Bedrohung Staatszerfall - Antwort Nation-building?
In: Friedensgutachten, S. Friedensgutachten 2004. / Institut für Entwicklung und Frieden ...-Münster ...
ISSN: 0932-7983
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Am Mittwochnachmittag überreichen die EFI-Wissenschaftsweisen ihr Jahresgutachten an Bundeskanzler Scholz. Der EFI-Vorsitzende Uwe Cantner spricht im Interview über den transformationspolitischen "Schlingerkurs" der Ampel, Deutschlands Bildungskrise und den Rückstand bei der KI-Entwicklung, die Öffnung zur Militärforschung – und was die Regierung trotz allem richtig macht.
Uwe Cantner, 63, ist seit Mai 2019 Vorsitzender der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI). An der Universität Jena hat er eine Professur für
VWL/Mikroökonomie, seit 2014 ist er Vizepräsident seiner Universität. Foto: David Ausserhofer.
Herr Cantner, wenn Sie nach der Überreichung des neuen EFI-Jahresgutachtens eine Minute allein hätten mit Olaf Scholz, was würden Sie ihm raten?
Meine wichtigste Botschaft an den Bundeskanzler wäre: Trotz aller Riesenaufgaben von der Verteidigungs- über die Sicherheits- bis hin zur Klimapolitik dürfen Forschung und Innovation auf keinen
Fall unter die Räder der immer schärferen Budgetkonkurrenz geraten. Und dann würde ich ihm ein paar Vorschläge machen, wie sich die Bearbeitung der unterschiedlichen Herausforderungen geschickt
mit einer gut ausfinanzierten F&E-Politik kombinieren ließe.
Alle wissen doch, dass sich die großen Probleme von heute und morgen nur mithilfe der Wissenschaft lösen lassen. Warum glauben Sie trotzdem, dass so eine Warnung nötig ist?
Weil wir die Transformation unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaft hin zur Klimaneutralität und damit auch die nötige Forschung und Entwicklung jetzt durchführen und finanzieren müssen, die
Erträge aber erst weit nach den nächsten Wahlen sichtbar werden. Da ist es politisch opportuner, große Investitionsprogramme für die Bundeswehr zu beschließen oder Konjunkturstimuli, die schnell
wirken. Wir dürfen über dem kurzfristig Drängendem nicht das langfristig Erforderliche aus den Augen verlieren.
Sie sagen es selbst: Politiker wollen Wahlen gewinnen, anstatt sie jetzt zu verlieren und in 15 Jahren Recht gehabt zu haben.
Dieser Gegensatz ist nicht zwangsläufig. Es ist durchaus möglich, Verantwortung für heute und für die Zukunft zu übernehmen. Also Strategien und Maßnahmen zu entwickeln, die schnell helfen, mit
ihren Auswirkungen aber der nächste Generation zu Gute kommen. Natürlich muss ich so einen langfristigen Plan den Wählerinnen und Wählern unbedingt erklären, sie dafür gewinnen. Die Grünen
versuchen das meiner Meinung nach zurzeit am ehesten.
Und bekommen entsprechend Gegenwind. Sagen Sie mir bitte, wann eine Regierung das zuletzt so gehandhabt hat und dann erfolgreich bei Wahlen war.
(lange Pause) Bei der Wiedervereinigung, beim Aufbau Ost, da hat es funktioniert.
Den Eindruck hatte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl vermutlich nicht, als er von Demonstranten mit Eiern beworfen wurde.
Proteste wird es immer geben, wenn sich Dinge ändern. Aber Kohl ist 1994 wiedergewählt worden. Und er hat das sehr geschickt angestellt mit seinem Versprechen, in zehn Jahren werde es im Osten
"blühende Landschaften" geben. Bis die da waren, hat es zwar – im Nachhinein betrachtet – deutlich länger gedauert, aber er hat es mit diesem Narrativ geschafft, die Leute hinter sich zu bringen.
Mehr noch: Er hat einen parteiübergreifenden Konsens in der Politik hergestellt, der ziemlich lange gehalten hat. Man hat das zusammen durchgezogen. So lange, bis wichtige Weichen gestellt waren.
Ein bisschen von diesem Geist würde ich mir heute wünschen. Zuerst hatte ich den Eindruck, der Ampel-Koalitionsvertrag, der sehr ambitioniert war, wäre ein Signal für einen solchen gemeinsamen
Aufbruch. Aber in der Praxis der drei Parteien prallen die Ideologien aufeinander. Und in der Wahrnehmung der Wähler verlieren alle Koalitionspartner – und extreme Kräfte bekommen Aufwind.
"Jeden Tag wird eine andere Technologie durchs Dorf getrieben, die abgelöst oder besonders gefördert werden soll. Die Politik generiert keine Ziele, sondern
Unsicherheit."
Ist es nicht erwartbar, dass bei einer Transformationsaufgabe dieser Größe die Fetzen fliegen?
Ich habe nichts dagegen, wenn über die Maßnahmen gestritten wird: Steuererhöhung, Steuersenkung, Subventionsabbau, Gebote und Verbote, solche Dinge. Das Problem ist, wenn darüber die gemeinsamen
Ziele verloren gehen. Die Regierung braucht einen Zielkorridor, wo sie hinwill, und dieser Zielkorridor muss über eine Legislaturperiode und die jetzige Parteienkonstellation hinaus Bestand
haben. Die Unternehmen haben hunderte Milliarden auf der hohen Kante, aber sie geben sie nicht aus, weil sie nicht wissen, in was sie investieren sollen. Jeden Tag wird eine andere Technologie
durchs Dorf getrieben, die abgelöst oder besonders gefördert werden soll. Die Politik generiert keine Ziele, sondern Unsicherheit.
Bekommen andere Länder das besser hin mit dem Zielesetzen?
Bei allen politischen Schwierigkeiten würde ich sagen, dass die USA besser sind im Ansagenmachen in Richtung ihrer Wirtschaft, im Setzen von Rahmenbedingungen. Oder nehmen Sie Österreich: Da hat
die Bundesregierung einen nationalen Energie- und Klimaplan aufgestellt, auf den sich alle politischen Akteure verständigt haben, und unterlegt ihn strategisch-langfristig mit Maßnahmen wie der
"Klimaneutralen Stadt". Natürlich ist es von Vorteil, wenn wie dort alle Zuständigkeiten in einem Ministerium konzentriert sind, das auch die operative Umsetzung übernimmt, das schafft Konstanz
–während bei uns immer wieder irgendein Ressort oder eine Partei die Grundsatzfrage neu stellen will.
Vielleicht wird das Thema bei uns zu sehr überhöht? Anstatt die Transformation als Teil des politischen Tagesgeschäfts zu begreifen und unaufgeregt voranzutreiben, wird in Deutschland
immer die große Umwälzung beschworen. In einer Vorversion des EFI-Gutachtens stand, es handle sich um eine "Herkulesaufgabe" ohne Vorbild, die von den finanziellen Dimensionen vergleichbar sei
mit dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg.
Den Satz haben wir gestrichen, obwohl ich persönlich ihn angemessen fand. Entscheidend ist: Für diese Transformation gibt es keine Blaupause, keine Erfahrungswerte. Unserer deutschen Mentalität
entspricht es, dass wir erstmal stehen bleiben und alles haarklein vorab besprechen und regeln wollen. Am besten juristisch wasserdicht. Anstatt wie andere Länder erstmal loszulaufen,
auszuprobieren, und wenn etwas nicht funktioniert, unaufgeregt nachzusteuern.
Die deutsche Politik fördert diese Mentalität, wenn sie so tut, als ließen sich im Voraus alle Härten ausschließen. Schon in der Corona-Pandemie hat sie Milliarden und Abermilliarden
ausgegeben, um auch denen die Verluste auszugleichen, denen sie gar nicht wehgetan haben.
Die Politik weiß genau, dass sie solche Versprechen nicht halten kann. Die Transformation kostet fürchterlich viel Geld, es wird Gewinner und Verlierer geben, das kann man nicht alles abfangen.
Doch aus Angst vor den Protesten entstehen solche politischen Lebenslügen. Und in der Not nimmt man dann Gelder, die für die Bekämpfung der Coronakrise vorgesehen waren, und will sie für die
Transformation einsetzen – bis das Bundesverfassungsgericht einem einen Strich durch die Rechnung macht.
Im EFI-Gutachten sprechen Sie von einem "Schlingerkurs".
Nehmen Sie das Gebäude-Energie-Gesetz. Wie konnte man auf die Idee kommen, den Einbau von Gasheizungen kurzfristig verbieten zu wollen, obwohl man weiß, dass der Einbau von Wärmepumpen pro
Haushalt 30.000 Euro kosten wird, wahrscheinlich sogar mehr? Und warum hat man die soziale Abfederung erst später nachgeliefert?
"Die Streichung der Subvention von Agrardiesel ist transformationspolitisch richtig. Ich darf aber bei der Umsetzung nicht gleich zwei Fehler
machen."
Jetzt hat man die Pflicht aufgeweicht, und die staatliche Förderung bekommen alle, nicht nur die sozial Bedürftigen. Da ist sie wieder, die Beschwichtigungsstrategie auch denen gegenüber,
die es sich leisten könnten.
Das ist wie bei der Subvention von Agrardiesel. Deren Streichung ist transformationspolitisch richtig. Ich darf aber bei der Umsetzung nicht gleich zwei Fehler machen. Erstens: Ich nehme die
Streichung der Subvention für Flugbenzin raus, obwohl es die Reichen sind, die fliegen und Kerosin verbrennen. Und zweitens verzichte ich beim Agrardiesel auf eine soziale Kompensation, eine
Staffelung abhängig von der Betriebsgröße etwa. Da sind Proteste vorprogrammiert. Um diese Unausgewogenheit auszugleichen wäre es wohl besser gewesen, alle Subventionen um einen einheitlichen
Prozentsatz zu kürzen.
Sie widmen sich als EFI-Kommission diesmal ausführlich dem Bildungssystem. Die internationale Schulvergleichsstudie PISA hat gezeigt, dass deutsche Neuntklässler so schlecht lesen,
schreiben und rechnen wie seit mindestens 20 Jahren nicht. Woraus Sie die Prognose ableiten, dass die Bundesrepublik über die nächsten Jahrzehnte eine unterdurchschnittliche wirtschaftliche
Entwicklung nehmen wird. Steckt da nicht ein Denkfehler drin? Wenn sich die Schülerleistungen ein, zwei Jahrzehnte später in der Innovationsdynamik widerspiegeln, müssten wir gerade einen Boom
erleben, denn vor 15, 20 Jahren befand sich unser Bildungssystem nach dem ersten PISA-Schock kräftig im Aufwind.
Natürlich kann man die Ergebnisse von Bildungsstudien nicht eins zu eins auf das künftige Wirtschaftswachstum übertragen, da gibt es noch weitere Faktoren. Aber wir sollten die Entwicklung sehr
ernstnehmen. Unsere künftige Innovationsfähigkeit als Gesellschaft entscheidet sich heute daran, wie gut wir den jungen Menschen die Grundkompetenzen vermitteln.
Dann machen Sie ein paar Vorschläge, was helfen würde.
Als EFI wollen wir vor allem eine nachdrückliche Warnung in Richtung Politik senden. Wir sind aber keine Bildungsforscher. Deren Botschaft ist allerdings überwiegend recht deutlich: weg vom
Frontalunterricht, stattdessen eine interaktivere Unterrichtsgestaltung, ein Einsatz digitaler Medien und die Nutzung der neuen Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz, wo sie Sinn ergibt. Aber
ohne zu überziehen – wir sehen, dass beispielsweise Schweden und Finnland den Grad der Digitalisierung in der Bildungsvermittlung zurückfahren. Wir müssen auch über die Prüfungsformate sprechen.
Und ich kann nicht nachvollziehen, dass Deutschland zwar mit die höchsten Lehrergehälter weltweit hat, aber die Lehrerfortbildung wenig systematisch betreibt und zu wenig in sie investiert.
Übrigens brauchen wir an den Hochschulen ebenfalls dringend wieder einen Diskurs über die Modernisierung der Studiengänge. Der ist leider zum Erliegen gekommen. Und die Lehrerbildung muss ins
Zentrum der universitären Strategie rücken.
Unterdessen fallen Deutschland und Europa bei der nächsten Schlüsseltechnologie zurück, der Künstlichen Intelligenz, die viele Experten für die entscheidende für die kommenden Jahrzehnte
halten. Bis vor einer Weile tröstete die Wissenschaft sich damit, wenn schon nicht in der Umsetzung in Anwendungen und Produkte, dann wenigsten in der KI-Entwicklung an der Weltspitze zu sein.
Das, sagt Ihre Kommission, ist jetzt auch vorbei.
