annullierungsurteile durch das Verwaltungsgericht nachzudenken, wobei von einer Betrachtung ausgegangen wird, welche in der Rechtslehre – recht eindrucksvoll – klar ausgedrückt werden sollte, und zwar, dass die Verwaltungsprozessregeln wegen ihres entscheidenden kreativen Beitrags zur Rechtsprechung einen Ausgangspunkt und sicher keinen Endpunkt darstellen: In diesem Sinn erhielt das von der 4. Kammer des Staatsrats getroffene Urteil Nr. 2755 von Mai 2011 Bedeutung, wie auch das vom selben Verwaltungsrechtsorgan getroffene Urteil Nr. 13 von 2017. In beiden Fällen scheint der Staatsrat bestimmt zu haben, die Rechtswirkungen der eigenen Verkündigung angesichts der Notwendigkeit, einen übermäßigen Bruch innerhalb der Rechtsordnung zu verhindern, zeitlich zu steuern. Insbesondere hätte der Staatsrat ("Consiglio di Stato") beim ersten Spruch eine neue Art der Verkündigung gebildet, indem er bei der Untersuchung – nach einer vollkommen neuen Logik – den Bereich der zeitlichen Rechtswirkung des eigenen Spruchs so definierte, dass eine lediglich für die Zukunft geltende Rechtswirkung der eignen Entscheidung vorhergesehen wurde, sodass das Prinzip der Effektivität des Schutzes über das des Antrags der Partei siegt. Es ist unbedingt anzumerken, dass, wenn die Aufrechterhaltung der Rechtswirkungen der rechtswidrigen Maßnahme spiegelbildlich der Beibehaltung des Allgemeininteresses entspricht, die urteilende Tätigkeit des Verwaltungsgerichts dem des "Verwaltungsorgans" zu ähneln scheint. Auch bei seiner zweiten Verkündigung steuerte der Staatsrat die Rechtswirkungen mit Wirksamkeit pro futuro; die ganze Versammlung befand nämlich, das Urteil Nr. 10 von 2015 anzuführen, fast als Rechtfertigung des Argumentationskonstrukts zur Wahl einer derartigen Wirksamkeit, wobei im Übrigen bestätigt wurde, dass "die Ausnahme von der Rückwirkung […] auf dem Grundsatz der Rechtssicherheit beruht: […] die Möglichkeit für die Betroffenen, die Rechtsnorm wie ausgelegt anzuwenden, wird eingeschränkt, wenn die Gefahr schwerer wirtschaftlicher oder sozialer Auswirkungen besteht, die zum Teil auf die hohe Anzahl von in gutem Glauben begründeten Rechtsbeziehungen zurückzuführen ist […]". Darüber hinaus befand der Staatsrat, als spezifische Bedingungen, die es ermöglichen, die Rückwirkung einzuschränken oder richtiger "die Anwendung des Rechtsgrundsatzes auf die Zukunft zu beschränken" folgende: die objektive und erhebliche Unsicherheit bezüglich der Tragweite der auszulegenden Verfügungen; das Bestehen einer mehrheitlichen Orientierung entgegen der eingeführten Auslegung und die Notwendigkeit zum Schutz eines oder mehrere Verfassungsgrundsätze oder in jedem Fall, um schwere sozialwirtschaftliche Rückwirkungen zu verhindern. Das zweite Kapitel dieser Doktorarbeit ist gemeinsam mit dem ersten Kapitel darauf ausgerichtet, zu zeigen, dass die Frage bezüglich der Grenzen der Rückwirkung der Annahmeurteile seit den allerersten Jahren der Verfassungsrechtsprechung eine nicht nebensächliche Rolle gespielt hat, wie man sehen konnte. Daher die Bedeutung der Behauptung der neuesten deutschen Rechtslehre, die bestätigt, dass die Entscheidungshilfsmittel eines Verfassungsgerichts nicht vollkommen von der fortlaufenden "Konstitutionalisierung" der "neuen Rechte" entbunden sind. Somit scheint es eben diese dynamische Sicht zu sein, die Grundlage der Aufnahme der deutschen Unvereinbarkeitsentscheidungen war (und vor allem heute noch ist) und auch Grundlage einiger neuerer Verkündigungen des Verfassungsgerichts ist, darunter vor allem die Verordnung Nr. 207 von 2018. Wie im Übrigen im dritten Kapitel dieser Doktorarbeit ausgeführt wird, gab es bei der Regelung bezüglich der Wirksamkeit der Verfassungswidrigkeitserklärung zwei Änderungsversuche innerhalb der deutschen Ordnung, die beide darauf abzielten, die Wirksamkeit der Nichtigkeitserklärung "flexibler" zu machen. Angesichts der obigen Ausführungen ist im Verlauf der Zeit nicht nur - wie schon geschrieben - eine gemeinsame Tendenz der Verfassungsgerichte erkennbar, die insbesondere den Umgang mit der Wirksamkeit der Verfassungswidrigkeitserklärung prägt, sondern auch ein "konstantes" Bedürfnis, die "starre" Regelung der Rechtswirkungen zu reformieren, die – wenn auch nur zum Teil – eine wichtige Form der Umsetzung im Bundesverfassungsgerichtsgesetz fand. Das zweite Kapitel beginnt im 1. Abschnitt (Eine Stellungnahme: die Furcht vor den "Folgen" der Verfassungswidrigkeitserklärung und die Regelung der Rechtswirkungen im Verlauf der Zeit) mit einer Überlegung zur Furcht des Verfassungsgerichts, die Ordnung im Anschluss an die Aufnahme einer Verfassungswidrigkeitserklärung negativ zu beeinflussen; wie in der maßgeblichen Lehre Sajas bestätigt, darf das Verfassungsgericht "das Gewicht" seiner eigenen Entscheidungen nicht übersehen, denn dieses ist voll und ganz in einen sozialwirtschaftlichen Rahmen eingefügt, dessen Dynamik es tatsächlich nicht kennen kann; das Bedürfnis einer größeren "Flexibilität" der dem Verfassungsgericht zur Verfügung stehenden Entscheidungshilfsmittel ist, wie im Übrigen im Verlauf des Abschnitts gezeigt wird, verschiedenen europäischen Erfahrungen gemein. Auch aus diesem Grund legte der Gesetzgeber – was vielleicht nicht überrascht – mit der Zeit verschiedene Gesetzesentwürfe vor, die darauf abzielten, den Aspekt der Regelung der Rechtswirkungen der Annahmeurteile zu ändern. Diese Änderungsvorschläge werden (in der Zeit zurückgehend) im 2. Abschnitt (Die Reformversuche hinsichtlich der Regelung der Verfassungswidrigkeitserklärung) dargelegt: Die Analyse beginnt bei dem Gesetzesentwurf A. S. 1952, der verzeichnet ist unter "Änderungen der Gesetze Nr. 87 vom 11. März 1953 und Nr. 196 vom 31. Dezember 2009 zur Ermittlung und Transparenz in Verfahren zur Verfassungsmäßigkeit", der nie diskutiert und daher nie aufgenommen wurde. Dieser letzte Änderungsversuch war durch das "Kostenurteil" Nr. 70 von 2015 angeregt worden, das wegen seiner vollständigen Rückwirkung die Wirtschaftsstruktur des Staates besonders belastete und den Gesetzgeber dazu veranlasste, eine Form der Positivierung der zeitlichen "Steuerung" der Rechtswirkungen der Verfassungswidrigkeitserklärung zu erfinden. In Art. 1, lit. c) des Gesetzesentwurfs ist vorgesehen, den Inhalt des dritten Absatzes, Art. 30, ital. Gesetz L. 87 von 1953 zu erweitern und somit neben der Nichtanwendung der als verfassungswidrig erklärten Norm den Einwand der Verfügung durch das Verfassungsgericht einer "anderen Handhabung der Wirksamkeit im Verlauf der Zeit derselben Entscheidung zum Schutz anderer Verfassungsgrundsätze" vorzusehen. Bedeutend scheint dabei der Verweis auf "Verfassungsgrundsätze", die, wenn korrekt und ausführlich beschrieben, nach der Ratio des vorliegenden Gesetzesentwurfs, den Antrag auf Steuerung der Wirksamkeit der Verfassungswidrigkeitserklärung legitimieren können. Es folgt eine kurze Analyse des Verfassungsgesetzesentwurfs Nr. 22 von 2013, der, wie es schien, eine wesentliche Änderung der Rechtswirkungen der Annahmeurteile einführen wollte und eine Bevollmächtigung des Gesetzgebers zur effektiven Steuerung der Wirksamkeit der erfolgten Verfassungswidrigkeitserklärung vorsah, denn der Gesetzesentwurf verwendete den Begriff "Abschaffung" für das Phänomen des aufhebenden Eingriffs des Verfassungsgerichts. Was vermutlich an diesem Änderungsentwurf am meisten interessiert, ist die Voraussicht der Spaltung zwischen dem Zeitpunkt der Feststellung und dem der "verfassungsgebenden" Wirksamkeit der Verfassungswidrigkeitserklärung: Man beachte in diesem Sinne Art. 1 der Gesetzesvorlage, laut der "[…] die Regierung […] die Initiative ergreift, den Kammern ein Aufhebungsgesetz oder eine Änderung des als verfassungswidrig erklärten Gesetzes vorzulegen; diese Initiative kann direkt von den Versammlungen ergriffen werden, […] sofern der Gesetzesentwurf nicht innerhalb der Frist der folgenden sechs Monate bzw. neun Monate bei Verfassungsgesetzen verabschiedet wird; dieselben Versammlungen erklären die Wirksamkeit des als verfassungswidrig erklärten Gesetzes als erloschen". Schließlich ist der am 30. Juni 1997 verabschiedete Entwurf zu beachten, in dem vorgesehen war, dass "wenn das Gericht die Verfassungswidrigkeit einer gesetzlichen Vorschrift oder einer gesetzeskräftigen Maßnahme erklärt, die Wirksamkeit dieser Norm am Folgetag der Veröffentlichung der Entscheidung endet, außer dem Gericht bestimmt eine andere Frist, in jedem Fall nicht über einem Jahr ab Veröffentlichung der Entscheidung". Der besagte Entwurf ähnelt der österreichischen Praxis sehr, wo der Verfassungsgerichtshof über einen bestimmten Ermessensspielraum in Hinsicht auf die Möglichkeit verfügt, den Stichtag zeitlich zu verschieben, wie es zum Teil auch in der Praxis des Bundesverfassungsgerichts geschieht. Im 3. Abschnitt (Ein Verfassungsgericht, das handelt und die "traditionellen Einschränkungen" des Verfassungsrechts über die Verwaltung der Verfahrensregeln des Verfassungsprozesses hinaus überwindet) wird das Thema der Überwindung der traditionellen Einschränkungen des Verfassungsrechts durch die italienischen Verfassungsgerichte behandelt, insbesondere in Hinsicht auf die Einschränkung des Ermessensspielraums des Gesetzgebers. In diesem Sinne tritt der Beschluss Nr. 207 von 2018 hervor – der es vielleicht ermöglicht, das Thema der zeitlichen Steuerung der Rechtswirkungen wieder mit dem der Beziehung zwischen Verfassungsgericht und Parlament auf dem Gebiet des Strafrechts zu verbinden – mit dem das Verfassungsgericht meinte, mit einer ganz eigenen und besonders "gefestigten" Mahnung einzugreifen; weiter verfolge das Verfassungsgericht, wie der Verfassungsrichter Lattanzi schreibt, in letzter Zeit einen eher interventionistischen und weniger von Selbstbeschränkung geprägten Trend. In diesem Sinn treten einige Verkündigungen im Strafrecht hervor, darunter Urteil Nr. 236 von 2016 (auf das auch in dem erst kürzlich ergangenen Urteil Nr. 242 von 2019 verwiesen wird und das die "Sage" Cappato beendete), Urteil Nr. 222 von 2018, Urteil Nr. 233 von 2018, das allerdings nicht im Strafrecht eingeführte kürzliche Urteil Nr. 20 von 2019, das jedoch für die Rolle, die das Verfassungsgericht in Bezug auf das Legislativorgan einnimmt, von Bedeutung ist. Im 4. Abschnitt (Die Form der Entscheidungstechniken, mit denen das Verfassungsgericht die Rechtswirkungen der Verfassungswidrigkeitserklärung "Richtung Vergangenheit" verwaltet) wird die "Form" der Entscheidungstechniken, mit denen das Verfassungsgericht die Rechtswirkungen der Verfassungswidrigkeitserklärung steuert, untersucht: in diesem Sinn tritt das Mittel der Urteile der verschobenen Verfassungswidrigkeit hervor, welche den Urteilen der plötzlichen Verfassungswidrigkeit im weiteren Sinn ähneln, und sich dagegen von den Urteilen der Verfassungswidrigkeit im engeren Sinn, da letztere das Phänomen der Abfolge der Nomen im Verlauf der Zeit betreffen, abheben. Kurz gesagt, im 4. Abschnitt wird versucht – auf theoretischer Ebene – zu zeigen, wie das Verfassungsgericht das Hilfsmittel der eintretenden Verfassungswidrigkeit (in diesem Sinn ist Urteil Nr. 174 von 2015 vollkommen unerheblich) oder der verschobenen Verfassungswidrigkeit unter Ausschluss des Fehlens jeglicher Form der Positivierung des Umgangs mit dem Zeitfaktor hinsichtlich der Wirksamkeit der Annahmeurteile, verwendet. In diesen Fällen kommt dem Verfassungsgericht ein bestimmter Ermessensspielraum in der Bestimmung des Stichtags zu. Im 5. Abschnitt (Die Entscheidungen, die der Handhabung der Rechtswirkungen der Annahmeurteile in Bezug auf die Vergangenheit zugrunde liegen) dagegen sollen die Gründe erkannt werden, die dem Bedürfnis, die Rechtswirkungen der Urteile im Verlauf der Zeit zu steuern, zugrunde liegen. Erstens tritt die Notwendigkeit hervor, den Grundsatz der Rechtskontinuität ganz allgemein zu schützen, der als ein zu schützender Grundsatz definiert wurde und tatsächlich zu den von der Verfassung abgesicherten Grundsätzen, Interessen und Rechtssituationen gehört, zweitens tritt das Bedürfnis hervor, schwere Schädigungen des öffentlichen Haushalts oder neue und höhere finanzielle Ausgaben für den Staat und die öffentlichen Einrichtungen zu verhindern. Dieser Grundsatz wurde, wie zu unterstreichen ist, als ein allgemeiner verfassungsrechtlicher Wert definiert. Nach einem ersten theoretischen Teil wird im zweiten Kapitel versucht, die zeitlich handhabende Praxis des Verfassungsgerichts zu untersuchen. Ende der achtziger Jahre führte das Verfassungsgericht die allerersten zeitlich handhabenden Urteile ein (Abschnitte 5.1 und 5.2) und begann mit den Urteilen Nr. 266 von 1988, 501 von 1988 und 50 von 1989 die zeitlichen Rechtswirkungen der Annahmeurteile zu regulieren; später verwaltete das Verfassungsgericht den Zeitfaktor der Rechtswirkungen der eigenen Entscheidungen weiter und beträchtlich, ohne allerdings jemals ausdrücklich zu erklären, in die Steuerung der Rechtswirkungen der Annahmeurteile einzugreifen (eingreifen zu wollen). Zur Sparte der ersten zeitlich handhabenden Urteile gehört auch das Urteil Nr. 1 von 1991, das hinsichtlich der finanziellen Rechtswirkungen der Verfassungswidrigkeitserklärung (wie auch bezüglich der vom Verfassungsgericht vor der Einführung desselben durchgeführten Ermittlung) von besonderer Bedeutung ist. Wenig später führte das Verfassungsgericht das Urteil Nr. 124 von 1991 ein (über dessen Wesen die Rechtslehre diskutiert, da sie teilweise der Meinung ist, es handele sich um ein Urteil zur plötzlichen Verfassungswidrigkeit im engeren Sinn), bei dem man ein weiteres Mal der Steuerung der Wirksamkeit der Verfassungswidrigkeitserklärung beiwohnen konnte. Von Bedeutung ist auch Urteil Nr. 360 von 1996: bei dieser Gelegenheit erklärte das Verfassungsgericht die (alleinige) Verfassungswidrigkeit der ihm zur Beurteilung vorgelegten Verfügung der Gesetzesverordnung, ohne die Tragweite allgemein auf die wiederholten Verordnungen auszudehnen. In diesem Fall hätte das Verfassungsgericht in seiner Eigenschaft als Hüter der Rechtsordnung befunden, die Annullierung der wiederholten Gesetzesverordnungen angesichts des Grundsatzes der Rechtssicherheit zu "einzusparen". Am Rande der genannten Verkündigungen werden andere Entscheidungen in der Hauptsache untersucht, bei denen das Verfassungsgericht, wenn auch keine wahre zeitliche Handhabung der Rechtswirkungen vornahm, so doch eine erhebliche Furcht vor dem gezeigt hatte, was in der Rechtslehre als horror vacui bezeichnet wird. In Abschnitt 5.2.1 (Fokus: Urteil Nr. 1 von 2014: "ausgleichende" Bedeutung und horror vacui) wird Urteil Nr. 1 von 2014 Gegenstand der Untersuchung, bei dem das Verfassungsgericht zum Thema Wahlsystem eingriff und die Verfassungswidrigkeit des s.g. Porcellum erklärte, d.h des proportionalen WahlgesetzesmitMehrheitsprämieund starren Listen, welche die Wahl derAbgeordnetenkammerund desSenats der Republikin Italien in den Jahren2006,2008und2013 geregelt hatte. Das Verfassungsgericht hatte bei diesem Anlass von der Kategorie der abgeschlossenen Rechtsbeziehungen Gebrauch gemacht, um sich Handlungsspielraum hinsichtlich der zeitlichen Handhabung der Wirksamkeit der eignen Urteile zu verschaffen, nicht ohne die Prozessregeln politisch zu nutzen: Es handelt sich hierbei um einen der Fälle, bei denen das Verfassungsgericht angesichts des Nichtbestehens der Möglichkeit zur Steuerung der Rechtswirkungen der eignen Urteile bestimmt hat, die Regeln des eigenen Verfahrens vollkommen elastisch zu nutzen. Die Elastizität der Interpretation der Kategorie und der Regeln des Verfassungsverfahrens war im untersuchten durch das Bedürfnis, den Grundsatz zum Schutz des Staats und der verfassungsgemäß notwendigen Funktionen beizubehalten, vorgeschrieben. In diesem Sinn ähnelt die Ratio, die der besagte Spruch mit sich bringt, zum Teil einem der Anwendungsthemen der Unvereinbarkeitserklärungen, und zwar dem der "Rechtsfolgen". Nun tritt das Urteil Nr. 1 2014 in dieser Doktorarbeit hervor, da die Eigentümlichkeit der Wirksamkeit der Verfassungswidrigkeitserklärung (wie auch der Kategorie der s.g. abgeschlossenen Rechtsbeziehungen) angesichts der verfassungsgemäßen Bedürfnisse "gesteuert " worden wäre. Während in Abschnitt 5.2.2. (Am Rande des Urteils Nr. 1 von 2014) nochmals auf das Thema des s.g. horror vacui hingewiesen wird, so wird im 6. Abschnitt (Das Haushaltsgleichgewicht als Gegenspieler der Rückwirkung von Annahmeurteilen) der Grundsatz des Haushaltsgleichgewichts als möglicher, im Übrigen nach Inkrafttreten des ital. Gesetzes L. Nr. 1 von 2012, das den Grundsatz des Haushaltsgleichgewichts einführte, erstarkter Gegenspieler der in den Annahmeurteilen verwurzelten Rückwirkung, untersucht. Kurz gesagt, obwohl Art. 81, dritter Abs, ital. GG ("Jedes Gesetz, das neue oder höhere Ausgaben mit sich bringt, muss für die dafür notwendigen Mittel sorgen") nicht für die Tätigkeiten des Verfassungsorgans gilt, sondern nur für den Gesetzgeber, haben der Grundsatz des Haushaltsgleichgewichts und somit die streng finanziellen Bedürfnisse das Verfassungsgericht dazu geführt, Entscheidungsmittel zur Steuerung der Rechtswirkungen der Annahmeurteile einzusetzen (wie auch im Bereich der französischen und der spanischen Verfassungsjustiz), und zwar deshalb, weil das Verfassungsgericht sich – unvermeidlicherweise – in einem durch eingeschränkte wirtschaftliche Ressourcen charakterisierten Umfeld bewegt. Nicht nur hat es in der Verfassungsrechtsprechung verschiedene Verkündigungen gegeben, bei denen die Rückwirkung mit der konkreten Notwendigkeit zur Aufrechterhaltung der Wirtschafts- und Finanzstruktur kontrastierte (man beachte, wenn auch unter anderen Gesichtspunkten, die Urteile Nr. 137 von 1986, Nr. 1 von 1991, Nr. 240 von 1994, Nr. 49 von 1995, Nr. 126 von 1995) und nicht nur wurde der letzte Änderungsvorschlag der Regelung der Annahmeurteile im Anschluss an die Aufnahme eines Kostenurteils vorgebracht, sondern vor allem beschloss das Verfassungsgericht mit Urteil Nr. 10 von 2015 zum ersten Mal mit Kenntnis der Sachlage, die Möglichkeit zur zeitlichen Handhabung der Rechtswirkungen der eigenen Urteile zu erklären. In dieser Arbeit wird insbesondere in Abschnitt 6.1 (Fokus: Das Urteil Nr. 10 von 2015: ein unicum in der Geschichte der Verfassungsjustiz) dem Urteil Nr. 10 von 2015 viel Raum gewidmet, da dieses tatsächlich ein unicum in der Geschichte der italienischen Verfassungsjustiz darstellt: Dabei bestimmte das Verfassungsgericht, den Verfassungsprozess nach vollkommen kreativen Regeln zu steuern und setzte das um, was als "Verfassungsgewalt" bezeichnet wurde und das, wie anscheinend behauptet werden kann, auf einer bestehenden starken Korrelation zwischen der Verfassungsjustiz und dem materiellen Verfassungsrecht basiert. In der Tat kann nicht geleugnet werden, dass das Thema der Handhabung der Rechtswirkungen der Verfassungswidrigkeitserklärung im Verlauf der Zeit ein Thema des materiellen Verfassungsrechts ist, welches bedeutende Anregungen für eine Überlegung zur Beziehung zwischen dem Verfassungsgericht und seinem Verfahren bietet. Weiter zwingt die Überbeanspruchung des Mechanismus, auf den sich die Inzidentalität des Systems gründet, dazu, über die Bedeutung nachzudenken, welche die Abwägung der Interessen, die einen verfassungsmäßigen Schutz verdienen, erwirbt. Vor allem scheint sich das Thema der Identifizierung jener Interessen zu stellen, die einen derartigen verfassungsmäßigen Schutz verdienen, dass sie vielleicht eine Ausnahme von der Regelung zur Steuerung der Wirksamkeit der Annahmeurteile rechtfertigen. Nun meinte das Verfassungsgericht mit Urteil Nr. 10 von 2015 die Rückwirkung mit dem Grundsatz des Haushaltsgleichgewichts aufwiegen zu können und somit Art. 81 ital. GG im Sinne eines "Übergrundsatzes" einzuordnen. Das materielle Recht, der Schutz der Verfassungsgrundsätze und -werte kollidierte also mit der Garantie der Jura und somit der Anrechte der Einzelnen. Der Grundsatz der Gleichheit und der Grundsatz der Verteidigung waren somit Gegenstand einer Abwägung mit Art. 81 ital. GG: Das Ergebnis war der Sieg des letzteren, da das Verfassungsgericht befand, dem besagten Urteil eine bloße ex nunc-Wirkung zu verleihen. Mit dem besagten Urteil erklärte das Verfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit der s.g. Robin Hood tax, einer 2008 eingeführte der Erdölbranche auferlegte Steuer. Das Verfassungsgericht bestätigte äußerst vielsagend – nach einer vollkommen innovativen Logik – Folgendes: "Bei der Verkündigung der Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Verfügungen kann dieses Verfassungsgericht den Einfluss, den eine solche Verkündigung auf andere Verfassungsgrundsätze ausübt, nicht unbeachtet lassen, um die eventuelle Notwendigkeit einer Abstufung der zeitlichen Rechtswirkungen der eigenen Entscheidungen über die anhängigen Beziehungen zu beurteilen. Die diesem Gerichtshof übertragene Rolle als Hüter der Verfassung in ihrer Gesamtheit erfordert es, zu verhindern, dass die Verfassungswidrigkeitserklärung einer gesetzlichen Verordnung paradoxerweise "mit der Verfassung noch weniger vereinbare Rechtswirkungen bestimmt" (Urteil Nr. 13 von 2004) als die, welche zur Zensierung der Gesetzesordnung geführt haben. Um dies zu verhindern, muss der Gerichtshof seine eigenen Entscheidungen auch unter dem zeitlichen Aspekt modulieren, sodass die Behauptung eines Verfassungsgrundsatzes nicht die Opferung eines anderen zur Folge hat. Dieser Gerichtshof klärte mit den (Urteilen Nr. 49 von 1970,Nr. 58 von 1967undNr. 