Fachhochschulen stellen einen unverzichtbaren Bestandteil des deutschen Hochschulsystems dar. […] Die Entwicklung der deutschen Fachhochschulen hat inzwischen zu einer enormen Spreizung dieses Sektors geführt; einigen ist es gelungen, sogar universitäre Charakteristika überzeugender als so manche Universität zu verwirklichen. Dennoch kann es nicht das Bestreben von Fachhochschulen sein, universitätsähnlich oder sogar universitätsgleich zu werden. Aufgrund ihrer finanziellen, personellen und sächlichen Ausstattung wären sie dann eine "Universität zweiter Klasse"; ein Wettbewerb auf Augenhöhe ist nicht möglich und von der Politik übrigens auch nicht gewollt! Die Fachhochschulen sollten sich vielmehr auf ihre Stärken berufen und sich in der Wahrnehmung ihrer wissenschafts-, gesellschafts- und wirtschaftsrelevanten Aufgaben weiterentwickeln. Ihr Vermögen steckt in der Ausrichtung auf den Bedarf, sie agieren eher nachfrage- als angebotsorientiert. Dieser Weg sollte konsequent und ideenreich weitergegangen werden. (DIPF/Orig.)
In der hochschulpolitischen Diskussion der Bundesrepublik Deutschland spielt die "quantitativ-strukturelle Entwicklung nationaler Hochschulsysteme" eine zentrale Rolle. Dieser Beitrag vollzieht die "Entwicklungen dieser Diskussionen in Deutschland seit vier Jahrzehnten" nach und ordnet die Thematik im Rahmen von "Konzepten und Erklärungsansätzen der Hochschulforschung [sowie] aktuellen Entwicklungen der Europäisierung [Bologna-Prozess], Internationalisierung und Globalisierung" ein. (DIPF/Orig./av)
Im Zusammenhang mit dem Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen vom 25. April 1933 kritisiert der Autor gängige Interpretationen und stellt sich die Aufgabe, "die quantitativen Veränderungen in den höheren Schulen und Hochschulen zu bestimmen und stichhaltigere Ursachen für diese Veränderungen (dem Rückgang und dem Wiederanstieg von Schüler- und Studentenzahlen in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft) zu finden". Als Ursachen für die quantitativen Veränderungen stellt er die Ergebnisse verschiedener Erklärungsansätze wie demographische Schwankungen, innerschulische Entwicklungen, schulpolitische Maßnahmen und wirtschaftliche Lage dar. (DIPF/ ssch)
Rezension von: Heinz-Dieter Meyer / Brian Rowan (Hrsg.): The New Institutionalism in Education. New York: State University of New York Press 2006 (234 S.; ISBN 978-0-7914-6905-7; 65,00 USD).
In: Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede: Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München. Teilbd. 1 und 2, S. 1329-1355
"Die deutsche Soziologie hat die gesellschaftlichen Ungleichheiten nach dem Zweiten Weltkrieg ganz unterschiedlich interpretiert und meinte stets, es käme darauf an, sie zu verändern. Folgte man diesen Deutungen so hätten sich eine klassenlose und nivellierte Mittelstandsgesellschaft, zwiebelförmige Schichtungen, verschärfte Klassenkonflikte, horizontale Disparitäten und 'neue' Ungleichheiten, individualisierte Milieus, eine Unterklasse der Überflüssigen, soziale Exklusionen, die Unterschichtung Ostdeutschlands und die geschlossene PISA-Gesellschaft nacheinander abgelöst. Tatsächlich verweisen sehr viele empirische Befunde auf eine erhebliche zeitliche Robustheit von Verteilungs- und Chancenungleichheiten und damit nicht nur auf die Wirklichkeitsschwäche der Soziologie, sondern auch auf deren primäres Engagement im Sinngeschäft. Was ist aber der 'Sinn' der Ungleichheit? Gilt die Toquevillesche These von der nicht-umkehrbaren Dynamik eines historischen Egalisierungsprozesses noch? Der Verfasser plädiert dafür, den Sinn 'deutscher' Ungleichheiten nicht primär normativ, sondern komparativ zu bestimmen. Und schliesslich: Gibt es einen trade-off zwischen mehr Gleichheit und mehr Wohlstand?" (Autorenreferat)
In: Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede: Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München. Teilbd. 1 und 2, S. 4373-4382
"Vermehrt finden sich Freizeit- und Kultureinrichtungen, deren Profil als neuartige' 'Agenturen der Wissensvermittlung' darin besteht, dass sie 'hybridisierte' Angebote in je konzepttypisch gewichtender Durchmischung unterhaltsamer und lehrreicher Anteile bereitstellen. Während das 'Edutainment-Konzept' eine Anreicherung von Unterhaltungsangeboten mit Lernanreizen bezeichnet, stellt das (nicht nur, aber auch in modernisierten Museen eingesetzte) 'Public Understanding of Science-Konzept' (PUS) eine Form der bildenden Öffentlichkeitsarbeit dar, die (vor allem) darauf abzielt, in der Bevölkerung ein Verständnis für sich rasant vollziehende wissenschaftliche Innovationszyklen zu befördern. Insbesondere in der 'Außendarstellung' von 'PUS-Einrichtungen' kann die konkrete Formulierung des Informationsanliegens zusätzlich innerhalb eines (breiten) Spektrums zwischen einem allgemeinen Ausgleich in der Bevölkerung bestehender Bildungslücken und einem Partizipationschancen eröffnenden Dialog zwischen Wissenschaftsexperten und -laien liegen. Ein analytischer Blick auf die 'Praxis' der 'unterhaltsamen Wissensvermittlung' fördert demgegenüber Anzeichen dafür zutage, dass derartige Einrichtungen eben nicht Wissensdefizite bzw. Bildungsunterschiede aufheben und/ oder Mitsprachemöglichkeiten eröffnen, sondern eher dazu beitragen, soziale Ungleichheiten zu reproduzieren. Anhand folgender Beobachtungen soll diese These illustriert bzw. plausibilisiert werden: Zum einen lässt sich zeigen, dass die - sozusagen zielgruppenübergreifende bzw. zielgruppenspezifische Gestaltung der Ausstellungsräume einerseits darauf abzielt, 'Ungleichheitsmerkmale' zu nivellieren bzw. ignorieren, dass andererseits aber dennoch unterschiedlich 'vorgebildete' Adressatenkreise mit entsprechend unterschiedlichen Informationsangeboten angesprochen werden. Zum anderen soll gezeigt werden, dass sich die unterschiedlichen, mit der Erarbeitung und Umsetzung solcherlei Einrichtungskonzepte befassten 'professionellen' Akteure (Ausstellungsdidaktiker, Fachwissenschaftler etc.) mit zum Teil widerstreitenden Anforderungen konfrontiert sehen, welche aus dem jeweiligen beruflichen Selbstverständnis, aus Abstimmungsnotwendigkeiten mit 'Kollegen' anderer Fachdisziplinen und aus jeweils unterschiedlichen Grundannahmen über mögliche Ansprüche der (potentiellen) Besucherschaft resultieren können." (Autorenreferat)
Aus der Einleitung: Ein kugelförmiger, künstlicher, sowjetischer Satellit namens 'Sputnik' (russ. 'Weggefährte') setzte den Westen 1957 unter Schock. Dieses Ereignis erhielt sogar einen Namen: 'Sputnik-Schock'. Die westliche Welt war erschüttert und bestürzt. Wie konnte ein so rückständiges Land wie die damalige Sowjetunion diese technologische Höchstleistung vollbringen? Fast fünfzig Jahre später kommt es wieder zu einem Schock-Erlebnis – dem 'PISA-Schock', obwohl es kein Schock hätte sein müssen, weil Bildungsexperten nicht aufgehört haben, auf Defizite im Bildungswesen hinzuweisen. Dieses Mal sind es deutsche Schüler/innen, die mit ihren Testleistungen, die Bildungs- und Erziehungsfachwelt, Eltern und sogar die Regierung schockieren. Deutschland liegt beim Bildungsranking auf den hintersten Plätzen, obwohl dieses Land seit ungefähr vierzig Jahren Bildungsexpansion betreibt, seine wirtschaftlichen Erfolge beachtlich sind. Wie konnte ein so fortschrittliches Land wie die Bundesrepublik Deutschland im Bildungssektor nur Mittelmaß und schlechter sein? Was läuft schief, woran krankt unsere Gesellschaft? Auf der Suche nach Erklärungen hat sich mir ein Argument, eine mögliche Erklärung erschlossen, die ebenso vom Deutschen PISA-Konsortium bestätigt wurde. Es sind die Bedingungen des Aufwachsens, die den Stand der erworbenen Kompetenzen beeinflussen. Nun sind die 'Bedingungen des Aufwachsens' ein weit gefasster Begriff, der jedoch eines impliziert – es geht um eine bestimmte Phase im Leben eines Menschen, die ihren Anfang mit der Geburt in eine Familie nimmt und mit dem Übergang in eine selbständige, von den Eltern unabhängige, souveräne Lebensphase zu Ende geht. Die Familie ist sozusagen der zentrale Ort, der Ausgangs- und Mittelpunkt des Aufwachsens, welcher jedoch mit dem Älterwerden des Menschen an Einfluss, nicht unbedingt an Wichtigkeit, verliert. 