Nicht vorbei, aber wir drohen nach den Patenten auch bei den wissenschaftlichen Publikationen den Anschluss zu verlieren. Allerdings handelt es sich um eine sehr junge Technologie, die
Entwicklungspfade sind nicht festgelegt, noch ist das Spiel nicht vorbei. Nehmen wir die großen KI-Sprachmodelle, da hat Open AI mit ChatGPT einen deutlichen Vorsprung, aber Aleph Alpha aus
Deutschland und Mistral aus Frankreich sind in einer guten Position für eine Aufholjagd, um bei den Modellen der dritten Generation – vor allem in der Anwendung – die Augenhöhe zu
erreichen.
Allein mir fehlt der Glaube. Es sind die US-Konzerne von Google über Facebook bis hin zu Microsoft und Apple, die seit Jahren die weltweiten Standards vorgeben und einen Innovationssprung
nach dem anderen abliefern. Und wir Deutschen und Europäer setzen diese Technologien ein, diskutieren über Datenschutz, europäische Lösungen und das Erringen technologischer Souveränität, und
während wir noch diskutieren und politische Pläne schmieden, stellen die Amerikaner oder Chinesen uns mit dem nächsten Game Changer vor vollendete Tatsachen.
Das muss nicht jedes Mal so laufen. Wir können uns immer noch auf eine starke Grundlagenforschung stützen, wir bilden hervorragende Leute aus. Die großflächige Einrichtung von KI-Professuren und
Nachwuchsgruppen, die wir als EFI zunächst kritisiert haben, hat sich doch bewährt. Wenn Sie im Silicon Valley durch die Entwicklungsabteilungen der großen Tech-Konzerne laufen, stammt da gefühlt
jeder dritte aus Deutschland.
"Wenn wir das attraktiv genug machen,
gehen die Leute nach Dresden oder Tübingen
anstatt nach Stanford oder Palo Alto."
Was nicht wirklich eine Beruhigung ist, wenn unsere KI-Talente keine Perspektiven für sich in Deutschland sehen.
Wenn sie keine Chance haben, mit ihrem Know How bei uns wirtschaftlich erfolgreich zu sein, gehen sie weg, das ist richtig. Der Vorteil der amerikanischen Konzerne ist deren Größe und ein schier
unerschöpfliches Finanzvolumen. Deutschland und Europa kann da nur mit KI-Ökosystemen gegenhalten. Diese können sich um Forschungszentren herum entwickeln, mit kleinen und größeren Laboren,
Unternehmen und Start-ups. In Deutschland versuchen wir, mit den KI-Zentren Ähnliches zu entwickeln: Kerne der Grundlagenforschung, Hochschulen und Forschungsinstitute, und um sie herum eine
geschickt aufgesetzte Startup-Förderung. Wenn wir das attraktiv genug machen, gehen die Leute nach Dresden oder Tübingen anstatt nach Stanford oder Palo Alto.
Sie können nicht mit ein bisschen staatlicher Gründerförderung den weltweiten Kapitalzustrom in die US-Tech-Community kompensieren. Die jungen Leute gehen nach Kalifornien, weil sie dort
das Risikokapital erhalten, das ihnen in Europa keiner gibt.
Das kommt darauf an. Von einem bestimmten Punkt an entwickeln die Ökosysteme eine Eigendynamik, dann kommt das Geld, und die Investitionen folgen. Schauen Sie auf Intel oder Microsoft und ihre
Pläne in Deutschland. Richtig ist, dass wir mehr mutige Unternehmer und Mäzene brauchen wie Dieter Schwarz, der massiv in Wissenschaft und Künstliche Intelligenz investiert und speziell in Aleph
Alpha. Fest steht: Wenn wir es jetzt nicht mit aller Kraft versuchen, ist das Spiel wirklich entschieden zugunsten der USA oder von China. Innovationsfinanzierung, insbesondere im Start-up
Bereich, ist ja ein deutsches Dauerproblem. Das lässt sich nicht nur mit deutscher Risikoaversion erklären, sondern auch mit dem Fehlen großer Pensionsfonds, die beispielsweise in den USA eine
wichtige Rolle bei der Start-up-Finanzierung spielen. Aber das ist, wie gesagt, kein KI-spezifisches Problem.
Jetzt loben Sie die Politik bitte einmal.
Nur einmal? In unserem Gutachten sehen wir für Lob gleich mehrfachen Grund. Der wichtigste: Die Bundesregierung ist bei ihrer Forschungs- und Innovationspolitik an sich auf dem richtigen Weg. Sie
ist sich der Aufgabe bewusst. Und sie beginnt bei allen erwähnten Inkonsistenzen mit der Umsetzung, sei es bei der Ausgestaltung der "Zukunftsstrategie Forschung und Innovation", bei der
Weiterentwicklung der Bundesagentur für Sprunginnovationen (SPRIND) oder dem Aufbau der Deutschen Agentur für Transfer und Innovation (DATI). Natürlich würden wir uns bei der SPRIND wünschen,
dass man ihr noch mehr rechtliche und finanzielle Freiräume gibt, dass die Bundesregierung zum Beispiel ganz auf ein Aufsichtsgremium verzichtet. Wir sehen aber ein, dass die Politik vermutlich
so weit gegangen ist, wie sie kann. Bei der Zukunftsstrategie wiederum sind die Strukturen jetzt da, die Missionsteams zwischen den Ministerien wurden aufgestellt, die Beiräte installiert.
Natürlich wäre es besser, wenn die Steuerung der Strategie nicht auf Ebene der Staatssekretäre angesiedelt wäre, sondern weiter oben. Und wenn sie einen eigenen Etat hätte, anstatt dass die
Mitglieder der Missionsteams für jede Maßnahme Geld aus ihren Häusern mitbringen müssen. Aber jetzt sollten wir sie mal laufen lassen. Zu hoffen ist, dass der lange Atem da ist, in die
eingeschlagene Richtung weiterzulaufen, falls es nächstes Jahr zu einem Regierungswechsel kommt. Bis eine Mission umgesetzt ist, wird es viele Jahre dauern. Womit ich wieder beim langfristigen
Zielkorridor bin: Wir brauchen eine grundsätzliche Übereinkunft, die über die Ampel hinausreicht.
Eine Übereinkunft von wem? Sehen Sie nicht die Gefahr, dass die Ministerien am Ende doch zu stark die Richtung vorgeben und die Wissenschaftsfreiheit unter die Räder kommt?
Die Politik muss ihre Rolle genau definieren. Eine Mission vorgeben heißt: Wir wollen das Alte durch etwas Neues, Anderes ablösen. Aber was dieses Neue ist, geben wir nicht vor. Alles, was anders
ist, kann erforscht und ausprobiert werden. Ein Beispiel: Wir wollen beim Automobilantrieb raus aus den fossilen Energien, aber in Hinblick auf die Alternativen fördern wir technologieoffen. Wir
lassen die Akteure loslaufen und nutzen die Kreativität der Wissenschaft und des Marktes.
Dann hat die FDP also Recht mit ihren Mahnungen, bloß nicht einseitig auf Batterieantriebe zu setzen?
Richtig ist, dass der Markt entscheiden muss, welche Technologien überleben und sich durchsetzen und welche nicht. Das heißt nicht, dass ich als Politik nicht verschiedene Innovationsansätze
zeitweise mit Subventionen unterstützen darf, aber es muss von Anfang an klar kommuniziert werden, dass diese Subventionen befristet sind. Wenn eine Innovation nicht von der Mehrheit der
Bevölkerung angenommen wird, dann muss die Politik irgendwann aufhören, sie zu fördern. Wobei der Zeitpunkt, wann Subventionen beendet werden, mitunter sehr schwer zu bestimmen ist. Bei neuen,
genmodifizierten Ansätzen in der Landwirtschaft ist das genauso. Wir sollten die Erforschung in jedem Fall ermöglichen und vom Ergebnis abhängig machen, was langfristig erlaubt ist und was nicht.
Aber wir dürfen nicht schon die Entwicklung verhindern!
"Der geopolitischen Lage können auch wir Wissenschaftler uns nicht verschließen. Studien aus den USA zeigen, dass jeder Dollar, der in Militärforschung gesteckt
wird, weitere 50 Cent an ziviler Forschung stimuliert."
Am Anfang haben Sie gesagt, in Zeiten der Budgetkonkurrenz komme es darauf an, die Finanzierung der aktuell drängenden Herausforderungen geschickt mit den nötigen Ausgaben für Forschung
und Entwicklung zu kombinieren. Aber was genau meinen Sie damit? Die Budgetkonkurrenz auflösen, indem die Wissenschaft in den Dienst der Aufrüstung gestellt wird?
So drastisch würde ich das nicht formulieren. Richtig ist aber: Das 100-Milliarden-Sondervermögen fließt nicht allein in militärisches Gerät. Ein Teil davon kann neue Forschungsansätze
finanzieren, die einen Dual-Use-Charakter haben, also Richtung ziviler und militärischer Nutzung gehen. Was bei der Forschung zu Künstlicher Intelligenz eigentlich immer und grundsätzlich der
Fall ist. Und noch ein Beispiel, das gar nichts mit Verteidigung zu tun hat: Wenn die Bundesregierung demnächst, über das Wachstumschancengesetz etwa, Maßnahmen zur Konjunkturstimulation
ergreifen sollte, gehört da eine sogenannte Strukturkomponente rein. Also Investitionen, um den langfristig notwendigen Umbau der Industrie jetzt voranzutreiben. Das geht wiederum nur mit
zusätzlichen F&E-Ausgaben.
Was Sie da beschreiben, würde bedeuten, dass sich Forscher auch an Ihrer Hochschule, der Universität Jena, darauf einstellen müssten, sich demnächst häufiger um Drittmittelaufträge der
Bundeswehr zu bewerben.
Das erfordert ein Umdenken, ja. Aber der geopolitischen Lage, in der wir uns befinden, können auch wir Wissenschaftler uns nicht verschließen. Studien aus den USA zeigen, dass jeder Dollar, der
in Militärforschung gesteckt wird, weitere 50 Cent an ziviler Forschung stimuliert. Ich sehe die Schwierigkeit für die Universitäten eher anderswo. Wenn Sie einen Auftrag der Bundeswehr annehmen,
kann es sein, dass die Wissenschaftler anschließend ihre Erkenntnisse nicht publizieren dürfen. Aktuell höre ich, dass es bereits bei einzelnen Drittmittelprojekten, die von der Cyberagentur
finanziert werden, solche Probleme gibt. Publizieren ist aber die Voraussetzung, um in der Wissenschaft Karriere zu machen. Insofern glaube ich nicht, dass wir viele rein militärische
Forschungsaufträge an Universitäten sehen werden.
Sie loben die Bundesregierung auch dafür, dass Sie bei der DATI in die Umsetzung gekommen ist. Ist sie das? Das Gründungskonzept steht weiter aus, und die ersten Pilot-Förderlinien waren
Kritikern zufolge so vage ausgeschrieben, dass es eine kaum zu handelbare Bewerbungsflut gab.
Das mit den vielen Bewerbungen finde ich überhaupt nicht schlimm. Das Ausschreibungsverfahren war bewusst experimentell aufgelegt, es musste breit sein, um den Transferbegriff möglichst
offenzuhalten. Zum Glück ist man von der ursprünglichen Kanalisierung auf Hochschulen für Angewandte Wissenschaften weg. Was das Konzept angeht: Es gibt jetzt die Gründungskommission, und zu
deren Aufgaben gehört neben der Auswahl von Ort und Leitung die Formulierung des finalen Konzepts.
Was ursprünglich anders gedacht war. Sonst hätte das BMBF die Kommission viel früher berufen.
Jetzt ist sie am Arbeiten, das zählt.
Wird die DATI wenigstens gleich die Freiheitsgrade bekommen, um die die SPRIND über Jahre kämpfen musste?
Vielleicht ja, vielleicht wird sich der Kampf auch wiederholen. Wichtig ist, dass die Agentur bald loslegt und ins Ausprobieren kommt. Dann werden wir sehen.
"Wenn von oben, von der Ministeriumsspitze,
kein Druck gemacht wird, es anders zu machen,
dann sind all die Beschwörungen und Ambitionen
nichts wert. Es ist ein Drama."
Apropos: Evaluationen neuer Einrichtungen, Projekte und Förderlinien gehören inzwischen nicht nur in der Innovationspolitik zum Alltag. Nur dass sie laut Ihrem Gutachten oft nicht richtig
aufgesetzt sind.