127 von 1966) dass die Rückwirkung der Verfassungswidrigkeitsverkündigungen ein allgemeines Prinzip ist (und sein muss), das in den Urteilen vor diesem Gerichtshof gilt; dieses ist jedoch nicht uneingeschränkt. Zunächst ist unbestreitbar, dass die Wirksamkeit der Annahmeurteile nicht in soweit rückwirkend ist, dass sie "in jedem Fall rechtskräftig gewordene Rechtslagen" d.h. "abgeschlossene Rechtsbeziehungen" umkehrt. Andernfalls wäre die Sicherheit der Rechtsverhältnisse beeinträchtigt (Urteile Nr. 49 von 1970,Nr. 26 von 1969,Nr. 58 von 1967undNr. 127 von 1966). Der Grundsatz der Rückwirkung "gilt […] nur für noch anhängige Verhältnisse, mit daraus folgendem Ausschluss der abgeschlossenen, die weiter durch das als verfassungswidrig erklärte Gesetz geregelt bleiben" (Urteil Nr. 139 von 1984, zuletzt wieder aufgenommen imUrteil Nr. 1 von 2014). In diesen Fällen gehört die konkrete Erkennung der Einschränkung der Rückwirkung, die von der besonderen Regelung der Abteilung abhängt – zum Beispiel bezüglich der Ablauf-, Verjährungs- oder Unanfechtbarkeitsfristen von Verwaltungsmaßnahmen – die jede weitere Rechtsmaßnahme oder -behelf ausschließt, in den Bereich der ordentlichen Auslegung, für den die gewöhnlichen Gerichte zuständig sind (ex plurimis bestätigter Grundsatz durchUrteile Nr. 58 von 1967undNr. 49 von 1970)". Das Verfassungsgericht behauptet weiter, um sein praeter legem-Vorgehen zu rechtfertigen: "der Vergleich mit anderen europäischen Verfassungsgerichten, wie beispielsweise dem österreichischen, dem deutschen, dem spanischen und dem portugiesischen zeigt im Übrigen, dass das Einschränken der Rückwirkung der Verfassungswidrigkeitsentscheidungen auch in zwischenrangigen Verfahren eine verbreitete Vorgehensweise darstellt, unabhängig davon, ob die Verfassung oder der Gesetzgeber dem Verfassungsgericht diese Befugnisse ausdrücklich übertragen haben". Somit verließ das Verfassungsgericht bei dieser Verkündigung den Weg der "getarnten" Handhabung der Rechtswirkungen im Verlauf der Zeit, um das Thema des Interventionismus zur Steuerung der Wirksamkeit der eigenen Verkündigungen im Verlauf der Zeit ausdrücklich in Angriff zu nehmen. In Abschnitt 6.2 (Die Rebellion des vorlegenden Gerichts gegenüber des mit Rückwirkungsklausel ausgezeichneten Aufschubs der Rückwirkung) wird versucht, über die von den vorlegenden Gerichten an den Tag gelegte Rebellion gegenüber dem Aufschub der Rechtswirkungen durch die Verkündigung Nr. 10 von 2015 nachgedacht: Der Kurzschluss Verfassungsgericht – Richter läuft Gefahr, mit der Handhabung der Rechtswirkungen im Verlauf der Zeit beinahe ein unicum zu werden, sollte letztere nicht Gegenstand einer Positivierung durch den Gesetzgeber werden. Wie durch die maßgebliche Rechtslehre bestätigt, haben im Übrigen "die Richter" das letzte Wort. Wie im dritten Kapitel ausgeführt wird, übernehmen in diesem Sinn die Richter auch im deutschen System eine Hauptrolle in Bezug auf die Flexibilisierung der Rechtswirkungen der Annahmeurteile, nicht nur hinsichtlich der "Folgen" der Unvereinbarkeitssprüche, sondern auch in dem Fall, wo der Gesetzgeber nicht innerhalb der vom Bundesverfassungsgericht angegebenen Frist handelt, denn diese, wie durch maßgebliche Rechtslehre bestätigt, werden angerufen, um verfassungsmäßig zu entscheiden. In Abschnitt 6.3 (Ein inkohärentes Verfassungsgericht? Der "Einzelfall" des Urteils Nr. 10 von 2015 und die anschließende Rechtsprechung) werden die beiden, im Anschluss an das Urteil Nr. 10 von 2015 eingeführten Kostenurteile untersucht: das Urteil Nr. 70 von 2015 und das Urteil Nr. 178 von 2015. Bei erstgenanntem erklärte das Verfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit derital. Gesetzesverordnung Nr. 201 vom 6. Dezember 2011 (Eilverfügungen zum Zuwachs, zur Angemessenheit und zur Konsolidierung der Staatsfinanzen), das mit Änderungen durch Art. 1, 1. Abs. ital. Gesetz Nr. 214 vom 22. Dezember 2011 umgewandelt wurde, ohne jegliche zeitliche Modulation der Rechtswirkungen vorzunehmen. Aus diesem Grund stufte die Rechtslehre die besagte Verkündigung als ein "überraschendes" Urteil ein, in Anbetracht der Tatsache, dass die aus den Einwirkungen auf die wirtschaftlich-finanzielle Basis entstehenden Kosten entschieden höher waren als die, welche aus der Aufnahme des Urteils Nr. 10 von 2015 entstanden wären, hätte man dieses ganz einfach mit Rückwirkung ausgestattet. Andererseits, während der Gerichtshof beim Urteil Nr. 10 von 2015 meinte, eine Ausnahme von der den Rechtswirkungen der Verfassungswidrigkeitserklärung zugrunde liegenden Regelung zu machen, obwohl die Aufnahme einer "physiologischen" Verfassungswidrigkeitserklärung von sich aus hohe Kosten "nur" in Bezug auf die Erdölbranche und insbesondere in Bezug auf einen bestimmten Unternehmenszweig bewirkt hätte, ist es schwer zu verstehen, warum das Verfassungsgericht im Fall des Urteil Nr. 70, das nicht nur die s.g. Goldpensionen, sondern auch das Rentensystem insgesamt betraf, befand, nicht nach derselben Logik zu verfahren. In diesem Sinn liegt eine Antwort auf diese Entscheidungsinkohärenz vielleicht in der mangelnden Verwendung durch das Verfassungsgericht der Ermittlungsbefugnisse, die weiter unten behandelt werden. Sicher ist, dass das Verfassungsgericht eine vollkommen ungeordnete Steuerung seiner Prozesse an den Tag legte und tatsächlich eine freie und unbefangene Vorgehensweise hinsichtlich der Regeln des verfassungsrechtlichen Prozesses bewies. Die obige Behauptung wird durch die Aufnahme des zum Thema Tarifverhandlungen eingeführten Urteils Nr. 178 von 2015 bewiesen, bei dem das Verfassungsgericht durch Verwendung des Hilfsmittels der plötzlichen Verfassungswidrigkeit erneut die zeitliche Wirksamkeit der Verfassungswidrigkeitserklärung steuerte. Das Verfassungsgericht behauptet nämlich: "Erst jetzt offenbarte sich vollkommen, wie strukturpolitisch die Verhandlungsaussetzung war, daher kann die eintretende Verfassungswidrigkeit, deren Rechtswirkungen im Anschluss an die Veröffentlichung dieses Urteils beginnen, als eingetreten angesehen werden. Der unversehens begonnene Mangel an Verfassungsmäßigkeit erklärt sich angesichts der Kritiken, die dem Verfassungsgericht im Anschluss an das "denkwürdige" Urteil Nr. 10 von 2015 entgegengebracht wurden. Darum kommentierte die Rechtslehre die besagte Verkündigung im Sinne eines Falls, bei dem "ein Mangel am selben Tag auftritt und verschwindet, an dem er durch den Richter erklärt wird, welcher gleichzeitig das Fehlen zum Zeitpunkt der Überweisung der Maßnahmen an das Verfassungsgericht feststellt". Im Wesentlichen ist unzweifelhaft, dass das Verfassungsgericht einen Aufschub der Rechtswirkungen seiner eigenen Verkündigung aus plausiblerweise mit den finanziellen Folgen verbundenen Gründen in die Tat umsetzte. Hier soll in jedem Fall hervorgehoben werden, dass, wie in dem der deutschen Praxis gewidmeten Kapitel ausgeführt wird, auch das Bundesverfassungsgericht manchmal, vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet zeitlich handhabende und nicht vollkommen mit der grundlegenden Ratio kohärente Verkündigungen einführte. Außerhalb des Rahmens des zwischenrangigen Verfahrens führte das Verfassungsgericht im Bereich des Hauptverfahrens das Urteil Nr. 188 von 2016 ein, bei dem eine vollkommene Rückwirkung der Verkündigung, wieder einmal zum Zweck der maximalen Verminderung der finanziellen Beeinträchtigung durch die rückwirkende Rechtskraft verfügt wurde. Der Fall ergab sich aus einer Klage der Region Friuli Venezia Giulia bezüglich des Haushaltsgesetzes 2013, da die Region mit besonderer Rechtsstellung befand, dass einige Artikel einigen Bestimmungen der besonderen Rechtsstellung der Region, einigen Durchführungsbestimmungen dieser Rechtsstellung und anderen, aus dem System zur Steuerung der Beziehungen zwischen dem Staat und dieser Region ableitbare Grundsätzen auf finanziellem Gebiet widersprachen. Im Wesentlichen kommt das Verfassungsgericht, auch angesichts der Durchführung einer Ermittlung zu dem Schluss der Verfassungswidrigkeit der beurteilten Norm und behauptet im Einzelnen wie folgt: "Der Grundsatz des dynamischen Gleichgewichts, der eng verbunden ist mit dem für die Aufrechterhaltung des wirtschaftlichen, finanziellen und vermögensrechtlichen Gleichgewichts im Verlauf der Zeit grundlegenden Prinzip der Haushaltskontinuität, […] kann auch zum Zweck des erweiterten Schutzes der Finanzlage der öffentlichen Hand angewendet werden, indem gestattet wird, die finanziellen Beziehungen bei Abkommen auch in Hinsicht auf die vergangenen Betriebsjahre angemessener umzugestalten" (Urteil r. 155 von 2015).Im Übrigen behauptete dieser Gerichtshof, wenn man einen anderen auf steuerrechtlichem Gebiet zwischenrangig eingeleiteten Fall untersucht, dass der Gesetzgeber rechtzeitig eingreifen muss, "um die verfassungsmäßige Auflage des Haushaltsgleichgewichts auch in dynamischer Hinsicht zu erfüllen (Urteile Nr. 40 von 2014,Nr. 266 von 2013,Nr. 250 von 2013,Nr. 213 von 2008,Nr. 384 von 1991eNr. 1 von 1966), […] dies eventuell auch, indem die erkannten Mängel der untersuchten Steuerregelung behoben werden" (Urteil Nr. 10 von 2015). Schließlich kann das Urteil Nr. 27 von 2018, ebenfalls auf wirtschaftlichem Gebiet interessieren. Im 7. Abschnitt (Eine Betrachtung über die Handhabung der Wirkungen: die Untersuchungsbefungnisse des Verfassungsgerichts) wird das Thema der Ermittlungsbefugnisse des Verfassungsgerichts untersucht, insbesondere in Bezug auf die Handhabung der Rechtswirkungen im Verlauf der Zeit, ausgehend von der Voraussetzung, dass die Annahmeurteile tatsächlich "systemische" Rechtswirkungen erzeugen: daher erscheint es im höchsten Maße relevant, dass das Verfassungsrechtsorgan in Hinsicht auf die eventuell durch seine Urteile erzeugten Einwirkungen auf die Ordnung bewusste Entscheidungen aufnehmen kann. Der kritische Punkt ist, dass das Verfassungsgericht selten von seinen Ermittlungsbefugnissen Gebrauch macht (obwohl die vom Verfassungsgericht tatsächlich verwendbaren Hilfsmittel in den ergänzenden Normen besonders detailliert erläutert werden), was sich nicht nur, wie oben beschrieben in wirtschaftlich-finanzieller Hinsicht auswirkt, sondern auch auf dem Gebiet der Wissenschaft (vgl. Urteile Nr. 162 von 2014, Nr. 96 von 2015 und Nr. 84 von 2016). Ab dem 8. Abschnitt (Die Verschiebung des Stichtags: die Gründe, die der zeitlich Richtung Zukunft handhabenden Verfahrensweise zugrunde liegen) ist das zweite Kapitel der Arbeit den ein Prinzip ergänzenden Urteilen, den Urteilen zur ermittelten aber nicht erklärten Verfassungswidrigkeit und den mahnenden Urteilen gewidmet. Im Allgemeineren ist dieser Abschnitt den Gründen gewidmet, die der zeitlich handhabenden Vorgehensweise, bei denen der zukünftige Zeitabschnitt hervortritt, zugrunde liegen: Es handelt sich um die Fälle, in denen das Verfassungsgericht nicht festlegt (oder nicht nur festlegt), die Rückwirkung der Verfassungswidrigkeitserklärung bzgl. der Vergangenheit einzuschränken, sondern (auch) entscheidet, einen Anschluss zum Gesetzgeber zu suchen, indem der Stichtag aufgeschoben wird. Weiter im Einzelnen nutzt das Verfassungsgericht einige Entscheidungsstrategien, um der Bildung der s. g. Gesetzeslücken vorzubeugen, die an sich der Kontinuität der staatlichen Funktionen wie auch der Stabilität der Rechtsverhältnisse, der positiven Tendenz der Finanzlage der öffentlichen Hand wie auch der öffentlichen Verwaltung schaden. Die Gründe, auf denen die besagte zeitlich handhabende Vorgehensweise aufbaut, sind ein weiteres Mal denen sehr ähnlich, die den Unvereinbarkeitserklärungen zugrunde liegen: die Gefahr, dass sich im Fall der Einführung eines die Verfassungswidrigkeit einer Norm ganz einfach erklärenden Urteils ein "Chaos" innerhalb der Rechtsordnung bildet. Im 9. Abschnitt (Die Mittel zur Vorverlegung des Stichtags: Die Urteile zur ermittelten aber nicht erklärten Verfassungswidrigkeit) werden die Hauptmerkmale der ermittelten ab nicht erklärten Verfassungswidrigkeit dargelegt ("sentenze di incostituzionalità accertata ma non dichiarata") die den Entscheidungen der Unvereinbarkeitserklärungen erheblich ähneln, denn in beiden Fällen besteht der Mangel der Verfassungsmäßigkeit und der Gerichtshof mahnt gleichzeitig den Gesetzgeber zur (mehr oder weniger unverzüglichen) Handlung, um die Beseitigung der Verfassungswidrigkeit, die das Rechtssystem insgesamt gefährdet, zu beschleunigen. Der grundlegende Unterschied besteht in der Tatsache, dass im Fall der Unvereinbarkeitserklärungen, die Verfassungswidrigkeit einer Norm nicht nur ermittelt, sondern auch erklärt wird und dies eben in Form der Unvereinbarkeitserklärung (und also nicht der Verfassungswidrigkeitserklärung). In Abschnitt 9.1 (Die Aufschiebung des Stichtags: die ein Prinzip ergänzenden Urteile) werden die ein Prinzip ergänzenden Urteile ("sentenze additive di principio") ebenfalls in ihren Hauptmerkmalen zum Gegenstand der Untersuchung; diese gehören, wie von der neuesten Rechtslehre bestätigt zu einem ungeschriebenen, der Rechtsprechung entspringenden Prozessrecht, auf das erst kürzlich vom Gerichtshof zum Thema der Rechtswirkungen der Verfassungswidrigkeitserklärungen auch mit Bezugnahme auf ausdrücklich komparatistische Bezüge verwiesen wurde. Mittels dieser Art der Entscheidung erklärt das Verfassungsgericht zwar die Verfassungswidrigkeit einer Norm für den Teil, in welchem diese keine bestimmte Voraussicht oder Regelung enthält, stellt jedoch gleichzeitig einen Grundsatz auf, der prinzipiell vom Gesetzgeber ausgeführt werden muss (welcher je nach Fall mehr oder weniger Schwierigkeiten bei der Umsetzung dieses Grundsatzes haben kann). Wie man sieht, ähnelt das besagte Entscheidungshilfsmittel in seiner Art den Unvereinbarkeitserklärungen, da diese eine synergetische Form der Zusammenarbeit zwischen den Organen Verfassungsgericht, Gesetzgeber und Richter mit sich bringen. Doch nicht nur das: Der Gesetzgeber wird außerdem dazu aufgerufen, die Wiederherstellung der verletzten Verfassungslegalität zu optimieren, so wie mit Bezug auf die zeitlich handhabende deutsche Praxis, denn das, was die Unvereinbarkeitserklärung auszeichnet, ist die Reformpflicht, die s.g. Nachbesserungspflicht. Im Fall einer legislativen Untätigkeit im Anschluss an die Aufnahme eines ein Prinzip ergänzenden Urteils muss die "juristische Ebene" aktiviert werden: in Wirklichkeit ist vor dem Eingriff des Legislativorgans immer eine gewisse Zusammenarbeit zwischen den Richtern und dem Verfassungsgericht notwendig: in diesem Sinne haben die ein Prinzip ergänzenden Urteile eine weitere Ähnlichkeit mit den deutschen Unvereinbarkeitserklärungen. Den Urteilen der "reinen" Unvereinbarkeit ebenfalls sehr ähnlich sind die mit einer allgemeinen Beschlussformel ausgestatteten, ein Prinzip ergänzenden Urteile ("sentenze additive di principio dotate di un dispositivo generico"): in diesem Fall im Anschluss an die erfolgte Verfassungswidrigkeitserklärung, wenn es dem Gericht schwerfällt, im Anschluss an eine wissenschaftliche Auslegung des vom selben Verfassungsgericht erkannten Grundsatzes eine anzuwendende Norm zu bestimmen. Nach diesen Erläuterungen darf das Urteil Nr. 243 von 1993, das in dieser Doktorarbeit ausgiebig behandelt wird, nicht unberücksichtigt bleiben. Mit diesem Urteil erklärte das Verfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit eines bestimmten Mechanismus, der vom Gesetzgeber im Rentensystems erkannt wurde, ohne jedoch mit der Aufnahme eines Verfassungswidrigkeitsurteils mit ex tunc-Wirkung fortzufahren. Die mit der Aufnahme eines Urteils der ganz einfachen Annahme verbundenen Folgen wären nämlich für die Staatskassen übermäßig belastend gewesen. Die Rechtswirkungen einer derartigen Verkündigung, die daher von der Rechtslehre akkurat als ein einen Mechanismus ergänzendes Urteil definiert wird, erwiesen sich als denen der deutschen Unvereinbarkeitsurteile vollkommen ähnlich, insbesondere in Bezug auf die Beziehung zum Gesetzgeber: Letzterer wird nicht nur dazu angerufen, zu handeln, um den festgestellten Legitimitätsmangel zu beseitigen, sondern wird auch aufgefordert, innerhalb einer präzisen Frist einzugreifen; die Festsetzung einer Frist ist nämlich einer der Aspekte, der die zeitlich handhabende Praxis der Unvereinbarkeitserklärungen am stärksten auszeichnen. Ebenfalls von Bedeutung ist das Urteil Nr. 170 von 2014, das eben durch den allgemeinen Grundsatz ein Paradox innerhalb der Rechtsordnung erzeugte: Es wurde eine homosexuelle Ehe vorgesehen, obwohl die homosexuelle Ehe in Italien noch nicht legalisiert ist (man beachte im Übrigen, dass dasselbe Verfassungsgericht "BVerfG 1. Senat Beschluss vom 27. Mai 2008, 1 BvL 10/05" zitiert). Der Fall ergab sich aus einem von einem Ehepaar (bei dem eine Person, ihr Geschlecht verändert hatte) eingeleiteten Verfahren, um die Löschung der Eintragung "Beendigung der Rechtswirkungen des amtlichen Ehebundes" zu erwirken, die der Standesbeamte zusammen mit der Eintragung im Auftrag des Gerichts zur Berichtigung (von "männlich" in "weiblich") des Geschlechts des Ehemanns unter die Heiratsurkunde gesetzt hatte; das Verfassungsgericht befand, das Fehlen jeglicher Regelung des besagten Paars stelle eine Verletzung der unantastbaren Menschenrechte laut Art 2 ital. GG dar. Dennoch behauptete das Verfassungsgericht: "Die reductio adlegitimitatemdurch eine handhabende Verkündigung, welche die automatische Scheidung durch eine beantragte Scheidung ersetzt, ist nicht möglich, da dies gleichbedeutend mit einer Fortdauer des Ehebundes zwischen Personen desselben Geschlechts, im Widerspruch zu Art. 29 ital. GG wäre. Es wird also Aufgabe des Gesetzgebers sein, eine alternative (und von der Ehe verschiedene) Form einzuführen, die es den Ehepartnern ermöglicht, den Übergang von einem Zustand höchsten rechtlichen Schutzes zu einer auf dieser Ebene absolut unbestimmten Bedingung zu verhindern. Und der Gesetzgeber wird angerufen, diese Aufgabe mit höchster Eile zu erfüllen, um die erkannte Gesetzeswidrigkeit der untersuchten Regelung unter dem Gesichtspunkt des heutigen Rechtsschutzdefizits der betroffenen Personen zu überwinden". Schließlich ist das ein Prinzip ergänzende Urteil Nr. 278 von 2013 zur Anonymität der Mutter und das Recht des Kindes, seine Herkunft zu kennen, um seine Grundrechte zu schützen, von Bedeutung. Abschnitt 9.2 (Der Aufschub des Stichtags: die Appelle und die "Geisterhandhabung ", die diese mit sich bringen) schließlich ist den Mahnungsurteilen gewidmet, die, obwohl sie nicht in die Steuerung der Verfassungswidrigkeitserklärung eingreifen, dennoch einen Ausgleich zwischen Grundsätzen und Werten mit sich bringen, der "typischerweise" die Grundlage der zeitlichen Handhabung der Rechtswirkungen der Annahmeurteile ist: Der Gesetzgeber wird im Bereich eines Unzulässigkeitsurteils oder eines ablehnenden Urteils aufgefordert, in Bezug auf eine bestimmte Gesetzesordnung zu handeln, um die Legalität wiederherzustellen, von der angenommen wird, dass sie tatsächlich verletzt wurde. In Bezug auf Mahnungen ist Abschnitt 9.3 (In Bezug auf gefestigte Appelle: die Beziehung zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber angesichts des Beschlusses Nr. 207 von 2018) vollständig dem Fall Cappato gewidmet, einem wichtigen und bedeutenden juristischen Fall, der es gestattet, die Wechselbeziehungen zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber unter einer besonderen Lupe (auf dem Gebiet des Strafrechts) zu untersuchen. Zunächst scheint es relevant, die Sachlage zu erläutern: Der allgemein als DJ Fabo bekannte Fabiano Antoniani, der durch die Folgen eines