'Mit der Familie fängt für fast alle Kinder alles an. Sie ist das Betreuungszentrum, sie ist die basale Lernwelt, in der Kinder aufwachsen, in der sie jenes Urvertrauen entwickeln und jene elementaren Fähigkeiten und Fertigkeiten erlangen können, die sie befähigen, sich zunehmend eigenständig in der Welt zu bewegen. Damit kommt der Familie mit Blick auf die Bildung, Betreuung und Erziehung der Kinder eine ebenso zentrale wie lebensbegleitende Schlüsselfunktion zu.' Mit dem Eintritt in den 'öffentlichen' Bereich des Lebens, beginnend mit frühkindlicher Betreuung und Bildung sowie Erziehung in öffentlichen Einrichtungen, wie z. B. der Kindergarten (Elementarbereich) und anschließend die Grundschule (Primarbereich), der Sekundarbereiche I und II und des Tertiären Bereichs der beruflichen Ausbildung, gewinnen verschiedene Institutionen größere Bedeutung und Einfluss. Mit dem Übertritt in die Berufs- bzw. Erwerbsphase und der allmählichen Ablösung von den Eltern, der Gründung einer eigenen Familie und der Autonomie als vollwertiger Staatsbürger mit allen Rechten und Pflichten, kann vom Erwachsenen gesprochen werden. Die Phase des Aufwachsens ist vorbei. Welchen Einfluss und welche Wichtigkeit die Sozialisationsfelder der Aufwachsphase für Kinder und Jugendliche haben, wird Teilthema dieser Arbeit sein. Dem vorangestellt sind gesellschaftliche Gegebenheiten und Bedingungen, die in Verbindung mit den Sozialisationsbedingungen nach der Analyse der PISA-Ergebnisse einen erheblichen Einfluss auf die Integration der nachkommenden Generation haben. Wie kann es sein, dass es in einer demokratischen, freien, sozial- und rechtsstaatlichen, auf Wohlfahrt ausgerichteten Gesellschaft nur einem Teil der Mitglieder gelingt, das Beste für sich aus diesen Bedingungen machen zu können? Einem anderen Teil aber bleiben nur Illusionen, bzw. realistische Zukunftspläne können gar nicht erst entstehen. Wie ist es möglich, dass sich zwar der Großteil der Jugendlichen an der Abfolge Pflichtschulbesuch – Berufsausbildung orientiert, aber einem Teil bleibt dieser Weg vorenthalten? Warum drehen immer mehr Jugendliche in Übergangsmaßnahmen ihre Warteschleifen, um mit einer mehrjährigen Verspätung eine Ausbildung oder eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen? Mit Blick auf diese Fragen wird im ersten Teil dieser Arbeit auf Strukturen sozialer Ungleichheit eingegangen. Dabei wird der Tatsache Aufmerksamkeit geschenkt, dass es einen Unterschied zwischen sozialer Differenzierung, Verschiedenartigkeit und sozialer Ungleichheit gibt. Mit letzterer sind ungleiche Lebens- und Arbeitsbedingungen verbunden, die durch die differente Entwicklung bzw. dem ungleichen Vorhandensein von Bildung, Einkommen/Vermögen, Macht und Prestige zu unterschiedlichen Lebenschancen, zu 'mehr oder minder vorteilhaften Lebens- und Handlungschancen' führen Der zweite Teil dieser Diplomarbeit befasst sich mit dem Teil unserer Gesellschaft, den die Folgen sozialer Ungleichheit am härtesten und nachhaltigsten trifft – die Jugend, die jungen Erwachsenen, die jede Entscheidung, die sie selbst oder andere für sie treffen, verantworten müssen. Dieser Teil benötigt ein stabiles Lebensfundament, vor allem Beständigkeit, Zuverlässigkeit sowie Sicherheit. Aber gerade diese Bevölkerungsgruppe ist im hohen Maß den strukturellen Veränderungen der Gesellschaft ausgesetzt, weil dieses Lebensfundament an Stabilität verloren hat. In einem dritten Teil der Diplomarbeit sollen an einem Beispiel aus der Praxis ein Übergangsmodell und Übergangsproblematiken der Teilnehmer/innen im Übergangssystem vorgestellt werden. Beim Bildungsträger BBQ – Berufliche Bildung gGmbH (2.) Reutlingen startete im September 2006 das erste Reutlinger Integrationsmodell (RIMO). Das Besondere und Neue bei dieser Starthilfe ins Berufsleben (2.1) zeichnet sich durch die regelmäßige, sehr individuelle und intensive Teilnehmer/innenbetreuung und Unterstützung bei der Ausbildungs- und Arbeitsplatzsuche durch ehrenamtliche Mentor/innen aus. Zum Abschluss werden Bilanzen zum Reutlinger Integrationsmodel (2.2) gezogen. Mit der Schlussbetrachtung werden im vierten Teil Möglichkeiten realistischer Zukunftschancen der heutigen jungen Menschen und konkret derer betrachtet, die durch begrenzte Möglichkeiten oft einen erschwerten Start ins eigenständige Leben haben, deren Handlungs- und Lebenschancen durch beschränkte Ressourcen, insbesondere der Ressource 'Bildung', eingeschränkt oder teilweise gar nicht wahrnehmbar sind.Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis: Inhaltsverzeichnis1 Vorwort1 I. Teil1 1.Einleitung2 2.Ungleichheit und Chancenverteilung - Begrifflichkeiten9 2.1Soziale Ungleichheit9 2.2Chancengleichheit12 2.3Die Sozialstruktur und ihre Veränderungen13 2.3.1Das Soziale Klassen- und Schichtenmodell13 2.3.2Soziale Lagen16 2.3.3Soziale Milieus und Lebensstile17 2.3.4Klassen/Schichten vs. Milieu/Lebensstil18 2.4Theorie der sozialen Ungleichheit nach BOURDIEU - Habitustheorie21 2.5Die Individualisierungsthese von BECK23 3.Dimensionen sozialer Ungleichheit26 3.1Bildung27 3.1.1Chancen(un)gleichheit - Bildungs(un)gerechtigkeit29 3.1.2Soziale Herkunft30 3.1.3Geschlechtsspezifischen Ungleichheit36 3.1.4Verhältnis Migration - Bildung37 3.2Einkommen, Vermögen und Besitz41 3.3Macht42 3.4Prestige43 3.5Arbeits-, Wohn- und Freizeitbedingungen44 4.Benachteiligte Randgruppen46 5.Zusammenfassung: Soziale Ungleichheit48 II.Teil49 1.Vorbemerkung49 2.Vom Jüngling zum Jugendlichen - ein historischer Blick50 3.Strukturwandel der Jugendphase54 3.1Vom 'normalen' zum 'außergewöhnlichen' Lebenslauf55 3.2Entstrukturierung und Individualisierung als Folge der Abwendung vom Normallebenslauf56 3.3Sonnen- und Schattenseiten der Strukturveränderungen58 4.Jugendliche und ihre Zukunftsperspektiven61 4.1Hindernisse, Hürden und Begrenztheiten62 4.2Eingeschränkte 'Mitfahrgelegenheiten'64 4.2.1Die Herkunftsfamilie als Basis für Zukunftschancen65 4.2.2Selektionsentscheidungen im Bildungssystem68 4.2.3Hauptschule - Restschule für 'Zurückgelassene'71 4.3Kumulative Chancenungleichheit nach der Sekundarstufe I75 4.3.1Je höher die Qualifizierung, desto besser die Perspektive75 4.3.2Der Ausbildungs- und Arbeitsmarkt für Hauptschüler/innen77 5.Hilfesysteme allgemein und konkret79 6.Zusammenfassung - Veränderungen der Jugendphase und deren Auswirkungen auf sie82 III. Teil85 1.Vorbemerkung85 2.BBQ - Berufliche Bildung gGmbH86 2.1Starthilfe ins Berufsleben87 2.2Bilanzen zum Reutlinger Integrationsmodell90 IV.Schlussbetrachtung - Möglichkeiten realistischer Zukunftschancen93 Literaturverzeichnis100 Abkürzungsverzeichnis114 Anlagen115Textprobe:Textprobe: Kapitel 4, Jugendliche und ihre Zukunftsperspektiven: 'Im Zuge der Entstandardisierung des Normallebenslaufes und seinem Verblassen als biographisches Orientierungsmuster und Zukunftsversprechen, im Auseinanderfallen von institutionellen Lebenslaufvorgaben und subjektiven Perspektiven muss das 'eigene Leben' zunehmend selbst 'entworfen' werden. Dabei spielen Erwerbschancen und Arbeitslosigkeitsrisiko im Kontext dieser Arbeit mit Blick auf die junge Generation und auf soziale Ungleichheit eine entscheidende Rolle. Jugendliche werden nach HRADIL als 'Problemgruppe des Arbeitsmarktes' bezeichnet, '…die einem besonders hohen Risiko, arbeitslos zu werden…' ausgesetzt ist. Die neueste vorliegende Shell-Jugendstudie 'Jugend 2006' konstatiert auf Grund einer generellen Arbeitsplatzunsicherheit, des demographischen Wandels und der damit verbundenen '… wenig gesicherten Versorgung im Alter…', eine nachhaltige Verunsicherung der jungen Altersklasse. Es haben sich '…in den vergangenen Jahren die wirtschaftlichen Bedingungen in Deutschland tatsächlich verschlechtert, und die Jugendlichen müssen damit rechnen, nach ihrem schulischen Abschluss kurz- oder langfristig keinen Ausbildungsplatz zu erhalten, womit der Eintritt ins Erwerbsleben immer weiter nach hinten verschoben wird. Es besteht die Gefahr, dass Jugendlichen dadurch lange kein Eintritt in gesellschaftlich nützliche, produktive und bezahlte Tätigkeiten gewährt wird.' Unter welch trüben, unsicheren und brüchigen Bedingungen müssen die Jugendlichen und jungen Erwachsenen der heutigen Zeit ihrer Zukunft entgegen sehen? Sie stehen laut WALTHER unter einem 'Normalisierungsdruck', bei dem sich die jungen Menschen nicht ungezwungen und 'eigenwillig', im wahrsten Sinne des Wortes, für ihren Ausbildungsberuf interessieren und entscheiden können, ihren '…Übergang in die Arbeit nicht als einen Teil der Entwicklung und Verwirklichung eines subjektiven Lebensentwurfes gestalten können, sondern ihre Bemühungen nur darauf gerichtet sind, irgendeine Ausbildung zu beginnen und vielleicht zu beenden. WALTHER stellt in diesem Zusammenhang auch fest, 'dass Orientierungs-, Such- und Reflexionsprozesse entweder gar nicht erst zugelassen oder zu früh abgeschnitten werden.' Wie bereits festgestellt, führt diese Begrenztheit der Entscheidungsmöglichkeiten zu einer neuen Art der Wiedereinbindung bzw. Reintegration in die Gesellschaft. Außer dem Zwang sich für etwas zu entscheiden (z. B. welcher Beruf), sind die Entscheidungsmöglichkeiten durch gesellschaftliche Institutionen auch noch begrenzt (z. B. Arbeitsmarkt, Besuch bestimmter Bildungseinrichtungen). Hinzu kommt, dass '…entsprechende Karrieren bereits im Kindes- und Jugendalter vorprogrammiert und … das Resultat von strukturell angelegten Barrieren und/oder Verteilungsmustern [sind].' Hindernisse, Hürden und Begrenztheiten: Hindernisse, Hürden und Begrenztheiten lassen sich mit den Dimensionen sozialer Ungleichheit gut nachweisen. In Anlehnung daran soll im Weiteren der Focus auf die Ressource 'Bildung' gelegt werden. Erstens ist Bildung ein äußerst wertvolles Gut, das sich individuell besonders fördernd zur Gestaltung angenehmer Lebensbedingungen eignet und '…zur wichtigsten Grundlage für den materiellen Wohlstand moderner Gesellschaften geworden [ist].' Zweitens ist Bildung konvertierbar in andere Dimensionen sozialer Ungleichheit (z. B. Einkommen/Vermögen, Macht, Prestige) und drittens nimmt Schule, Berufsschule, Hoch- oder Fachschule bereits bis zu einem Viertel der Lebenszeit der jungen Generation ein. BRÜNDEL/HURRELMANN bemerken hierzu, '…dass die Schule im Zeithaushalt eines jungen Menschen bis zum Ende des zweiten Lebensjahrzehnts das zentrale Lebensfeld geworden ist. Der Schulbesuch ist das vorherrschende Merkmal der Jugendzeit; Jugend- und Schulzeit sind identisch. Was in der Schule passiert, ist deshalb äußerst wichtig für die gesamte persönliche Entwicklung.' Es besteht wie belegt zweifelsfrei ein Zusammenhang zwischen Bildung und Lebenschancen. Die Bildungsschranken von Kindern sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen haben sich nicht aufgelöst, wohl aber hat eine zunehmende Bildungsbeteiligung in allen Sozialschichten stattgefunden, die insbesondere die Bildungschancen für Mädchen erhöht hat. Gleichzeitig '…aber [ist] die sozialstrukturelle Homogenität in der Hauptschule gestiegen.' Insbesondere Kinder von un- und angelernten Arbeitern sowie von Ausländern und Migranten sind von dieser nachteiligen Entwicklung betroffen.' Dies betrifft die Sozialschicht bzw. die jungen Menschen, die auf Grund ihrer ungünstigeren familiaren Voraussetzungen in Bezug auf das ökonomische, kulturelle und soziale Kapital im Elternhaus sowohl kognitive Nachteile erfahren als auch die Bildungsentscheidungen der Eltern tragen und verantworten müssen. 'Ungleiche Bildungschancen (und Bildungsbeteiligung – M.T.) wurden dabei als direkte Abbilder gesellschaftlicher Hierarchien betrachtet.' Die Dreigliedrigkeit im Schulsystem findet somit ihre Entsprechung in der sozialen Schichtung. Im Folgenden soll auf diese Entsprechung und die Folgen für die 'Verlierer' oder 'Zurückgelassenen', wie SOLGA/WAGNER die Hauptschülerinnen und Hauptschüler nennen, eingegangen werden. Sie sind die sozial Benachteiligten. Trotz des Wissens, dass Bildung im Hinblick auf die Lebenschancen Jugendlicher von besonders großer Bedeutung ist, gilt für Deutschland: 'In kaum einer anderen westlichen Industrienation sind die Lernprozesse von Kindern und Jugendlichen so eng mit ihrer sozialen Herkunft verbunden wie in Deutschland.' Die Heranwachsenden werden schichtspezifisch auf die verschiedenen Schulformen verteilt. Soziale Herkunft hat zudem generationsübergreifend Auswirkungen auf die soziale Position in der Gesellschaft, das heißt, der soziale Status gekoppelt an die gesellschaftliche Position wird größtenteils 'weitervererbt'. Was sozusagen mit der Geburt seinen Anfang nimmt, zieht sich in den meisten Fällen durch das Leben der nachfolgenden Generation. 'Kinder aus sozial schwächeren Schichten haben damit geringere Chancen für den Zugang zu höheren Bildungsgängen als Kinder aus bildungshöheren Schichten und umgekehrt, Kinder aus bildungshöheren Schichten sind seltener in unteren Bildungsgängen anzutreffen als Kinder aus bildungsfernen Familien. Dies ist keine neue Erkenntnis mehr, lenkt jedoch die Aufmerksamkeit auf die 'Verlierer' der Gesellschaftsentwicklung und damit auf Problematiken der sozialen Ungleichheit.
Inhaltsangabe:Einleitung: Die Lebensplanungen der jüngeren Generationen von Frauen in Deutschland und in Polen haben sich in den letzten Jahrzehnten hinsichtlich der Familien- und Berufsplanung gewandelt. Frauen in Deutschland haben im Zuge von Bildungsexpansion und Emanzipationsbewegung die Möglichkeit erlangt, eine für sie sinnvolle Erwerbstätigkeit zu erlernen und zu ergreifen. Ebenso schuf der Sozialismus in Polen eine Basis für die Erwerbstätigkeit der Frau. Die Berufstätigkeit wird die Frauen eventuell ein Leben lang begleiten, dementsprechend wird der Berufswahl eine besondere Bedeutung zugemessen. Die weibliche Erwerbstätigkeit ist häufig identitätsstiftend und ein wichtiger Bestandteil der Unabhängigkeit. Somit können sie den Status der materiellen und persönlichen Autonomie erreichen. Demgegenüber steht das Problem, die Gründung einer Familie und die damit einhergehende Verantwortung in den Lebensplan einzubetten. Eine wie immer gewichtete Balance dieser beiden Bereiche zu erreichen, ist eine Schwierigkeit, der sich Frauen heute stellen müssen, da eine ausschließliche Konzentration auf die Familie, ohne einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, legitimiert werden muss. In der sozialistischen Gesellschaft in Polen war die arbeitende Frau und Mutter, welche familiäre Pflichten und Berufstätigkeit miteinander verknüpfte aufgrund von Arbeitskräftemangel in den 1950er Jahren staatlich gefordert und gefördert. Zusätzliche Rahmenbedingungen zur Förderung der weiblichen Erwerbstätigkeit wurden geschaffen, wie beispielsweise staatliche Kinderbetreuung. Die weibliche doppelte Lebensführung, Familie und Beruf zu verbinden entstand nicht aus der weiblichen Wahlmöglichkeit, sondern eher aus ökonomischen Zwängen. Diese Art der Lebensführung war eine Doppelbelastung für die Frauen und von der polnischen Bevölkerung abgelehnt, da dieses Modell den traditionellen Strukturen und Werten widersprach, welche die Frauen in der Familie verorteten. Dennoch wurde diese Art der Doppelbelastung als Selbstverständlichkeit wahrgenommen, unterstützt durch das historische Leitbild der Matka Polka (auf dieses Leitbild wird ausführlicher in Kapitel 2.2. eingegangen). Nach 1989 endete die Selbstverständlichkeit der staatlich geförderten weiblichen Vollzeiterwerbstätigkeit. Die hohe Frauenerwerbstätigkeit in der Volksrepublik hat in keiner Weise zu einem Wandel der Werte und Normen der Menschen geführt. Noch 1993 waren über 90% der polnischen Bevölkerung der Ansicht, dass ein Kind leiden würde, wenn die Mutter berufstätig ist. Abbildung 1 zeigt, dass sich im Jahr 1994/95 die Einstellung der Menschen geringfügig verändert hat, 65% der Bevölkerung unterstützen weiterhin traditionelle Ansichten. Auch aufgrund von Arbeitsplatzmangel ist ein traditionelleres Familien- und Frauenbild von der Regierung gewünscht. Walczewska bringt die politische Meinung eines Präsidentschaftskandidaten und Abgeordneten im EU-Parlament auf den Punkt: "Die Frauen würden viele Arbeitsplätze freimachen, die dann von arbeitslosen Männern besetzt werden könnten". Die Regierung sieht die Frau im Haushalt und bei der Kindererziehung, was die katholische Kirche in Polen grundsätzlich befürwortet. Insbesondere verbunden mit dem damaligen Pontifikat des Papstes Johannes Paul II. sind die Ausprägungen von Religiosität in Polen äußerst intensiv. In diesem Zusammenhang muss beachtet werden, dass über 90% der polnischen Bevölkerung dem katholischen Glauben angehören, sich als religiös einschätzen und an Gott glauben. Die jungen polnischen Frauen wollen jedoch eine Erwerbsarbeit ausüben, aus Gründen der Existenzsicherung, zur Selbstverwirklichung oder individuellem Karriereaufbau. 