Wir haben uns die Evaluationspraxis in zwei Ministerien angeschaut, dem BMWK und dem BMBF. In beiden Häusern existieren eigene Referate für Evaluation mit hochkompetenten Mitarbeitern, die
wissen, wie es geht. Das BMWK hat im Jahr 2013 bereits eine Richtlinie zur Durchführung von Evaluationen erstellen lassen, die stimmt Punkt für Punkt. Trotzdem sehen wir viele Evaluationen, die
nach dem Prinzip laufen: Ich gebe Geld, um zum Beispiel ein bestimmtes Technologiefeld zu fördern. Und wenn dieses Technologiefeld sich in ein paar Jahren positiv entwickelt hat, sage ich: Bingo,
hat funktioniert. Obwohl das 1000 Gründe haben kann und überhaupt nicht an der Förderung liegen muss. Aber man weiß es nicht besser, weil man die Erfolgskriterien vorher nicht richtig bestimmt,
keine Kontrollgruppe eingerichtet hat und nicht methodisch sauber misst.
Wie kann das sein?
Die Expertise im eigenen Haus wird nicht ausreichend genutzt, man hört nicht auf das, was die Fachleute im Evalutionsreferat sagen. Und den Einrichtungen und Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftlern, die extern mit der Evaluation beauftragt werden, verweigert man in der Regel die Herausgabe der notwendigen Daten, selbst wenn man sie hat. Das ist paradox. Offenbar herrscht in
vielen Referaten immer noch Angst vor zu viel Transparenz – vielleicht aus Furcht, bei einer negativen Evaluation Budget einzubüßen. Weswegen das, was ein Ministerium anstößt, per definitionem
positiv wirken muss. Wenn von oben, von der Ministeriumsspitze, kein Druck gemacht wird, es anders zu machen, dann sind all die Beschwörungen und Ambitionen nichts wert. Es ist ein Drama.
Am Ende bekommen Sie noch eine zweite Minute mit Olaf Scholz. Ihr Rat an den Bundeskanzler?
Bei der Forschungs- und Innovationspolitik unbedingt Kurs beibehalten. Die Innovationspolitik der Bundesregierung ist nicht konturenscharf, aber die prinzipielle Richtung stimmt. Sich über die
Ziele einigen, und wenn dann über den Weg und die Instrumente gestritten wird, ist das nicht schlimm. Entscheidend ist, nicht bei jeder Protestaktion zurückzuschrecken, sondern beharrlich zu
erklären und auch mal klare Ansagen zu machen. Zu Beginn des Ukrainekriegs, als Deutschland eine Energiekrise abwenden musste, hat Robert Habeck das gemacht. Er hat jeden Abend erklärt, worum es
geht und worauf es jetzt ankommt. Mittlerweile hat er das eingestellt. Wirklich schade.
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In der Politik haben wir es häufig mit komplexen Sachverhalten zu tun, die ebenso häufig auf komplexen Ideen und Konzepten basieren. Frames und Metaphern helfen uns, die politische Wirklichkeit und die ihr zugrunde liegenden Ideen und Konzepte in eine Sprache zu übersetzen, die auf die strukturellen Deutungsrahmen unserer Alltagserfahrungen zurückgreift und somit erst verständlich werden lässt. Dabei sind Frames immer selektiv, indem sie bestimmte Aspekte eines Themas hervorheben und andere in den Hintergrund treten lassen (vgl. Wehling 2017, S. 42; Łada/Sendhardt 2021).Aber nicht nur Sachverhalte, Staaten und soziale Gruppen werden medial geframt, auch Personen unterliegen Framing-Prozessen (Brosius und Dan 2020, S. 267). Dies gilt insbesondere für Politikerinnen und Politiker, die wie kaum eine andere Berufsgruppe in den Medien dauerpräsent sind. Relevant ist dieses "Character-Framing" (Brosius und Dan 2020, S. 267) vor allem angesichts der zunehmenden Orientierung an Personen (und weniger an Programmen, Parteien, Institutionen, etc.), die die Politikberichterstattung weltweit kennzeichnet. Die Berichterstattung in der deutschen bzw. polnischen Presse bildet hier keine Ausnahme, sondern ordnet sich vielmehr in einen globalen Trend ein. Im Rahmen dieser "Personalisierung der deutsch-polnischen Kommunikation" werden Personen in ihrer jeweiligen Amtsfunktion als repräsentativ für das entsprechende Land als Ganzes geframt. Eine aus Sicht der Framing-Analyse zentrale Erkenntnis dieser Form der Metonymie ist die Beobachtung, dass Person (selbst in ihrer Amtsfunktion) und Politik des Landes niemals deckungsgleich sein können und die Berichterstattung mittels Personalisierung daher notwendigerweise (wie alle Frames) immer nur einen spezifischen Beobachtungssauschnitt und eine spezifische Perspektive repräsentiert.Im vorliegenden Beitrag habe ich daher Zeitungsartikel aus der Süddeutschen Zeitung (SZ), der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) sowie der Gazeta Wyborcza (GW) und der Rzeczpospolita (Rz) auf die Frage hin untersucht, wie sie die Person des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, und mittelbar die gesamte Ukraine, framen. Dabei lag mein Fokus auf dem Wandel, den dieses Framing im Kontext der russischen Invasion am 24. Februar 2022 erfahren hat, weswegen ich zunächst einen Blick auf die Berichterstattung deutscher und polnischer Medien rund um die ukrainischen Präsidentschaftswahlen 2019 werfen werde, aus denen Selenskyj als Sieger hervorgegangen ist.Selenskyj 2019: Vom Schauspieler zum uneindeutigen PolitikerSowohl in der deutschen wie auch der polnischen Presseberichterstattung rund um die Wahl von Wolodymyr Selenskyj zum ukrainischen Präsidenten am 21. April 2019 fallen zwei Frames besonders auf. Zum einen der Deutungsrahmen von Selenskyj als politischem Quereinsteiger, dessen Wahl ob der beruflichen Vergangenheit als Hauptdarsteller der beliebten TV-Serie "Diener des Volkes" (in der Selenskyj bezeichnenderweise einen politischen Quereinsteiger spielt, der Präsident wird) die Ernsthaftigkeit und Qualität der ukrainischen Demokratie per se infragestellt. Der zweite Frame bezieht sich auf die Frage, wie der fulminante Erfolg des politischen Newcomers eingeordnet werden solle. Hierbei oszilliert vor allem die deutsche Berichterstattung zwischen den beiden Extremen Abhängigkeit und Unabhängigkeit, während sich die polnische Berichterstattung stärker auf die Ambiguität der Person Selenskyjs konzentriert.Der SchauspielerEin zentraler Frame in der deutschen wie auch in der polnischen Berichterstattung über Selenskyj rund um dessen Wahl zum ukrainischen Präsidenten am 21. April 2019 hebt auf dessen berufliche Vergangenheit als Schauspieler und Komiker ab. Dabei wird in der deutschen Presse etwa seine (mangelnde) politische Erfahrung ("der politisch völlig unerfahrene Schauspieler, Komiker, Medienmanager und Unternehmer", FAZ 17.4.2019)[1] mit der Verantwortung kontrastiert, die die Wahl "zum Staatspräsidenten und Oberbefehlshaber der Armee" (FAZ 17.4.2019) mit sich bringt. Die ukrainische Wählerschaft scheint dies unterschiedlich zu bewerten. Während die einen in Selenskyj "einen 'Magier'" erblicken, "einen, der die Welt sofort wieder in Ordnung bringt" (FAZ 20.4.2019), sähen zahlreiche "patriotisch gesonnene ukrainische Intellektuelle […] die Abstimmung ihrer Landsleute für den 'Clown' Selenskyj dumm, haarsträubend oder sogar gefährlich" (FAZ 21.4.2019).Damit wird suggeriert, dass weder er als Person noch die ukrainische Demokratie als politisches System ernst genommen werden können, da alles vor allem auf Show und Spektakel angelegt sei. So schreibt die SZ:"Im Wahlkampf um das Präsidentenamt in der Ukraine jagt eine Kuriosität die nächste. Vor laufenden Kameras hatten sich Poroschenko und Selenskyj etwa Bluttests auf Drogen und Alkohol unterzogen. Der 53 Jahre alte Präsident versucht, den 41 Jahren alten Schauspieler als koksende russische Marionette hinzustellen" (SZ 19.4.2019).Und so verweist etwa die FAZ auf "die beträchtlichen Risiken, die sich mit Selenskyjs Mangel an Verwaltungserfahrung sowie kompetenten Beratern verbinden. In Kriegszeiten kann sich die Ukraine an und für sich nicht den Luxus politischer Experimente und dilettantischer Staatsführung erlauben" (FAZ 21.4.2019).So berichtet die Rzeczpospolita über den "Kabarettisten Selenskyj, der über keinerlei Erfahrung in der Politik verfügt" (Rz 24.4.2019) und titelt über Selenskyjs Wahlerfolg gegen den bisherigen Amtsinhaber Petro Poroschenko "Komiker gewinnt gegen Geschäftsmann" (Rz 23.4.2019). Ganz ähnlich beschreibt die Gazeta Wyborcza Selenskyj als "Schauspieler und Komiker" (GW 21.4.2019), der "in puncto Politik vollkommen grün hinter den Ohren ist" (GW 19.4.2019) sei. Ein Experten-Kommentar in der Rzeczpospolita geht sogar noch einen Schritt weiter. Demnach sei Selenskyj "ein Narzisst" und es sei eine "schwache Präsidentschaft" zu erwarten (Rz 23.4.2019).Während sich die deutsche und polnische Berichterstattung einig sind hinsichtlich des Framings Selenskyjs als Schauspieler und Komiker, der über keinerlei politische Erfahrung verfügt, unterscheiden sich die Medien beider Länder in der Akzentuierung dieser Beobachtung. So räumt die deutsche Presseberichterstattung diesem Umstand weitaus mehr Raum ein, als dies die untersuchten polnischen Zeitungen tun. Und auch was die Schlussfolgerungen für die ukrainische Demokratie und Staatlichkeit betrifft, die aus dem Wahlsieg Selenskyjs zu ziehen seien, zeichnen die deutschen Medien ein weitaus drastischeres Bild als dies ihre polnischen Pendants tun.Der Uneindeutige: Zwischen Marionette der Oligarchen und unabhängigem QuereinsteigerIm Rahmen der Präsidentschaftswahl 2019 stellten sich der deutschen wie auch der polnischen Presse die Frage, was man von dem Schauspieler und Komiker eigentlich politisch zu halten habe. Dabei wurde der (zukünftige) ukrainische Präsident einerseits als Marionette in den Händen der Oligarchen gezeichnet, andererseits als unabhängiger politischer Quereinsteiger. In der Summe war dieses Framing Selenskyjs von Ambiguität geprägt und präsentierte den Präsidenten als Person, die mehr Fragen aufwirft als Antworten gibt.Dabei erscheint Selenskyj in der deutschen Presse einerseits als Instrument oder gar Marionette des mächtigen ukrainischen Oligarchen Ihor Kolomojskyj, der danach trachtet, "seinen Erzfeind Poroschenko zu stürzen" (SZ 23.4.2019). Die passive Rolle, die Selenskyj hier zugeschrieben wird, meint natürlich die Ukraine als politische Gemeinschaft gleich mit. Ebenso wie es gleichgültig erscheint, welche Kandidaten von den Oligarchen für ihre internen Fehden ins Rennen geschickt werden, erscheint es gleichgültig, in welchem Land und zum Wohle (oder vielmehr Weh) welcher Gesellschaft dies geschieht. Sowohl Selenskyj als auch die Ukraine scheinen innerhalb dieses Frames eher zufällig betroffen zu sein. Folgerichtig sind beide, Selenskyj wie die Ukraine, keine autonomen, unabhängigen Akteure, sondern Spielbälle in den Händen der ukrainischen Oligarchie. So legt ein FAZ-Artikel nahe, Selenskyj sei lediglich das Produkt des "Polittechnologen" (FAZ 