Autounfalls 2014 querschnittsgelähmt und blind geworden war, bat Marco Cappato im Januar 2017, ihm zu helfen, die Schweiz zu erreichen, wo er die Euthanasie durch den sogenannten unterstützten Suizid beantragt hatte und am 27. Februar 2017 erhielt. Marco Cappato, dem bekannt war, dass auch die alleinige Hilfe bei der Beförderung in die Schweiz des Kranken, der darum bittet, nach italienischem Recht verboten ist, verklagte sich selbst bei seiner Rückkehr nach Italien. Gegen Marco Cappato wurde ein Verfahren eingeleitet, das später der Ausführung der Straftat nach gemäß Art. 580 ital. StGb als "Verleitung oder Hilfe zum Selbstmord" rubriziert wurde, nach dem "jeder, der Andere zum Selbstmord bringt oder sie in ihrem Suizidvorhaben bestärkt bzw. auf jedwede Weise dessen Ausführung erleichtert, wird, sofern der Selbstmord erfolgt mit fünf bis zwölf Jahren Haft bestraft". Die Prozessverhandlungen fanden am 8. November 2017, am 4. Und 13. Dezember 2017, am 17. Januar 2018 und am 14. Februar 2018 mit Verlesung des Beschlusses durch den Vorsitzenden des Geschworenengerichts Mailand statt, das die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der Norm an das Verfassungsgericht verwies. Das Mailänder Gericht hatte zwei verfassungsrechtliche Legitimitätsfragen aufgeworfen: a) "dort, wo das Verhalten zur Hilfe zum Selbstmord statt des Verhaltens zur Verleitung zu Last gelegt wird und somit abgesehen von seinem Beitrag zur Entscheidung oder Bestärkung des Suizidvorhabens" wegen angenommenen Widerspruchs zu den Artikeln 2, 13, erster Absatz und 117 des ital. GG zum Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten (EMRK, das in Rom, am 4. November 1950 unterzeichnet, ratifiziert und durch Gesetz Nr. 848 vom 4. August 1955 vollstreckbar wurde); b) "dort, wo das Verhalten der Erleichterung in der Ausführung des Selbstmords vorgesehen ist, das nicht auf den Weg der Entscheidungsfindung des Suizid-Anwärters einwirkt, mit einer Haftstrafe von 5 bis 10 [recte: 12] Jahren, ohne Unterschied zum Verhalten der Verleitung bestraft werden kann", wegen angenommenen Widerspruchs zu den Artikeln 3, 13, 25, zweiter Absatz, und 27, dritter Absatz, ital. GG. Das Verfassungsgericht bestätigte bei der Aufnahme des Beschlusses Nr. 207 von 2018 die Nicht-Unvereinbarkeit der Beschuldigung der Hilfe zum Selbstmord mit dem Grundgesetz; dennoch befand das Verfassungsgericht, spezifische Fälle zu erkennen, in denen das besagte Verbot fallen müsse. Es handele sich um völlig außergewöhnliche Situationen, und zwar solche, in denen die unterstützte Person sich selbst wie folgt identifiziere: (a) als an einer unheilbaren Krankheit leidend, die (b) körperliches und psychisches Leiden mit sich bringt, die von der Person als absolut nicht auszuhalten betrachtet werden, welche (c) durch lebenserhaltende Maßnahmen am Leben gehalten wird, aber (d) in der Lage ist, Entscheidungen frei und bewusst zu treffen. In allen anderen Fällen könnte sich der Sterbewille dank Anwendung des ital. Gesetz L. Nr. 219 von 2017 erfüllen, das als Normen zur aufgeklärten Einwilligung und Patientenverfügung) rubriziert ist und durch die Voraussichten des ital. Gesetzes Nr. 38 vom 15. März (Bestimmungen zur Gewährleistung des Zugangs zu Palliativpflege und Schmerztherapie) ergänzt wurde. Anschließend bestätigt das Verfassungsgericht bedeutungsvoll: "Dieses Gericht befindet im Übrigen, zumindest zu diesem Zeitpunkt, keine Abhilfe schaffen zu können gegen die erkannte Rechtsverletzung hinsichtlich der oben aufgeführten Grundsätze durch die bloße Ausweisung aus dem Anwendungsbereich der Strafverfügung jener Fälle, in denen die Hilfe gegenüber Personen geleistet wird, die sich in den gerade beschriebenen Zuständen befinden", denn "eine solche Lösung würde an sich die Leistung materieller Hilfe gegenüber von Patienten in diesen Zuständen, in einem ethisch-gesellschaftlich höchst empfindlichen Bereich, in welchem jeder mögliche Missbrauch mit Bestimmtheit auszuschließen ist, vollkommen ungeschützt lassen". Die besagte Regelung müsste anfangs dem Parlament anvertraut werden, da die normale Aufgabe dieses Gerichtshofs die Überprüfung der Vereinbarkeit der vom Gesetzgeber in Ausübung seines politischen Ermessensspielraums bereits vorgenommenen Entscheidungen mit den durch die Notwendigkeit der Beachtung der verfassungsrechtlichen Grundsätze und der Grundrechte der betroffenen Personen vorgeschriebenen Einschränkungen ist. Das Verfassungsgericht bestimmt also, "seine eigenen Befugnisse zur Steuerung des Verfassungsprozesses" zu nutzen und die nicht mit dem Grundgesetz übereinstimmende Vorschrift beizubehalten, ohne jedoch deren Anwendung durch die Richter zu verfügen, in Anbetracht der Tatsache, dass die Wirksamkeit der zensierten Regelung im vorliegenden Fall angesichts "dessen besonderer Eigenschaften und wegen der Bedeutung der damit verbundenen Werte" nicht als erlaubt gelten könnte. Wie man bemerken kann, scheint die Ratio der Unvereinbarkeitserklärung in diesem Fall tatsächlich die Rolle des "steinernen Gastes" übernommen zu haben. Der Gerichtshof bestätigt somit: "Um zu verhindern, dass die Vorschrift in dem hier angefochtenen Teil in der Zwischenzeit angewendet werden kann, wobei dem Parlament dennoch die Möglichkeit gegeben ist, die notwendigen Entscheidungen zu treffen, die grundsätzlich in seinem Ermessensspielraum bleiben – die Notwendigkeit, den Schutz der Patienten in den mit dieser Verkündigung angegebenen Einschränkungen zu gewährleisten, bleibt unangetastet – befindet der Gerichtshof somit auf andere Weise vorsorgen zu müssen, indem er also die Aufschiebung des laufenden Verfahrens verfügt und die Verhandlung zur neuen Diskussion der Verfassungsmäßigkeitsfragen für den 24. September 2019 anberaumt; in den anderen Verfahren dagegen obliegt es den Richtern, zu beurteilen, ob, angesichts der Angaben in dieser Verkündigung ähnliche Fragen zur Verfassungslegitimität der untersuchten Verfügungen als erheblich und nicht offensichtlich unbegründet anzunehmen sind, um die Anwendung derselben Verfügung in dem hier angefochtenen Teil zu vermeiden". Die besagte Verkündigung ist durch die nun sehr bekannte Beschlussformel, charakterisiert, welche die getroffene Erklärung der Verfassungswidrigkeit von Art. 580 ital. StGb nicht enthält. Darin heißt es: "Aus diesen Gründen wird die Behandlung der mit dem im Rubrum angegebenen Beschluss aufgeworfenen Fragen zur Verfassungsmäßigkeit auf die öffentliche Verhandlung am 24. September 2019 verschoben". Es handelt sich nämlich um einen vorläufigen Beschluss, mit dem das Verfassungsgericht entschied, das Gerichtsverfahren aufzuschieben und die Verfassungswidrigkeit von Art. 580 ital. StGb auf die in derselben Verkündigung beschriebene Weise zu überprüfen. Die deutschen Unvereinbarkeitserklärungen ähneln jedoch in Ratio und Aufbau der besprochenen Verkündigung, denn derselbe Verfassungsrichter Modugno verwies in Bezug auf Beschluss Nr. 207 von 2018 bei der öffentlichen Verhandlung am 24. September 2019 ausdrücklich auf die deutsche Rechtsprechung. In erster Linie tritt die "Anwendungssperre der verfassungswidrigen Norm" hervor; in zweiter Linie tritt die für den Gesetzgeber vorgesehenen Frist und der Verweis auf eine "faire und dialektische institutionelle Zusammenarbeit" hervor; in dritter Linie tritt der weite Ermessensspielraum, den das Verfassungsgericht dem Gesetzgeber zur verfassungsgemäßen Gestaltung der Regelung gelassen hat, hervor. Wie in der Rechtslehre bestätigt, handele es sich um ein "gefestigter" Appell, ein Urteil zur ermittelten aber nicht erklärten ganz eigenen Verfassungswidrigkeit, eine italienische Unvereinbarkeitserklärung. Außerdem besonders hervorzuheben ist die Tatsache, dass das Gebiet, auf welchem die besagte Verkündigung eingriff, das Strafrecht ist, indem das Ermessen des Gesetzgebers erheblich bedeutend ist. Trotz der Absicht des Verfassungsgerichts handelte der Gesetzgeber nicht innerhalb der vorgesehenen Frist, aus diesem Grund referierte das Verfassungsgericht in der am 25. Oktober 2019 veröffentlichten Pressemeldung, dass "der Gerichtshof in Erwartung eines unerlässlichen Eingriffs des Gesetzgebers die Nicht-Strafbarkeit der Beachtung der Verfahren, die in der Vorschrift zur aufgeklärten Einwilligung, zur Palliativpflege und zur kontinuierlichen tiefen Sedierung (Artikel 1 und 2 des ital. Gesetzes 219/2017) und der Überprüfung sowohl der erforderlichen Bedingungen als auch der Ausführungsverfahren durch eine öffentliche Einrichtung des staatlichen Gesundheitsdienstes nach Anhörung des Bescheids des örtlich zuständigen Ethik-Kommission vorgesehen sind, unterstellt". Vor wenigen Tagen wurde das Urteil Nr. 242 von 2019 hinterlegt, mit dem das Verfassungsgericht die "Sage" Cappato "abschloss": aus zeitlichen Gründen konnte diese Verkündigung, die jedoch in Bezug auf die Beziehung zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber von erheblicher Bedeutung für diese Doktorarbeit ist, nicht untersucht werden. Das Verfassungsgericht entschied somit, die "Verfassungswidrigkeit von Art. 580 des ital. Strafgesetzbuchs dahingehend" zu erklären, "dass die Strafbarkeit dessen nicht ausgeschlossen wird, der mit der in den Artikeln 1 und 2 des ital. Gesetzes Nr. 2019 vom 22. Dezember 2017 (Normen zur aufgeklärten Einwilligung und Patientenverfügung)– d.h. in Bezug auf die Tatbestände vor der Veröffentlichung dieses Urteils im Amtsblatt der Republik mit gleichwertigen Vorgehensweisen wie in der Begründung – vorgesehenen Art und Weise die Ausführung des sich selbständig und frei gebildeten Suzidvorhabens einer durch lebenserhaltende Maßnahmen am Leben gehaltenen Person, die an einer unheilbaren Krankheit leidet, welche körperliche und psychische Leiden mit sich bringt, die von dieser als nicht auszuhalten angesehen werden, welche aber in der Lage ist, Entscheidungen frei und bewusst zu treffen, sofern diese Bedingungen und die Ausführungsverfahren durch eine öffentliche Einrichtung des staatlichen Gesundheitsdienstes überprüft werden nach Anhörung des Bescheids des örtlich zuständigen Ethik-Kommission erleichtert". Der Gesetzgeber, der zum Handeln im Anschluss an die erfolgte Aufschiebung der Rechtswirkungen des Urteils der "ermittelten" Verfassungswidrigkeit laut Beschluss Nr. 207 von 2018 aufgerufen wurde, scheint zusammen mit und vor allem durch seine Untätigkeit im Urteil Nr. 242 von 2019 in den Vordergrund zu treten. Das dritte Kapitel ist vollumfänglich der deutschen Praxis der Unvereinbarkeitserklärungen gewidmet, deren wichtigste Vorteile und Problempunkte untersucht werden. Im 1. Abschnitt (Die Ratio eines Vergleichs zwischen der "alternativen Tenorierung" des BVerfG und der zeitlich handhabenden Rechtsprechung des Verfassungsgerichts) wird versucht, die Gründe, auf denen das Interesse für die zeitlich handhabende deutsche Praxis beruht zu erklären. Erstens entspricht, wie weiter unten ausgeführt sowohl in der italienischen Ordnung wie auch in der deutschen die Verfassungswidrigkeit einer Norm faktisch seiner Ungültigkeit. Trotz dieser gemeinsamen Voraussetzung, eben in Hinsicht auf die Notwendigkeit, eine Steuerung der Rechtswirkungen im Verlauf der Zeit der Verfassungswidrigerklärung vorzunehmen, sah der deutsche Gesetzgeber eine Änderung des BVerfGG vor, während dagegen, obwohl die Corte costituzionale in einigen Fällen befunden hatte, von der Rückwirkung der Annahmeurteile abzuweichen, das Verfassungssystem, wie im ersten und zweiten Kapitel zu zeigen versucht wurde, noch keine Form der Positivierung der Handhabung der Rechtswirkungen im Verlauf der Zeit erfahren. Und dies trotz der kürzlichen Einführung von Urteil Nr. 10 von 2015 und Beschluss Nr. 207 von 2018: erstes enthält, wie bereits besprochen, einen ausdrücklichen Verweis auf die deutsche Praxis; zweiter dagegen verweist lediglich implizit auf den Aufbau und die Ratio der deutschen Unvereinbarkeitserklärungen. Die besagten Entscheidungen werden aufgrund ihrer Bedeutung Untersuchungsgegenstand in Abschnitt 1.1. (Die Ratio des Vergleichs: zwei aktuelle Beispiele). In Abschnitt 1.2. (Die Problematik eines Vergleichs zwischen der italienischen und der deutschen Praxis) wird die Problematik bezüglich eines Vergleichs zwischen der italienischen und der deutschen Praxis hervorgehoben. In erster Linie tritt die verschiedene gesetzliche Regelung der Rechtswirkungen der Verfassungswidrigerklärung hervor; in zweiter Linie die ungleichen Beziehungen zwischen den verschiedenen Verfassungsorganen (zu denen das Verfassungsgericht offensichtlich gehört). In diesem Abschnitt werden diese beiden Aspekte beleuchtet, wobei jedoch nicht zu vergessen ist, dass, wenn auch die Beziehung zwischen BVerfG und dem Gesetzgeber entschieden entspannter ist als in der italienischen Situation, werden in der deutschen Rechtslehre dennoch die Problematiken hervorgehoben, die ein eventuelles Nicht-Erfüllen des Gesetzgebers der Vorgabe des Verfassungsgerichts mit sich bringt; gleichzeitig weisen die Unvereinbarkeitserklärungen Elemente der Unklarheit auf, und zwar in Bezug auf die Möglichkeit, ihre juristischen Folgen sicher kennen zu können, da diese konkret von den Entscheidungen des BVerfG abhängen; aus diesem Grund ist dieser Entscheid zum Teil auch Gegenstand der Kritik durch die deutsche Rechtslehre. Im Übrigen, während in Bezug auf die italienische Praxis die Unvereinbarkeitserklärungen vor allem angesichts der "unvorhersehbaren" Folgen kritisiert werden, kann man gleichzeitig nicht übersehen, dass dieselbe Kritik (und nicht nur diese) in der deutschen Rechtslehre angeführt wird, in der auch einige Problempunkte in Bezug auf die Beziehung zwischen Gesetzgeber und BVerfG mit besonderem Verweis auf die zeitlich handhabende Praxis hervorgehoben werden. In Abschnitt 1.3. (Ziel des Vergleichs mit den deutschen Unvereinbarkeitserklärungen) wird das Ziel des Vergleichs unterstrichen, das nicht nur in einer Überlegung zur hypothetischen Übertragung dieses Entscheidungstyps in die Sammlung der Entscheidungsmittel des Verfassungsgerichts ist, sondern auch in einer Überlegung zum Thema der "Einschränkung" der Rückwirkung besteht. Die nachfolgenden Abschnitte sind der Untersuchung der Norm gewidmet. Im 2. Abschnitt (Die Nichtigkeitslehre und die Theorie der Vernichtbarkeit) geht es auf rein theoretischer und allgemeiner Ebene um die Grundzüge der Nichtigkeitslehre und der Vernichtbarkeitstheorie. Abschnitt 2.1. ist vollumfänglich der Ipso-iure-Nichtigkeit gewidmet, die das Panorama der deutschen Rechtslehre seit den fünfziger Jahren beherrscht; es werden die juristischen Modelle untersucht, auf denen sie beruht und auf die Verfassungsnormen und das einfache Recht verwiesen, auf das sie aufbaut. Abschnitt 2.2. (Die Theorie der Nichtigkeit im Grundgesetz) ist den Verfassungsnormen gewidmet, welche die Grundlage der Nichtigkeitslehre darzustellen scheinen. Abschnitt 2.3. (Die Nichtigkeit des Verfassungsgesetzes und die Hauptquelle: §78 BVerfGG) ist der Untersuchung von § 78 BVerfGG gewidmet, wo es heißt, "Kommt das Bundesverfassungsgericht zu der Überzeugung, dass Bundesrecht mit dem Grundgesetz oder Landesrecht mit dem Grundgesetz oder dem sonstigen Bundesrecht unvereinbar ist, so erklärt es das Gesetz für nichtig". Wie man sieht, bestätigt diese Verfügung die Nichtigkeit der für verfassungswidrige erklärten Norm und steht so im Widerspruch zur "bloßen" Erklärung der Unvereinbarkeit der verfassungswidrigen Norm. Abschnitt 2.4. (Die Gesichtspunkte der Flexibilisierung der Rechtswirkungen der Entscheidung angesichts der Ipso-iure-Nichtigkeit) ist den allerersten Versuchen des BVerfG gewidmet, eine Ausnahme vom Dogma der Nichtigkeit zu machen und sich auf dieser Weise dem zu nähern, was als "Anwendbarkeit des Rechts" definiert wurde. Abschnitt 2.5. ist vollumfänglich der Vernichtbarkeitstheorie des Gesetzes gewidmet; insbesondere werden im Verlauf desselben die theoretischen und gesetzlichen Grundlagen dieser These untersucht, die sich teilweise mit der Notwendigkeit der Überwindung der die Nichtigkeitserklärung charakterisierenden Problempunkten deckt, wobei die Bedeutung, die diese Theorie hinsichtlich der Unvereinbarkeitserklärungen annimmt zu berücksichtigen ist. Der 3. Abschnitt (Die Folgen der Nichtigkeitserklärung, §79 BVerfGG) ist der Untersuchung der Folgen (gegenüber Vergangenheit und Zukunft) der Verfassungswidrigerklärung gewidmet: Diese Analyse entwickelt sich angesichts einiger von einigen Autoren der deutschen Rechtslehre, darunter vor allen Kneser, Gusy und Ipsen vorgebrachten Thesen. Abschnitt 3.1. (Die Vorschläge zur Änderung der Rechtswirkungen der deutschen Nichtigkeitserklärung) ist, fast symmetrisch zum 2. Abschnitt des 2. Kapitels, der Untersuchung zweier bedeutender Versuche zur Änderung der Rechtswirkungen laut § 79, Abs. 1 BVerfGG (BT-Drs. V/3916) und (BT-Drs VI/388) gewidmet, die, obwohl nie verabschiedet zur Verbreitung einer möglichen Rechtfertigung der Theorie der Vernichtbarkeit der verfassungswidrigen Norm beigetragen haben. Nach einem Teil der Rechtslehre war der Grund für die mangelnde Änderung der Rechtswirkungen des Nichtigkeitsurteils laut §79 BVerfGG sehr einfach, denn jede Form der Kodifizierung würde die notwendige Handlungsflexibilität des BVerfG einschränken, welches im Übrigen durch den Gebrauch der Unvereinbarkeitserklärungen immer anwendbare Handlungen gefunden hat. In jedem Fall änderte der Gesetzgeber im Jahr 1970 durch das Vierte Gesetz zur Änderung des BVerfGG den §79 1. Abs. und den § 31 2. Abs., in denen die Möglichkeit vorgesehen ist, dass die verfassungswidrige Norm nicht nur nichtig erklärt wird, sondern auch unvereinbar. Der umfangreiche 4. Abschnitt (Die deutschen Unvereinbarkeitserklärungen) ist den deutschen Unvereinbarkeitserklärungen gewidmet, die unter mehreren Gesichtspunkten untersucht werden und in diesem Kapitel Hauptgegenstand der Studie sind. In Abschnitt 4.1. (Grundlage und Legitimation der Unvereinbarkeitserklärungen) werden die allgemeinen Gründe untersucht, die das BVerfG dazu führten, trotz der Vorgabe des § 78 BVerfGG einen von der Nichtigkeitserklärung verschiedenen Entscheidungstyp einzuführen. Der zu untersuchende Entscheidungstyp ist mit der Zeit nach einem Teil der Rechtslehre zu einer "Regel" geworden, denn §78 BVerfGG hätte (nach der Lehre Burkiczaks) ein primitives Wesen angenommen. Andererseits weist der Pragmatismus des BVerfG einige bedeutende Schwierigkeiten auf, wie hier hervorzuheben versucht wird: Erstens die der Erkennung einer juristisch-theoretischen Rechtfertigung des besprochenen Entscheidungstyps und zweitens das Problem der Beschreibung der Anwendungstopoi, in Anbetracht der Tatsache, dass die Anwendungskriterien der Unvereinbarkeitserklärungen oft Überlagerungen aufweisen. In Abschnitt 4.2. (§ 79 1. Abs. des BVerfGG und § 31, 2. Abs. BVerfGG: die Revolution des Vierten Gesetzes zur Änderung des BVerfGG) wird das Thema der Revolution des Vierten Gesetzes zur Änderung des BVerfGG in Angriff genommen, das §79 1. Abs. des BVerfGG und § 31 2. Abs. BVerfGG änderte und die Möglichkeit einfügte, die Norm für unvereinbar zu erklären. Während in Abschnitt 4.3. (Der § 31 des BVerfGG) eben § 31 des BVerfGG, untersucht wird, befasst sich Abschnitt 4.4. (Der § 35 des BVerfGG) mit § 35 des BVerfGG, welcher nicht nur die Grundlage der Fortgeltungsanordnung der unvereinbaren Norm, sondern auch die möglichen Formen zu deren Vollstreckung begründet. Gerade wegen der "pragmatischen" Natur der Unvereinbarkeitserklärungen ist es schwierig, die Anwendungstopoi dieses Entscheidungsmittels zu erkennen; nicht ohne Grund wird in der maßgeblichen Rechtslehre auf eine pragmatische, flexible und nicht dogmatische zeitlich handhabende Praxis verwiesen, die im 5. Abschnitt (Das Problem der Erkennung einer Kasuistik der Unvereinbarkeitserklärungen: die pragmatische, flexible und nicht dogmatische Praxis) behandelt wird. Ganz allgemein werden Unvereinbarkeitserklärungen in folgenden Fällen angewendet: a) wenn der Gesetzgeber verschiedene Möglichkeiten hat, um den Mangel an Verfassungsmäßigkeit zu beseitigen, für gewöhnlich, wenn der Gleichheitsgrundsatz verletzt wird, da dem Gesetzgeber ein großer Ermessensspielraum zukommt, um die verletzte Legalität wiederherzustellen. In diesem Fall ist es der Schutz der Ermessenssphäre des Gesetzgebers der zur Grundlage der Beurteilung (oder wenn man will der Abwägung) der juristischen Folgen der Verfassungswidrigerklärung wird. Hinsichtlich der Beziehung zum Gesetzgeber wird in der Rechtslehre eine Form der spezifischen Koordinierung zwischen BVerfG und Gesetzgeber bezeichnet, in Anbetracht der Tatsache, dass die Unvereinbarkeitserklärung den Ermessensspielraum des Gesetzgebers in Hinsicht auf den Zeitraum zwischen der Erklärung der Unvereinbarkeit und der Einführung der neuen Gesetzesverordnung schützt. b) wenn ein Übergang von der verfassungswidrigen Lage zur verfassungsmäßigen Situation im Gemeininteresse notwendig ist. Im Wesentlichen erhält dieser Anwendungsbereich in dem Fall Bedeutung, wo die Aufnahme einer Verfassungswidrigerklärung die Verfassungswidrigkeit innerhalb der Rechtsordnung noch verschlimmern würde. In diesem Sinne tritt die "Chaos-Theorie" hervor, die im Übrigen an die Verletzung der Artt. 33. 