1996 wollten 71,8% der polnischen Frauen ihre Erwerbstätigkeit weiter ausüben, auch wenn die ökonomische Notwendigkeit nicht bestehen würde. In Deutschland orientieren sich immer weniger junge Frauen an traditionellen Leitbildern, denn mit dem Gleichheitsanspruch der Frauen, mit dem Wandel der Geschlechterrollen und des Alltagslebens ändern sich die Lebenslage und die Möglichkeiten der Lebensführung. Althergebrachte Leitbilder lösen sich weitgehend auf. Geburtenrückgang, erweiterte Bildungschancen für Frauen, das Streben nach Selbstständigkeit und Autonomie sowie die Pluralisierung der Familienformen sind relevante Prozesse für diesen Wandel. Erwerbstätigkeit in der Lebensplanung von Frauen nimmt heute einen wichtigen Platz ein. Der Anteil der deutschen Frauen an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen lag 2002 bei 44,3%. Hierbei sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass der Anteil der Frauen mit Kindern, die ausschließlich einer Teilzeitarbeit nachgehen, in Deutschland bei 38%, in Polen jedoch nur bei knapp 10% liegt. Frauen heute werden sich immer die Frage stellen müssen, "wie sie als Frauen sein sollten" und "wie sie als individuelle Person sein wollten, wenn sie könnten", gerade auch hinsichtlich normativer Leitbilder. Aufgrund der Wiedervereinigung in Deutschland ist die Zugehörigkeit zu einer christlichen Religionsgemeinschaft in West- und Ostdeutschland zu unterscheiden. Gut 70% der Westdeutschen und weniger als 30% der Ostdeutschen sind Mitglieder einer christlichen Kirche. Kirchenmitgliedschaft ist jedoch kein Indikator für gelebte Religiosität. Studien hinsichtlich der Religiosität ergaben, dass sich die Westdeutschen zu 55% und die Ostdeutschen zu ungefähr 30% als religiös einschätzen. In Ostdeutschland liegt der Anteil der Menschen, die sich als unreligiös einschätzen bei circa 40%, in Westdeutschland bezeichnen sich unter 30% als nicht religiös. Die unterschiedlichen Ausprägungen von Religiosität, die sich aufgrund der Wiedervereinigung 1990 und der vorangegangenen strukturellen Trennung und der damit verbundenen Entwicklungsunterschiede ergeben, sind Bestandteil der Arbeit. Nachfolgend ist zu überprüfen, ob sich in Deutschland und Polen mit ihrer verschieden hoch ausgeprägten Religiosität Frauen an traditionelle Vorstellungen halten und wie sich dies in deren Lebensplanung äußert. Um Unklarheiten zu vermeiden, werden in den nachfolgenden Kapiteln Aussagen über polnische bzw. deutsche Frauen besonders gekennzeichnet. Die verschiedenen Phasen der Lebensplanungsmodelle basieren auf der Studie von Birgit Geissler und Mechthild Oechsle "Lebensplanung junger Frauen" (1996). Für meine Untersuchung wurden jedoch ausschließlich Studentinnen befragt, die in Deutschland bzw. Polen beheimatet sind. Als Grundlage der Untersuchung wurden mit je drei Studentinnen im Alter von 21 bis 26 Jahren aus Duisburg und Danzig qualitative Interviews durchgeführt. Diese wurden methodisch aufgearbeitet und unter Berücksichtigung der bestehenden Literatur analysiert. Das Thema der Diplomarbeit steht in Verbindung mit einem Projekt an der Universität Duisburg-Essen, welches das Ziel "(…) einer interkulturellen Kommunikation und Kooperation zwischen Studierenden und Lehrenden (…)" an den Universitäten Danzig und Duisburg hat (Internetbrücke Danzig-Duisburg). Unter den Projektteilnehmerinnen und –teilnehmern wurden unterschiedliche Themen wie gesellschaftspolitische, ökonomische und kulturelle diskutiert. In Zusammenhang mit diesen Gesprächen entwickelte sich bei mir das Interesse, in meiner Diplomarbeit einen Vergleich von deutschen und polnischen Studentinnen hinsichtlich ihrer Lebensplanung durchzuführen. Die Arbeit untergliedert sich einschließlich Einleitung und Fazit in sechs Kapitel. Neben dem kurzen Überblick in der Einleitung wird in Kapitel 1.1. eine Klärung der für diese Arbeit zentralen Begriffe erfolgen. Kapitel 2 gibt einen wissenschaftlichen Überblick über die Themen Leitbilder, Lebensplanung und Religiosität. Kapitel 2.1. hat eine Studie zur Lebensplanung junger Frauen von den Wissenschaftlerinnen Birgit Geissler und Mechthild Oechsle zur Grundlage. Verschiedene Formen von Lebensplanungen sind hier in übersichtlichen Modellen dargestellt. Ergänzend zu dem Thema wurde bestehende Literatur anderer deutscher und polnischer Autoren und Autorinnen verwandt. Das Kapitel 2.2. befasst sich mit den Leitbildern der guten Mutter in Deutschland und der Matka Polka in Polen. Um Aussagen über die Entwicklung von Religiosität im Vergleich zu treffen, ist eine breitere Betrachtung notwendig. Aus diesem Grund wird die unterschiedliche historische religiöse Entwicklung in den Ländern Polen, Ost- und Westdeutschland bis zur Gegenwart in Kapitel 2.3. behandelt. Zur Beschreibung von Religiosität werden verschiedene Dimensionen der religiösen Ausprägungen, nach Gert Pickel, dargestellt. Kapitel 3 schildert den Aufbau und die Methode des Untersuchungsgegenstandes. Der Leitfaden der Interviews, die Fallauswahl und die Interviewverläufe werden vorgestellt. Mit der Aufbereitung der erhobenen Daten und deren Auswertung befasst sich Kapitel 4. Die einzelnen Fälle werden mit ihren Aussagen detailliert vorgestellt und auf zwei Ebenen ausgewertet. Die formale Ebene befasst sich mit dem biographischen Verlauf. Auf der inhaltlichen Ebene wird versucht, die einzelnen Aussagen zu Lebensplanung und Religiosität in kollektive und subjektive Sinnzusammenhänge zu setzen. Die Revision in Kapitel 5 befasst sich mit der kritischen Betrachtung der angewandten Methode und ihrer Durchführung. Die abschließende Zusammenfassung und Überprüfung der Anschlussfähigkeit der Untersuchung erfolgen im Fazit.Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis: 1.Einleitung2 1.1Begriffsklärung7 1.1.1Rolle der Frau7 1.1.2Lebensplanung8 1.1.3Religiosität8 2.Wissenschaftliche Bezüge8 2.1Typen der Lebensplanung9 2.1.1Die doppelte Lebensplanung12 2.1.2Die familienzentrierte und modernisiert-familienzentrierte Lebensplanung16 2.1.3Die berufsorientierte Lebensplanung19 2.1.4Die individualisierte Lebensplanung21 2.2Leitbilder gute Mutter/Matka Polka26 2.3Religiosität30 3.Zugang zum Forschungsgegenstand und Methoden41 3.1Methode: Problemzentrierte Interviews42 3.1.1Ausarbeitung des Leitfadens43 3.1.2Fallauswahl und Kontaktaufnahme44 3.1.3Interviewverläufe46 4.Methodische Auswertung46 4.1Fallübersicht und Fallbeschreibung48 4.1.1Aussagen zur persönlichen Lebensplanung55 4.1.2Aussagen zur Religiosität73 4.2Auswertung der empirischen Daten89 5.Revision97 6.Fazit101 7.Literaturverzeichnis105Textprobe:Textprobe: Kapitel 2.3, Religiosität "Als Christen stehen Polen und Deutsche angesichts neuer gesellschaftlicher Entwicklungen insbesondere im Hinblick auf den Schutz des Lebens, der Ehe und der Familie vor großen Herausforderungen" (Gemeinsame Erklärung der deutschen Bischofskonferenz und der polnischen Bischofskonferenz aus Anlass des 40. Jahrestages des Briefswechsels von 1965, Karl Kardinal Lehmann Erzbischof, Bischof von Mainz, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, Josef Michalik, Metropolit von Przemyoel, Vorsitzender der Polnischen Bischofskonferenz). Um festzustellen, ob und in welchem Maße die Lebensplanung von jungen Frauen in Deutschland und Polen von ihren religiösen Einstellungen beeinflusst wird, ist es notwendig, in einem ersten Schritt die unterschiedlichen Dimensionen von Religiosität herauszuarbeiten. Drei Dimensionen, erarbeitet durch Pickel, erscheinen in diesem Zusammenhang relevant: Annerkennung der Institution Kirche, die kirchliche Integration der Einzelpersonen und die subjektive Religiosität. Zusätzlich wird zur Dimension der Annerkennung der Kirche die Rolle des Papstes betrachtet. Mit diesen Dimensionen soll versucht werden, eine Verbindung zwischen dem institutionalisierten Bereich, den die Institution Kirche darstellt und dem individualisierten Bereich, welcher die persönliche Gestaltung von Religion beschreibt, herzustellen, um Religiosität im Ganzen betrachten zu können. Diese Dimensionen werden auch in Kapitel 4.2. übernommen, um die Aussagen zur Religiosität auszuwerten. Anerkennung der Institution Kirche: Die Institution Kirche hat in Polen in der Vergangenheit häufig die Bedeutung von Religion und Glauben in der Bevölkerung beeinflusst. Gerade durch positive Erfahrungen mit der Kirche zu Zeiten des Umbruchs 1989 war das Vertrauen zu ihr sehr hoch. Mittlerweile unterliegen allerdings die Religion und der Glaube einer Individualisierung, gerade wenn es sich um die Akzeptanz moralischer Werte handelt. Aufgrund der Individualisierung der Religion sinkt das Vertrauen in die Institution Kirche, die noch immer an traditionellen Ansichten festhält. Während in der Zeit des Umbruchs 1989 das Vertrauen seinen Höhepunkt von ca. 88% hatte, sank es 1994 auf ca. 40%. Auch wenn in Deutschland, Ost- sowie Westdeutschland, kirchliche Feste, wie zum Beispiel die Kommunion oder Konfirmation, weiterhin bei der Mehrheit der Bevölkerung gefeiert werden, ist das Verhältnis zu der Kirche distanziert. Als Indikator für die Anerkennung der Institution Kirche kann ebenfalls die Bedeutung des Papstes für die polnische und deutsche katholische Bevölkerung herangezogen werden. In Bezug auf Polen ist es elementar, auf die Rolle des Papstes einzugehen. Gerade die starke emotionale Verehrung Papst Johannes Paul II. durch die Bevölkerung in Polen muss beachtet werden. Brandys, ein polnischer Schriftsteller und Essayist, publizierte zum 1. Besuch des Papstes in Polen 1979 folgendes: "(…) Der Heilige Vater im Himmel über Warschau schwebend, ein polnischer Papst, der aus den Wolken herabsteigt direkt ins Herz der Hauptstadt (…)". Lenschen gibt die Haltung der Bevölkerung wieder, indem er anmerkt, dass Papst Johannes Paul II. den Menschen in Polen neues Selbstbewusstsein und Mut eingab. Unter dem Aspekt, dass er der erste polnische Papst in der Geschichte war, sorgte er Lenschens Ansicht nach für eine Aufwertung Polens (ebd.). Gerade die Rolle von Johannes Paul II. als Mittler zwischen Regierung und Gesellschaft während der Zeit des Umbruchs 1989 förderte die Treue zum Papst und ist auch der jüngeren Generation noch im Gedächtnis geblieben. Der Tod des polnischen Papstes im Jahr 2005 war für die Mehrheit der polnischen Bevölkerung ein furchtbares Ereignis. Die Einflussnahme des Pontifikats des deutschen Papstes Benedikt XVI. in Hinblick auf die Religiosität in Deutschland, aber auch in Polen, bleibt abzuwarten. Die kirchliche Integration der Einzelpersonen: Wird der Kirchgang als Indikator für religiöse Integration betrachtet, kann man erkennen, dass in Polen, wo der Katholizismus stark ausgeprägt ist und die Tradition der katholischen Kirche eine starke Bindung an Religion und Kirche fördert, die kirchliche Integration weitaus höher ist als in Deutschland. Dies lässt sich auch auf den stärker verpflichtenden Charakter der katholischen Kirchenregularien zurückführen. 