26.4.2019) Andrij Bohdan, eines Anwalts von Kolomojskyj. Die SZ geht sogar noch einen Schritt weite und deutet die Wahl Selenskyjs als "Ausdruck des kranken ukrainischen Systems: Er war nur möglich, weil ukrainische Medien von Oligarchen dominiert werden, die bestimmen, wer in ihre Fernsehsender kommt – und wer nicht" (SZ 22.4.2019).Und weiter:"Dass Selenskys Ruhm, sein Schlüpfen in die Rolle eines guten, unbestechlichen Präsidenten ausreichten, um ihn trotz eines inhaltsfreien Wahlkampfes ins Präsidentenamt zu bringen, lag vor allem an der Abneigung der Ukrainer gegen Poroschenko: Auch andere Kandidaten hätten gegen den bisherigen Präsidenten gewonnen" (SZ 22.4.2019).Demgegenüber erklärt die FAZ unter der Überschrift "Selenskyjs Präsidentschaft bedeutet nicht das Ende" (FAZ 21.4.2019), der neue ukrainische Präsident sei als "Newcomer" eine "politische" wie auch "historische Anomalie" (FAZ 21.4.2019).Dieses Framing steht in seinem scharfen Kontrast zu einem Framing von Selenskyj als politischem Quereinsteiger, das ihn als unabhängigen Kandidaten zeichnet, der von außerhalb der korrumpierten politischen Klasse in den Politikbetrieb gekommen sei, ein Umstand, der sowohl Chancen als auch Gefahren für die ukrainische Politik berge.So stellt die FAZ fest: "Selenskyjs Mangel an Verbindungen mit der alten Politikerklasse dürfte es der ukrainischen Zivilgesellschaft einfacher machen, auf seine Regierungsmannschaft und -entscheidungen Einfluss zu nehmen" (FAZ 21.4.2019). Er erscheint hier "als ehrlicher Saubermann, der in der korrupten ukrainischen Politik in den kommenden fünf Jahren aufräumen will" (FAZ 21.4.2019). Dabei wird Selenskyj als volksnaher Politiker an der Grenze zum Populismus geframt. So unterstreicht die SZ: "Er wolle nur eine Amtszeit regieren und dafür sorgen, dass die korrupte Machtelite verschwinde" (SZ 19.4.2019). Selenskyjs Stil der direkten Kommunikation mit seinen Wählern über die sozialen Medien soll den "Eindruck eines volksnahen Politikers erwecken, ist indes im besten Fall inhaltsleer, im schlechteren gefährlich populistisch, weil unpopuläre Entscheidungen quasi schon im Vorgriff ausgeschlossen werden" (SZ 22.04.2019).Auch auf polnischer Seite lässt sich dieses Framing beobachten, wenngleich es im Vergleich mit der deutschen Presse weit weniger dominant in Erscheinung tritt. So fragt auch die Gazeta Wyborcza in Bezug auf Selenskyj: "Unabhängig oder eine Marionette in den Händen eines Oligarchen?" (GW 19.4.2019). Anders als die deutsche Presse fokussiert sich die polnische Presse stärker auf die Uneindeutigkeit Selenskyjs. So bezeichnet etwa die Gazeta Wyborcza im gleichen Artikel Selenskyj als "Herr Unbekannt" (GW 19.4.2019) und führt aus: "Es ist nicht klar, welche Art von Präsident Selenskyj sein wird und welche Maßnahmen von ihm zu erwarten sind" (GW 19.4.2019). Sowohl die Gazeta Wyborcza (GW 19.4.2019) als auch die Rzeczpospolita (Rz 23.4.2019) erklären, dass Selenskyj schwer durchschaubar sei, schließlich sei weder bekannt, wer seiner Regierungsmannschaft angehören noch wie sein inhaltliches Programm aussehen werde. Und so lassen sich etwa in der Rzeczpospolita auch negative Entwicklungsszenarien bezüglich der politischen Zukunft der Ukraine beobachten:"Vielleicht kommt ein hartes, repressives Regime wie in Russland, vielleicht übernehmen die Oligarchen das Land aber auch ganz. Die Heterogenität der Wählerschaft Selenskyjs hat sowohl die Befürworter einer Vereinigung mit Russland als auch die Befürworter einer Vereinigung mit Europa zusammengeführt. Die ersten Entscheidungen des neuen Staatschefs könnten daher zu einer Polarisierung der ukrainischen Gesellschaft führen" (Rz 23.4.2019).Die Gazeta Wyborcza wiederum lässt sowohl Unterstützer wie auch Kritiker Selenskyjs zu Wort kommen. So erklärt Selenskyjs Wahlkampfleiter, sein Chef zeichne sich aus durch "Offenheit", Transparenz und die Tatsache, dass "er Fehler zugeben kann" (GW 19.4.2019). Auf Seiten der Kritiker werfen ihm ukrainische Journalisten vor, "dass er selbst den Kontakt mit den Medien vermeidet. [...] Und wenn er Interviews gibt, dann nur den Medien, die sich positiv auf ihn beziehen" (GW 19.4.2019). In der Summe bleibt auch hier die Feststellung: "Selenskyj bleibt ein Rätsel - niemand weiß, was von ihm zu erwarten ist" (GW 19.4.2019).Selenskyj 2022: Vom Schauspieler zum Staatsmann und HeldenIm Kontext des russischen Angriffs auf die Ukraine am 24. Februar 2022 vollzieht sich in der deutschen und polnischen Presseberichterstattung ein beeindruckender Wandel des Framings von Wolodymyr Selenskyj, vom belächelten Schauspieler zum respektierten Staatsmann und bewunderten Helden, "vom Entertainer zum 'ernsten' Staatsmann" (FAZ 24.2.2022). Ähnlich titelt die SZ "Komiker, Präsident, Staatsmann" (SZ 24.2.2022).Bereits in der Berichterstattung rund um Selenskyjs Auftritt auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 19. Februar zeichnet die deutsche Presse ein überaus positives Bild des ukrainischen Präsidenten. Hier habe er "vor internationalem Publikum […] Eindruck gemacht" (FAZ 24.2.2022). In seiner Eigenschaft als "großer Kommunikator" laufe der ukrainische Präsident "gerade zu großer Form auf" (FAZ 24.2.2022). "Als Redner und Krisenmanager gewinnt Selenskyj in der Ukraine auch bei Kritikern Respekt" (FAZ 24.2.2022). So zeigte sich ein Kyjiwer Wissenschaftler auf Facebook "dankbar für eine Rede, in der die Ukraine als handelndes Subjekt und würdevoll aufgetreten sei" (FAZ 24.2.2022). Nach dem Angriff Russlands framt die deutsche Presse den ukrainischen Präsidenten vor allem als mutigen Politiker, der dem russischen Aggressor entschlossen die Stirn bietet, und betont seine Standfestigkeit und Verlässlichkeit (FAZ 28.2.2022). "Er erweise sich als würdiger Anführer einer Nation im Krieg" (FAZ 28. 2.2022). Ein ähnlicher Wandel im Framing der Person Selenskyjs lässt sich auch in der polnischen Presse beobachten, wobei mitunter der Eindruck vermittelt wird, es seien ausschließlich westliche (und eben nicht polnische) Presseorgane gewesen, die dem ehemaligen Schauspieler abgesprochen hätten, das Zeug zum Staatsmann zu haben. So schreibt die Gazeta Wyborcza: "Westliche Medien, die früher manchmal spöttisch schrieben, dass die Ukraine von einem Komiker regiert wird, nehmen dies nun zurück" (GW 27.2.2022). Dass er das Zeug zum Staatsmann habe, lasse sich an seinem Verhalten vor und nach der Invasion ablesen. Als sich die Anzeichen für eine russische Invasion zusehends verdichteten, "spielte er die Rolle eines ruhigen Anführers. Er hat die Gemüter besänftigt, er hat die Nation beruhigt. Jetzt tritt er als Verteidiger auf. Er macht den Ukrainern Mut und führt sie wirklich an. So wie er einst die Ukrainer in seinen Bann ziehen konnte, so zieht er nun den Westen in seinen Bann" (GW 27.2.2022).Der HeldEine zentrale Rolle in der deutschen wie polnischen Berichterstattung spielt das Framing Wolodymyr Selenskyjs als Held. Als solcher nimmt der Präsident, in Erfüllung der ihm zugedachten Rolle als "Diener des Volkes", zum Wohle des ukrainischen Volkes persönliche Risiken und Härten in Kauf. So framt die SZ bereits vor der Invasion Selenskyj als "tragische Figur" (SZ 24.2.2022), als tragischen Helden:"[I]n der Stunde der größten Not zeigt Selenskij staatsmännisches Format: als Führer eines Landes, dem, von seinem übermächtigen Nachbarn überfallen, militärisch niemand zu Hilfe kommen wird. Ein Politiker also, der für alle erkennbar auf verlorenem Posten steht und die Angreifer dennoch warnt: 'Ihr werdet unsere Augen sehen, nicht unsere Rücken'" (SZ 24.2.2022).Wie sehr in diesem Framing die Person Wolodymyr Selenkyjs und der Ukraine in eins fallen, macht ein weiterer SZ-Artikel kurz nach Kriegsbeginn deutlich:"Russland will den Machtwechsel, erstes Kriegsziel ist die Vertreibung der ukrainischen Regierung und vor allem des Präsidenten […]. So wird einmal mehr klar, wie sehr der Ukrainer an der Spitze des Landes zum symbolischen Mittelpunkt dieses Krieges wird – und wie sein persönliches Schicksal mit dem Schicksal des Landes verknüpft ist" (SZ 25.2.2022).Die SZ bringt diesen Sachverhalt auf folgende griffige Formel: "Nimmt Russland die Ukraine ein und kontrolliert das Land, kann er [Selenskyj] sich nicht halten. Hält er sich aber, hat auch Russland die Ukraine noch nicht im Griff" (SZ 25.2.2022). Durch die Entscheidung, trotz unmittelbarer Gefahr für Leib und Leben, in Kyjiw zu bleiben, sei Selenskyj "zum Symbol des Durchhaltewillens der Ukrainer" (SZ 25.2.2022) geworden, und habe das Zeug dazu, eine "Symbolfigur für Freiheit und Demokratie" zu werden (SZ 28.2.2022).Der Held Selenskyj erscheint in diesem Framing als Zeitenwender, der möglich macht, was vor kurzem noch als unmöglich galt. So habe er "eine ungeheure Dynamik" in Gang gesetzt: "Sie führte über das Wochenende zu Sanktionen, die sich bis dahin niemand vorstellen konnte, und zu der Entscheidung, der Ukraine für eine halbe Milliarde Euro Waffen zu liefern" (FAZ 1.3.2022).Gleichzeitig verbirgt sich hinter der Heroisierung des ukrainischen Präsidenten auch eine unbequeme Wahrheit. So reflektiert die SZ durchaus selbstkritisch:"Zur Wahrheit des Helden Selenskij gehört deshalb auch: Helden gibt es nicht – es sei denn, wir erklären sie zu solchen. Und wenn wir einen Politiker zu einem solchen erklären, so haben wir das zugleich wieder zu hinterfragen. Und dass wir Selenskij nun zum modernen Helden erklären, sagt nicht nur viel über seinen sagenhaften Mut, sondern auch über unsere ewig lange Indifferenz" (SZ 28.2.2022).Das Framing Selenskyjs als Held kommt in der polnischen Presse ebenfalls zum Ausdruck. So berichtet die Gazeta Wyborcza über den "heroiczny opór" (GW 27.2.2022), welchen Selenskyj leiste. So titelt ein Kommentar in der Rzeczpospolita schlicht und ergreifend "Held" (Rz 28.2.2022). Durch sein Verhalten habe Selenskyj "Nachweis persönlichen Heldentums" erbracht (Rz 28.2.2022):"Angebote, die belagerte Hauptstadt zu verlassen, lehnte er ab. Er blieb bei seinen Wählern, seinem Volk. Er schickte seine Familie nicht in Sicherheit, was auf seinen unerschütterlichen Glauben an den Sieg der ukrainischen nationalen Sache hindeutet. Es ist wichtig, darüber in einfachen Worten zu schreiben, ohne unnötige Metaphern und Pathos. Denn Wolodymyr Selenskyj selbst ist heute Pathos" (Rz 28.2.2022).Und weiter:"Indem sie Kiew verteidigen, kämpfen sie [Selenskyj, Klitschko und andere] für die Freiheit ihres Volkes, aber auch für Polen und ganz Europa. Dies ist eine Lektion wahren Heldentums. Ein Vorbild für die ganze Welt. Ruhm den Helden der Ukraine, unseren Helden" (Rz 28.2.2022).Und