1. Abs., 2. Abs., 3. Abs. und 21 1. Abs. GG anknüpft. Während man die Einwendung der möglichen Unbestimmtheit der s.g. Anwendungstopoi der Unvereinbarkeitserklärungen eben wegen des Fehlens einer umfassenden Gesetzesgrundlage, die in Abschnitt 5.1. (Gibt es einen Numerus clausus der Anwendungsfälle der Unvereinbarkeitserklärungen?) angesprochen wird, im Hinterkopf behält, wird im 6. Abschnitt (Die Unterkategorien der Unvereinbarkeitserklärungen) auf die notwendige Unterscheidung zwischen den Unvereinbarkeitsentscheidungen und den s.g. Appellentscheidungen hingewiesen, um dann im Verlauf von Abschnitt 6.1. (Das "reine" Unvereinbarkeitserklärung) zur Untersuchung der Hauptmerkmale der reinen (oder schlichten) Unvereinbarkeitserklärung überzugehen, die sich vor allem durch eine Reformpflicht (mit dem Ziel der Garantie der freien Ausübung durch den Gesetzgeber seines Werks zur Beseitigung des vom BVerfG entschiedenen Legitimitätsmangels) und durch die s.g. Anwendungssperre des für verfassungswidrig erklärten Gesetzes charakterisiert, wie im Übrigen in der allerersten Unvereinbarkeitsentscheidungen, BVerfGE 28, 227 (Steuerprivilegierung Landwirte) vorgesehen war. Abschnitt 6.2. (Die Unvereinbarkeitserklärung und die s.g. weitere Anwendbarkeit des für unvereinbar erklärten Gesetzes) ist der Untersuchung des Aufbaus der vom BVerfG verfügten Anordnung der Anwendung des für unvereinbar erklärten Gesetzes: wie in diesem Abschnitt gezeigt wird, betrachtet die Rechtslehre das Mittel der Fortgeltungsanordnung als eine Art "Ebene" des "reinen" Unvereinbarkeitsurteils; gleichzeitig wird deren so verschiedenartiger Aufbau untersucht. In diesem Sinn wird auf die vorläufige Weitergeltungsanordnung und die endgültige Weitergeltungsanordnung verwiesen. Die Fortgeltungsanordnung wird auch in Abschnitt 6.2.1. untersucht, wo die gesetzliche Grundlage der Fortgeltungsanordnung zum Analyseobjekt wird; gleichzeitig erfolgt eine Überlegung zur Möglichkeit, die Voraussicht der zeitlich beschränkten Anwendung des für unvereinbar erklärten Gesetzes mit der Normenhierarchie zu vereinen. Die Lösung scheint in dem vom BVerfG verspürten Bedürfnis, die verfassungsfernere Lösung auszuschließen zu liegen. In Abschnitt 6.2.2. (Die in der Motivation der Unvereinbarkeitserklärungen liegende Schwierigkeit, vor allem in Bezug auf die mit Fortgeltungsanordnung verbundenen Erklärungen) wird der Problempunkt der schwierigen Erkennung der Folgen, die sich aus den Unvereinbarkeitsurteilen ergeben können, behandelt, und insbesondere im Fall der mit Anordnung der s.g. weiteren Anwendbarkeit, verbundenen Entscheidungen, in Anbetracht der Tatsache, dass das BVerfG die Folgen der Unvereinbarkeitsentscheidungen offen lässt. In Abschnitt 6.3. (Die mit einer Übergangsregelung verbundenen Unvereinbarkeitserklärungen) werden dagegen die mit einer vom selben BVerfG bestimmten Übergangsregelung verbundenen Unvereinbarkeitsentscheidungen analysiert. Die besagten Übergangsregelungen bestehen auch unabhängig von der Anwendung der Unvereinbarkeitserklärungen, denn diese können an Nichtigkeitserklärungen gebunden sein: Man denke beispielsweise an die Entscheidungen BVerfGE 1, 39 – Schwangerschaftsabbruch 1 und BVerfGE 88, 203 – Schwangerschaftsabbruch II. Wie weiter unten gezeigt, übernehmen die Übergangsregelungen, wenn sie in Begleitung der Unvereinbarkeitserklärungen beschlossen werden, die Rolle der "Entscheidungsgrundlage", und zwar deshalb, weil die Übergangsregelung keinen unabhängigen Entscheidungstyp darstellt. Der 7. Abschnitt (Die Anwendungsgebiete der Unvereinbarkeitserklärungen) besteht aus mehreren Unterabschnitten und beschäftigt sich mit Überlegungen zu den Anwendungsgebieten der deutschen Unvereinbarkeitserklärungen, die vor allem in Bezug auf die italienische Praxis von besonderem Interesse sind. Wie weiter unten gezeigt, basieren die Unvereinbarkeitserklärungen auf denselben Gründen wie die vom Verfassungsgericht entwickelte umfangreiche Sammlung an Entscheidungsmitteln, d.h. zum Beispiel die Urteile mit verschobener Verfassungswidrigkeit, die ein Prinzip ergänzenden Urteile und die Urteile zur ermittelten aber nicht erklärten Verfassungswidrigkeit. Erstens ist der Anwendungstopos der Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes, zu berücksichtigen, der in Abschnitt 7.1. (Die Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes und der Schutz des Ermessensspielraums des Gesetzgebers) ausgehend von der ersten "offensichtlichen" Entscheidung mit Verzicht auf die Anwendung der Nichtigkeitserklärung BVerfGE 22, 349 (361-362) – Waisenrente und Wartezeit – untersucht wird. Das Ziel, die Optimierung der Beseitigung des Mangels an Verfassungsmäßigkeit zu gewährleisten, vereint sich im Fall der Verletzung des – in Art. 3 GG dargelegten Gleichheitsgrundsatzes – mit dem Schutz des Ermessensspielraums des Gesetzgebers (vgl. BVerfGE 17, 148; BVerfGE 93, 386; BVerfGE 71, 39; BVerfGE 105, 73; siehe schließlich auch das Urteil zum dritten Geschlecht vom 10. Oktober 2017). Während in Abschnitt 7.1.1. (Die Einführung der Nichtigerklärung im Fall der Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes) die (außergewöhnlichen) Gründe behandelt werden, aufgrund derer das BVerfG verfügt, die Nichtigerklärung anzuwenden, obwohl ein Gleichheitsgrundsatz verletzt wurde, beschäftigt sich Abschnitt 7.2. (Die s.g. Chaos-Theorie) mit der Theorie, die auch als "Argument der juristischen Folgen" bezeichnet wird: Dieses Argument liegt, wie man im Verlauf dieses Kapitels sieht, dem Verzicht auf die Anwendung der Nichtigerklärung zugrunde, d.h. die Gefahr eines noch "verfassungsferneren Zustands bei Nichtigerklärung" (vgl. BVerfGE 37, 217; BVerfGE 33, 303; BVerfGE 132, 134). Es ist interessant zu bemerken, dass dieser Anwendungstopos im Bedürfnis, die Rechtssicherheit und den Rechtsstaat zu gewährleisten, substanziiert werden kann; weiter könnte das BVerfG nicht nur gesellschaftliche, sondern auch durch das Grundgesetz gewährleistete Grundrechte schützen wollen. Wegen der Bedeutung der Kategorie der Rechtssicherheit in der Praxis der Unvereinbarkeitserklärungen ist Abschnitt 7.2.1. (Rechtssicherheit . Eine elastische Kategorie) einer Untersuchung der Beziehung zwischen diesem juristischen "Gut" und der zeitlich handhabenden Praxis des BVerfG gewidmet; in Abschnitt 7.2.2. (Der Schutz des Gemeinwohls und die mit Fortgeltungsanordnung verbundenen Unvereinbarkeitserklärungen) wird eine Überlegung zur Beziehung zwischen den mit Fortgeltungsanordnung verbundenen Unvereinbarkeitserklärungen und der verfassungsrechtlichen Notwendigkeit zum Schutz des Gemeinwohls entwickelt (vgl. BVerfGE 91, 186; BVerfGE 198, 190; BVerfGE 109, 190); der nächste Abschnitt 7.3. (BVerfG und Strafrecht) behandelt die Verwendung der Unvereinbarkeitserklärungen (insbesondere der mit Fortgeltungsanordnung verbundenen) durch das BVerfG auf dem Gebiet des Strafrechts. Dieser Abschnitt ist für italienische Forscher besonders interessant, nicht nur angesichts des weiten Ermessensspielraums, der dem Gesetzgeber auf dem Gebiet des Strafrechts zukommt, sondern auch angesichts der Aufnahme des kürzlichen Beschlusses Nr. 208 von 2017, der im späteren Verlauf seine "Folge" in Urteil Nr. 242 von 2019 fand (vgl. BVerfGE 109, 190; die Verkündigung zur Sicherungsverwahrung vom 4. Mai 2011, oder weiter die Entscheidung vom 20. April 2016 zum Thema Bundeskriminalamtgesetz). Wie man sehen wird, scheinen der Gesetzgeber und das BVerfG auf dem Gebiet des Strafrechts zwischen den Vorgaben der Beachtung des legislativen Ermessens und der erfolgten Unvereinbarkeitserklärung der nicht mit der Verfassung zu vereinbarenden Strafnorm zu "dialogisieren". Abschnitt 7.4. (Der Topos der Finanz- und Haushaltsplanung) ist der zwischen der Annahme der Unvereinbarkeitserklärung, seiner zeitlichen Wirkung und der Notwendigkeit zum Schutz des Staatshaushalts bestehenden Beziehung gewidmet. Zu diesem Zweck darf man die Tatsache nicht vergessen, dass die Weitergeltungsanordnung eine ausreichende juristische Grundlage ist, um die Zahlung der Steuern von den Bürgern zu fordern und dass diese gleichzeitig ein mögliches Mittel darstellt, um das Auftreten einer unsicheren Rechtssituation zu verhindern, da die Steuereinnahmen des Bundes oder der Länder verloren gehen könnten (vgl. BVerfGE 138, 136; Urteil vom 15. Januar 2019 2 BvL 1/09). Der Abschnitt 7.5. (Die Unvereinbarkeitserklärungen gegenüber der legislativen Unterlassung) behandelt die Beziehung zwischen der Unterlassung des Gesetzgebers und dem Verzicht auf die Nichtigkeitserklärung einer Norm. Es handelt sich im Wesentlichen um ein vollkommen primitives – und problematisches – Kriterium der Anwendung der Unvereinbarkeitserklärungen, wie es auch die Kategorie hinsichtlich des Ermessens des Gesetzgebers ist, dessen Hauptmerkmale in Abschnitt 7.6. (Ein primitives Kriterium: der Ermessensspielraum des Gesetzgebers) untersucht werden. Im 8. Abschnitt (Die Folgen der Unvereinbarkeitserklärungen: Eine allgemeine Übersicht) werden die Folgen analysiert, die ganz allgemein die Anwendung der Unvereinbarkeitserklärung betreffen, wobei jedoch zu unterstreichen ist, dass die Folgen je nach der "konkreten" Praxis, die dasselbe BVerfG befindet, Änderungen unterliegen können. Die Auswirkungen der Unvereinbarkeitserklärung haben keine "klare Linie". Ganz allgemein folgt der Anwendung einer Unvereinbarkeitserklärung die Pflicht des Gesetzgebers, den Mangel an Verfassungsmäßigkeit zu beseitigen und die Pflicht der Richter, die Vorgabe des Gerichts in Bezug auf die für unvereinbar erklärte Norm zu befolgen. In Bezug auf die Beziehung zwischen BVerfG und Gesetzgeber wird in Abschnitt 8.1. (Die aus der Pflicht zur Reform der unvereinbaren Norm, der s.g. Nachbesserungspflicht entstehenden Folgen) die Reformpflicht des Gesetzgebers untersucht und deren ex tunc- bzw. ex nunc-Wirkung je nachdem, wie das Bundesverfassungsgericht von Fall zu Fall entscheidet. In diesem Abschnitt wird versucht, auch die Natur und das Gebundensein an die Frist zu untersuchen, einem nicht ganz unbekannten Instrument im Bereich des italienischen Verfassungsrechts. Obwohl der Deutsche Bundestag häufig innerhalb der vom BVerfG, vorgesehenen Frist eingreift, gibt es doch auch Fälle, in denen der Gesetzgeber nicht innerhalb des vorgesehenen Zeitraums gehandelt hat (vgl. BVerfGE 99, 300; und das Urteil zur Erbschaftssteuer vom 17. Dezember 2014). In Bezug auf Problematiken hinsichtlich der Untätigkeit des Gesetzgebers kommt man nicht umhin, das in der übermäßigen zeitlichen Verlängerung der Anwendungssperre liegende Risiko zu betrachten (vgl. BVerfGE 82, 136). In Hinsicht auf die anderen Verfassungsorgane hat die Rechtslehre im Fall von legislativer Untätigkeit zwei verschiedene Möglichkeiten zum "Sperren" des verfassungswidrigen Zustands erkannt: Eingriff der Gerichte, die dazu aufgerufen sind, verfassungsmäßig zu entscheiden und Eingriff desselben BVerfG in "Einzelfall" gemäß § 35 des BVerfGG. Hinzu kommt, wie man weiter unten sieht, dass es schwierig ist, die Nichtigkeit der für unvereinbar erklärten Norm bei Untätigkeit des Gesetzgebers vorauszusehen. In jedem Fall sind die Probleme hinsichtlich des mangelnden Nachkommens der Nachbesserungspflicht eher theoretischer Art, wenn man die bestehende gute Zusammenarbeit zwischen Gesetzgeber (Richtern) und BVerfG bei der Umsetzung der zeitlich handhabenden Praxis bedenkt. In Abschnitt 8.2. (Die spezifischen Folgen der Unvereinbarkeitserklärungen) werden die spezifischen juristischen Folgen der Unvereinbarkeitserklärungen untersucht, wobei vor allem die "reinen" und die mit weiterer Anwendbarkeit verbundenen Unvereinbarkeitserklärungen betrachtet werden. Der 9. Abschnitt (Der Zeitfaktor der Unvereinbarkeitserklärungen: ein flexibles Entscheidungsmittel) widmet sich der zeitlichen Orientierung, welche die Rechtswirkungen der Unvereinbarkeitsurteile annehmen können, und zwar ex tunc- oder ex nunc-Wirkung, je nach der ihrerseits von der Reformpflicht des Gesetzgebers angenommenen zeitlichen Orientierung. Die mit der bloßen ex nunc-Wirkung der Unvereinbarkeitserklärungen verbundenen Problematiken, die in den Bereichen zur Beurteilung der konkreten Normenkontrolle und der Verfassungsbeschwerde am deutlichsten hervortreten, sind für das italienische Verfassungsrecht besonders interessant, in Anbetracht der Tatsache, dass dieses weitgehend durch die Inzidentalität des Systems charakterisiert ist, das durch die Unterbrechung des Inzidentalitätszusammenhangs stark beeinträchtigt würde. Die gleichen Problematiken scheinen sich laut der deutschen Rechtslehre in Bezug auf die beiden eben angeführten deutschen Urteilstypen zu stellen; ein deutliches Beispiel ist das in diesem Abschnitt untersuchte Urteil, die Entscheidung vom 10. April 2018 – 1 BvL 11/14. Angesichts der Ausführungen im ersten, zweiten und dritten Kapitel werden im letzten die Schlüsse dieser Doktorarbeit gezogen und versucht einen roten Faden zwischen der zeitlich handhabenden Rechtsprechung des ital. Verfassungsgerichts und der des BVerfG zu finden, und zwar anhand der Untersuchung einiger Aspekte, die das heutige Verfassungsrecht zu "modellieren" scheinen und deren korrekte Funktionsweise dadurch beeinflussen. Die abschließenden Betrachtungen (4. Kapitel) drehen sich um die Beziehung zwischen Verfassungsgerichtshof und Gesetzgeber der italienischen Praxis einerseits und der deutschen andererseits (1. Abschnitt), um die Beachtung des legislativen Ermessens in der italienischen Praxis einerseits und der deutschen andererseits (2. Abschnitt) und um die Notwendigkeit, "übermäßige Folgen" zu verhindern, sowohl in der italienischen als auch in der deutschen Praxis (3. Abschnitt). Weiter angesichts der deutschen Praxis, die sich auf den Schutz der Grundrechte aber weitgehend auch der Rechtsordnung insgesamt zu konzentrieren scheint, wird versucht, über eine mögliche neue Theorie der "Verfassungsfestigkeit" des Rechtssystems nachzudenken (4. Abschnitt - Eine neue Theorie der "Verfassungsfestigkeit" des Rechtssystems? Überlegungen zur deutschen Praxis). Nach dieser Klarstellung kommt man zur Endaussage dieser Doktorarbeit, die mit dem 5. Abschnitt (Reformbedarf der Regelung der Rechtswirkungen der Annahmeurteile. Auf welche Weise?) schließt: Es ist unbestreitbar, dass die Unumgänglichkeit der Rückwirkung den verfassungsrechtlichen (materiellen) Problematiken zugrunde liegt. Die deutsche Praxis der Unvereinbarkeitserklärungen beeinflusst das Verfassungsrecht unter mehreren Gesichtspunkten. Erstens in Hinsicht auf die Verbindung zwischen Verfassungsgericht und Legislativorgan. Eine Bestimmung des zeitlichen Elements der Rechtswirkungen der Entscheidungen der koordinierten Verfassungswidrigkeit gestattet es dem Gerichtshof, die Grenzen des Ermessensspielraums des Gesetzgebers zu ziehen. Daher die Bedeutung der Frist zur Eingrenzung der gesetzgebenden Gewalt innerhalb der verfassungsrechtlichen Trasse, um eine gemeinsame Beseitigung des Mangels an Verfassungsmäßigkeit zu fördern. Im Gegenfall muss das italienische Verfassungsgericht "alles alleine machen". Wie bereits angemerkt, sind die Schwierigkeiten zu berücksichtigen, die beispielsweise die mangelnde Reform des Strafgesetzbuchs von 1930 mit sich bringt, das unter anderem zu einem "unsystematischen und ungenauen" wie auch nicht in den Werterahmen der Verfassungsurkunde passendes Strafsystem geworden ist. Von erheblicher Bedeutung ist in dieser Hinsicht die kürzliche Pressemitteilung in Bezug auf die endgültige Entscheidung in der "Cappato-Sage", die auf der offiziellen Website des Verfassungsgerichts am 25. September 2019 veröffentlicht und durch das entsprechende nachfolgende Urteil Nr. 242 von 2019 bestätigt und in dieser Studie bereit ausgiebig behandelt wurde. Aufgrund seiner Relevanz wird hier der Text der Mitteilung vollumfänglich wiedergegeben: "Das Verfassungsgericht hat sich zur Urteilsfindung zurückgezogen, um die vom Mailänder Geschworenengericht zu Artikel 580 des Strafgesetzbuchs aufgeworfenen Fragen zur Strafbarkeit der Hilfe zum Selbstmord gegenüber einer Person, die entschlossen ist, ihrem Leben ein Ende zu setzen, zu untersuchen. In Erwartung der Urteilshinterlegung lässt die Presseabteilung wissen, dass der Gerichtshof eine Person, welche die Ausführung des selbständig und frei gebildeten Suizidvorhabens eines durch lebenserhaltende Maßnahmen am Leben gehaltenen Patienten, der an einer unheilbaren Krankheit leidet, welche körperliche und psychische Leiden mit sich bringt, die von diesem als nicht auszuhalten angesehen werden, welcher aber in der Lage ist, Entscheidungen frei und bewusst zu treffen, erleichtert, unter bestimmten Bedingungen für nicht strafbar laut Artikel 580 des Strafgesetzbuchs hält. In Erwartung eines unerlässlichen Eingriffs des Gesetzgebers hat das Verfassungsgericht die Nicht-Strafbarkeit der Beachtung der Verfahren, die in der Vorschrift zur aufgeklärten Einwilligung, zur Palliativpflege und zur kontinuierlichen tiefen Sedierung (Artikel 1 und 2 des ital. Gesetzes 219/2017) und der Überprüfung sowohl der erforderlichen Bedingungen als auch der Ausführungsverfahren durch eine öffentliche Einrichtung des staatlichen Gesundheitsdienstes nach Anhörung des Bescheids des örtlich zuständigen Ethik-Kommission vorgesehen sind, unterstellt. Der Gerichtshof unterstreicht, dass die Festlegung dieser spezifischen Bedingungen und Verfahrensweisen, die aus bereits in der Ordnung vorhandenen Normen abgeleitet werden, notwendig wurde, um die Risiken des Missbrauchs gegenüber besonders schwachen Personen zu verhindern, wie bereits in Beschluss 207 von 2018 hervorgehoben. Gegenüber den bereits umgesetzten Verhalten wird das Gericht das Bestehen äquivalenter materieller Bedingungen zu den oben angeführten beurteilen". Wie man beim einfache Lesen der Mitteilung erahnen kann, war es Absicht des Verfassungsgerichts, bei der Erklärung der Nicht-Strafbarkeit der Person, die unter bestimmten Bedingungen die Ausführung des Suizidvorhabens erleichtert (es handelt sich um die in Beschluss Nr. 207 von 2018 festgelegten Bedingungen), den Gesetzgeber aufzufordern, der erneut auf dem Gebiet des Lebensendes durch eine eigene Regelung eingreifen soll: Zweck des Beschlusses Nr. 207 von 2018 war gerade die zeitliche Verschiebung der Rechtswirkungen der Verfassungswidrigerklärung, um "vor allem dem Parlament zu gestatten, durch eine angemessene Regelung einzugreifen". Und wie man sieht, befand das Verfassungsgericht, gegenüber der fehlenden gesetzgebenden Handlung in der Rechtsordnung eine Form des Schutzes der Einzelnen durch Anwendung der bestehenden Bestimmungen zum Lebensende zu erkennen: Daher die (offensichtliche) Bedeutung, die dem Thema der Abstimmung zwischen Verfassungsgericht und Legislativorgan zukommt. Der Fall Cappato bestätigt die Idee, dass die Zusammenarbeit zwischen Gerichtshof und Parlament, sich eben in Richtung einer möglichen Einführung der Trennung zwischen dem Zeitpunkt der Feststellung und dem der Erklärung der Verfassungswidrigkeit bewegen könnte, ohne den Inzidentalitätszusammenhang zu opfern. In diesem Sinn treten die Unvereinbarkeitsentscheidungen hervor, bei denen der Gesetzgeber dazu verpflichtet ist, den Mangel an Verfassungsmäßigkeit mit Rückwirkung zu "bereinigen", sodass ein solches Modell funktionieren kann; dennoch ist es notwendig, der Abstimmung zwischen Gerichtshof und Parlament – wenn möglich – einen bestimmten Grad juristischer Gebundenheit zu verleihen. Anhand der deutschen Praxis und in Hinsicht auf das (entschieden kreative) zu formulierende Gesetz könnte eine bedeutende Verfassungsreform, in dieser Richtung vom Verfassungsgesetzgeber in Betracht gezogen werden (auch in diesem Fall unter Voraussicht der Rückwirkung im vorgelegten Verfahren). Wie man sehen konnte, sind die Entscheidungen des BVerfG gesetzeskräftig und bindend für alle Verfassungsorgane; sicher ist diese Grundlage in erster Instanz vorgesehen und sicher