1998 gingen 54% der Bevölkerung regelmäßig in die Kirche. Jopek sieht das Bekenntnis zum Glauben und zu religiösen Praktiken als stabil an (ebd.). Gerade wenn es um gesellschaftspolitische Fragen geht, hat die Religion auch heute noch Einfluss auf die Bevölkerung. Durch den Besuch des Papstes 1987 in Polen wurde der Glaube der Bevölkerung gestärkt und die kirchliche Integration nahm nach einem Abwärtstrend wieder zu. Gerade in der Zeit des Umbruchs gewann die Kirche an Vertrauen und die Zahlen der Gottesdienstbesucher stiegen an. Pickel beschreibt für Deutschland, West- sowie Ostdeutschland, einen Trend zum Rückgang der kirchlichen Integration. Der Kirchgang wird nur noch sporadisch ausgeführt. 26% der katholischen und 7% der evangelischen Gläubigen besuchen regelmäßig die Kirche. Dennoch ist das Verhältnis der Mehrheit der Kirchenmitglieder zu kirchlichen Riten wie Taufe oder kirchliche Bestattung positiv. Die kirchliche Integration ist in einem eher gemischt konfessionellen Land wie Westdeutschland durchschnittlich ausgeprägt. Der Anteil der evangelischen Christen ist in etwa so hoch wie der der katholischen Christen. Meulemann führt aus, dass 2002 32% der westdeutschen Bevölkerung nie den Gottesdienst besuchten und dass der Anteil in Ostdeutschland 65% beträgt. Die gering ausgeprägte kirchliche Integration im Osten Deutschlands lässt sich ebenso durch die erzwungene Säkularisierung in der Zeit des Sozialismus erklären, wie durch das Unvermögen der Kirchen, die Mitglieder zu einer höheren Beteiligung am gottesdienstlichen Leben zu motivieren und sie dadurch enger an zentrale Inhalte des christlichen Glaubens zu binden. Die subjektive Religiosität: Wird der Glaube und die persönliche Religiosität betrachtet, erkennt man in Polen eine überwiegend gläubige Bevölkerung. Laut Untersuchungen von Zulehner/Deutz schätzen sich 95% der Polen als religiös ein. Mittlerweile ist in Polen eine Individualisierung von Religion zu beobachten. Auch wenn die Anzahl des sonntäglichen Kirchgangs weiterhin stabil ist, werden die Gebote der Kirche nicht unbedingt angenommen. Die Akzeptanz für christliche Moralvorstellungen ist gesunken. Die traditionellen Einstellungen der Kirche gegenüber modernen Entwicklungen werden von den Bürgern eher kritisch wahrgenommen. Eine Untersuchung im Jahr 1990/91 zeigt, dass die Mehrheit der polnischen Bevölkerung die Ansicht vertritt, dass die Kirche Antwort geben kann (und soll) auf Fragen bezüglich des Lebenssinns (ca. 80%), der Familie (ca. 70%) und der Moral (ca. 76%). Doch eine Studie aus dem Jahr 1994 belegt durch die Meinungsmehrheit der befragten Personen, dass der Mensch seine Entscheidungen selbständig treffen und sich nicht zu sehr von den Geboten der Kirche leiten lassen sollte. In Fragen der Moral, wie Abtreibung oder Scheidung, und in religiösen Fragen, wie die Art der Glaubensausübung, wird eine Verschiebung und Individualisierung deutlich. Untersuchungen von Pickel zur Gläubigkeit in Deutschland ergaben, dass die Bevölkerung der Bundesrepublik innerhalb Gesamteuropas durchschnittlich gläubig zu nennen ist. 65% der Bevölkerung Westdeutschlands schätzt sich als "subjektiv religiös" ein In Ostdeutschland ist die subjektive Religiosität nur schwach ausgeprägt, der Anteil liegt hier bei 37%. Zusammenfassend ist für Deutschland zu sagen, dass die Dimension der subjektiven Religiosität höher ist als die der kirchlichen Religiosität.
Die vorliegende Dissertation beschäftigt sich mit der Orientierungsfunktion, die der erlernte Beruf für Individuen ausübt. Durch die Selektion arbeitsmarktrelevanter Fähigkeiten kommt ihm eine besondere Rolle in der Vermittlung zwischen Bildung und Arbeitsmarkt zu. Mit dieser Arbeit wird hinterfragt, ob und wenn ja, wie sich Veränderungen in der Arbeitswelt und im Bildungswesen auf diese Orientierungsfunktion auswirken. Die 1970er bis 2000er Jahre setzen für diese Fragestellung die idealen Rahmenbedingungen: Die Arbeitswelt ist durch die dritte industrielle bzw. mikroelektronische Revolution und die damit einhergehende Globalisierung geprägt. Die Nachfrage nach Tätigkeiten verändert sich. Zunehmende Arbeitslosigkeitserfahrungen und die Entstehung atypischer, vom unbefristeten Vollzeitvertrag abweichender, Arbeitsverhältnisse führen zu Unsicherheiten im Erwerbsverlauf. Im Bildungssystem wird im selben Zeitraum der Ausbau des Hochschulsektors forciert. Das duale Ausbildungssystem, welches als Idealbild für die Verknüpfung von staatlicher Bildung und wirtschaftlichen Anforderungen gilt, verliert bei den jungen Generationen hingegen an Attraktivität.
Trotz einer Vielzahl an Studien, die sich der Übereinstimmung von Ausbildungs- und Erwerbsberuf annehmen und berufliche Mobilitäten untersuchen, kann die Frage nach einer Entberuflichung an den Übergängen zwischen Ausbildung und Erwerbstätigkeit bislang nur zu Teilen beantwortet werden. Dies hat vorwiegend drei Gründe: Erstens wird der Beruf als ein zeitlich starres Konstrukt betrachtet, was je nach Aggregation zu unterschiedlichen Rückschlüssen über eine Entberuflichung führt. Dabei ist zu beachten, dass sich berufliche Inhalte und damit auch die inhaltlichen Distanzen zwischen Berufen über die Zeit verändern. Zweitens werden verschiedenartige Eigenschaften unterschiedlicher beruflicher Abschlüsse nicht vergleichend berücksichtigt. Dies ist aber notwendig, um die Diskussion über eine Lockerung beruflicher Strukturen von der Fixierung auf den relativen Bedeutungsverlust von Facharbeitern und dem Rückgang an Auszubildenden im dualen System zu lösen. Drittens fehlt eine Forschungsperspektive, welche die Brückenfunktion des Berufs ins Zentrum rückt und seine strukturierende Funktion für Akteure in den beiden Lebensbereichen Bildung und Arbeitsmarkt untersucht. Mit dieser Dissertation wird zur Schließung dieser Forschungslücken beigetragen.
Die Arbeit untergliedert sich im Wesentlichen in drei thematische Teile: Einen theoretischen, einen methodischen und einen empirischen Teil. Diese Blöcke werden der Übersicht halber in jeweils mehrere Kapitel untergliedert. Zuletzt werden Schlussfolgerungen aufgrund der gewonnen Erkenntnisse gezogen, Limitationen benannt und Empfehlungen für die zukünftige Gestaltung von Bildungscurricula abgeleitet.
Im ersten theoretischen Teil wird zunächst der Stellenwert des Berufs im deutschen Bildungs- und Erwerbssystem herausgearbeitet, seine Funktionsweisen aufgezeigt und der Untersuchungsgegenstand definiert. Der Kern des erlernten Berufs wird über das fachliche Fähigkeitsprofil definiert. Dieses grenzt ihn zu anderen Berufen ab und muss erfasst werden, wenn die Tragfähigkeit beruflich qualifizierender Abschlüsse überprüft werden soll. Im darauffolgenden Kapitel werden die Änderungen der Arbeitswelt zwischen den 1970er und 2000er Jahre beschrieben und darauf folgend Hypothesen für die Anwendbarkeit des erlernten Fähigkeitsprofils abgeleitet. Konkret wird eine Erweiterung des Task-Biased-Technological-Change-Ansatzes vorgenommen und das Positionsverhältnis von neuartigen Technologien der mikroindustriellen Revolution zur Nachfrage nach Tätigkeiten in den Mittelpunkt gerückt. Der technologische Wandel wird somit direkt auf die Anwendbarkeit erlernter fachlicher Fähigkeiten bezogen. Zudem werden theoretische Zusammenhänge zwischen Brüchen im Erwerbsverlauf und der beruflichen Bindekraft hergestellt. Das anschließende Kapitel befasst sich mit dem Wandel des Bildungssystems und arbeitet weitere berufliche Charakteristika heraus. Es wird erwartet, dass fachspezifische Konkurrenzsituationen, die Lizenzierung eines Berufs, der Signalwert des beruflichen Abschlusses, die Spezifität des Fähigkeitsprofils und die Art der Ausbildungsform die Anwendbarkeit des erlernten fachlichen Fähigkeitsprofils beeinflussen.