ähnlich wie in Deutschland, framt auch die polnische Presse vor allem Selenskyjs Entscheidung in Kyjiw zu bleiben, als heldenhafte Tat. So schreibt die Rzeczpospolita:"In einigen westlichen Hauptstädten war ihm bereits mehrfach die Evakuierung angeboten worden. - Wir brauchen Munition, keine Mitfahrgelegenheit - antwortete er. In den Augen vieler Europäer ist Selenskyj heute die Nummer eins unter den Politikern, nicht Emmanuel Macron, Olaf Scholz oder Boris Johnson. Denn er ist es, der die Tore des freien Europas verteidigt" (Rz 28.2.2022).Der Anti-PutinSelenskyj wird auch als Gegenstück zum russischen Präsidenten, als "Anti-Putin", geframt. Dort der nahbare, in allen Facetten menschliche Mann des Volkes, dort der entrückte und unbarmherzige Machtpolitiker aus dem Kreml. Dieses Framing taucht auch in der polnischen Presse auf, ist auf der deutschen Seite jedoch wesentlich präsenter. Obwohl der ukrainische Präsident "ernst und entschlossen" wirke, so die FAZ, lasse er "selbst in dieser Lage noch die Freundlichkeit und den schnodderigen Ton durchscheinen, die ihn vor seiner Wahl zum Präsidenten als Schauspieler populär gemacht haben. Offensichtlich geht es ihm darum, einen möglichst großen Kontrast zwischen sich und Wladimir Putin zu erzeugen" (FAZ –28.2.2022): "Während Putin allein im Kreml sitzt, ist Selenskyj bei seinem Volk" (FAZ 28.2.2022).In einem weiteren Artikel schreibt die FAZ:"Selenskyj erscheint immer mehr als ein "Anti-Putin", jung, dynamisch und besorgt um seine Soldaten, die er in Krankenhäusern besucht. Er tritt im tarnfarbenen Hemd auf und wirkt gut in Form, während sich Russlands Dauerherrscher, der mal im Sakko, mal in Luxus-Daunenjacke zu sehen ist, abschottet und seinen Austausch darauf zu beschränken scheint, in Videoschalten ängstliche Untergebene zurechtzuweisen" (FAZ 29.3.2022).Und im gleichen Framing schreibt die SZ:"Wir sehen Selenskij draußen, in den Straßen von Kiew, unter dem freiem Himmel einer großen Stadt, wohin sich der von grotesken Großmöbeln umstellte russische Präsident nicht mehr zu trauen scheint: raus, auf die Straße, zu richtigen Menschen. Die Werte sind in den Bildern symbolisiert: hier ein mobiler, kämpfender primus inter pares, im Kreml ein Mann mit starrem Blick, bösen Gedanken, der sich hinter einem Pult verschanzt, das aussieht wie die Kulisse einer Hotelrezeption aus den frühen 80er Jahren. Putin droht und monologisiert, Selenskij spricht wie einer, den man beim Elternabend treffen könnte" (SZ 28.2.2022).Was in der deutschen Presse unter der Überschrift "Wolodymyr sticht Vladimir" (FAZ 29.3.2022) verhandelt wird, lautet in der polnischen Presse "David und Goliath, Held und Verkörperung des Bösen" (GW 27.2.2022). Ganz im Sinne der Gegenüberstellung von David und Goliath zeichnet die Gazeta Wyborcza den ukrainischen Präsidenten als "ehemaliger Komiker, der den Diktator im Kreml lächerlich macht" (GW 27.2.2022). Auch die Rzeczpospolita ruft diesen Frame auf, wenn sie Selenskyj als "David Europas" (Rz 28.2.2022) bezeichnet und schreibt: "Er hat den russischen Goliath noch nicht besiegt, aber er ist bereits der mutigste Politiker der demokratischen Welt" (Rz 28.2.2022).Auch wenn das Framing als "Anti-Putin" Selenskyj in einem überaus positiven Licht erscheinen lässt, so wird ebenfalls deutlich, dass zur Erklärung und zum Verständnis von Selenskyj (bzw. der Ukraine) offenbar Putin (bzw. Russland) als Referenzpunkt unverzichtbar bleibt. Während in der analysierten deutschen Presse Selenskyj sich in puncto Sympathie positiv von Wladimir Putin unterscheidet, ist es auf der polnischen Seite die Rolle des Underdogs, in der Selenskyj sich der russischen Übermacht zu erwehren sucht.Der ewige SchauspielerUngeachtet des Respekts, den die deutsche und polnische Presse dem ukrainischen Präsidenten ob seiner politischen Leistung im Angesicht des russischen Angriffskriegs zollt, bleibt Selenskyjs berufliche Vergangenheit als Schauspieler ein Fixpunkt im Framing des Präsidenten. So bemerkt etwa die SZ zur Rede Selenskyjs vor den europäischen Staats- und Regierungschefs: "Es sind eindringliche Worte, und als ehemaliger Schauspieler weiß Selenskij, wie man einer Botschaft noch mehr Wirkung verschafft" (SZ 1.3.2022). Und die FAZ stellt bereits vor Kriegsausbruch fest: "Der ukrainische Präsident beherrscht den Einsatz von Pathos" (FAZ 24.2.2022). Durch den Verweis auf die Schauspielkunst des ukrainischen Präsidenten wird allerdings weniger der Inszenierungscharakter seiner Person betont, sondern vielmehr gewürdigt, dass hier ein Politiker sein rhetorisches Handwerk versteht. Hierin unterscheidet sich der Schauspieler-Frame des Jahres 2022 sowohl in der untersuchten deutschen wie auch in der polnischen Presse fundamental vom Schauspieler-Frame des Jahres 2019, als Selenskyjs berufliche Vergangenheit vor allem mit einem Mangel sowohl an politischer Erfahrung als auch an Ernsthaftigkeit assoziiert worden ist.Auch in der polnischen Presse ist dieses Framing anzutreffen. So schreibt etwa die Gazeta Wyborcza: "Selenskyj scheint auf die Rolle seines Lebens gewartet zu haben. Schließlich ist er Schauspieler von Beruf" (GW 27.2.2022). Ein weiterer Artikel der gleichen Zeitung fragt schließlich explizit: "Ist es gut, dass Wolodymyr Selenskyj Schauspieler von Beruf ist, oder ist es schlecht?" (GW 1.4.2022). Mit offener Bewunderung für den ukrainischen Präsidenten heißt es: "Die Größe des Schauspielers [...] liegt darin, dass er eine Rolle annimmt, die nicht von einem Autor, sondern vom Schicksal geschrieben wurde, eine Rolle, die ihn zwingt, ständig zu improvisieren, und dass er bereit ist, für diese Rolle sein Leben zu opfern" (GW 1.4.2022).Ähnlich wie in der deutschen Presse wird auch hier die Schauspielkunst des ukrainischen Präsidenten nicht als Manko, sondern vielmehr als "Gabe" (GW 1.4.2022) geframt. "Denn wahre Schauspielkunst ist reine Wahrheit. Schließlich gibt es für einen Schauspieler kein schlimmeres Urteil, als wenn ihm gesagt wird, er sei unwirklich gewesen. Ein Schauspieler, der eine Rolle annimmt, nimmt das Schicksal der Figur, die er darstellt, auf seine Schultern - oder besser gesagt: in sich, seinen Körper und seinen Geist auf" (GW 1.4.2022).FazitDas diesem Beitrag zugrunde liegende Sample umfasst lediglich je zwei deutsche und zwei polnische Tageszeitungen, und sind somit weder für den deutschen noch den polnischen Zeitungsmarkt repräsentativ. Dennoch lassen sich sowohl Zeitungs- als auch Ländergrenzen überspannende Frames identifizieren, die das Bild, das von der Person Wolodymyr Selenskyjs gezeichnet wird, bestimmen. Offensichtlich greifen unterschiedliche Autoren unterschiedlicher Zeitungen aus unterschiedlichen Ländern auf die gleichen Frames in ihrer Berichterstattung zurück. Insgesamt lassen sich in Bezug auf das Character-Framing der Person Wolodymyr Selenskyjs in der untersuchten deutschen und polnischen Presseberichterstattung ähnliche Muster erkennen, die sich jedoch im Hinblick auf die Akzentuierung unterscheiden. Sowohl in der deutschen als auch in der polnischen Presse wird der Wandel betont, den Selenskyj im Laufe seiner seit 2019 andauernden politischen Laufbahn vollzogen hat: vom Schauspieler und kritisch beäugten Newcomer in der Politik zum geachteten und bisweilen bewunderten Staatsmann. Während die Dimension des Wandels in der untersuchten Berichterstattung beider Länder vergleichbar ist, lassen sich dennoch Unterschiede ausmachen. So arbeitet die analysierte deutsche Presse vor allem den Novizen-Charakter Selenskyjs als politischer Quereinsteiger heraus und leitet hiervon eine durchaus negativ konnotierte Bewertung der politischen Kultur der Ukraine insgesamt ab. Die untersuchte polnische Presse hingegen konzentriert sich weniger stark auf die Gefahren, die von einem politisch Unerfahrenen ausgehen. Stattdessen liegt der Fokus auf der Heldenrolle, die Selenskyj seit Beginn der russischen Invasion eingenommen habe. Eine weitere Gemeinsamkeit der deutschen wie polnischen Presseberichterstattung liegt darin, dass Selenskyj 2022 in beiden Fällen weitgehend unkritisch dargestellt wird und der Respekt sowie die Bewunderung gegenüber seiner Person, und damit mittelbar auch der Ukraine, überwiegen. Dies ist insofern bemerkenswert, als die Ukraine lange Zeit vor allem als defizitäres Staatsgebilde gezeichnet worden ist, in dem jegliche Reformanstrengung letztendlich an den eigenen politischen Eliten, und damit gewissermaßen an sich selbst scheitert. Das Framing Selenskyjs der sich im Krieg vom Komiker zum ernstzunehmenden Staatsmann entwickelt, spiegelt somit auch das Framing der Ukraine selbst wieder, die sich zumindest in den hier untersuchten Medien, von einem scheiternden Staat zu einem respektierten Verteidiger demokratischer Werte gewandelt hat. Und schließlich ist es die berufliche Vergangenheit als Schauspieler, die sowohl in Deutschland als auch in Polen 2022 gänzlich anders geframt wird, als dies noch 2019 der Fall war. Wurde dem ukrainischen Präsidenten die Schauspielerei 2019 noch als Unerfahrenheit und mangelnde Ernsthaftigkeit angesichts der gewaltigen politischen Verantwortung des Amtes ausgelegt, so erschien Selenskyjs Erfahrung auf der Bühne und vor der Kamera 2022 in einem weit positiveren Licht. Nun diente seine schauspielerische Vergangenheit als Erklärung für sein rethorisches Geschick, mit dem er seine politischen Botschaften übermittelte. BibliografieBrosius, Hans-Bernd; Dan, Viorela (2020): Framing im Nachrichtenjournalismus. In: Tanja Köhler (Hrsg.): Fake-News, Framing, Fact-Checking: Nachrichten im digitalen Zeitalter. Ein Handbuch. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 265–282.Łada, Agnieszka; Sendhardt, Bastian (2021): Das Bild der Krise. Wie schrieben die deutsche und die polnische Presse über das jeweilige Nachbarland im ersten Halbjahr 2020? Darmstadt, Warschau: Deutsches Polen-Institut; Institut für Öffentliche Angelegenheiten.Wehling, Elisabeth (2017): Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet - und daraus Politik macht, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.
[1] Weitere Beispiele: "Der Komiker Selenskyj, der keine Regierungserfahrung hat" (FAZ 22.4.2019); "Entscheidung der Ukraine für einen erfolgreichen Showman" (FAZ 21.4.2019); "prowestliche Schauspieler Selenskyj" (FAZ 22.4.2019).
Der Text entstand im Rahmen des Projekts "Akteure, Felder, Wege – deutsch-polnische Kommunikation: Miteinander und übereinander", welches das Institut für Öffentliche Angelegenheiten und das Deutsche Polen-Institut dank der finanziellen Förderung durch die Deutsch-Polnische Wissenschaftsstiftung durchführen.