beruht auch die Pflicht des deutschen Gesetzgebers zur Beachtung der Entscheidung des BVerfG theoretisch auf Verfassungsgesetzen: dennoch wäre es vielleicht nützlich, die Vorgaben des Art. 136 2. Abs. ital. GG aufzuwerten, der, wenn auch in Bezug auf eine Beurteilung der Nützlichkeit des Eingriffs durch die Kammern und die betroffenen Regionalversammlungen doch "eine ausdrückliche und dynamische Verbindlichkeit […] der Legislativfolgen" darzustellen scheint. Eine mögliche Festigung der Verbindung zum Gesetzgeber könnte also durch eine Verfassungsreform umgesetzt werden, und zwar insbesondere durch die Änderung von Art. 132 2. Abs. ital. GG. Auf diese Weise würde die Möglichkeit des Verfassungsgerichts zur Festlegung einer Frist für den Gesetzgeber gerechtfertigt, ein Verfahren, das im Übrigen in unserem Verfassungssystem sicher nicht unbekannt ist, wie man sehen konnte. Sollte das Verfassungsgericht aufgrund verfassungsrechtlicher Bedürfnisse befinden, auf eine Form der Modellierung der Rechtswirkungen im Verlauf der Zeit und damit einer zeitlichen Verschiebung der Wirksamkeit der Verfassungswidrigerklärung durch eine Rückwirkungsklausel nicht verzichten zu können, dann gäbe es zwei mögliche Lösungen, die in Bezug auf ihre konkrete (aber eventuelle) "leichte" Umsetzbarkeit in absteigender Reihenfolge erläutert werden, im Bewusstsein jedoch, dass die Annahme einer der drei Vorschläge erhebliche Schwierigkeiten aufweist, sodass es vielleicht ratsam wäre, dass der Gesetzgeber sie alle untersucht und so dem Gerichtshof Spielraum lässt, durch eine Abwägung nach Feststellung einer elastischen Regelung der Rechtswirkungen zu handeln. Es ist jedoch sicher, dass die zuerst umrissene Lösung in jedem Fall die zu sein scheint, die am ehesten einer "Rückkehr zum Ursprung" des Verfassungsrechts entspricht, einschließlich der für das österreichische Verfassungsrecht im Bereich der ex nunc-Wirkung so typischen "Umfassungsprämie", die es ermöglicht, gleichzeitig sowohl den Einzelfall als auch die Ordnung insgesamt zu schützen. a) angesichts einer angemessenen Ermittlung könnte das Verfassungsgericht die Rechtswirkung der Verfassungswidrigerklärung auf Grundlage einer strengen Reglementierung aller an die Folgen der Einschränkung oder "Aussetzung" der mit der Rückwirkung verbundenen Aspekte und der Fälle, in denen eine derartige relevante und bedeutende Ausnahme in vollkommen außergewöhnlicher Weise erfolgen könnte, in der Zeit verschieben (wie es in Bezug auf die deutsche Praxis nicht geschehen ist), ebenfalls nach einer "kelsenschen Orientierung" der Reform des Artikels 30 3. Abs. ital. GG. In diesem Sinn tritt das Gesetzesdekret d.d.l. Lanzillotta hervor, wo befunden wurde, zu einer "schlichten" Reglementierung jener Fälle überzugehen, in denen der Gerichtshof eine Modulation der Rechtswirkungen im Verlauf der Zeit legitimerweise hätte tätigen können. In Art. 1 des Gesetzesentwurfs A.S. 1952 war vorgesehen, "c)im dritten Absatz des Artikels 30 werden am Ende folgende Worte hinzugefügt: ", außer falls der Gerichtshof eine andere Handhabung der Wirksamkeit im Verlauf der Zeit derselben Entscheidung zum Schutz anderer Verfassungsgrundsätze verfügt". Die "allgemeine" Formulierung ähnelt dem ersten Änderungsvorschlag für § 79 des BVerfGG: Die Ausdehnung der Rechtswirkungen der Verfassungswidrigerklärung war in beiden Fällen vorgesehen, in denen wie hervorzuheben ist, das deutsche und das italienische Verfassungsgericht "freie Hand" gehabt hätten. Vielleicht könnte man aber in Hinsicht auf die gemeinsame Trendlinie bemerken, dass Grundlage einer eventuellen Positivierung der zeitlichen Handhabung der Rechtswirkungen der Verfassungswidrigkeitssprüche eine übermäßige Versteifung der Fälle, welche die Verfassungsgerichte zur Abweichung von der Rückwirkung der Verfassungswidrigerklärung legitimieren würden, sein könnte. b) man könnte – mit der angemessenen Vorsicht und im Bewusstsein der erheblichen Problematik, die diese aufweist – eine dritte Lösung von anderer Art erfinden, die von einer ganz einfachen bloßen ex nunc,-Wirkung geprägt und von der Zusammenarbeit des Gesetzgebers und der Gerichte begleitet wäre (grundsätzlich nach dem Vorbild jener Unvereinbarkeitsentscheidungen, die keine "reinen" Unvereinbarkeitsentscheidungen sind). Eine solche Hypothese und extreme Lösung könnte von der Betrachtung ausgehen, dass die Rettung allein des vorgelegten Verfahrens vor der gesetzlichen Priorität den Gleichheitsgrundsatz (und auch den damit verbundenen Grundsatz des Rechts auf Verteidigung) verletze. Abgesehen von der Vorliebe für das erste vorgeschlagene Modell könnte es sich vielleicht auch auf Grundlage einer elastischen Reform der Regelung der Rechtswirkungen der Annahmeurteile als nützlich erweisen, dem Verfassungsgericht die Wahl des verfassungsrechtlich zwingenden Wegs – Auswegs – dem, welcher der geringsten Qual am nächsten kommt, zu überlassen, wobei alle Möglichkeiten sorgfältig abzuwägen sind, wenn man bedenkt, dass in der Tat im Fall a) einer "ungeregelten" Modulation ohne juristische Grundlage, b) der Vorgabe einer Modulation unter Beachtung des Grundsatzes der Rückwirkung nur im vorgelegten Verfahren und c) einer ganz einfachen Modulation ohne Beachtung des Rückwirkungsprinzips, man in jedem Fall einer Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes oder des Grundsatzes des Rechts auf Verteidigung (oder beider) beiwohnt. Sicher ist es nicht einfach, eine angemessene Änderung der Regelung der Rechtswirkungen der Annahmeurteile in Anlehnung an das deutsche Modell vorzusehen: Mit jeder Hypothese für das zu formulierende Gesetz sind erhebliche Schwierigkeiten verbunden. Und doch ist zum heutigen Stand vielleicht sicher, dass die Lösung, die Augen vor den vom Verfassungsgericht verspürten Bedürfnissen zu schließen, dem Rahmen, in welchem dieses sich bewegt, nicht gerecht werden würde, denn dieses sollte manchmal, eben aufgrund der Beachtung des Grundsatzes der höheren Stellung der Verfassung, die Möglichkeit haben, die Rückwirkung angesichts einer größeren Verfassungswidrigkeit auszuschließen und dem Gesetzgeber gestatten, durch eine gute Verwendung seines Ermessensspielraums wieder zu einer größeren Verfassungsmäßigkeit zu gelangen.
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1. Einleitung Das Besondere an Wilhelm Heitmeyer ist, dass er uns empirisch erklärt, was wir vorher nur vermutet oder gesagt bekommen haben. Der Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer, Jahrgang 1945, forscht seit Jahrzehnten zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Rechtsextremismus (Universität Bielefeld, o.J.). Bekannt geworden ist er als Gründungsdirektor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld 1996, wo er bis zu seiner altersbedingten Emeritierung als Direktor fungierte. Seine Langzeitstudie "Deutsche Zustände" zu rechtsextremen Einstellungen in der Gesellschaft und zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit machen ihn zu einem der "wichtigsten Rechtsextremismus-Forscher der Bundesrepublik" (Laudenbach, 2023).Im folgenden Beitrag soll es um ausgewählte Arbeiten von Heitmeyer gehen. In seinen jüngeren Veröffentlichungen nimmt er die Mechanismen von Krisen und daraus resultierenden Kontrollverlusten als Treiber von autoritären Versuchungen in den Fokus. In Bezug darauf wird in der vorliegenden Arbeit genauer auf Heitmeyers Beitrag zur Erklärung des Erstarkens des "autoritären Nationalradikalismus" eingegangen. Hierunter fällt die Partei "Alternative für Deutschland (AfD)", die den Kern dieses Politiktypus in Deutschland ausmacht.Heitmeyer stellte um die Jahrtausendwende die These auf, der globalisierte Kapitalismus bringe vielfältige Schieflagen mit sich in Form von Desintegration, Abstiegsängsten und Kontrollverlusten. Damals ahnte er noch nichts von den Krisen, die in den folgenden "entsicherten Jahrzehnten" auf uns zukommen und uns vor erhebliche Herausforderungen stellen würden (Heitmeyer, 2018, S. 89).Die aufgestellte These rund um soziale, politische und ökonomische Strukturentwicklungen wurde mit individuellen und kollektiven Verarbeitungsmustern gekoppelt und 2022 um Krisen der "Post-9/11"-Ära und Kontrollverluste als Krisenfolgen erweitert. Diese wiederum bilden einen Nährboden für autoritäre Versuchungen, für sogenannte rechte Bedrohungsallianzen als politische Folgen autoritärer Entwicklungen.Die Ergebnisse der Langzeitstudie eignen sich, um das Aufkommen und Erstarken einer autoritär nationalradikalen Partei wie der Alternative für Deutschland zu beleuchten. Heitmeyer ist es, der durch seine Sozialstrukturanalyse das vielzitierte Fünftel (19,6%) der Bevölkerung empirisch nachweisen konnte, das der rechtspopulistisch eingestellten Gruppe in der Bevölkerung mit Einstellungen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit zugeordnet werden kann (Schaefer, Mansel & Heitmeyer, 2002, S. 125 f.).Wahlpolitisch blieben diese Teile der Bevölkerung lange unbedeutend. Die Wähler:innen waren meist keiner Partei zugehörig, sie "vagabundierten" zwischen den Parteien von Wahl zu Wahl oder wählten gar nicht; viele harrten in einer "wutgetränkten Apathie". Bis zu dem Jahr, als die AfD auf die politische Oberfläche trat und ab 2015 eine radikale Entwicklung nahm; ein "politisches Ortsangebot" für diese Teile der Bevölkerung ist gefunden (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 113 ff.).Im folgenden wird zuerst eine begriffliche Rahmung des Politiktypus des "autoritären Nationalradikalismus" vorgenommen. Zentrale Schemata der Arbeiten von Wilhelm Heitmeyer sollen beleuchtet werden. Nach diesen Ausführungen wird der Blick auf Krisen und Kontrollverluste und ihre Funktion als Treiber autoritärer Entwicklungen gerichtet. Im letzten Schritt geht es um die Ausprägung des autoritären Nationalradikalismus in Form der AfD.2. Der autoritäre NationalradikalismusUm über Heitmeyers Arbeiten zu schreiben, bedarf es einer Konturierung der von ihm verwendeten Begriffe. Im Folgenden werden die Begriffe des Autoritarismus und der dichotomischen Welt- und Gesellschaftsbilder erklärt, um anschließend den politischen Typus des autoritären Nationalradikalismus von Rechtspopulismus und Rechtsextremismus abzugrenzen und entsprechend zu erläutern. 2.1 AutoritarismusDas Legitimations- und Strukturmuster politischer Macht des Autoritarismus gründet auf einer Beziehung zwischen "Machthaber:innen" in Regierungen, Parteien und anderen Organisationen und "Machtunterworfenen". Unter Machthaber:innen versteht man Amts-, Funktions- und Handlungsträger:innen, während Machtunterworfene Mitglieder, Gefolgsleute oder Anhänger:innen sind (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 31). Abhängig ist diese Beziehung in der sozialen Praxis von der Autorität der Machthabenden und der Reaktion der Unterworfenen.Autorität kann aus Bewunderung, begeisterter Unterstützung, Respekt, Ehrfurcht oder gleichmütiger Duldung aus freien Stücken zugeschrieben werden und gründet in Anerkennung. Jedoch wird Autorität dann autoritär, "[...] wenn Willfährigkeit aufgenötigt, Unterwerfung durch Täuschung bewirkt, Gehorsam durch Drohung oder handgreifliche Gewalt erzwungen wird" (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 32).Eine dominante Rolle spielen Grunderzählungen in der Entwicklung des Autoritären. Hierzu zählen die Bedrohung von Ordnung, die Auflösung von Identitäten, das Zerstören von Hierarchien und Dominanzen, Fantasien vom Untergang des (deutschen) Volkes sowie der Opferstatus aufgrund des Agierens feindlicher Mächte sowohl aus dem Inneren wie von außen (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 35). Diese Kennzeichen der Bedrohung, Auflösung, Zerstörung, des Untergangs etc. haben die Funktion, kollektive Ängste zu schüren. Zugleich sollen so Mobilisierungen in Gang gesetzt und autoritäre Bewegungen und Bestrebungen angetrieben werden (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 35).Frankenberg & Heitmeyer beschreiben die politische Rhetorik des Autoritären als Diskurslogik, die sich vor allem in Wahlpropaganda und programmatischen Erklärungen zeigt. Diese konstruieren manichäische Weltbilder, weisen eine dichotomische Struktur auf und manifestieren sich auf drei Ebenen, wie die folgende Abbildung zeigt. Häufig anzutreffen sind die Gegensätze von Volk vs. Elite, geschlossene vs. offene Gesellschaft, wir vs. die oder Ungleichwertigkeit vs. Gleichwertigkeit. Abbildung 1: Dichotomische Welt- und Gesellschaftsbilder (Quelle: eigene Darstellung nach Heitmeyer, 2018, S. 248)2.2 Dichotomische Welt- und GesellschaftsbilderDiese Gegensätze laufen auf "Entweder-Oder"-Konflikte hinaus, die sich immer aufs "Ganze" beziehen, da es um "Alles" geht (Heitmeyer, 2022 b, S. 275). Der Streitgegenstand wird der Verhandlung oder dem Kompromiss entzogen, ein "Mehr-oder-Weniger" ist nicht möglich. Die von autoritären Bewegungen, Organisationen und Regimen geführten Konflikte zielen demnach nicht auf Verständigung oder Verhandlungen ab. Es geht um "[...] Entscheidungen zugunsten einer rigiden Machtdurchsetzung und Machtsicherung mit möglichst umfassender Verhaltenskontrolle in allen Lebensbereichen der Gesellschaft und den Institutionen des politischen Systems" (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 37).Gesellschaftliche Entwicklungen sind von immer höherer Komplexität und Ambivalenz geprägt. Ebenso nimmt ihre Unübersichtlichkeit zu und sie verändern sich mit zunehmender Geschwindigkeit. In diesem Zuge stehen politische Akteur:innen vor der Herausforderung, ihre Ambitionen und Machtansprüche für die jeweilige Wähler:innenschaft passend aufzubereiten. Hierzu gehört das Anbieten von Welt- und Gesellschaftsbildern, die Unübersichtlichkeit strukturieren, Entschleunigung versprechen und Komplexität reduzieren. Aus diesen Gründen werden von gemäßigten und extremen rechten Bewegungen und Parteien solche Dichotomien verwendet, die das Ordnen der eigenen Gefühlslagen, Erfahrungen und der eigenen Weltsichten erleichtern. 2.3 Populismus und RechtspopulismusPopulismus sieht Heitmeyer als Stil der Mobilisierung, der übergehen kann in eine "machiavellistische Strategie zur Erlangung oder Verteidigung der Macht" und auf marginalisierte Gruppen abzielt. Hinzu kommt häufig eine populistisch etikettierte Rhetorik und schlichte, aber einflussreiche Weltdeutungen, die dazu dienen, Ressentiments zu aktivieren, um eine imaginäre, kollektive Identität zu beschwören. Dies ganz im Sinne eines authentischen Volkes oder "der Nation" gegen Elit:innen, gegen "das System", Minderheiten oder die "Lügenpresse" (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 24).Nach Heitmeyer hat sich eine allgemein akzeptierte Definition von Populismus etabliert, wonach eine Bewegung dann als populistisch charakterisiert werden kann, "[...] wenn ihr die Unterscheidung zwischen dem "wahren" Volk einerseits und den ausbeuterischen, dekadenten, volksverräterischen Eliten andererseits zugrunde liegt" (Heitmeyer, 2018, S. 231). Heitmeyer verwendet mittlerweile meist den Begriff autoritär anstelle von populistisch, im Folgenden wird ebenfalls diese Bezeichnung verwendet.Beim Rechtspopulismus prangert Heitmeyer eine "inflationäre Verwendung" ohne wirkliche Trennschärfe an, der keine einheitliche Definition hat, oftmals jedoch als Form des Autoritarismus mit "dünner Ideologie" und als Vergangenheitsorientierung beschrieben wird (Heitmeyer, 2018, S. 231). Im Allgemeinen bezeichnet er den Rechtspopulismus als eine Ergänzung des populistischen Grundprinzips "Volk gegen Elite" um eine nationalistische Rhetorik (Heitmeyer, 2018, S. 232).Zur These der "dünnen Ideologie" führt Heitmeyer an, dass sich populistische bzw. autoritäre Bestrebungen nicht nur durch ihren Politikstil und einer auf Machterwerb zielenden Strategie auszeichnen, sondern durch ein "Set von Ideen" und einem spezifischen Politik- und Demokratieverständnis, also ein Muster zur Deutung der gesellschaftlichen Wirklichkeit anbieten, das sich nicht nur auf Kritik an Elit:innen und demokratischer Repräsentation beschränkt."Mit der ideologischen Kombination und politischen Handlungsagenda von Antielitismus und Antipluralismus, einer Kultur der unmittelbaren Kommunikation, einem xenophoben Nationalismus und dem Phantasma imaginärer Gemeinschaftlichkeit entfernt sich die Beschreibung des Populismus weit von demokratischen grass roots und nimmt die Deutungsangebote aus dem Lager des Autoritarismus an" (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 25). 2.4 Autoritärer NationalradikalismusDer Einheitsbegriff des Rechtspopulismus als "catch-all-term" wird nach Heitmeyer der sperrigen Realität nicht gerecht und hat viele alternative Benennungen verkümmern lassen. Zudem werden mit Nutzen dieses Begriffes durch Wissenschaft, Politik und Medien Vernebelungstaktiken der politischen Akteur:innen und Bewegungen bedient, da nicht die genauen ideologischen Komponenten ihrer jeweiligen Programme benannt werden. Das Abbilden der vielfältigen Realität muss auch begrifflich differenziert abgebildet werden, was notwendig ist, um "Gegengifte" zu entwickeln. Daher müssen die Begriffe "sperrig und unpoliert" sein (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 105).Der autoritäre Nationalradikalismus bewegt sich zwischen dem Rechtspopulismus und dem gewalttätigen Rechtsextremismus bzw. Neonazismus. Anzumerken ist, dass es sich nicht um eine faschistische Gesinnung handelt, da der italienische Faschismus nicht mit dem Nationalsozialismus identisch ist, in dem der Antisemitismus zentral ist (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 106). Der gewalttätige Rechtsextremismus schreckt viele Wähler:innen oder Sympathisant:innen ab, da er in öffentlichen Räumen situativen Schrecken verbreiten will.Im Gegensatz dazu weist der Rechtspopulismus eine "flache" Ideologie auf und ist mit der dramatisierten Konfliktlinie Volk vs. Elite auf kurzzeitige Erregungszustände ausgerichtet, die über klassische Massenmedien und die sozialen Medien verbreitet werden sollen, wie Abbildung 2 anschaulich darstellt (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 106). Der autoritäre Nationalradikalismus hingegen zielt auf die destabilisierende Veränderung gesellschaftlicher und politischer Institutionen. Zudem bedient er sich dichotomischer Welt- und Gesellschaftsbilder, um destabilisierende Veränderungen erreichen zu können. Abbildung 2: Die Erfolgsspur des autoritären Nationalradikalismus (Quelle: eigene Darstellung nach Heitmeyer, 2018, S. 236; Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 107)Drei markante Charakteristika des autoritären Nationalradikalismus werden in der Sozialforschung hervorgehoben. Diese werden im folgenden erklärt und in Kapitel 6 auf die AfD bezogen:Das Autoritäre zeigt sich in der Betonung einer hierarchischen sozialen Ordnung, in Forderungen nach rigider Führung politischer Institutionen und in einem fundamentalistischen Verständnis des Agierens und Opponierens auf politischer Ebene ohne Kompromisse. Politik und Gesellschaft sollen also entsprechend einem Kontrollparadigma organisiert werden. Dichotomische Gesellschaftsbilder sind maßgebend und operieren als Grundlage für kämpferisch initiierte "Entweder-oder-Konflikte" (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 105).Die Betonung der besonderen Stellung des deutschen Volkes bildet das Nationale des autoritären Nationalradikalismus. Formulierungen und Parolen wie "Deutschland den Deutschen" oder "Deutschland zuerst" unterstreichen eine Überlegenheit gegenüber anderen Völkern, Nationen, ethnischen und religiösen Gruppen und eine neue, "deutsche" Vergangenheitsdeutung wird reklamiert (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 105 f.).Das Radikale, vom ursprünglichen Wortsinn aus dem Lateinischen (radix = Wurzel) her bestimmt, richtet sich gegen die offene Gesellschaft und die liberale Demokratie, die trotz zahlreicher kritikwürdiger Defekte erst durch jahrzehntelange Entwicklungen und Freiheitskämpfe ermöglicht wurden. Ein rabiater und emotionalisierter Mobilisierungsstil wird dazu angewendet, der sich vor allem durch menschenfeindliche Grenzüberschreitungen auszeichnet (vgl. Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 106).Weiterhin ist auf acht Elemente hinzuweisen, die zum Instrumentarium des organisierten autoritären Nationalradikalismus zählen:""Deutsch-Sein" als Schlüsselkategorie und sicherheitsspendender Identitätsanker;Propagandierung dichotomer Weltbilder;Kontrollparadigma als Versprechen einer autoritären sozialen Ordnung;Emotionalisierung gesellschaftlicher Probleme als Kontrollverluste;eskalativer Mobilisierungsstil zur Wiederherstellung von Kontrolle;Forcierung sozialer Vergleichsprozesse zwecks Radikalisierung;Ausnutzen der "Gewaltmembran", um mit bestimmten Begriffen andernorts Gewalt freizusetzen und Legitimationen zu liefern;Konstruktion einer "Opferrolle", um Sympathisanten an sich zu binden und ein Recht auf "Notwehr" zu etablieren" (Heitmeyer, 2018, S. 213-276; Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 111).Diese Elemente sind deshalb wichtig zu nennen, da sie als Grundlage für drei wichtige Ziele dienen, die autoritär nationalradikale Parteien verfolgen:Das Besetzen vakanter politischer Themenräume, die von etablierten Parteien in der Vergangenheit übersehen wurden,das Verschieben des Sagbaren, wobei Heitmeyer auf die Theorie des "Overton-Windows" hinweist, sowie drittensdie Normalisierung von Positionen und dadurch die Schaffung neuer Normalitätsstandards (vgl. Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 111 f.).Der autoritäre Nationalradikalismus wird ab Kapitel 5 ausführlich in Bezug auf die Partei "Alternative für Deutschland" dargestellt, die den Kern des autoritären Nationalradikalismus in Deutschland bildet. 2.5 Rechtsautoritär und rechtsextremDen Bezug von Autoritärem zu Rechtsautoritärem und Rechtsextremem begründen Frankenberg & Heitmeyer damit, dass "für die Übersetzung des Autoritären in die aktuellen gesellschaftlichen und politischen Zustände und Entwicklung [...] eine Fokussierung auf das rechtsautoritäre und rechtsextreme Spektrum angebracht" ist (2022, S. 40).In Ermangelung einer umfassenden Definition von Rechtsextremismus, die die Dimension der Gewalt beinhaltet, hat Heitmeyer ein eigenes Konzept vorgelegt (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 40). Dieses akzentuiert die "Kernverbindung" von Ideologie der Ungleichheit und Gewaltakzeptanz. Die Ideologie der Ungleichheit enthält zwei zentrale Dimensionen, wobei die erste gruppenbezogen auf Ungleichwertigkeit ausgerichtet ist und sich später als "gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" ausgeprägt hat:"Sie zeigt sich in Facetten wie nationalistische bzw. völkische Selbstübersteigerung; rassistische Einordnung; soziobiologische Behauptung von natürlichen Hierarchien; sozialdarwinistische Betonung des Rechts des Stärkeren; totalitäre Normverständnisse im Hinblick auf Abwertung des "Anders-Sein" und die Betonung von kultureller Homogenität gegen Heterogenität" (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 40 f.).Diese erste Dimension lässt sich als Vorlage für die späteren Studien "Deutsche Zustände" von Wilhelm Heitmeyer verstehen. Die zweite Dimension der Ideologie der Ungleichheit hat sich als lebenslagenbezogen erwiesen und verweist auf Ausgrenzungsforderungen in Form von kultureller, politischer, rechtlicher, ökonomischer sowie sozialer Ungleichbehandlung von Fremden bzw. "Anderen".Die Gewaltakzeptanz haben Frankenberg & Heitmeyer in vier ansteigend eskalierende "Varianten der Überzeugung unabänderlicher Existenz von Gewalt" kategorisiert, hinter denen die Grundannahme steht, dass Gewalt als "normale Aktionsform zur Regelung von Konflikten" und demnach als legitim angesehen würde (2022, S. 41). Insofern überrascht die Tatsache nicht, dass etwa rationale Diskurse oder demokratische Regelungsformen von sozialen und politischen Konflikten abgelehnt und autoritäre oder gar militaristische Umgangsformen und Stile betont werden (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 41).Die politikwissenschaftliche Forschung zum Rechtsextremismus sieht Heitmeyer fixiert auf politische Symbole, historisch-politische Bezugnahmen, Parteiprogramme und Wahlerfolge. Jedoch reicht dieser Fokus nicht aus, um den Aufschwung rechter und rechtsextremer Kräfte in der Gesellschaft zu erklären – weshalb der "[..] Blick auf die Zusammenhänge zwischen ökonomischen, sozialen und politischen Strukturentwicklungen, den individuellen und kollektiven Verarbeitungen und den politischen Handlungskonsequenzen, wenn ein entsprechendes Handlungsangebot vorhanden ist", geweitet werden muss (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 41).Dies beschreibt das "Analyseschema" (siehe Abbildung 5) im folgenden Kapitel. Fürderhin sollen nicht einzelne Aspekte oder Ereignisse parzelliert betrachtet werden, sondern mittels des "konzentrischen Eskalationskontinuums" die "rechten Bedrohungsallianzen", die bis in die Mitte der Gesellschaft hineinreichen, sichtbar werden. Hierzu hat Heitmeyer 2018 ein weiteres Untersuchungsmodell entwickelt (siehe Abbildung 3). Die beiden Schemata werden folgend beschrieben. Vorangestellt finden sich die zentralen Ausgangspunkte und Thesen von Wilhelm Heitmeyer, auf denen die Schemata beruhen. 3. Heitmeyers Arbeiten: Zentrale Thesen und SchemataWilhelm Heitmeyers Studien knüpften ursprünglich an die mittlerweile vielzitierte Prognose Ralf Dahrendorfs aus 1997 an, dass wir uns "an der Schwelle zum autoritären Jahrhundert" befinden würden, da vieles auf solch eine Entwicklung hindeuten würde (Dahrendorf, 1997; Heitmeyer, 2022 b, S. 256). Dahrendorf wies vor über 25 Jahren auf das verhängnisvolle Zusammenwirken von Ökonomie, politischer Partizipation und sozialer Integration bzw. Desintegration hin und deutete dieses Spannungsverhältnis als eine "Quadratur des Kreises". Heitmeyer fragt in diesem Zusammenhang, "zu wessen Lasten diese Spannungen gehen würden" und "[...] wie sich unter dem Druck der kapitalistischen Kontrollgewinne die individuellen, kollektiven und institutionellen Kontrollverluste auswirken würden" (Heitmeyer, 2022 b, S. 256).Insbesondere die Langzeitstudie "Deutsche Zustände" zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit hat ergiebiges Daten- und Analysematerial erbracht, welches Heitmeyer in seinen Arbeiten verwendet (Heitmeyer, 2018, S. 28). Das Projekt mit seinen jährlichen repräsentativen Bevölkerungsbefragungen dient dazu, Langzeitverläufe sichtbar zu machen und eignet sich, um das Aufkommen und Erstarken der autoritär nationalradikalen AfD zu beleuchten.Heitmeyer konnte mit Hilfe der Resultate empirisch Zusammenhänge in zwei Richtungen nachweisen: "für die Unterstützung autoritärer Bewegungen sowie Parteien und gegen verschiedene Gruppen in der Gesellschaft (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 55). Je deutlicher man autoritäre Überzeugungen vertritt, desto eher stimme man fremdenfeindlichen und rassistischen Äußerungen zu, abgeschwächt auch Äußerungen zu Antisemitismus, Heterophobie und klassischem Sexismus sowie der These von Etabliertenvorrechten, also sozialer Dominanz in einem Hierarchiengefüge.So kam Heitmeyer auf das oben erwähnte und seither vielzitierte Fünftel der Bevölkerung (19,6%), das Einstellungen zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit hegt und als "Machtmaterial" für autoritäre Bewegungen, Parteien und Regime zur Etablierung und Sicherung von autoritären gesellschaftlichen und politischen Machtstrukturen dienen kann (Schaefer, Mansel & Heitmeyer, 2002, S. 125 f.; Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 56). 2001 formulierte Wilhelm Heitmeyer seinen Ausgangspunkt wie folgt:"Die zu verfolgende These geht davon aus, daß [sic] sich ein autoritärer Kapitalismus herausbildet, der vielfältige Kontrollverluste erzeugt, die auch zu Demokratieentleerungen beitragen, so daß neue autoritäre Versuchungen durch staatliche Kontroll- und Repressionspolitik wie auch rabiater Rechtspopulismus befördert werden" (Heitmeyer, 2001, S. 500).Der sogenannte "autoritäre Kapitalismus" entstand durch eine neoliberale Politik rund um die Jahrtausendwende. Weitreichende ökonomische Kontrollgewinne in einerseits gesellschaftlichen Lebensbereichen über soziale Standards von Verdiensten und soziale Absicherung sowie andererseits über Standortentscheidungen waren zu verzeichnen, ergo übergriffig eindringende Prozesse, sodass nun mehr ökonomische Dominanz als Quelle für Kontrolllosigkeit sowie für Anomie gilt.Diese weitreichenden Kontrollgewinne des Kapitals wurden begleitet von ebenso weitreichenden politischen Kontrollverlusten nationalstaatlicher Politik, verbunden mit sozialen Desintegrationsprozessen von Teilen der Bevölkerung. Diese Auswirkungen blieben auf politischer Ebene allerdings solange wahlpolitisch folgenlos, bis ein entsprechendes politisches Angebot auf den Plan trat. In Deutschland erschien dieses Angebot in Form des autoritären Nationalradikalismus der AfD, besonders anschaulich im Jahr 2015 durch die politisch-kulturelle Krise der Flüchtlingsbewegungen und die Spaltung der AfD auf Bundesebene (Heitmeyer, 2022 a, S. 301; Heitmeyer, 2022 b, S. 261).2018 schreibt Heitmeyer, dass sich dies tatsächlich so ereignet hat und sich empirisch nachweisen lässt: "Ein zunehmend autoritärer Kapitalismus verstärkt soziale Desintegrationsprozesse in westlichen Gesellschaften, erzeugt zerstörerischen Druck auf liberale Demokratien und befördert autoritäre Bewegungen, Parteien und Regime" (Heitmeyer, 2018, S. 23). Nachfolgend werden das Modell des konzentrischen Eskalationskontinuums und das Untersuchungsschema beschrieben. 3.1 Konzentrisches EskalationskontinuumMit dem Schema des konzentrischen Eskalationskontinuums soll dargestellt werden, wie autoritäre Eliten auf Legitimation und Partizipation – unter anderem durch die Bürger:innen - angewiesen sind, zumindest so lange, wie sie ein "formales Demokratiesystem westlicher Prägung" aufrecht erhalten wollen oder auch durch soziale, politische und ökonomische Gegenkräfte dazu genötigt werden.Heitmeyer rückt somit die "[...] Entstehung von Eskalationsdynamiken ins Blickfeld, mit denen die zustimmende oder schweigend duldende Beteiligung von erheblichen Teilen der Bevölkerung zu erfassen ist" (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 43). Das konzentrische Eskalationskontinuum dient dazu, die Wucht rechter Bedrohungsallianzen herauszukristallisieren und soll helfen, Gewalt, Gewaltstadien und deren Ursachen besser verstehen zu können.Betrachtet werden Einstellungen und Verhaltensweisen einzelner unverbunden nebeneinander lebender Personen sowie formelle Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Vereinigungen. Dem Eskalationsmodell zugrunde liegt das Milieukonzept. Heute sind nicht mehr zwingend physische Kontakte notwendig, da Milieubildung auch im virtuellen Raum stattfindet. Heitmeyer weist darauf hin, dass in diesem Zusammenhang durch ein entstehendes "Wir"-Gefühl gleichzeitig eine abwertende, diskriminierende und ausgrenzende "Die"-Kategorie mitgeliefert wird.Das Schema stellt im "Zwiebelmodell" fünf Stufen dar, die als Einstellungsmuster der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in Teilen der Bevölkerung zu verstehen sind, die wiederum autoritären Versuchungen nachgeben und somit den Autoritären Nationalradikalismus der AfD in Deutschland, aber auch Fidesz in Ungarn oder der FPÖ in Österreich begünstigen (Heitmeyer, 2022, S. 43). Die jeweiligen eskalierenden Akteur:innengruppen in den Schalen des Modells werden kleiner, während die Gewaltorientierung im Inneren des Modells zunimmt.Als Kernmechanismus und verbindendes Element der Schalen zueinander werden die verschiedenen Legitimationsbrücken genannt. Fürderhin darf nicht unerwähnt bleiben, dass die Ideologie der Ungleichwertigkeit der kleinste gemeinsame Nenner aller Schichten des Eskalationskontinuums ist. Sie dient als Legitimationsfundus für personen- wie gruppenbezogene Diskriminierung, Ausgrenzung und Gewalt (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 20). Abbildung 3: Konzentrisches Eskalationskontinuum (Quelle: eigene Darstellung nach Heitmeyer, 2018, S. 356; Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 59) Nachfolgend werden die Schichten im Spektrum von rechtem Denken bis zum terroristischen Handeln kurz erläutert: Die äußerste Schicht repräsentiert die gesamte Bevölkerung, in der in unterschiedlichem Ausmaß Einstellungen vertreten werden, je nach gesellschaftlicher Debatte, die der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit zugeordnet werden können. Diese Einstellungen in der Bevölkerung stellen individuelle Positionierungen dar, die parteipolitisch gebunden, "freischwebend" sein oder auch zwischen Parteien "vagabundieren" können. Diejenigen Teile der Bevölkerung mit menschenfeindlichen Einstellungen sympathisieren zwar maßgeblich mit der AfD, sind an sie jedoch nicht zwangsläufig gebunden und können auch andere Parteien präferieren und wählen (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 60).Das Milieu des autoritären Nationalradikalismus, insbesondere der AfD, das an diese erste Schicht anschließt, präsentiert und propagiert entsprechende Ausgrenzungsstrategien und konstruierte Feindbilder. Die AfD "saugt" die jeweiligen individuellen Einstellungen in der Bevölkerung auf und verdichtet sie zu kollektiven Aussagen, die sie dann wiederum auf die politische Agenda setzt. Sie konzentriert also potenzielle menschenfeindliche Einstellungen in der Bevölkerung, die bereits im Vorfeld durch andere Bewegungen, wie beispielsweise Pegida, verdichtet wurden und bildet für sie den parlamentarischen Arm.Ein weiteres Kennzeichen dieses Milieus ist eine gewisse ideologische Heterogenität, da die Einstellungen von "[...] rechtskonservativen bis hin zu "Übergangspositionen" in das systemfeindliche Milieu des völkischen "Flügels" der AfD" reichen" (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 62). Zudem bemüht sich die AfD um den Anstrich einer "bürgerlichen" Partei, um anschlussfähig an die Mitte der Gesellschaft zu sein.Im systemfeindlichen Milieu ist man parteipolitisch eindeutig im rechtsextremen Milieu verortet, Bezug genommen wird etwa auf die NPD, was auch für die extremistisch-modernistische Identitäre Bewegung gilt. Gemeint sind also rechtsextremistische Bewegungen und neonazistische Kameradschaften, die sich an einschlägigen historischen Vorbildern orientieren. Die gemeinsame Grundlage stellt die Ideologie der Ungleichwertigkeit dar. In diesem Milieu sind bereits Gewaltattitüden verbreitet, Gewalt wird akzeptiert und zur Ausübung ist man situativ bereit (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 62). Jedoch lässt man sich in Form von Parteien durchaus darauf ein, vorübergehend am demokratischen System teilzunehmen.An staatliche Vorgaben passt man sich nur aus strategischen Überlegungen an, indem beispielsweise Demonstrationen angemeldet werden; zugleich ist "Systemüberwindung" das zentrale Ziel: "In der "Parteifantasie" arbeitet man auf den "Volksaufstand" hin, mit dem die Vergangenheit wiederhergestellt werden soll. Es ist ein offener und weitgehend öffentlicher Kampf gegen das verhasste System" (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 64).Diese wenn auch nur vorübergehende Teilnahme am demokratischen System gilt als wesentlicher Unterschied zur vorletzten Schicht, dem klandestinen terroristischen Planungs- und Unterstützungsmilieu. Es schließt jegliche Teilnahme am demokratischen System aus und fasst jede partielle und temporäre Teilnahme als Verrat an der Bewegung auf (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 64). Dieses Milieu gilt als noch radikaler und agiert im Geheimen, oft mit eindeutiger Gewaltoption oder Gewalttätigkeit. Ziel ist der "Umsturz", wenn nötig mit Waffengewalt, weshalb dieser verdeckte Kampf auch aus dem Untergrund unterstützt wird – hier weist Heitmeyer auf die hohe Zahl untergetauchter rechtsextremistischer Straftäter:innen als aufschlussreiches Indiz hin (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 64).Den Kern der "Zwiebel" stellen terroristische Zellen oder Einzeltäter:innen dar. Den Unterschied zur vorherigen Eskalationsstufe stellt das alleinige Merkmal des "Grad(s) der Klandestinität und Vernichtungsrealisierung" dar: "Die einen führen zum Schein noch ein "normales" Alltagsleben, die anderen eine Existenz im Untergrund. Sie beschaffen Waffen, erstellen Todeslisten und bereiten sich auf den Tag X vor. Die einen planen die Vernichtungstaten, die anderen setzen sie um" (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 64).Die fünf Schichten des konzentrischen Eskalationskontinuums werden durch sogenannte "Legitimationsbrücken" zusammengehalten. Diese können dann entstehen, wenn es für gesellschaftliche Entwicklungen keine Lösungen zu geben scheint. Die Entwicklungen werden als Bedrohungen empfunden, für die die "Anderen", beispielsweise Geflüchtete oder Menschen mit anderen Lebensstilen, oder "die da oben", ergo der Staat als Ganzes, demokratische Institutionen oder demokratisch gewählte Entscheidungsträger:innen, verantwortlich gemacht werden. Diese kollektiven Schuldzuweisungen aus Teilen der Bevölkerung können sich dann in gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit übersetzen.Zum anderen können sich die Legitimationen aus Verschwörungsideologien, aus Anleihen bei gesellschaftlichen Ordnungen oder historischen ideologischen Konzepten, wie dem Regime des Nationalsozialismus, dessen Ordnung wiederhergestellt werden soll, ergeben. Diese beispielhaft aufgezeigten Legitimationsquellen werden dann im Eskalationskontinuum von den äußeren Schichten weiter nach innen "transportiert (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 65). Heitmeyer hat vier solcher Legitimationsbrücken jeweils zwischen den Stufen bestimmt, wie die folgende Abbildung zeigt:Abbildung 4: Legitimationsbrücken im Eskalationskontinuum (Quelle: eigene Darstellung nach Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 67)1. Das Einstellungsmuster gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in Teilen der Bevölkerung stellt den Ausgangspunkt dar. Es dient dem autoritären Nationalradikalismus der AfD als Legitimation, entsprechende Feindbilder aufzubauen und zuzuspitzen. Wichtig anzumerken ist, dass auch Menschen mit diesen Einstellungen, die nicht die AfD wählen oder mit ihr sympathisieren, zu diesem Legitimationsfundus beitragen. Sie bestimmen das gesellschaftliche Klima mit, aus dem die AfD ihre politische Legitimation "saugt" (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 66 f.).2. Führende Vertreter:innen des autoritären Nationalradikalismus der AfD machen von einer "Gewaltmembran" Gebrauch, was bedeutet, dass eine aggressive Rhetorik die trennende Membran zur nächsten Stufe in gewissen Fällen durchdringen kann und den Weg freilegt für autoritär nationalradikale Bewegungen mit weiteren Aufheizungen – psychische Gewaltandrohungen können von gewalttätigen Akteur:innen in physische Gewalt umgesetzt werden, "[...] ohne dass diese Gewalt den sprachlichen Urhebern und Legitimationsbeschaffern direkt zuzurechnen wäre" (Heitmeyer, 2018, S. 271). Durch diese Gewaltmembran werden dem systemfeindlichen Milieu Motive für entsprechende Gewalt geliefert. Zur aggressiven Rhetorik zählen beispielsweise Erzählungen von einem "Bevölkerungsaustausch", Parolen wie "Corona-Diktatur" oder das Beschwören von Untergangsszenarien von Führungskräften der AfD. Auch das Propagieren einer Reinterpretation der deutschen Geschichte insbesondere seitens des völkischen "Flügels" der AfD durch Begriffe wie "Umvolkung" bringt die Gewaltmembran zum Schwingen. Diese Rhetoriken und Untergangsfantasien erzeugen Handlungsdruck (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 67 f.).3. Das systemfeindliche Milieu ist geprägt von verschiedenen Akteur:innen, die sich auf der Schwelle zur Legitimation offener Gewalt gegen Vertreter:innen des Staates und gegen Minderheiten bewegen. Heitmeyer führt als Beispiel die Partei "Die Rechte" an, die den klandestinen terroristischen Planungsmilieus Motivation und Legitimation liefert (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 68).4. Im letzten Schritt stehen die klandestinen Planungsmilieus. Diese errichten im Gegensatz zu den vorherigen Eskalationsstufen keine zusätzlichen ideologischen Legitimationsbrücken. Ihr Ziel sind die "Brücken zur Tat" und das Abschirmen terroristischer Akteur:innen gegen staatliche Verfolgung (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 68).Hieraus resultiert die Schlussfolgerung, dass über verschiedene, eskalierende Stufen jene Teile der Bevölkerung, die explizite autoritäre Einstellungen oder Einstellungen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit aufweisen, an politischer Gewalt beteiligt sind; nicht zwangsläufig als Täter:innen im juristischen Sinne, aber als Gehilf:innen und Legitimationshelfer:innen, wie das konzentrische Eskalationskontinuum anschaulich darstellt (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 