Der methodische Teil untergliedert sich in zwei Kapitel. Zunächst wird ein Messkonzept von fachlichen Fähigkeitsprofilen vorgestellt und empirisch überprüft. Es wird gezeigt, dass einzelne fachliche Fähigkeiten in mehreren Berufen Anwendung finden können. Die Besonderheit eines Berufs ergibt sich durch die jeweilige Intensität der Fähigkeit und der Zusammensetzung mit anderen fachlichen Fähigkeiten. Über eine Harmonisierung der Mikrozensen zwischen 1973 bis 2011 auf Berufsebene, kann erstmals eine konsistente Zeitreihe von innerberuflichen Tätigkeitsverteilungen erschaffen werden. Gewichtet mit den durchschnittlichen Bildungszeiten im Beruf lassen sich hierdurch für jeden Beruf zeitpunktspezifische fachliche Fähigkeitsprofile berechnen. Damit werden die bisherigen Beschränkungen bei der Messung von Berufswechseln über Berufskennziffernvergleiche überwunden. Denn über einen Vergleich des individuellen Fähigkeitsprofils von Akteuren mit dem in Erwerbsarbeit nachgefragten Fähigkeitsprofil können fachliche Übereinstimmungen zum einen in einer "`Humankapitaltransferrate"' bemessen und intuitiv interpretiert werden. Zum anderen ermöglicht die neuartige Bemessung den Fähigkeitsaufbau über Mehrfachausbildungen nachzuzeichnen. Der Vorteil der Operationalisierung kann empirisch belegt werden: Die Transferraten können die subjektiven Einschätzungen von Erwerbstätigen hinsichtlich der Verwertbarkeit von in der Ausbildung erworbenen Fähigkeiten und Kenntnissen sowie der Verwandtschaftsbeziehung zwischen Ausbildungs- und Erwerbsberuf besser prognostizieren als alternative, in der Literatur verwendete, Messansätze.
Das zweite methodische Kapitel widmet sich der Konstruktion neuartiger Indikatoren, um die beruflichen Spezifika eines erlernten Berufs abzubilden. So werden die einzelnen Fähigkeiten der Akteure hinsichtlich ihrer Technologiereagibilität in technologisch ersetzbare, technologiebegleitende, -komplementäre und - neutrale Fähigkeiten eingeordnet. Die fachspezifische Konkurrenzsituation im Beruf wird über einen Vergleich der Berufsstruktur der jährlichen Berufsabschlüsse mit der Berufsstruktur der Erwerbstätigen im Beruf abgebildet. Die Spezifität eines fachlichen Fähigkeitsprofils bemisst sich an den durchschnittlich notwendigen Bildungsinvestitionen, die für das Erlernen eines zufällig zugelosten Arbeitsplatzes notwendig wäre. Der Signalwert der Ausbildungsabschlüsse wird über den Zugang an Personen ohne formale berufliche Qualifikation und den Anteil an Hochqualifizierten im Beruf operationalisiert. Um die Auswirkungen der beruflichen Spezifika auf die Anwendbarkeit erlernter Fähigkeitsprofile zu überprüfen, werden die Bildungs- und Erwerbsverläufe westdeutscher Ausbildungskohorten der Jahre 1973 bis 2002 bis mindestens fünf Jahre nach Erstausbildungsende betrachtet. Diese werden retrospektiv über den IAB-Datensatz "`Arbeit und Lernen im Wandel"' erhoben.
Der empirische Teil untergliedert sich in sechs Kapitel. Zunächst werden die Berufsprofile der Ausbildungskohorten beschrieben und der Einstiegsprozess in den Arbeitsmarkt dargestellt. Anschließend werden die unterschiedlichen Stationen in der Bildungs- und Erwerbskarriere hinsichtlich der Orientierungsfunktion des erlernten fachlichen Fähigkeitsprofils multivariat untersucht. Als erstes wird der Austritt aus der (Erst-)Ausbildung analysiert. Dabei stehen den Akteuren drei Alternativen zur Wahl: Die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit im erlernten Fähigkeitsprofil, außerhalb des erlernten Fähigkeitsprofils oder ein Wiedereinstieg in das formale Bildungswesen. Anschließend werden die Folgeausbildungen in den Blick genommen. Hier besteht die Möglichkeit sich im bestehenden Fähigkeitsprofil zu spezialisieren oder dieses fachlich zu erweitern, jeweils mit der Möglichkeit den Komplexitätsgrad für das Fähigkeitsprofil zu erhöhen oder nicht. Zudem kann die Folgeausbildung auch abgebrochen werden. Der dritte multivariate Analyseschritt widmet sich dem Austritt aus einer Folgeausbildung in die Erwerbstätigkeit. Sind die Akteure einmal in ihrem erlernten Fähigkeitsprofil erwerbstätig, ist die Anwendungszeit ihres Fähigkeitsprofils von Interesse. Auch in diesem vierten Untersuchungsschritt wird der Wiedereinstieg in das berufliche Bildungssystem als Alternative zu einer Erwerbstätigkeitsaufnahme außerhalb des erlernten Fähigkeitsprofils angesehen. Um das Bild über die Tragfähigkeit beruflicher Qualifizierungen abzurunden, werden zuletzt Erwerbstätigkeiten außerhalb des erlernten Fähigkeitsprofils betrachtet und untersucht, welche beruflichen Spezifika die Rückkehr in das erlernte Fähigkeitsprofil oder den Wiedereinstieg in Bildung begünstigen.
In der Deskription zeigt sich, dass sich die Ausbildungskohorten vor allem durch ihren Qualifizierungsweg unterscheiden. So nimmt der Anteil berufspraktischer Qualifizierungen über die jüngeren Kohorten ab und der Anteil an akademischen Abschlüssen zu. Damit steigt zugleich der Anteil an Akteuren, die sich in technologiekomplementären Fähigkeiten qualifizieren, während technologisch ersetzbare Fähigkeitsprofile zurückgehen. Ebenfalls zunehmend ist der Anteil an Qualifizierungen in lizenzierten Berufen und spezifischen Fähigkeitsprofilen. Der Anteil an destandardisierten Berufen nimmt aufgrund der allgemeinen Höherqualifizierungen hingegen ab. Bei den Einstiegsprozessen der Ausbildungskohorten zeigt sich, dass vor allem bei den Männern Arbeitslosigkeitserfahrungen nach dem Erstausbildungsende zunehmen und die Anwendbarkeit des erlernten Fähigkeitsprofils in der Ersterwerbstätigkeit zurückgeht. Fünf Jahre nach Erstausbildungsende liegt der Anteil der Akteure, die außerhalb des erlernten Fähigkeitsprofils erwerbstätig sind jedoch in allen Kohorten bei nahezu 30 Prozent, so dass keine zunehmende Entberuflichung im Arbeitsmarkt erkennbar wird. Allerdings offenbart sich, dass die jüngeren Kohorten häufiger in die formale Bildung zurückgekehrt sind, um Veränderungen am Fähigkeitsprofil vorzunehmen.
Fasst man die Ergebnisse aus allen multivariaten Untersuchungen zusammen, ergeben sich folgende Erkenntnisse: Eine Entberuflichung sollte nicht am Rückgang der dualen Ausbildungsform festgemacht werden. Unter Berücksichtigung von beruflichen Eigenschaften bietet eine schulische oder hochschulische Ausbildung den Akteuren eine ähnliche Orientierungsfunktion, wie Akteuren mit einer berufspraktischen Ausbildung. So spielt unter anderem die Position der Fähigkeit zu neuen Technologien eine Rolle. Bei technologisch ersetzbaren und technologieneutralen Fähigkeiten zeigt sich langfristig eine kürzere Anwendungszeit in Erwerbstätigkeit. Akteure mit technologiebegleitenden Fähigkeiten wenden ihr Fähigkeitsprofil hingegen häufiger in Erwerbstätigkeit an und nutzen Folgeausbildungen für den beruflichen Aufstieg. Insgesamt erhöht ein Technologiebezug der Fähigkeit die Neigung in eine Folgeausbildung einzutreten. Qualifikationsspezifische Konkurrenzsituation erhöhen zum Beginn der Erwerbskarriere das Risiko das erlernte Fähigkeitsprofil zu verlassen. Akteure in Berufen, die über Bedarf qualifizieren, nutzen zudem Folgeausbildungen, um sich für andere Tätigkeitsfelder zu qualifizieren. Auch bei Akteuren, die sich in destandardisierten Berufen qualifiziert haben oder mit nicht formal beruflich Qualifizierten konkurrieren, ist eine geringere Anwendbarkeit des erlernten Fähigkeitsprofils erkennbar. Zu späteren Zeitpunkten der Erwerbskarriere spielt eine Ausbildungssituation über Bedarf und die Destandardisierung des Berufs keine Rolle mehr. Hingegen zeigt sich dann, dass berufspraktisch qualifizierte Akteure bei einer zunehmenden Akademisierung des Berufs aus ihrem erlernten Fähigkeitsprofil verdrängt werden. Akteure mit spezifischen Fähigkeitsprofilen zeigen eine vergleichsweise hohe Berufstreue und treten eher in eine Folgeausbildung über, als eine Abwertung ihrer Bildungsinvestitionen in Erwerbstätigkeit zu erfahren. Eine ebenfalls hohe Berufstreue zeigt sich bei Akteuren mit einem lizenzierten Abschluss.
Brüche in der Erwerbsbiografie, wie sie über Arbeitslosigkeit oder Kündigungen eines Arbeitsverhältnisses zustande kommen, erhöhen, wie atypische Beschäftigungsformen, die Wahrscheinlichkeit einer Erwerbstätigkeitsaufnahme außerhalb des erlernten Fähigkeitsprofils. Die negativen Produktivitätssignale haben aber nicht nur Folgen für die Anwendbarkeit formal erlernter Fähigkeitsprofile, sondern befördern allgemein die berufliche Mobilität und damit auch die Entwertung von Fähigkeiten und Fertigkeiten, die anderweitig erworben werden. Dies zeigt die Analyse zur Rückkehrhäufigkeit ins erlernte Fähigkeitsprofil. Sie offenbart auch, dass der erlernte Beruf gerade in unsicheren Zeiten der Erwerbskarriere als Orientierung dient.
Im Vergleich der Einstiegsprozesse der Ausbildungskohorten in den Arbeitsmarkt, zeigt sich, dass die zunehmenden Wiedereinstiege in Bildung bei den jüngeren Kohorten zwar über Kovariaten moderiert aber nicht vollständig erklärt werden. Der Wunsch nach höherer Bildung muss deshalb in den Akteuren selbst verankert sein und dem Glauben unterliegen, dass sich der Zugang zu beruflichen Positionen vor allem mit einem entsprechenden beruflichen Zertifikat realisieren lässt. Hieraus kann geschlussfolgert werden, dass es vor allem der Credentialismus der Akteure ist, der die berufliche Strukturierung des Bildungssystems und des Arbeitsmarktes manifestiert. Dennoch zeigen die häufigeren Folgeausbildungsaufnahmen auch, dass die Gestaltung von individuellen Fähigkeitsprofilen innerhalb von beruflichen Strukturen an Bedeutung gewinnt. Für die Gestaltung zukünftiger Bildungscurricula, sollte dies berücksichtigt werden, um Lernergebnisse unterschiedlicher Träger besser miteinander zu verzahnen und so berufliche Umorientierungen und Aufstiegsprozesse zu erleichtern.