Coal seam gas (CSG) is an unconventional natural gas (UNG) that is extracted from wells via coal seams, and reserves are found in Australia, the USA and the UK. Other UNG include shale and tight gas, which are sourced from different geological formations and utilise similar processes to CSG mining, and are extracted in Canada, Europe, Asia, the Middle East and Australia. In recent decades, UNG extraction has grown exponentially, with hydraulic fracturing or 'fracking' occurring across regional and rural landscapes and in close proximity to communities. Whilst major development projects can facilitate employment and other opportunities in surrounding communities through population growth and increased demand for services, there is evidence that negative impacts on health and wellbeing can outweigh any benefits. Commonly referred to as the 'resource curse', when the costs of extraction and exporting natural resources outweigh the economic benefits, the expansion of CSG activity was often met with trepidation from local communities and the broader public. There was uncertainty around the impacts and consequences of rapid development, particularly in the USA and Australia, stemming from a lack of prior experience, mixed messages in the media, perceived lack of governmental support, and little empirical evidence. Presented with the opportunity to address the gap in the literature, this research explores the broader implications of mining activity on surrounding communities, with a focus on CSG and the social determinants of health and wellbeing. The level of community interaction throughout a project lifecycle is greater in CSG mine settings compared to traditional mining methods (like coal, for example) because of their proximity to communities, and so there is a greater expectation of the mining company to monitor and mitigate impacts on the communities in which they operate. There is emerging evidence that the extractives industry may play a more diverse role in regional communities than previously expected, but the pathways in which they do this in the health sector are not clear. Integral to the provision of health services in regional areas is the integration of services and partnerships – it is common for stakeholders external to the health sector, like transport, police or environmental departments to be involved in the planning and availability of health services. There is a dearth of scientific evidence of the ways in which the extractives industry interacts with the health system in the communities in which they operate; what the costs and benefits of this interaction might be and how the relationship might be optimized to enable long-lasting health improvements. This is particularly important in mining communities, where health outcomes could fluctuate with the various stages of mining activity, and more so in communities where mining activity is soon to cease, leading to uncertainty and economic downturn. Objectives This research was conducted in order to inform the regional and rural health sector, extractives industry, and communities who are undergoing a period of uncertainty with little peer reviewed evidence to provide objective direction. The research aims to: respond to the demand in understanding broader public health and wellbeing outcomes of mining beyond direct, physical and biological outcomes; contribute to the growing evidence base around CSG development and potential community-level impacts; and to comment on the interaction between stakeholders in the health system and the extractives industry at a local level. Methods This thesis has been organised in to three parts to meet the stated objectives: 1. Two systematic reviews to synthesise the evidence for broader, indirect health and wellbeing implications at community level associated with mining activity in low, middle and high income countries in order to provide a comprehensive account of how communities may be affected by mining; 2. Synthesis of qualitative data collected via a Health Needs Assessment (HNA) in Queensland, Australia to explore the determinants of health and wellbeing in communities living in proximity to CSG developments in order to strengthen understanding of how community and health services can prepare for fluctuations that might come with a mining boom or bust; and 3. Critically review regional health systems and the interaction between the extractives industry and key stakeholders at a local level in order to compile a set of recommendations that optimise health outcomes for local communities. Results Sixteen publications were included in the systematic review of high-income countries, and included studies that took place in the USA, Australia and Canada. Products mined included coal and mountain-top mining. There was evidence that mining activity can affect the social, physical and economic environment in which communities live, and these factors can in turn have adverse effects on health and wellbeing if not adequately measured and mitigated. Specific examples of self-reported health implications included increased risk of chronic disease and poor overall health, relationship breakdown, lack of social connectedness, and decreased access to health services. Twelve publications were included in the systematic review of low and middle-income countries, and included studies that took place in Ghana, Namibia, South Africa Tanzania, India, Brazil, Guatemala and French Guiana. Products mined included gold and silver, iron ore and platinum. Mining was perceived to influence health behaviours, employment conditions, livelihoods and socio-political factors, which were linked to poorer health outcomes. Family relationships, mental health and community cohesion were negatively associated with mining activity. High-risk health behaviours, population growth and changes in vector ecology from environmental modification was associated with increased infectious disease prevalence. The HNA was implemented in four towns in regional Queensland situated in proximity to CSG development. Eleven focus group discussions, nine in-depth interviews, and forty-five key informant interviews (KIIs) with health and community service providers and community members were conducted. Framework analysis was conducted following a recurrent theme that emerged from the qualitative data around health and wellbeing implications of the CSG industry. CSG mining was deemed a rapid development in the otherwise predominantly agricultural, rural communities. With this rapid development came fluctuations in the local economy, population, social structure and environmental conditions. There were perceived direct and indirect effects of CSG activity at an individual and community level, including impacts on alcohol and drug use; family relationships; social capital and mental health; and social connectedness, civic engagement and trust. Before examining the interaction between the health system and mining sector, it was important to describe the rural health system and its complementary parts. Systems theory underpinned analysis of qualitative data from KIIs to assist in describing the characteristics of the health system and unique influences on its functionality. Results showed that communities are closely interconnected with the health system, and that the rural health systems in the case study were defined by geography, climate and economic fluctuations. Understanding unique system pressures is important for recognising the impact that policy decisions may have on rural health. Decentralisation of decision making, greater flexibility and predictability of programs will assist in health system strengthening in rural areas. Another key theme emerged from the HNA: the mining sector played a diverse role in health and community service planning and delivery. Key informant transcripts were analysed again using phenomenology theory. Of these, 23 mentioned the presence of CSG or mining activity at least once during the interview without any specific reference to the extractives industry. Mining activity was perceived to influence the ability of service providers to meet demand, recruit and retain staff, and effectively plan and maintain programs. The level of interaction between mining companies with service providers and regulatory bodies varied and was commented on extensively. Several key informants identified pathways for the mining sector to engage with services more effectively, which included strengthening multi-sectoral engagement and enabling transparent, public consultation and evidence-based funding initiatives. Conclusion Unconventional natural gas extraction and the implications of mining activity on nearby communities is a subject of major concern internationally. Through the application of core public health theories and methodologies, including the Social Determinants of Health model, complex adaptive systems theory and health needs assessments; this thesis has significantly contributed to the discourse and demonstrated a significant association between mining activity and health. This thesis sought to strengthen the evidence base of the association between the extractives industry and the social determinants of health of surrounding communities, with a focus on the potential impacts of CSG developments. The hypothesis that there may be broader, direct and indirect impacts on health and wellbeing at an individual or community-level was tested and proven. The secondary aim was to examine the relationship of stakeholders in the local health system with the mining sector, with the intention to develop recommendations that improve measurement, monitoring and response to potential impacts of mining in surrounding communities. This research established that there are both common and unique health and wellbeing issues experienced by communities living in proximity to mining internationally. Our understanding of the ways in which CSG mining activity can influence the social determinants of health has been significantly strengthened. This thesis argues the importance of first examining how local health systems operate in order to maximise engagement with the mining sector - a potentially significant funding source – and sustain health services. There are pathways and opportunities for the mining sector to contribute to community development, and this requires engagement with the community and local service providers. This also highlights key characteristics of communities that might influence the magnitude of perceived CSG mining impacts, which serve to inform development of indicators and tools to strengthen measurement and response. It is beyond the scope of this thesis to present a comprehensive framework with standardised approach for monitoring broader health and wellbeing implications of UNG development, as this relies on first establishing multidisciplinary approach and considering the regulatory frameworks that shape corporate social responsibility and mining investments. However, this thesis presented a set of key recommendations and criteria that should be considered in the design of a standardised monitoring framework. Formalising, publicising and regulating this process is the next step along the road to mending and preventing fractured communities from the potential impacts of mining. ; Kohleflözgas (CSG) ist ein unkonventionelles Erdgas (UNG), das über Kohleflöze aus Bohrlöchern gefördert wird. Reserven befinden sich in Australien, den USA und Großbritannien. Andere UNG umfassen Schiefer und Gas, die aus verschiedenen geologischen Formationen stammen und ähnliche Verfahren wie der CSG-Abbau nutzen, und die in Kanada, Europa, Asien, dem Nahen Osten und Australien gefördert werden. In den letzten Jahrzehnten hat die UNG-Förderung exponentiell zugenommen, wobei hydraulisches Fracking in regionalen und ländlichen Gebieten und in unmittelbarer Nachbarschaft zu Gemeinden stattgefunden hat. Während grössere Entwicklungsprojekte durch Bevölkerungswachstum und erhöhte Nachfrage nach Dienstleistungen Beschäftigung und andere positive wirtschaftliche Folgen in den umliegenden Gemeinden ermöglichen können, gibt es Hinweise darauf, dass negative Auswirkungen auf Gesundheit und Wohlbefinden diese Vorteile überwiegen können. In Situationen in denen die Kosten für die Gewinnung und den Export natürlicher Ressourcen die wirtschaftlichen Vorteile überwiegen, der sogenannte "Ressourcenfluch", stieß die Ausweitung der CSG-Aktivitäten auf örtliche Gemeinden und die breite Öffentlichkeit. Die Auswirkungen und Folgen dieser rasanten Entwicklung, insbesondere in den USA und in Australien, waren nicht ausreichend bekannt. Dies lag zum einen an der mangelnden Vorerfahrung, zum anderen an gemischten Botschaften in den Medien, mangelnder staatlicher Unterstützung und wenig empirischen Beweisen über negative Auswirkungen dieser neuen Verfahren. Das vorliegende Forschungsprojekt bot die Gelegenheit, eine Lücke in der wissenschaftlichen Literatur zu schließen, und untersucht die umfassenderen Auswirkungen der Bergbautätigkeit auf die umliegenden Gemeinden, wobei der Schwerpunkt auf CSG und den sozialen Determinanten von Gesundheit und Wohlbefinden liegt. Die Interaktion der Gesellschaft