43). Das Modell des konzentrischen Eskalationskontinuums wird in Kapitel 6 in Bezug auf das Auftreten der AfD näher erläutert und an Beispielen untersucht.3.2 Analyseschema2018 hat Heitmeyer ein weiteres Analyseschema eingeführt. Ausgangspunkt für dieses soziologische Analysekonzept ist die Thematik, dass allein das Vorhandensein von autoritären Versuchungen in Teilen der Bevölkerung nicht ausreicht, um die entsprechenden Inhalte dann auch umgesetzt zu sehen. Hierzu ist es notwendig, dass diese Einstellungen in der Bevölkerung zusammen mit autoritären politischen Angeboten wirken. Insofern, formuliert Heitmeyer, "[...] wäre es zu kurz gegriffen, die Entstehung von autoritären Versuchungen nur aus Fehlentwicklungen des politischen Systems erklären zu wollen" (2018, S. 21).Die erste Ebene des Analyseschemas bildet Interdependenzen zwischen dem ökonomischen, sozialen und politischen Bereich ab. Diese sind als strukturelle Entwicklungen gekennzeichnet. Die unter "individuelle Verarbeitung" genannten Punkte sind von großer Bedeutung. Zentral ist hier, wie diese Erfahrungen bzw. Wahrnehmungen der ersten Ebene seitens der Bevölkerung subjektiv und individuell verarbeitet werden. Die individuellen Verarbeitungsmechanismen werden nach der Konzeption von Heitmeyer durch die "gesellschaftliche Integrations- und Desintegrationsdynamik" geprägt. Hierfür sind die folgenden Faktoren und Fragen von besonderer Bedeutung:"Sicherheit oder Unsicherheit der materiellen Reproduktion, der Anerkennung, des Statusaufstiegs, der Statussicherung bzw. des Statusabstieges, und ein Gefühl der Kontrolle über die eigene Biografie.Wird die eigene Stimme bzw. die Stimme der sozialen, ethnischen oder religiösen Gruppe, der Personen sich zugehörig fühlen, von den Regierenden wahrgenommen oder vielmehr ignoriert?Verlässlichkeit oder Erosion sozialer Beziehungen und Anerkennung der eigenen Identität bzw. der Identität der eigenen Gruppe durch Dritte, um emotionale Zugehörigkeit zu sichern" (Heitmeyer, 2018, S. 22).Zentral in Heitmeyers Analyse sind der Kontrollverluste und die Defizite in der Wahrnehmung sowie der subjektive Begriff der Anerkennung. Diese Verarbeitungen haben Auswirkungen auf die Integrations- und Desintegrationsprozesse bzw. auf Anerkennungsverhältnisse, aus welchen im letzten Schritt politische Konsequenzen, also politische Handlungsfolgen, resultieren.Essenziell ist an dieser Stelle die Tatsache, dass die individuellen Verarbeitungen auch als Grund dafür angeführt werden können, weshalb nicht alle Teile der Bevölkerung, die unter einer Art von Desintegrationsdynamik leiden, zwangsläufig für autoritäre Versuchungen anfällig sind und sich wahlpolitisch entsprechend verhalten. Von einer Krisenfolge betroffen zu sein, hat also nicht zwangsläufig das Annehmen eines autoritär nationalradikalen Angebots zur Folge (Heitmeyer, 2022 b, S. 269).Auch die autoritären Bewegungen, Parteien und Regime weisen autoritäre Versuchungen auf, die zu entsprechenden Einstellungen und Entscheidungen führen, die das gesellschaftliche Zusammenleben beeinflussen, da sie Bezug auf die ökonomischen, sozialen und politischen Systeme nehmen (Heitmeyer, 2018, S. 21 f.). Dieses Schema wurde von Heitmeyer mit diversen theoretischen Ansätzen angelegt und ausgefüllt mit empirischen Daten (Heitmeyer, 2022 b, S. 252).Das Theoriegeflecht aus mehreren sich ergänzenden disziplinären Zugängen besteht aus der Theorie Sozialer Desintegration von Anhut & Heitmeyer, der Konflikttheorie von Hirschman, der Theorie kapitalistischer Landnahme von Dörre, der Anomietheorie von Thome und dem kontrolltheoretischen Ansatz aus der Sozialpsychologie von Frey & Jonas. Die für das Analysekonzept wichtigsten Charakteristiken dieser Theorien werden in Heitmeyer 2018 und 2022 b ausführlich erklärt. Die genauere Betrachtung dieser Theorien würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen, weshalb darauf an dieser Stelle verzichtet wird.Abbildung 5: Analyseschema (Quelle: eigene Darstellung nach Heitmeyer, 2018, S. 21)Erfolge rechter Parteien und Bewegungen wären demnach nicht möglich gewesen ohne bestimmte Entwicklungen im sozialen System der Gesellschaft, im politischen System der Demokratie und im ökonomischen System des globalisierten Kapitalismus (Heitmeyer, 2018, S. 16). Durch das vorliegende Analyseschema soll verdeutlicht werden, wie autoritärer Kapitalismus in Zusammenwirken mit sozialen Desintegrationsprozessen und politischer Demokratieentleerung als "Ursachenmuster für die Realisierung autoritärer Sehnsüchte" fungiert (Heitmeyer, 2018, S. 16 f.).Demokratieentleerung meint, dass ein Teil der Bevölkerung das Gefühl hat, nicht mehr wahrgenommen zu werden und gleichzeitig das Vertrauen schwindet, dass die herrschende Politik bzw. die Regierung willens und fähig ist, soziale Ungleichheit zu bekämpfen. Dies mündet bei Teilen der Bevölkerung in ein Gefühl, Bürger:innen zweiter Klasse zu sein (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 48). Heitmeyer hat 2022 das Analyseschema ergänzt; die Komponenten Krisen und Kontrollverluste wurden entsprechend ausdifferenziert (siehe Abbildung 6). Im Folgenden werden Krisen und Kontrollverluste als besondere Treiber autoritärer Entwicklungen und die dahingehende Erweiterung des Analyseschemas beleuchtet.4. Krisen und Kontrollverluste als Treiber autoritärer EntwicklungenEine Krise wird von Frankenberg & Heitmeyer durch drei Charakteristika definiert. Die bisherigen sozialen, ökonomischen und politischen Routinen zur Bewältigung von Ereignissen greifen nicht mehr und die bis dato vorhandenen Wissensbestände zur Problemlösung reichen nicht aus. Zusätzlich sind die Zustände, wie sie vor diesen Ereignissen herrschten, nicht wieder herstellbar. Darüber hinaus konkurrieren in solch krisenhaften Situationen verschiedene Möglichkeiten zu ihrer Bewältigung, was wiederum anomische Verhaltensunsicherheiten erzeugt (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 45).Die Kombination der drei Kriterien legt nahe, dass "Situationen mit notstandsähnlichem Zuschnitt" mit der Erfahrung von Kontrollverlusten verflochten sind (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 45; Heitmeyer, 2023, S. 253). Insofern verwundert die Tatsache nicht, wenn die These vertreten wird, dass krisenhaft zugespitzte Entwicklungen und Ereignisse nicht allein, jedoch in besonderem Maße als Treiber und Pfade des Autoritären sowie rechtsextremer Aktivitäten zählen (Heitmeyer, 2022 b, S. 251).Von autoritären Regimen wird in Krisen oder notstandsähnlichen Situationen erwartet, dass sie Sicherheit und die Wiedergewinnung der Kontrolle gewährleisten können (2022, S. 44 f.). Zudem werden die Ereignisse von der Bevölkerung individuell je nach Betroffenheit und auch Resilienz unterschiedlich bearbeitet. Diese Verarbeitung wiederum wird unterschiedlich intensiv und nachhaltig in individuelle Befürchtungen sowie kollektive Ängste übertragen. Somit dienen sie dazu, Vorstellungen von Entsicherungen und Kontrollverlusten zu erzeugen, die sich identifizieren lassen als Treiber autoritärer Bestrebungen (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 45 f.).Eine weitere wichtige Unterscheidung in der Konzeption von Krise ist die Unterteilung in zwei Typen von Krise. Der erste Typus, sektorale Krisen, erfasst unterschiedliche Lebensbereiche und Funktionssysteme einer Gesellschaft schlagartig und mit massiven "Funktionsstörungen". Dazu gehören ein zeitlich entzerrtes Auftreten sowie die Lokalisierung in unterschiedlichen Teilbereichen der Gesellschaft. Zudem gab es verschiedene Instrumente, um diese Funktionsstörungen einzudämmen und gravierendere Auswirkungen zu verhindern.In der "Post-9/11"-Ära, in den sogenannten "entsicherten Jahrzehnten" seit Beginn des 21. Jahrhunderts, werden nach Heitmeyer vor allem drei – mit 9/11 als religiös-politische Krise vier - verschärfte Gefahrenlagen als sektorale Krisen identifiziert. Dazu zählt ab 2005 die Einführung von Hartz IV als eine sektorale, soziale Krise für gewisse Teile der Bevölkerung, die mit Statusängsten oder auch mit sozialem Abstieg konfrontiert waren. Weiter ist ab 2008/2009 die weltweite Banken- und Finanzkrise zu nennen, die die "systemrelevante" Finanzökonomie ins Wanken brachte mit Ausstrahlungseffekten auf das Gesamtsystem als ökonomisch-politische Krise. Fürderhin wird die sogenannte "Flüchtlingskrise" 2015/2016 als sozial-kulturelle bzw. kulturell-politische Krise angesehen, die das politisch-administrative System prägte (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 46; Heitmeyer, 2022 b, S. 255).Der zweite Typus bezieht sich auf systemische Krisen. Sie erfassen das gesamte Gesellschaftssystem in sich zuspitzenden Gefahrenlagen. Als langsame bzw. schleichende systemische Krise kann die Klimakrise angesehen werden, als "schnelle" systemische Krise die COVID-19 Pandemie. Hier werden die Potenziale für autoritäre Entwicklungen besonders offen sichtbar, da zahlreiche "Einhegungsinstrumente" nicht greifen, wodurch politische, individuell-biografische und kollektive Kontrollverluste auftreten, die politisch instrumentalisiert und mit Verschwörungstheorien und Wahnvorstellungen verbunden werden können (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 46 f.). Krisen lösen je nach Gefahrenlage individuelle und kollektive Befürchtungen aus, die sich in der Vorstellung einer "kollektiven Hilflosigkeit" verdichten können.In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach Krisenängsten, ob und wie sie zu Treibern autoritärer Entwicklungen werden können. Ängste, unabhängig davon, ob eingebildet oder realistisch, ob auf Wissen oder Unwissen beruhend, lassen sich schwerlich von einer politischen Klasse, von Unternehmen oder dem freien Markt abfangen. Je mehr sich Gefahrenlagen häufen und sich Wahrnehmungen von Kontrollverlusten sowie Unsicherheiten ausbreiten, fallen auch Rechtsprechung und Verfassung als Orientierungsmedien aus und auch Wissenschaften können diese nicht mit der Lieferung von Begleitgewissheit neutralisieren.In solchen Situationen "[...] mutieren selbst Realängste, die vor greifbaren, konkreten Gefahren warnen, zu frei flottierenden, allfälligen Befürchtungen, die jede Risikoeinschätzung verhindern und irrationale Rettungsbedürfnisse wecken" (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 53). Diese Situationen können dann von autoritären Bewegungen, Organisationen und Regimen ausgebeutet werden, indem zunächst Ängste geschürt und im zweiten Schritt die Anhänger:innen mit wahnhaften Rettungsphantasien "versorgt" werden. Alexander Gaulands Aussage, "Wir werden uns unser Land und unser Volk zurückholen", liefert ein entsprechendes prominentes Beispiel für das Versprechen, die Kontrolle wieder herzustellen (Reuters Staff, 2017; Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 53; Nickschas, 2023).Eine Annahme von Heitmeyer & Heyder lautet hier, dass die Faktoren der Standortlosigkeit und Kontrollverluste Autoritarismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit bestärken. Eine Variante zur Wiederherstellung von Stabilität stellt die Demonstration von Überlegenheit dar, die durch autoritäre Aggression ausgeübt werden kann. Um wirklich Überlegenheit demonstrieren zu können, muss diese möglichst risikoarm sein; dies ist dann gegeben, wenn besonders schwache, machtlose Gruppen als Gegner:innen ausgewählt werden (Heitmeyer & Heyder, 2002, S. 62). Empirisch stehen Abstiegsängste in einem signifikanten Zusammenhang mit einerseits Kontrollverlust-Situationen und andererseits der Abwertung schwacher Gruppen:"Wenn jemandem das eigene Leben außer Kontrolle gerät (oder zu geraten scheint), kann das Panik erzeugen. Zur Panikbekämpfung erfolgt dann eine Selbstaufwertung, die gleichzeitig die Abwertung von ungleichwertig markierten Gruppen bedeutet (Flüchtlinge, Migranten, Langzeitarbeitslose etc.)" (Heitmeyer, 2018, S. 109).Die individuellen Verarbeitungsmuster von Krisen und (gefühlten) Kontrollverlusten lassen sich durch entsprechende autoritäre Angebote von "rechtspopulistischen Mobilisierungsexperten" – mittels scharf konturierter Feindbilder und Kontrollversprechen - politisch aufladen und bedienen zur vermeintlichen "Wiederherstellung von Ordnung" (Heitmeyer, 2018, S. 106).2022 stützt Heitmeyer also die oben erwähnte These von Krisen als besondere Treiber autoritärer Entwicklungen und rechtsextremer Aktivitäten, indem er formuliert, dass der Blick auf Veränderungen in Richtung autoritärer Entwicklungen in gesellschaftlichen und politischen Verläufen geweitet werden soll, die unter verstärktem Einfluss zeitlich verdichteter Krisen stattfinden (Heitmeyer, 2022 b, S. 251). Das soziologische Analysekonzept von 2018 wird entsprechend angepasst um die zwei zentralen Eskalationstreiber Krisen und Kontrollverluste bzw. "Kontrollverluste als Krisenfolgen" (siehe Abbildung 6).Dies geht aus der Abbildung insofern deutlich hervor, als in die Strukturentwicklungen der ökonomischen, sozialen und politischen Dimension "[...] verschiedene Krisen mit unterschiedlichen Auswirkungen "hineingewirkt" und Einfluss genommen haben auf die individuellen psychologischen und sozialen Verarbeitungen, die wiederum mit Kontrollverlusten durchsetzt waren – immer auch je nach Krisenbetroffenheit" (Heitmeyer, 2022 b, S. 252 f.). Hierdurch entstanden durch das generelle Bedürfnis nach Realitätskontrolle Handlungsoptionen, die mehrfach variieren und auch autoritäre Versuchungen bzw. Gefahren beinhalten können.Abbildung 6: Analyseschema, erweitert und angepasst (Quelle: eigene Darstellung nach Heitmeyer, 2018, S. 21; Heitmeyer, 2022 b, S. 254)Fürderhin ist anzufügen, dass sich Kontrollverluste in Krisen verschiedenartig ausdrücken und sich Verhaltensmöglichkeiten zur Realitätskontrolle, also zur Lösung von Problemen, massiv verengen, insbesondere in systemischen Krisen. Individuelle Suchbewegungen setzen ein, um das grundlegende Bedürfnis nach Realitätskontrolle zu befriedigen. Diese Suchbewegungen schließen politische Suchbewegungen nach autoritären Akteur:innen mit ein, die die Wiederherstellung von Kontrolle durch Reduktion der Krisenkomplexität versprechen (Heitmeyer, 2022 b, S. 256).Krisen und Kontrollverluste treten daher als Treiber autoritärer politischer sowie gesellschaftlicher Entwicklungspfade in Erscheinung, da indes eine kritische Masse entstanden ist, die nicht mehr in der Lage ist, ihr zentrale Bedürfnis nach Realitätskontrolle im "bisher gewohnten Maße" zu realisieren. Genau das bieten autoritäre Akteur:innen im Gegensatz zur abnehmenden Kapazität liberaler Demokratien, geeignete Lösungen schnell zu finden und die Kontrolle wiederherzustellen (Heitmeyer, 2022 b, S. 257). Zudem ist diese versprochene Wiederherstellung keine Wiederherstellung des vorhergehenden Prä-Krisenzustandes, "[...] sondern eine autoritäre Veränderung von Kontrolle und damit auch veränderte ökonomische, soziale, kulturelle und politische Verhältnisse" (Heitmeyer, 2022 b, S. 257).Als Indiz sieht Heitmeyer zwei Mechanismen, die besonders hervorstechen: Einerseits die Ambivalenz, dass zahllose Widersprüche zunehmen, und andererseits die Ambiguität, dass zunehmende Komplexität von modernen Gesellschaften gepaart sind mit uneindeutigen Situationen und Zukünften. Ambivalenz- und Ambiguitätstoleranz kristallisieren sich also als unabdingbar heraus, um autoritären Versuchungen nicht nachzugeben."Denn wenn Sitationen [sic] oder auch die Anwesenheit von fremden Menschen als unberechenbar oder unkontrollierbar wahrgenommen werden, dann reagieren Personen, deren Ambiguitätstoleranz niedrig ist, mit vereinfachten Weltsichten oder Stereotypen, um wieder Ordnung, Struktur und Kontrolle zu erreichen" (Heitmeyer, 2018, S. 80).Hinzu tritt das Verschwimmen von gesellschaftlichen Koordinaten, die eigentlich als Vergewisserungen der jeweils eigenen Position in der Gesellschaft dienen, welches die Suchbewegungen nach politischen Akteur:innen aktiviert, die vorgeben, Widersprüche zu lösen, Unklarheiten in Klarheiten verwandeln und Kontrolle wiederherzustellen versprechen (Heitmeyer, 2018, S. 109 ff.; Heitmeyer, 2022 b, S. 258 f.).Hieraus könnte die Folgerung gezogen werden, dass das Potenzial von autoritären Versuchungen in der Moderne angelegt sei: "Ambivalenzen und Ambiguitäten als Grundparadigma der Moderne entfalten unter dem Druck von Krisen und damit verbundenen Kontrollverlusten eine neue Wucht, die ins Autoritäre drängt" (Heitmeyer, 2022 b, S. 259). Beispielsweise ist die erwähnte "Entweder-Oder" Logik im Vergleich zu "Mehr-oder-weniger" darauf angelegt, Ambivalenzen und Ambiguitäten zu beseitigen. "Das Autoritäre dient dann als Strategie zur Reduzierung von ökonomischer, sozialer und politischer Komplexität – und gleichzeitig von Freiheitsräumen" (Heitmeyer, 2022 b, S. 259).Heitmeyers Analysen zeigen, dass die Fähigkeiten zum Aushalten von Ambiguitäten und zum Umgang mit Ambivalenzen über zukünftige soziale, politische und ökonomische Entwicklungspfade in Teilen der Bevölkerung abnehmen. Dies ist passgenau für das Angebot vonseiten der autoritär-nationalradikalen Akteur:innen mit ihren dichotomischen Welt- und Gesellschaftsbildern (siehe Kapitel 2.2); das Angebot eignet sich hervorragend für mobilisierende Ideologien und rhetorische Eskalation (Heitmeyer, 2018, S. 246 f.).Erfolge rechter Parteien und Bewegungen wären demnach also nicht möglich gewesen ohne bestimmte Entwicklungen im sozialen System der Gesellschaft, im politischen System der Demokratie und im ökonomischen System des globalisierten Kapitalismus (Heitmeyer, 2018, S. 16). Konkreter ist es das Zusammenwirken eines autoritären Kapitalismus, sozialer Desintegrationsprozesse und politischer Demokratieentleerung als Ursachenmuster für die "Realisierung autoritärer Sehnsüchte" (Heitmeyer, 2018, S. 17).5. Die Partei "Alternative für Deutschland"Mit der inhaltlichen Neuausrichtung der vormals liberal-konservativen, eurokritischen Partei ab 2015 sowie mit dem immer weiter um sich greifenden Einfluss von rechtsextremistischen Akteur:innen innerhalb der AfD hält Heitmeyer es nicht mehr für angemessen, die AfD als rechtspopulistisch zu "verharmlosen", noch die Partei als vollständig rechtsextrem oder neonazistisch zu bezeichnen (Heitmeyer, 2022 a, S. 302; Heitmeyer, 2022 b, S. 265 f.; Heitmeyer & Piorkowski, 2023). Mit der herkömmlichen Typologie sei die AfD, als Typ einer neuen Partei, nicht zu beschreiben. Ebenso reichen die bisherigen Begriffe und Kategorien nicht aus, um "analytische Klarheit" über Zustand und Entwicklung der AfD zu gewinnen (Heitmeyer, 2018, S. 233).Seit dieser Neuausrichtung zieht die AfD Teile der Bevölkerung an, die unter den oben beschriebenen Krisen Kontrollverluste wahrnehmen oder empfinden und eine Wiedererlangung der Kontrolle forcieren. Das Autoritäre ist dann ein Weg zur Realitätskontrolle. Insofern lässt sich deutlich machen, dass die AfD nicht der Grund für die Entstehung von autoritären Versuchungen in der Bevölkerung ist. Diese autoritären Einstellungsmuster "schlummern" in Teilen der Bevölkerung bereits über einen längeren Zeitraum als Gefahrenpotenzial für die offene Gesellschaft (Heitmeyer, 2018, S. 113):"Ein Zwischenfazit zum Zusammenwirken von strukturellen Entsicherungen und individuellen Verunsicherungen zeigt, dass aufgrund der Krisen und ihrer Verarbeitungen, aufgrund von veränderten Lebensumständen und von Verschiebungen der gesellschaftlichen Koordinaten in entsicherten Zeiten bei Teilen der Bevölkerung ein erheblicher "Vorrat" an gruppenbezogen-menschenfeindlichen Einstellungen existiert, an die autoritäre politische Akteure bloß noch anzuknüpfen brauchten" (Heitmeyer, 2018, S. 117).Dies bedeutet, dass die Erfolgsvoraussetzungen des autoritären Nationalradikalismus der AfD eine längere Vorgeschichte haben, die in den letzten Jahrzehnten geformt und vorangetrieben wurden durch neue Entwicklungen des kapitalistischen Systems. Die Wähler:innen der AfD waren zuvor Wechselwähler:innen oder wählten gar nicht (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 115). Sie verharrten dann in "wutgetränkter Apathie", was folgenlos blieb für die Politik, da diese Teile der Bevölkerung keinen wahlpolitischen Ausdruck fanden.Dieser in der Bevölkerung existierende Autoritarismus, der laut Heitmeyer "[...] vagabundierte, mal auf diese, mal auf jene im Bundestag vertretene Partei setzte oder aber gar nicht offen zutage trat, sondern in der politischen Apathie verharrte [...]" (2018, S. 237), hat durch das Aufkommen der Partei "Alternative für Deutschland" und ihren autoritären Nationalradikalismus ein neues politisches "Ortsangebot" bekommen. Hinsichtlich