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Die "Professorenmehrheit" gehört zu den vermeintlich unverrückbaren Grundgesetzen deutscher Hochschulgovernance. Das Urteil, das sie begründete, ist jetzt genau ein halbes Jahrhundert alt. Was bedeutet das für Hochschulreformen heute und in Zukunft? Ein Gastbeitrag von Hans-Gerhard Husung.
Hans-Gerhard Husung (SPD) war Staatssekretär für Wissenschaft und Forschung in Berlin und von 2011 bis 2016 Generalsekretär der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (GWK). Foto: privat.
AM 29. MAI 1973 fällte das Bundesverfassungsgericht sein "Hochschulurteil" (BVerfGE 35, 79) über die Klage von 398 Professorinnen und Professoren. Sie hatten sich gegen einzelne Bestimmungen des "Niedersächsischen Vorschaltgesetzes" von 1971 gewehrt, das zu einem späteren Gesamthochschulgesetz hinführen sollte. 600 Beigeladene aus anderen Bundesländern und 70 Prozessvertreter unterstrichen die Bedeutung des Verfahrens als Kulminationspunkt des historischen Ringens um die Gestaltung der Machtverhältnisse in den Hochschulen. Wie war es dazu gekommen? Und warum ist das Urteil heute immer noch so wichtig?
Die zu Beginn der 1960er Jahre einsetzende Bildungsexpansion erreichte bald auch die Universitäten. Die überkommene "Ordinarienuniversität" geriet durch das rapide Wachstum der Studierendenzahlen und damit einhergehend der Professuren und anderer akademischer Personalkategorien zunehmend unter Druck. Die "Integrierte Gesamthochschule", eine Verbindung von Universität, Pädagogischer Hochschule und Fachhochschule, wurde je nach politischer Couleur als Königs- oder Holzweg propagiert. Willy Brandts Losung 1969 "Mehr Demokratie wagen" beschrieb eine breite Grundstimmung an den Hochschulen nur zu gut.
Wie die Professoren sich gegen Forderungen nach einer "Drittelparität" organisierten
"Drittelparität" zwischen den Gruppen der Professoren, Wissenschaftlichen Mitarbeiter und Studierenden war als Forderung ebenso populär wie umstritten, also eine Stimmengleichheit in allen wichtigen Hochschulgremien und vor allem im Senat. Der "Bund Freiheit der Wissenschaften" entstand in der Professorenschaft zunächst aus der Sorge um die Funktionsfähigkeit der Universitäten, radikalisierte sich aber zunehmend. Konservative Professoren fanden auch im damaligen Deutschen Hochschullehrerverband ein hochschulpolitisches Sprachrohr.
Als bundesweiter Gegenspieler profilierte sich die "Bundesassistentenkonferenz". Die Studierenden organisierten sich in durchweg linken Gruppen. Auch die großen Parteien positionierten sich in dieser Frage konträr, SPD und FDP einerseits und CDU/CSU andererseits.
Beginnend 1966 mit Hessen betraten die Länder in diesem hochschulpolitisch aufgeheizten Klima mit ihren ersten Hochschulgesetzen juristisches Neuland. Zugleich versuchten sie, Reformdruck auf die Bundesebene abzuleiten, und eröffneten noch zu Zeiten der Großen Koalition aus CDU und SPD mit ihrer Zustimmung zur Grundgesetzreforn von 1969 dem Bund die neue Möglichkeit der Rahmengesetzgebung für den Hochschulbereich.
Nach der Bundestagswahl 1969 lag diese Kompetenz nun in den Händen der sozialliberalen Koalition aus SPD und FDP, die grundsätzlich in der Frage der Gruppenuniversität mit paritätischer Mitbestimmung ebenso aufgeschlossen waren wie bei der Reformzielsetzung "Gesamthochschule". Die CDU/CSU hingegen sorgte sich vor allem um die Funktionsfähigkeit der Universitäten, die sie insbesondere durch die politisierten Studierenden in Gefahr sah, und trat dafür ein, in allen Gremien den Hochschullehrern unbedingt die Mehrheit zu sichern.
In diesen Kontext gehörte das Niedersächsische Vorschaltgesetz von 1971 aus der Feder des sozialdemokratischen Kultusministers Professor Peter von Oertzen, der für viele seiner Standeskollegen ein "rotes Tuch" war. Er hatte an einer empfindlichen Stelle den Hebel angesetzt: Zur Gruppe der Professoren sollten nun auch Nichthabilitierte bis hin zu Studienräten im Hochschuldienst sowie Lektoren und Studienleiter gehören. Zudem führte das Gesetz in den Selbstverwaltungsgremien die Viertelparität aus Hochschullehrern, "Wissenschaftlichen Assistenten", Studierenden und sonstigen Mitarbeitern ein – faktisch also eine doppelte Entmachtung der "Ordinarien".
Richterkritik an der Ordinarienuniversität, Unterstützung von Reformen – und ein großes Aber
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts unter seinem Vorsitzenden Professor Ernst Benda, zuvor kurze Zeit CDU-Innenminister in der Großen Koalition, kam nach einer prägnanten Analyse der historischen, funktionalen und sozialen Entwicklungen der Universitäten in Deutschland seit Humboldt zu seiner Lagebeurteilung, dass in mehrfacher Hinsicht Reformbedarf bestehe: "Die bisherige Ordinarienuniversität, in der die Selbstverwaltung im Wesentlichen den Lehrstuhlinhabern vorbehalten blieb, war organisatorisch weder auf den sprunghaften Anstieg der Studentenzahl noch auf die vermehrte Übernahme von Aufgaben und Funktionen durch Nichtordinarien, insbesondere durch wissenschaftliche Assistenten vorbereitet. Die Vergrößerung des akademischen 'Mittelbaus' und seine zunehmende Bedeutung für den Gesamtprozeß der Wissenschaft standen in einem Mißverhältnis zu seinen geringen Kompetenzen in der Selbstverwaltung. Bei den Studenten verstärkte das Ausbleiben einer der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung Rechnung tragenden Studienreform das Begehren, Einfluß auf die Wissenschaftsverwaltung zu nehmen."
Durchgreifende Reformen seien seit langem verzögert worden, woran "auch die Ordinarienuniversität Mitverantwortung trägt". Die Interessengegensätze zwischen der Gruppe der Hochschullehrer und den anderen oft als "unterprivilegiert" bezeichneten Gruppen in der Realität des Hochschullebens seien sehr stark hervorgetreten. Die "Gruppenuniversität" mache diese Interessengegensätze durch ihre "Gruppentypik" noch deutlicher und könne sie unter Umständen sogar verfestigen. Dieses Modell sei gleichwohl "mit der Wertentscheidung des Art. 5 Abs. 3 GG vereinbar".
Da die Garantie der Wissenschaftsfreiheit nicht an eine bestimmte Organisationsform des Wissenschaftsbetriebs gebunden sei und der Gesetzgeber dabei erhebliche Ermessensspielräume habe, sei es vertretbar, die Gruppenuniversität als ein Instrument zur Lösung der Gruppenkonflikte in der Universität und ein Mittel zur Mobilisierung des Sachverstandes der einzelnen Gruppen zu nutzen, um auf diese Weise eine bessere Entscheidungsfindung bei der Verwaltung der Universität zu fördern – also bis hierher 1:0 für die Reformer.
In der weiteren verfassungsrechtlichen Rechtfertigung wurde dieser Grundsatz jedoch schrittweise ausgehöhlt, da das Gericht mehrheitlich von einem unmittelbaren kausalen Zusammenhang zwischen organisatorischen Normen und möglichen Beeinträchtigungen der freien Ausübung von Forschung und Lehre ausging. Es seien nicht die Beschlüsse kollegialer Organe, die die Wissenschaftsfreiheit faktisch beschränken könnten – also die Praxis der Organe, die im Einzelfall verfassungswidrig sein könnte –, sondern die Organisationsformen der Hochschule selbst, die die Möglichkeiten des Einzelnen zur Verwirklichung des Grundrechts bestimmten. "Ein effektiver Grundrechtsschutz erfordert daher adäquate organisationsrechtliche Vorkehrungen."
Die Prozentrechnung des Bundesverfassungsgerichts
Solche Vorkehrungen wollte die Kammer allerdings nicht dem Gesetzgeber überlassen, sondern sie waren Gegenstand ausführlicher Erörterungen des Gerichts, ausgehend von dem einmütig im Ersten Senat geteilten Grundsatz, "daß zwischen den einzelnen Gruppen der Hochschulangehörigen gewichtige rechtserhebliche Unterschiede bestehen, deren Nivellierung nach dem Schema 'one man one vote' zu Recht von niemand befürwortet wird." Ins Zentrum rückte die Frage nach der besonderen Stellung der "Hochschullehrer": Aufgrund ihrer herausgehobenen Qualifikation, Funktion und Verantwortung sowie der Dauer ihrer Zugehörigkeit zur Universität und ihrer Betroffenheit habe der Gesetzgeber zu gewährleisten, dass dieser Gruppe "ein über ihr zahlenmäßiges Gewicht wesentlich hinausgehender Einfluß auf die Willensbildung in den Organen" eingeräumt werde.
Damit noch nicht genug: Das "Wie" wurde keineswegs dem Gesetzgeber überlassen, sondern präventiv vom Bundesverfassungsgericht weiter konkretisiert. Bei allen Entscheidungen, die unmittelbar die Lehre betreffen, müssen die Hochschullehrer seitdem über 50 Prozent der Stimmen verfügen. "Bei Entscheidungen, die unmittelbar Fragen der Forschung oder die Berufung der Hochschullehrer betreffen, muß der Gruppe der Hochschullehrer ein weitergehender, ausschlaggebender Einfluß vorbehalten bleiben", bestimmten die Richter zudem – also mindestens 51 Prozent.