während des gesamten Projektlebenszyklus ist in CSG-Minen-Umgebungen im Vergleich zu herkömmlichen Bergbaumethoden (wie z. B. Kohle) aufgrund ihrer Nähe zu den Gemeinden größer. Daher besteht eine höhere Erwartung des Bergwerks, die Auswirkungen auf die Gemeinden in denen sie tätig sind zu überwachen und zu mindern. Es gibt Anzeichen dafür, dass die Bergbauindustrie in den regionalen Gemeinden eine vielfältigere Rolle spielen könnte als bisher erwartet, aber die Wege, auf denen sie dies im Gesundheitssektor tun, sind noch unklar. Für die Bereitstellung von Gesundheitsdiensten in regionalen Gebieten ist die Integration von Diensten und Partnerschaften von grundlegender Bedeutung. Es ist üblich, dass Gesundheitswesen-externe Akteure wie Verkehr, Polizei oder Umweltabteilungen an der Planung und Verfügbarkeit von Gesundheitsdiensten beteiligt sind. Es gibt kaum wissenschaftliche Belege dafür, wie die Bergbauindustrie mit dem Gesundheitssystem in den Gemeinden, in denen sie tätig sind, interagiert. Wie können Kosten und Nutzen dieser Interaktion aussehen und wie können diese Beziehungen optimiert werden, um dauerhafte Verbesserungen der Gesundheit der lokalen Bevölkerung zu ermöglichen. Dies ist besonders wichtig in Bergbaugemeinden, in denen die Gesundheitsergebnisse mit den verschiedenen Stadien der Bergbaubetriebsaktivität schwanken könnten, insbesondere in Gemeinden, in denen die Bergbaubetriebstätigkeit bald eingestellt wird, was zu Unsicherheit und einem wirtschaftlichen Abschwung führt. Ziele Dieses Forschungsprojekt wurde durchgeführt, um den regionalen und ländlichen Gesundheitssektor, die Bergbauindustrie und Gemeinden zu informieren, die sich gegenwärtig in einer Phase der Unsicherheit befinden. Das Projekt zielt darauf ab, auf die Forderung nach einem besseren Verständnis der Auswirkungen des Bergbaus auf die öffentliche Gesundheit und das Wohlergehen über direkte, physische und biologische Ergebnisse zu reagieren; zur wachsenden Beweisgrundlage für die CSG-Entwicklung und potenziellen Auswirkungen auf Gemeinschaftsebene beizutragen; und auf lokaler Ebene die Interaktion zwischen den Akteuren des Gesundheitssystems und der Bergbauindustrie zu charakterisieren und beschreiben Methoden Diese Arbeit wurde in drei Teile gegliedert, um die angegebenen Ziele zu erreichen: 1. Zwei systematische Übersichtsarbeiten, um die Nachweise für umfassendere, indirekte Auswirkungen auf die Gesundheit und das Wohlergehen auf Gemeindeebene in Verbindung mit Bergbautätigkeiten in Ländern mit niedrigem, mittlerem und hohem Einkommen zusammenzufassen, mit dem Ziel einen umfassenden Bericht darüber zu liefern, wie Gemeinden durch den Bergbau beeinflusst werden können; 2. Eine Synthese von qualitativen Daten, die im Rahmen eines Gesundheitsberichts (Health Needs Assessment (HNA)) in Queensland, Australien, gesammelt wurden, um die Determinanten von Gesundheit und Wohlbefinden in Gemeinden, die sich in der Nähe von CSG-Entwicklungen befinden, zu erforschen und dadurch das Verständnis dafür zu verbessern, wie sich Gemeinde- und Gesundheitsdienste auf Schwankungen vorbereiten können die mit einem Bergbauboom oder -schwund einhergehen; und 3. Eine kritische Überprüfung der regionalen Gesundheitssysteme und der Interaktion zwischen der Bergbauindustrie und den wichtigsten Interessengruppen auf lokaler Ebene, um eine Reihe von Empfehlungen zu erarbeiten, die die Gesundheitsergebnisse für die lokale Bevölkerung optimieren. Ergebnisse 16 Publikationen wurden in die systematische Übersicht in Ländern mit hohem Einkommen aufgenommen, darunter Studien, die in den USA, Australien und Kanada durchgeführt wurden. Diese stammten überwiegend aus dem Kohlebergbau. Es gibt Belege dafür, dass die Bergbautätigkeit das soziale, physische und wirtschaftliche Umfeld der betroffenen Gemeinden beeinflussen kann. Diese Faktoren können wiederum negative Auswirkungen auf die Gesundheit und das Wohlbefinden haben, wenn sie nicht angemessen gemessen und abgeschwächt werden. Spezifische Beispiele für selbst berichtete Auswirkungen auf die Gesundheit waren ein erhöhtes Risiko für chronische Krankheiten und schlechte allgemeine Gesundheit, ein Zusammenbruch der Beziehungen, ein Mangel an sozialer Verbundenheit und ein verminderter Zugang zu Gesundheitsdiensten. Zwölf Publikationen wurden in die systematische Übersicht über Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen einbezogen, darunter Studien, die in Ghana, Namibia, Südafrika, Tansania, Indien, Brasilien, Guatemala und Französisch-Guayana durchgeführt wurden. Zu den gewonnenen Bergbauprodukten gehörten Gold und Silber, Eisenerz und Platin. Es schien, dass Bergbau das Gesundheitsverhalten, die Beschäftigungsbedingungen, den Lebensunterhalt und sozio-politische Faktoren beeinflusst, die mit einem schlechteren Gesundheitsergebnis zusammenhängen. Familienbeziehungen, psychische Gesundheit und sozialer Zusammenhalt waren negativ mit der Bergbautätigkeit verbunden. Gesundheitsgefahren mit hohem Risiko, Bevölkerungswachstum und Veränderungen in der Vektorökologie aufgrund von Umweltveränderungen waren mit einer erhöhten Prävalenz von Infektionskrankheiten verbunden. Der Gesundheitsbericht wurde in vier Städten im ländlichen Queensland in der Nähe der CSG-Bergbau durchgeführt. Es wurden elf Fokusgruppendiskussionen, neun ausführliche Interviews und fünfundvierzig wichtige Informanteninterviews (KIIs) mit Gesundheits- und Gemeindedienstleistern und Gemeindemitgliedern durchgeführt. Die Rahmenanalyse wurde nach einem wiederkehrenden Thema durchgeführt, das sich aus den qualitativen Daten zu den Auswirkungen auf die Gesundheit und das Wohlbefinden der CSG-Industrie ergab. Der CSG-Bergbau wurde in den sonst überwiegend landwirtschaftlich geprägten ländlichen Gemeinden als eine rasche Entwicklung betrachtet. Mit dieser rasanten Entwicklung kam es zu Schwankungen in der lokalen Wirtschaft, der Bevölkerung, der Sozialstruktur und den Umweltbedingungen. Es gab direkte und indirekte Auswirkungen der CSG-Aktivität auf Einzel- und Gemeinschaftsebene, einschließlich der Auswirkungen auf Alkohol- und Drogenkonsum. Familienbeziehungen; soziales Kapital und psychische Gesundheit; und soziale Verbundenheit, bürgerliches Engagement und Vertrauen. Bevor die Wechselwirkung zwischen dem Gesundheitssystem und dem Bergbausektor untersucht wurde, war es wichtig, das ländliche Gesundheitssystem und seine ergänzenden Teile zu beschreiben. Die Systemtheorie untermauerte die Analyse qualitativer Daten aus KII, um die Charakteristika des Gesundheitssystems und die einzigartigen Einflüsse auf seine Funktionalität zu beschreiben. Die Ergebnisse zeigten, dass die Gemeinden eng mit dem Gesundheitssystem verbunden sind und dass die ländlichen Gesundheitssysteme in der Fallstudie durch Geografie, Klima und wirtschaftliche Schwankungen definiert wurden. Das Verständnis des einzigartigen Systemdrucks ist wichtig, um die Auswirkungen politischer Entscheidungen auf die Gesundheit in ländlichen Gebieten zu erkennen. Die Dezentralisierung der Entscheidungsfindung, größere Flexibilität und Vorhersehbarkeit der Programme werden zur Stärkung des Gesundheitssystems in ländlichen Gebieten beitragen. Ein weiteres Schlüsselthema wurde aus dem HNA herausgearbeitet: Der Bergbausektor spielte eine vielfältige Rolle bei der Planung und Bereitstellung von Gesundheits- und Sozialdiensten. Wichtige Informantentranskripte wurden erneut mit der Theorie der Phänomenologie analysiert. Von diesen erwähnten 23 das Vorhandensein von CSG- oder Bergbautätigkeit während des Interviews mindestens einmal ohne besonderen Hinweis auf die Bergbauindustrie. Es wurde angenommen, dass Bergbautätigkeit die Fähigkeit der Dienstanbieter beeinflusst, die Nachfrage zu befriedigen, Personal einzustellen und zu binden sowie Programme effektiv zu planen und zu verwalten. Die Wechselwirkungen zwischen Bergbaugesellschaften mit Dienstleistern und Aufsichtsbehörden waren unterschiedlich und wurden ausführlich kommentiert. Mehrere wichtige Informanten identifizierten Wege, wie der Bergbausektor effektiver mit Dienstleistungen zusammenarbeiten könnte. Dazu gehörten die Stärkung des sektorübergreifenden Engagements und die Ermöglichung transparenter, öffentlicher Konsultationen und faktengestützter Finanzierungsinitiativen. Fazit Die unkonventionelle Erdgasförderung und die Auswirkungen der Bergbautätigkeit auf die umliegenden Gemeinden sind international ein großes Problem. Durch die Anwendung der wichtigsten Theorien und Methoden des öffentlichen Gesundheitswesens, einschließlich des Modells für soziale Determinanten von Gesundheit, der Theorie komplexer adaptiver Systeme und der Bewertung der Gesundheitsbedürfnisse; Diese Arbeit hat wesentlich zum Diskurs beigetragen und signifikante Zusammenhänge zwischen Bergbautätigkeit und Gesundheit in betroffenen Gemeinden gezeigt. Diese Dissertation versuchte die Evidenzbasis der Verbindung zwischen der Bergbauindustrie und den sozialen Determinanten der Gesundheit der umliegenden Gemeinden zu stärken, wobei die potenziellen Auswirkungen der CSG-Entwicklungen im Mittelpunkt standen. Die Hypothese, dass umfassendere, direkte und indirekte Auswirkungen auf Gesundheit und Wohlbefinden auf Einzel- oder Gemeinschaftsebene bestehen können, wurde getestet und nachgewiesen. Das sekundäre Ziel bestand darin, die Beziehung der Stakeholder untereinander zu untersuchen und zu beschreiben.
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Blog: Schnabeltier EU
"Of course, a little bit of force is needed when doing push-backs."Kolinda Grabar-Kitarović, ehemalige kroatische PräsidentinKroatien, ein Staat, der gemeinsam mit Slowenien am 25. Juni 1991 seine Unabhängigkeit vom jugoslawischen Bundesstaat erklärte und damit einer der Akteure der schwersten Kriege in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg wurde, ist seit 2013 Mitglied der Europäischen Union, die vor allem als Friedens- und Wirtschaftsgemeinschaft gegründet wurde. Doch viele Stimmen äußern sich kritisch gegenüber dem Beitritt des Staates und sind der Meinung, dass Kroatien besonders im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kontext noch nicht bereit dazu wäre, Mitglied der Gemeinschaft zu sein.Die Europäische Kommission sieht das allerdings anders und ist der Meinung, dass die kroatische Politik große Fortschritte macht. Sie äußert sich bereits zuversichtlich über den kommenden Beitritt in den Schengen-Raum, der Bürger*innen der EU die Freiheit gibt, ohne ein Visum in viele Länder der Welt reisen zu dürfen. Doch an den kroatischen Grenzen gibt es Berichten zufolge immer wieder Fälle von Gewalt und Rechtswidrigkeiten von Seiten der Polizei gegenüber Asylsuchenden. Die ehemalige kroatische Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarović äußert sich in einem Interview mit dem oben aufgeführten Zitat zu den Menschenrechtsverletzungen.Wenn die kroatische Wirtschaft betrachtet wird, können einige Problematiken beobachtet werden, vor denen kroatische Politiker*innen stehen, wie beispielsweise die Arbeitsmigration von kroatischen Jugendlichen aufgrund von Umständen wie niedrigen Löhnen.Der folgende Beitrag soll auf diese und weitere Aspekte der kroatischen Politik näher eingehen und damit eine Bilanz nach 8 Jahren EU-Mitgliedschaft Kroatiens ziehen. Wie kam es zum Beitritt Kroatiens in die EU und welche Kriterien mussten erfüllt werden? Vor welchen Hindernissen steht der Staat und wie geht die Europäische Union mit diesen um? Diese Fragen sollen im Anschluss geklärt werden, bevor die Frage gestellt werden kann: Ist Kroatien überhaupt bereit für die Europäische Union?EU-Beitritt2003 ging das Beitrittsgesuch Kroatiens nach Brüssel und 10 Jahre später wurde das Land schließlich Mitglied der Europäischen Union. 