des oben beschriebenen Zwischenfazits lässt sich konstatieren, dass es der AfD offensichtlich gelungen ist, "[...] Personen aus ihrer individuellen Ohnmacht herauszuholen und mit kollektiven Machtfantasien auszustatten. Dazu gehört es auch, gruppenbezogen-menschenfeindliche Einstellungen zu kanalisieren und gegen schwache Gruppen zu richten" (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 116).In diesen Prozessen ist die Ideologie der Ungleichwertig eingelagert und wird genutzt, um sich selbst aufzuwerten durch Abwertung und Ausgrenzung der vermeintlich "Anderen". Für die sogenannte "rohe Bürgerlichkeit" entstehen neue Anschlussmöglichkeiten. Unter diesem Begriff verbirgt sich keine soziale Klassenzugehörigkeit, sondern es handelt sich um eine verachtende Haltung gegenüber Schwächeren, geäußert in einer rabiaten Rhetorik und gepaart mit einer Ideologie, in der bestimmte Gruppen als ungleichwertig angesehen werden, während sich die eigentlichen autoritären Haltungen hinter einer dünnen Schicht zivilisiert-vornehmen, also bürgerlichen äußeren Umgangsformen, verbergen (Heitmeyer, 2018, S. 310; Heitmeyer, 2022 b, S. 273).6. Der autoritäre Nationalradikalismus der AfDSo folgert Heitmeyer, dass die AfD vorrangig für jenes Publikum attraktiv ist, "[...] das sich einerseits von den flachen Sprüchen rechtspopulistischer Akteure, die nur auf schnelle Erregungszustände fixiert sind, nichts verspricht, und sich andererseits von der Brutalität des Rechtsextremismus distanziert, um seine Bürgerlichkeit zu unterstreichen" (Heitmeyer, 2018, S. 235). Er weist zurecht auf ihre "bürgerliche Patina" hin, die die AfD für viele gesellschaftliche Gruppen wählbar macht (Heitmeyer & Piorkowski, 2023).Vor diesem Hintergrund überrascht der empirische Befund nicht, dass die bereits benannten 19,6 % der Bevölkerung mit Einstellungen zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sich selbst in der "politischen Mitte" einordnet, weshalb sich die "bürgerliche Patina" für die AfD als unentbehrlich erweist (Schaefer, Mansel & Heitmeyer, 2002, S. 132 f.).Die neue begriffliche Rahmung dient dazu, unterschiedliche inhaltliche und formale Ebenen zusammenzufassen, wie prägende Einstellungsmuster, der Mobilisierungsstil sowie zentrale programmatische Aussagen zu "bewegenden Themen" (Heitmeyer, 2018, S. 234). Daher ordnet Heitmeyer die AfD als autoritäre nationalradikale Partei ein, die gleichzeitig als Kern des autoritären Nationalradikalismus in Deutschland fungiert. Im Folgenden wird das Agieren der Partei als Protagonistin des autoritären Nationalradikalismus anhand der in Kapitel 2.4 erklärten Charakteristika erläutert:Als autoritär wird sie charakterisiert, da das Kontrollparadigma grundsätzlich ihre Vorstellungen von Politik sowie Gesellschaft durchzieht. Beispiele sind Forderungen nach einer streng hierarchisch organisierten sozialen Ordnung sowie nach rigider Führung in politischen Institutionen. Auch beruht das Verständnis von Politik und Gesellschaft wesentlich auf den Kategorien "Kampf und Konflikt", womit dichotomische Gesellschaftsbilder und strenge Freund-Feind-Schemata einhergehen (Heitmeyer, 2018, S. 234).Als national wird sie aufgrund der "[...] Betonung der außerordentlichen Stellung des deutschen Volkes" bezeichnet (Heitmeyer, 2018, S. 234). Hinzu kommt auch die Beanspruchung einer "neuen deutschen" Vergangenheitsdeutung sowie eines Überlegenheitsanspruchs gegenüber anderen Nationen oder ethnischen und religiösen Gruppen (Heitmeyer, 2018, S. 235).Das radikale Moment liegt in der Bekämpfung der offenen Gesellschaft und dem Ziel, die liberale Demokratie grundlegend umzubauen. Somit positioniert sich die Partei gegen zwei zentrale politisch-gesellschaftliche Errungenschaften. Hierzu dient ein rabiater und emotionalisierter Mobilisierungsstil der AfD, der mit menschenfeindlichen Grenzüberschreitungen arbeitet (Heitmeyer, 2018, S. 235).Die AfD hat die Destabilisierung gesellschaftlicher und politischer Institutionen zum Ziel, was entscheidend für die Erfolgsgeschichte der Partei ist, es geht um Militär, Polizei, Gerichte, Gewerkschaften, Rundfunkräte, politische Bildung, Theater oder auch Feuerwehrverbände (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 107). Hierin besteht nach Heitmeyer die eigentliche Gefahr. Das Fiasko rund um die Wahl des Ministerpräsidenten in Thüringen 2020 zeigt, dass mittlerweile auch das parlamentarische System von der forcierten Destabilisierung betroffen ist (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 107). Der autoritäre Nationalradikalismus der AfD und das Agieren der Partei soll im folgenden exemplarisch an zwei Krisen der vergangenen Jahre behandelt werden.Die Fluchtbewegungen ab 2015 bezeichnete Alexander Gauland als "Geschenk" für seine Partei, die AfD (Decker, 2022). In der Tat diente sie AfD und PEGIDA, um Personen, die vorrangig unter Anerkennungsdefiziten litten, mittels dichotomischer Weltbilder und der Emotionalisierung sozial-kultureller Probleme zu instrumentalisieren. Der anhaltende Erfolgsmechanismus von Parteien und Bewegungen wie AfD und PEGIDA besteht demnach darin, Anerkennungsprobleme zu bearbeiten und so Selbstwirksamkeit erfahren zu lassen. Als (potenzielle) Wähler:in würde man wahrgenommen werden und dies ließ Handlungsbereitschaften entstehen, die einerseits autoritäre Ausrichtungen entwickelten und andererseits themengebunden immer wieder neu aktiviert werden können (Heitmeyer, 2022 b, S. 275). Dies ist bei dem bereits genannten "Entweder-Oder"-Mechanismus der Fall, da es um "Alles" geht und Kompromisse von vornherein ausschließt.Weiter führt Heitmeyer aus, dass die Verbindungen von einem systemischen Krisentypus, wie beispielsweise der COVID-19-Pandemie, mit einer "Entweder-Oder"-Konfliktstruktur gesellschaftliche Entwicklungen begünstigen, die zwar nicht die Gesellschaft spalten, jedoch asymmetrisch polarisieren zwischen einer Bevölkerungsmehrheit und einer Minderheit (Beispiel: Geimpfte vs. Impfgegner:innen). In solchen Konstellationen enthüllt sich das Zusammenwirken und gemeinsame Auftreten der aufgeführten Mechanismen als äußerst gewaltanfällig (Heitmeyer, 2022 b, S. 275 f.).Im Jahr 2015 war der "Kampf um die Opferrolle" ein zentraler Mechanismus der AfD, um die Mobilisierung gegenüber Geflüchteten und staatlicher sowie gesellschaftlicher Integrationspolitik voranzubringen. Entsprechend entstanden Kampfbegriffe wie "Umvolkung" oder das Propagieren des "Untergangs der deutschen Kultur". Die Opferrolle kann nach Heitmeyer als Schlüsselkategorie interpretiert werden, "[...] denn wer [sich] in der öffentlichen Wahrnehmung glaubhaft als Opfer darstellen kann, schafft damit eine zentrale "moralgetränkte" Kategorie, um Widerstand als Notwehrrecht einschließlich Gewalt zu legitimieren" (Heitmeyer, 2022 b, S. 266). Insofern gilt der Opferstatus als eines der wichtigsten Instrumente, um Anhänger:innen an sich zu binden.Im Verlauf der COVID-19-Pandemie verkehren sich die Verhältnisse in den digitalen Medien, auf radikalisierten Demonstrationen und in der öffentlichen Debatte, was auch darauf zurückzuführen ist, dass der Mechanismus einer veränderten "Täter-Opfer"-Konstruktion sich ausbreitet. Neue Gelegenheitsstrukturen und Mobilisierungsaktivitäten werden in Figuren von "Freiheitskämpfern" ausgebaut und radikalisiert.Während der sogenannten "Flüchtlingskrise" waren es vor allem männliche Geflüchtete, die in der öffentlichen Wahrnehmung als bedrohliche Täter, die Verbrechen wie Vergewaltigungen und Tötungen begehen, dargestellt wurden. Staatliche Institutionen ließen sie "gewähren" im Sinne einer bevorstehenden "Umvolkung" (Heitmeyer, 2022 b, S. 266). In der COVID-19-Krise trat der Staat als Haupttäter auf: Die Bevölkerung wurde in den Lockdown getrieben, massiven Freiheitsbeschränkungen unterworfen und Ungeimpfte – ob Gegner:in oder nur Zweifelnde – wurden durch eine "Corona-Diktatur" in die Knie gezwungen.In diesem Strukturwandel wirken Verschwörungstheorien passgenau auf ideologische Konzeptionen ein, die an Krisen sowie an Kontrollverluste andockt. Verschwörungstheorien bilden hier als quasi-religiöses, glaubensbasiertes Kampfinstrument eine Art Ersatzlösung für die in der Moderne verloren gegangenen Gewissheiten und markieren gleichzeitig Feindgruppen für autoritäre politische "Lösungen", meist auch antisemitisch aufgeladen.Im Sinne des angeführten konzentrischen Eskalationskontinuums sind es unter anderem solche Parolen und Kampfbegriffe, die als begrifflich "notwehrrelevante" Legitimationsbrücken dienen. So wurden während der COVID-19-Pandemie von parlamentarisch einflussreichen Positionen weitere eskalationsorientierte Handlungsweisen beflügelt (Heitmeyer, 2022 b, S. 267). Die bisher aufgeführten Mechanismen und Strukturen fungieren demnach also als Bestandteile von Radikalisierungsprozessen. Diese wiederum bilden die Voraussetzungen für das Aufkommen von physischer Gewalt, von Körperverletzungen bis hin zu rechtsterroristischen Vernichtungstaten. Um diese Wirkung aufzuzeigen, soll folgend das Agieren der AfD anhand des oben beschriebenen Eskalationskontinuums verdeutlicht werden.In den "Schalen" des "Zwiebelmusters" wird, wie oben erläutert, die Gewaltorientierung größer, während die eskalierenden Akteur:innengruppen kleiner werden. Als Kernmechanismus werden die verschiedenen Legitimationsbrücken angeführt. In der äußersten, der größten Schale, finden sich feindbildliche autoritäre Einstellungsmuster in Teilen der Bevölkerung gegenüber dem Staat als Ganzes und generell demokratischer Politik. Diese liefern die entsprechenden Legitimationen für das Auftreten und Agieren des autoritären Nationalradikalismus der AfD.Zu Beginn der Pandemie forderte die AfD zunächst besonders harte Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung, sie blieb bei ihrem Stil der Emotionalisierung politischer und sozialer Probleme inklusive dem autoritären Kontrollparadigma. Da hiermit keine Zustimmungserweiterungen von potenziellen Wähler:innen gewonnen werden konnten, wurde eine radikale Richtungsänderung ins Gegenteil vollzogen. Dies führt Heitmeyer an, um zu verdeutlichen, "[...] dass es der Partei nicht um sachbegründete Prinzipien, sondern um opportunistische Nutzenkalküle zur Ausbreitung von Zustimmungen bzw. Verfestigungen der Wählerschaft geht – und um die Straße" (Heitmeyer, 2022 b, S. 276). Insofern mussten Parolen geprägt werden, wie der Begriff der "Corona-Diktatur", dem Selbststilisieren als "Freiheitskämpfer:innen" oder dem Verbreiten von Verschwörungsideologien wie des "Great Resets" (Siggelkow, 2023).So trat die AfD im Herbst und Winter 2021/2022 als wesentlicher Treiber der Corona-Proteste auf und baute gleichzeitig mit diesen Parolen, wie bereits ab 2015 in Zusammenhang mit der Krise um die Flüchtlingsbewegungen, gezielt Legitimationsbrücken für ohnehin schon mit Gewalt operierende rechtsextremistische Gruppen (Heitmeyer, 2022 b, S. 277). Diese Gruppierungen können sich durch diese Parolen auf eine Art gewaltlegitimierendes "Notwehrrecht" berufen, um gegen eine "Diktatur" zu agieren, verbunden mit "Umsturzfantasien".Heitmeyer führt weiter aus, dass diese Gruppen sich öffentlich in Demonstrationen bewegen und gleichzeitig klandestine rechtsterroristische Kleingruppen bedienen, "[...] die unter anderem aus Misserfolgen gegen die staatlichen Ordnungsmächte dann Legitimationen zum Umsturz des Systems ziehen" (Heitmeyer, 2022 b, S. 277). Aus diesem Mechanismus eröffnet sich, was Heitmeyer durch das konzentrische Eskalationskontinuum eindrucksvoll darstellen kann, dass schlussendlich Teile der Bevölkerung durch die verschiedenen "Schalen" hindurch zu den Legitimationslieferant:innen zählen, auf die sich Gewaltakteur:innen berufen, wenn sie sich auf "das Volk" beziehen (Heitmeyer, 2022 b, S. 277).Die Mechanismen verweisen insgesamt auf Bedrohungen der liberalen Demokratie und der offenen Gesellschaft. Weiter führt Heitmeyer an, dass staatliche Kontrollapparate sowie die Politik samt Appellen oder Ankündigungen der "wehrhaften Demokratie" nicht in der Lage sind, mehrere dieser Mechanismen in ihren Wirkungen "in den Griff zu bekommen". Die aufgezeigten Mechanismen, die bereits während der Krise der Flüchtlingsbewegungen und der Corona-Pandemie gewirkt haben, sind etabliert und werden auch weiterhin wirken.Die so genannte "3K-Trias" - Krisen, Konfliktstruktur und Kontrollverluste - gilt mittlerweile als etabliert und wirkt als wirkungsvoller Zusammenhang für autoritäre Entwicklungen. Die zukünftigen Krisenthemen werden wechseln, jedoch bleiben die gesellschafts- und demokratiezerstörerischen Mechanismen bestehen und können durch autoritär-nationalradikale Akteur:innen immer wieder neu themenbezogen aktiviert und emotional aufgeladen werden (Heitmeyer, 2022 b, S. 277).7. Fazit & AusblickHeitmeyers Arbeiten bilden einen Meilenstein in der empirischen Forschung zu Einstellungen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und zu rechten Einstellungen in der Bevölkerung. Er wies bereits zu Beginn seiner Studien im Jahr 2001 darauf hin, dass ein globalisierter Kapitalismus zu politischen und sozialen Kontrollverlusten führen könne, die mit Demokratieentleerung und einem Erstarken des rabiaten Rechtspopulismus einhergehen.Anhand der Ergebnisse seiner langjährigen Forschung, unter anderem der Langzeitstudie zu den "deutschen Zuständen", konnte er empirisch nachweisen, dass knapp 20 % der Bevölkerung autoritäre Einstellungen haben (Schaefer, Mansel & Heitmeyer, 2002, S. 125 f.). Diese Einstellungen "schlummerten" in diesen Bevölkerungsteilen und fanden politisch bis zum Aufkommen der AfD keine sonderliche Beachtung. Sie "vagabundierten" zwischen den Parteien - meist zwischen den Volksparteien CDU/CSU und der SPD - oder verharrten in einer "wutgetränkten Apathie" und machten von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch (Schaefer, Mansel & Heitmeyer, 2002, S. 127 f.).Die strukturellen Ursachen des autoritären Kapitalismus, also Transformationsprozesse in ökonomischen Strukturen samt den Krisen in der "Post-9/11"-Ära führen zu Veränderungen im sozialen Bereich, wie individuelle Verarbeitungsprozesse der Krisenfolgen in Form von Abstiegsängsten oder Anerkennungsverlusten, also soziale Desintegrationserfahrungen bzw. Desintegrationsgefährdungen. In Kombination mit den damit einhergehenden Kontrollverlusten sehnen sich Teile der Bevölkerung nach einem krisensicheren, kollektiven kulturell-politischen Identitätsanker und nach der "Wiederherstellung der Ordnung" (Heitmeyer, 2022 a, S. 325). Dies schafft günstige Gelegenheitsstrukturen für die AfD, die sich 2015 inhaltlich radikal neu ausrichtete und als autoritär nationalradikales Angebot wahlpolitisch von diesen Entwicklungen profitierte. Durch ihre Fokussierung auf die kulturelle Dimension hat die Partei die Möglichkeit erhalten, "[...] soziale Kontrollverluste in Versprechungen zur Wiederherstellung von politischer Kontrolle zu übersetzen" (Heitmeyer, 2022 a, S. 325).Die Frage nach dem weiteren Verlauf liegt auf der Hand. Hier spricht Heitmeyer von "Zukünften" in einer Zeit, in der viele Menschen auf tiefgreifende Verunsicherungen seit 2001 mit einer Sehnsucht nach Ordnung, Kontrolle und Sicherheit reagiert haben, die von dem autoritären Nationalradikalismus der AfD bedient wird (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 281). Zu den Entsicherungen der sozialen Zustände der letzten Jahrzehnte gesellt sich nun eine "Unübersichtlichkeit möglicher Zukünfte". Klar ist, dass die Routinen zur Bewältigung politischer, ökonomischer und sozialer Probleme und Krisen nicht länger funktionieren und es kein Zurück zu den Zuständen davor geben wird.Nach Heitmeyer muss die Frage nach der Resilienz demokratischer Einstellungen und Gegenevidenzen zum grassierenden Autoritarismus auf der Ebene der Akteur:innen angesetzt werden, bei der Bürger:innenschaft. Jedoch beschreibt er sie, die in Krisen sonst durchaus wehrhaft und spontan auf Herausforderungen reagierten und heute mehr denn je gefragt seien, als erschöpft, auch wenn in der Mehrheit der europäischen Staaten bisher nur eine Minderheit der autoritären Versuchung vollends nachgibt (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 282; Heitmeyer, 2022 b, S. 277).Dennoch haben sich quer durch die Altersgruppen und unabhängig von der sozialen Lage unterschiedliche Teile der Bevölkerung "[...] statistisch signifikant und im Erscheinungsbild deutlich autoritären Versuchungen nachgegeben [...]" (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 74). Ebenso erschöpft seien auch die politischen Eliten, die eigentlich Visionen und Ideen für individuelle und gesellschaftliche Zukünfte, die Freiheit spenden und Sicherheit verheißen, entwickeln sollten. Es benötigt also mehr visionäre und zukunftssichernde Gesellschafts- und Politikvorstellungen gepaart mit neuen Beteiligungsformen, die von den Bürger:innen wahrgenommen werden (Heitmeyer, 2022 b, S. 278).Aktuelle empirische Befunde zu weiteren demokratischen Fortschritten geben wenig Anlass zu Optimismus (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 73 f.). Insofern folgert Heitmeyer, dass sich der Höhenflug autoritärer Politikangebote weiter fortsetzen wird, insofern sich der autoritäre Nationalradikalismus nicht selbst (von innen) zerlegt und es kein massives politisches Umsteuern mit gravierenden wirtschaftspolitischen Reformen gibt, wofür derzeit keine Anzeichen bestehen (Heitmeyer, 2018, S. 368). Nach Heitmeyer müssten aus den folgenden Punkten ökonomische, soziale und politische Konsequenzen gezogen werden:"Der finanzialisierte Kapitalismus verfolgt weiter ungehindert seine globale Landnahme, ohne Rücksicht auf die gesellschaftliche Integration.Die nationalstaatliche Politik ist angesichts der ökonomischen Abhängigkeit nicht willens oder in der Lage, soziale Ungleichheit konsequent zu verringern.Ein Fortschreiten der sozialen Desintegration ist angesichts von Prozessen wie der Digitalisierung sehr wahrscheinlich.Kulturelle Konflikte entlang konfessioneller und religiöser Grenzen werden nicht dauerhaft befriedet; vielmehr ist davon auszugehen, dass sie – auch im Zusammenhang mit Migrationsbewegungen – immer wieder angefacht werden.Sozialgeografische Entwicklungen wie Abwanderung und das ökonomische Abdriften ganzer Regionen gehen ungebremst weiter" (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 283 f.).Die aufkommenden Probleme dieser auf Dauer gestellten Faktoren können von autoritär nationalradikalen Parteien und Bewegungen als "Signalereignisse" für sich ausgebeutet werden. Sie stellen also "stabile" günstige Voraussetzungen für ein weiteres Erstarken des autoritären Nationalradikalismus der AfD dar (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 284). Es ist mittelfristig nicht abzusehen, dass die Themen, die die AfD mit ihrer eskalativen Rhetorik bearbeitet, in absehbarer Zukunft von der Bildfläche verschwinden werden.Zudem weisen die Strukturen der AfD und des sie unterstützenden Milieus mittlerweile einen hohen Organisations- und Institutionalisierungsgrad auf. Insofern ist davon auszugehen, dass die autoritär nationalradikalen Parteien und Bewegungen öffentliche Debatten weiterhin maßgeblich prägen und so das soziale Klima innerhalb der Gesellschaft dauerhaft in Richtung von mehr Aggressivität verschieben werden.Die Bedrohungen für die liberale Demokratie und die offene Gesellschaft durch den globalisierten Kapitalismus, durch Desintegrationsprozesse und dem autoritären Nationalradikalismus sind offensichtlich. Es hängt also viel von der Kraft konfliktbereiter und widerspruchstrainierter Gegenbewegungen ab, die für die offene Gesellschaft eintreten und sich nicht mit den Normalitätsverschiebungen, die aktuell bereits ablaufen, abfinden wollen (Heitmeyer, 2018, S. 372).LiteraturverzeichnisDahrendorf, R. (14. 11 1997). Die Globalisierung und ihre sozialen Folgen werden zur nächsten Herausforderung einer Politik der Freiheit. Von zeit.de: https://www.zeit.de/1997/47/thema.txt.19971114.xml/komplettansicht abgerufen am 21.10. 2023.Decker, F. (02. 12 2022). Etappen der Parteigeschichte der AfD. Von bpb.de: https://www.bpb.de/themen/parteien/parteien-in-deutschland/afd/273130/etappen-der-parteigeschichte-der-afd/ abgerufen am 21.10. 2023.Frankenberg, G., & Heitmeyer, W. (2022). Autoritäre Entwicklungen. Bedrohungen pluralistischer Gesellschaften und moderner Demokratien in Zeiten der Krisen. In G. Frankenberg, & W. Heitmeyer (Hg.), Treiber des Autoritären: Pfade von Entwicklungen zu Beginn des 21. 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