Außerdem wurde das Postulat der "homogenen" Zusammensetzung der Gruppe der "Hochschullehrer" entwickelt. Die Position der Hochschullehrer sollte nicht durch Aufnahme anderer Wissenschaftlicher Hochschulmitglieder verwässert werden, die die Qualifikation nicht erfüllten: Habilitation oder ein sonstiger Qualifikationsbeweis und selbständige Vertretung eines wissenschaftlichen Faches in Forschung und Lehre .
Damit habe das Gericht seine Funktion überschritten und sich an die Stelle des Gesetzgebers gesetzt, kritisierten zwei Mitglieder des Ersten Senats in ihrem abweichenden Votum. Solange die Grenze des "Unabstimmbaren" als Kern der Wissenschaftsfreiheit beachtet werde, argumentierten sie, unterliege die weitere Konkretisierung der nur bedingt nachprüfbaren Eigenverantwortung des Gesetzgebers. Ob der Gesetzgeber dabei sachwidrig oder willkürlich verfahren sei, könne das Bundesverfassungsgericht nachprüfen. Zudem: Ein "ständisches Gruppenprivileg" der "Hochschullehrer" sei keineswegs unmittelbar aus der Wertentscheidung des Grundgesetz-Artikels 5, Absatz 3 ableitbar. Vielmehr sei eine solche "verfassungskräftige Institutionalisierung" charakteristisch für "oligarchische Strukturen".
Als an den Beratungen Beteiligte verwiesen die beiden Abweichler darauf, dass sowohl bei den Klägern als auch bei der Mehrheit des Senats die aufgewühlte hochschulpolitische Situation eine bedeutende Rolle gespielt habe. "Bei einer grundlegenden Änderung dieser Situation – etwa bei der Auflösung des derzeitigen Gruppenkonflikts, einer stärkeren Annäherung des Mittelbaus an die Hochschullehrer oder anderen wesentlichen Veränderungen in der Grundeinstellung der Hochschulangehörigen zueinander" –, bestehe die Gefahr, dass die Vorgaben des Urteils ein "unerwünschtes Eigenleben" entwickelten.
Österreich: Gleiche Ausgangslage,
andere Schlussfolgerungen
Wäre ein anderes Urteil mit guten Gründen möglichgewesen? Ein Blick ins Nachbarland Österreich zeigt, dass ein Verfassungsgericht nur wenige Jahre später bei vergleichbarer historischer Ausgangs- und Verfassungslage in der entscheidenden Frage zu einer anderen Beurteilung kommen konnte. Nachdem die Vorinstanz zunächst ähnlich wie das deutsche Bundesverfassungsgericht argumentiert und geurteilt hatte, entwickelte der Österreichische Verfassungsgerichtshof 1977 eine deutliche Gegenposition, die bisweilen auch als verklausulierte Kritik am Hochschulurteil des Bundesverfassungsgerichts verstanden wurde.
Mit Blick auf Artikel 17, Absatz 1 der Österreichischen Verfassung ("Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei") kam das Gericht zu der grundsätzlichen Einschätzung, dass auch unter Einbeziehung der historischen Universitätsentwicklung aus dem "Jedermannsrecht" der Wissenschaftsfreiheit keine Verpflichtung für den Gesetzgeber erwachse, besondere organisatorische Vorkehrungen zugunsten der Gruppe der Hochschullehrer zu treffen. Denn: "Eine Unterscheidung zwischen einer durch positive Vorkehrungen besonders zu schützenden Wissenschaftsfreiheit der Hochschullehrer und einer solche zusätzliche Vorkehrungen nicht erfordernden Wissenschaftsfreiheit aller anderen Träger dieses Rechtes aber findet im Wortlaut des Art. 17 Abs. 1 StGG ganz offensichtlich keine Grundlage." (VfGH 3.10.1977, G 13/76, G 7/77)
Das "Hochschulurteil" des Bundesverfassungsgerichts entfaltete indes in Deutschland unmittelbar Wirkung. Im sozialdemokratisch geführten Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft unter Minister Klaus von Dohnanyi, der die Reformanliegen beim Thema "Gruppenuniversität und Drittelparität" durchaus berücksichtigen wollte, musste der für Herbst 1973 vorgesehene Entwurf umgeschrieben werden. Die parlamentarischen Beratungen waren kontrovers und langwierig; die Länder im Bundesrat waren gespalten. Erst nach einem ungewöhnlich lange (neun Monate) dauernden Verfahren im Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat konnte das Hochschulrahmengesetz 1976 verabschiedet werden.
Während im Entwurf 1973 lediglich bei Berufungen eine zusätzliche Mehrheit in der Professorengruppe vorgesehen war, ist schließlich nach dem Vermittlungsverfahren die doppelte Mehrheit der Professoren bei allen Grundsatzfragen von Forschung und bei Berufung von Professoren verankert: Solche Entscheidungen "bedürfen außer der Mehrheit des Gremiums auch der Mehrheit der dem Gremium angehörenden Professoren.(" HRG 1976, § 38,5 )
Damit hatte sich die CDU/CSU mit ihrem Fraktionsantrag von 1974 durchgesetzt, und das Hochschulrahmengesetz ging über die einschlägigen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts deutlich hinaus. Erst in der HRG-Novelle von 1998, mit der die Grundsätze des New Public Management ins Gesetz eingeführt wurden, fand ein Einschwenken auf das "Hochschulurteil" statt.
Obwohl die Länder seit der Grundgesetznovellierung von 2006 ihre eigenen Regelungen treffen können, zeigt ein Blick in die 16 aktuellen Hochschulgesetze, dass in einigen Ländern immer noch auf die Ur-Fassung des Hochschulrahmengesetzes von 1976 rekurriert wird mit der doppelten Mehrheit der Professoren bei grundsätzlichen Angelegenheiten von Forschung und Lehre. In den meisten Ländergesetzen finden sich zwei Varianten:Eentweder sind bei Forschung und Berufungen sowie Lehre differenzierte Mehrheiten vorgesehen, oder die Zusammensetzung des Entscheidungsorgans gewährleistet die absolute Mehrheit der Professoren. Ebenso sorgfältig wird das Homogenitätsgebot beachtet; lediglich die Juniorprofessur hat die Integration in die Professorengruppe geschafft, obwohl diese Stellen ausdrücklich der Qualifizierung für eine spätere Professur gewidmet sind und zudem das Kriterium der dauerhaften Zugehörigkeit (noch) nicht erfüllt ist.
Es bräuchte schon einen mutigen Landesgesetzgeber
Aufhorchen ließ Thüringen, das mit der viertelparitätischen Zusammensetzung des Senats ein Ausrufezeichen gesetzt hat. Doch die "Revolution" wird im selben Paragraphen wieder Bundesverfassungsgerichtkonform eingefangen: Bei Entscheidungen zu Forschung, Lehre und Berufungen wird die Professorengruppe zahlenmäßig so aufgestockt, dass ihre absolute Mehrheit gesichert ist. In Nordrhein-Westfalen wird die zahlenmäßige Zusammensetzung des Senats der jeweiligen Grundordnung überlassen; unabhängig von der Anzahl der Sitze der Professorinnen und Professoren in diesem Gremium verfügen sie über die Mehrheit der Stimmen, die beispielsweise bei viertelparitätischer Sitzverteilung durch entsprechende Gewichtung der Stimmen gewährleistet wird.
In der aktuellen Verfassungsrechtsprechung wird die klassische Paritätenfrage durch neuartige Herausforderungen in Zusammenhang mit dem Neuen Steuerungsmodell überlagert, das den Weg von der staatlichen Detailsteuerung in die Welt der autonomen, eigenverantwortlichen Hochschule beinhaltet. Mit der Übertragung vormals staatlicher Befugnisse und damit Veränderungen in der hochschulischen Organisationsstruktur sind Konstellationen entstanden, die zu Klagen führten. Vom sogenannten Brandenburg-Urteil von 2004 über die Urteile zum Hamburgischen Hochschulgesetz 2010 und die Entscheidung zur Zuweisung von wissenschaftsrelevanten Entscheidungsbefugnissen an Leitungsorgane der Medizinischen Hochschule Hannover 2014 bis hin zum Urteil des Verfassungsgerichtshofs Baden-Württemberg von 2016 hat sich der Akzent der Rechtsprechung in diese Richtung verschoben.
Gestützt auf das "Hochschulurteil" von 1973 wurde vier Jahrzehnte später offensiv der "wissenschaftsrelevante" Bereich jenseits der unmittelbaren Wirkungen auf Forschung und Lehre kritisch ausgeleuchtet: "Je mehr, je grundlegender und je substantieller wissenschaftsrelevante personelle und sachliche Entscheidungsbefugnisse dem Vertretungsorgan der akademischen Selbstverwaltung entzogen und einem Leitungsorgan zugewiesen werden, desto stärker muss die Mitwirkung des Vertretungsorgans an der Bestellung und Abberufung und an den Entscheidungen des Leitungsorgans ausgestaltet sein", heißt es 2014 im Urteil zur Medizinischen Hochschule Hannover (BVerfGE 136,338-385). In der Folge wurden in Hochschulgesetzen in unterschiedlicher Weise die Initiativmöglichkeiten der Hochschullehrer zur Abwahl von Hochschulleitungen deutlich gestärkt, die seither im Schatten der professoralen Abwahl agieren.
Gibt es Aussicht oder gar erkennbare Ansätze auf eine grundsätzliche Überprüfung des "Hochschulurteils" und eine Anpassung an veränderte Umstände? Eher nicht – es sei denn, ein mutiger Landesgesetzgeber, begleitet von breiter bundesweiter hochschulpolitischer Aufbruchstimmung, traut sich, das Risiko, erneut schmerzlich an das Urteil von 1973 erinnert zu werden, einzugehen und einen überzeugenden Aufschlag zu machen. Und zu zeigen, dass die Wissenschaftsfreiheit in Hochschulen auf anderen Wegen als durch Mehrheit der Gruppe der Professoren in Organen gesichert werden könnte.