2011 unterschrieb die Regierungschefin Jadranka Kosor den Beitrittsvertrag und legte damit den Grundstein für den 2013 in Kraft getretenen Beitritt des Landes in die Europäische Union. In diesem langen Prozess kam es zu einigen Hindernissen, die die Beitrittsverhandlungen herauszögerten und nach wie vor die Problematiken innerhalb des Landes widerspiegeln. (vgl. BPB 2013)Die Bevölkerung Kroatiens wurde erst nach dem unterschriebenen Beitrittsvertrag zu der Thematik befragt. Dabei stimmten 67% für einen Beitritt in die Europäische Union. Die Wahlbeteiligung fiel allerdings sehr gering aus, was unter anderem daran liegen könnte, dass die Abstimmung nur sechs Wochen zuvor angekündigt wurde. (vgl. ebd)Der 2011 unterschriebene Beitrittsvertrag war mit einigen Bedingungen verbunden, die bis zum letztendlichen Beitritt im Jahr 2013 erfüllt werden sollten. Hierbei ging es darum, grundlegende Defizite innerhalb des Landes zu beseitigen. Beispielsweise musste der Justizapparat gestärkt werden. Außerdem sollte stärker gegen Korruption vorgegangen sowie eine effizientere Verwaltung gewährleistet werden. Der letzte Punkt umfasst die Privatisierung der Staatsbetriebe. (vgl. ebd)Im Großen und Ganzen möchte die Europäische Union durch die Eingliederung Kroatiens den Übergang zu Marktwirtschaft und Demokratie vorantreiben. Denn Kroatien war Teil des blockfreien, sozialistischen Jugoslawiens mit all den Folgewirkungen (vgl. Kušić 2013).Kopenhagener KriterienAuf dem EU-Gipfel in Kopenhagen wurden im Jahr 1993 Kriterien aufgestellt, anhand derer geprüft wird, ob ein Land dazu bereit ist, in die Europäische Union aufgenommen zu werden. Zusammengefasst sind das folgende Faktoren:Die Gesamtlage innerhalb des Landes muss stabil sein. Das heißt, politische Institutionen, der Rechtsstaat und die Demokratie muss gesichert sein. Außerdem müssen Menschen- und Minderheitsrechte gewahrt werden. (vgl. Grosse-Hüttmann 2004, S. 7)Zudem muss eine funktionierende Marktwirtschaft vorhanden sein, die auf Wettbewerb und Privateigentum beruht. Dadurch sollen die Staaten in der Lage sein, dem Konkurrenzdruck im Binnenmarkt standhalten zu können. (vgl. ebd., S. 7)Der Aquis Communautaire, also alle Verträge der Europäischen Gemeinschaft sowie alle europäischen Gesetze, müssen in nationales Recht übernommen werden. Alle Pflichten und Regeln müssen von dem jeweiligen Staat akzeptiert und eingehalten werden. (vgl. ebd., S. 7 f.)Der Staat muss mit den weitreichenden Zielen der EU sowie der Währungs- und Wirtschaftsunion einverstanden sein, wie sie im Vertrag von Maastricht estgelegt wurden. Dadurch soll verhindert werden, dass neue Mitglieder einen anderen Weg einschlagen als die Europäische Union. (vgl. ebd., S. 8)Da Kroatien nun seit 8 Jahren Mitglied der Europäischen Union ist, scheinen diese Kriterien aus Sicht der Institutionen der Europäischen Union erfüllt zu sein. Dennoch musste der Staat zunächst an einigen Stellen arbeiten, um dieses Ziel erreichen zu können.Flüchtlingsrückkehr und KriegsverbrecherprozesseEine wichtige Bedingung, die im Jahr 2005 gestellt wurde und ein großes Hindernis für den Beitritt darstellte, war der Umgang mit kroatischen Kriegsverbrechern, die in den Unabhängigkeitskriegen Verbrechen begangen haben und zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausreichend sanktioniert wurden. Die Europäische Union forderte volle Kooperation mit dem Internationalen Strafgerichtshof. Vor allem ging es dabei um die Auslieferung von Ante Gotovina, der in der kroatischen Offensive Operation "Oluja" Kriegsverbrechen begangen hat. (vgl. Kušić 2021)Gerade wenn es um die Ahndung von Kriegsverbrechern sowie um die Flüchtlingspolitik geht, kann bisher nur ein eher mäßiger Erfolg verzeichnet werden. Die Problematik kann darauf zurückgeführt werden, dass die Staatswerdung Kroatiens mit kriegerischen Auseinandersetzungen erfolgt ist, so dass sich nationalistische Strukturen innerhalb der Gesellschaft und der Politik verfestigt haben. (vgl. Richter 2009, S. 7) Trotz alledem gilt Kroatien als eines der stabilsten Länder auf dem Balkan, der sich derzeit innerhalb eines Prozesses der Wechselwirkung zwischen innenpolitischer Demokratisierung und Stabilisierung befindet. (vgl. Richter 2009, S. 19)Die Premierminister Ivica Račan (2000-2003) und Ivo Sanader (2003-2009) haben versucht, die Wünsche der Europäischen Union im Bereich Flüchtlingsrückkehrer und Kriegsverbrechen umzusetzen. Dabei ging es hauptsächlich um Aspekte wie den Koalitionsfrieden, einen parteiübergreifenden Konsens zugunsten der Union, Stabilisierung und Konsolidierung. Der Preis waren allerdings Reformdefizite im Justizsektor, die die EU ebenfalls zuvor bemängelte.Durch blockierte Anträge, nicht veröffentlichte Fristen oder nicht ausgeführte richterliche Anweisungen kam es schließlich zu Defiziten im Bereich der Rückkehrpolitik und Kriegsverbrechen. Diese Politik führte zwar zu mehr Stabilität und Kontinuität des innenpolitischen Reformprozesses, jedoch wurden die Kopenhagener Kriterien vernachlässigt, so dass sich Defizite im Justiz- und Verwaltungsprozess verfestigen konnten. (vgl. Richter 2009, S. 19)Die von der Europäischen Union anerkannte Genfer Flüchtlingskonvention soll Flüchtlingen auf der ganzen Welt Schutz bieten. Doch oftmals sieht die Realität, auch innerhalb der EU anders aus. Vor allem an der kroatischen Grenze zu Bosnien und Herzegowina berichten Menschen davon, über die grüne Grenze zurückgeschickt zu werden. Ihnen zufolge haben sie keinen Zugang zu Asyl und erfahren oftmals exzessive Gewalt von Seiten der kroatischen Polizei. (vgl. Strippel 2021)Dieses Phänomen wird auch Push-Back genannt und bedeutet, dass Menschen, die auf Asyl in Kroatien hoffen, wieder nach Bosnien und Herzegowina abgeschoben werden, wo sie ebenfalls nicht empfangen werden. Diese Verfahren sollten im Normalfall zur Kenntnis genommen und geprüft werden, doch die kroatische Regierung dementiert das Vorgehen der Polizei. Es wird lediglich betont, dass die kroatischen Außengrenzen geschützt werden.Dadurch, dass es keine Einigkeit über diese Vorfälle gibt, werden diese von der Europäischen Union nicht sanktioniert beziehungsweise zur Kenntnis genommen, obwohl es sich hierbei um die Verletzung von Menschenrechten und Missachtung der Genfer Flüchtlingskonvention handeln würde. (vgl. Strippel 2021) Einen interessanten Podcast zu dieser Thematik wurde vom Bayerischen Rundfunk veröffentlicht, dieser ist unter diesem Link zu finden.Kroatien und der SchengenraumLänder, die Teil des Schengen-Raums der EU sein wollen, müssen sich einer Vielzahl von Evaluierungen unterziehen, die prüfen, ob alle für den Schengen-Raum erforderlichen Vorschriften erfüllt worden sind. Die Evaluierungen bewerten, ob das jeweilige Land in der Lage ist, Verantwortung für die Außengrenzen im Namen der anderen Mitglieder des Raumes zu übernehmen. (vgl. Europäische Kommission 2019)2016 wurde der Schengen-Evaluierungsprozess eingeleitet, der bewerten soll, ob Kroatien die Schengen-Vorschriften und Normen erfüllt. Die Europäische Kommission ist dabei der Auffassung, dass Kroatien Fortschritte bei der Erfüllung der Voraussetzungen gemacht hat, weiterhin aber an deren Erfüllung, insbesondere am Management der Außengrenzen, arbeiten muss. (vgl. ebd.) Der Kommissar Dimitris Avramopoulos, welcher für Migration, Bürgerschaft und Inneres zuständig ist, äußert sich im folgenden Zitat über den voraussichtlichen Beitritt Kroatiens zum Schengen-Raum:"Schengen ist eine der größten und greifbarsten Errungenschaften der europäischen Integration. Seine Stärke hängt jedoch von seiner Aufnahmebereitschaft ab. Kroatien hat nun die Maßnahmen zur Erfüllung der notwendigen Bedingungen ergriffen, und wir müssen dies anerkennen. Als vollwertiges Schengen-Mitglied wird das Land zu einer weiteren Stärkung des Schengen-Raums beitragen und dafür sorgen, dass die EU-Außengrenzen besser geschützt werden." (Dimitris Avramopoulos, Europäische Kommission 2019)Das gesamte Statement der Europäischen Kommission zu dieser Thematik wurde auf deren Internetseite veröffentlicht.Wirtschaftliche Maßnahmen im EU-KontextNach Weidenfeld und Wessels (2002) hat die Europäische Union zusammengefasst drei grundlegende Ziele, wenn es um die Struktur ihrer Mitgliedstaaten und vor allem um Regionen mit Entwicklungsrückstand geht. Zum einen sollen diese Regionen und Länder besonders gefördert werden. Nach Auffassung der Europäischen Union besteht dann ein Rückstand, wenn sich das BIP je Bürger*in auf weniger als 75% des EU-Durchschnitts beläuft. Dieses Ziel gilt als Priorität, weshalb mehr als zwei Drittel der Strukturfonds zur Beseitigung dieser Rückstände verwendet werden. (vgl. Weidenfeld/Wessels 2002)Als zweites Ziel gilt die soziale und wirtschaftliche Umstellung von Gebieten, deren Entwicklungsniveau über dem Durchschnitt liegt. Dennoch weisen diese Gebiete Strukturprobleme, wie beispielsweise Deindustrialisierung, eine hohe Arbeitslosenquote, Bevölkerungsrückgang oder Krisensituationen auf, die mit Hilfe der Mittel der Europäischen Union aufgefangen werden sollen. Das dritte Ziel ist die Anpassung und Modernisierung von Ländern und Regionen. (vgl. ebd.)Das EU-Förderprogramm für den Staat Kroatien beinhaltet 10,74 Milliarden Euro und soll die kroatische Wirtschaft unterstützen. Dabei gehen 40% in Fonds für regionale Entwicklung, 24% in Kohäsionsfonds, 19% in Landwirtschaftsfonds, 14% in Sozialfonds und der Rest in Meeres- und Fischereifonds sowie in eine Jugendbeschäftigungsinitiative. (vgl. Holzner/Vidovic 2018, S. 10)Ziel der Unterstützung ist es vor allem, die wirtschaftliche Entwicklung Kroatiens voranzutreiben, die Armut innerhalb der Gesellschaft zu bekämpfen und den Arbeitsmarkt zu verbessern. Die Inanspruchnahme ist im Vergleich zu anderen EU-Ländern allerdings gering, nimmt aber immer weiter zu. Das langsame Vorgehen könnte damit zusammenhängen, dass die Entwicklungsfähigkeit des Landes derzeit noch nicht so weit ausgeprägt ist, dass die Fonds angemessen verwaltet werden können. (vgl. ebd., S. 25)Ein wichtiges Infrastrukturprojekt, das sich derzeit in Baumaßnahmen befindet und von der kroatischen Regierung mithilfe der EU-Fonds gestartet wurde, ist der Bau der Pelješac-Brücke, welche das Festland mit der vorgelagerten Halbinsel verbinden soll. 357 Millionen von 550 Millionen Kosten werden von der EU getragen. Allerdings erhielt der chinesische Staatskonzern Communications Construction Company den Zuschlag für den Bau, was vielerorts für Erstaunen sorgte. (vgl. Mihm 2021)Weitere Ziele, die die EU-Mitgliedschaft mit sich bringen soll, sind die Ansiedlung einer EU-Einrichtung, die Einführung der goldenen Investitionsregel sowie vor allem der Eintritt in den Schengenraum. (vgl. Holzner, Vidovic 2018)Einfluss des BrexitDas Vereinigte Königreich selbst führte den Euro als Währung nicht ein und trotzdem hat der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union einen großen Einfluss auf die Währungsintegration und somit auch auf die Währungspolitik Kroatiens und das Verhältnis zur Europäischen Union.Bei den acht Mitgliedsstaaten, die den Euro noch nicht eingeführt haben, den so genannten "Euro-Outs", kann zunehmend die Befürchtung beobachtet werden, dass ihr Einfluss auf den Willensbildungsprozess innerhalb der Union verringert wird. Als Folge dieser Sorge hat sich eine Art Koalition von Staaten entwickelt, die die Interessen einiger Mitglieder vereint. Der Brexit kann also als Auslöser für eine neue Dynamik und Treiber für die Ausdehnung der Eurozone gesehen werden. (vgl. Tokarski; Funk 2018, S. 1)Kroatien gehört zu der Gruppe der "Euro-Outs". Sie sind eine heterogene Gruppe von Staaten, die verschiedenen Wirtschaftsmodellen folgen und sich in unterschiedlichen Stadien ihrer Entwicklung befinden. Rumänien und Kroatien sind darunter die Staaten, die ein Wechselkursregime mit kontrolliertem, variablem Wechselkurs unterhalten. Die Problematik hinsichtlich der ungleichen ökonomischen Bedingungen ist, dass diese die Kooperation zwischen den Mitgliedsstaaten erschweren. Allerdings gilt Kroatien als Spezialfall, denn auch wenn der Euro als Währung noch nicht eingeführt wurde, ist die Wirtschaft weitgehend "euroisiert", da 67% der Verbindlichkeiten und 75% der Anlagen auf dem Euro basieren. (vgl. ebd., S. 1 f.) Die Einführung der europäischen Währung ist also nur eine Frage der Zeit und eine Frage des politischen Fortschritts.ArbeitsmarktAufgrund der Überbewertung des realen Wechselkurses befand sich die Wirtschaft Kroatiens zwischen 2009 und 2014 in einer tiefen Rezession, was dazu führte, dass die Beschäftigungszahlen sanken und das BIP um fast 13% einbrach. Seit dieser Zeit sinken die Zahlen der Arbeitslosen, somit erreichte die Arbeitslosenquote innerhalb des Landes im Mai 2017 den niedrigsten Wert mit 11,7%. (vgl. Holzner, Vidovic 2018, S. 2 f.)Bis heute ist der kroatische Arbeitsmarkt gekennzeichnet durch geringe Erwerbstätigkeit und niedrige Beschäftigung, was ein massives Problem darstellt. Die Beschäftigtenrate ist niedriger als der EU-Durchschnitt. Neben Italien und Rumänien hat Kroatien den höchsten Anteil an inaktiven Bürger*innen innerhalb der Europäischen Union. (vgl. ebd., S. 4 f.)Besonders Jugendliche und Kroat*innen mit primären Ausbildungen sind von Arbeitslosigkeit betroffen. Personen mit Sekundärbildung können die geringste Arbeitslosigkeit aufweisen. Trotzdem wird oft der Mangel an Arbeitskräften vor allem in touristischen Gebieten bemängelt. (vgl. ebd., S. 5 f.)Zur Lösung dieser Problematik fordern Gewerkschaften höhere Löhne für Arbeiter*innen. Einige Vertreter*innen von Unternehmen fordern allerdings die Erhöhung der Quoten für Arbeitsplätze aus dem Ausland. (vgl. ebd., S. 6)ArbeitsmigrationBereits seit den 60er Jahren, in denen viele Gastarbeiter*innen vom Balkan in Länder wie Deutschland und Österreich immigrierten, um ihre Familien zu ernähren, spielt die Thematik Arbeitsmigration in Kroatien eine wichtige Rolle. Bis heute nutzen viele Kroat*innen die besseren Arbeitsumstände und Löhne in Ländern wie Deutschland, um ihren Familien ein besseres Leben ermöglichen zu können.Seit dem Beitritt Kroatiens zur Europäischen Union sind die Zahlen der Migrant*innen aus Kroatien um 38% gestiegen. Insbesondere war hierfür die Öffnung des kroatischen Arbeitsmarktes verantwortlich, der es kroatischen Staatsbürger*innen ermöglichte, in anderen Mitgliedsländern der Europäischen Union ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Mehrheit der Kroat*innen ist im Alter zwischen 25 und 54 Jahren und findet Beschäftigung in der Industrie sowie in der Bauwirtschaft. (vgl. Holzer, Vidovic 2018)Aufgrund von Faktoren wie der unterdurchschnittlichen Entlohnung hat Kroatien der Auswanderung dieser Bürger*innen wenig entgegenzusetzen. Dem Regierungsprogram 2016-2020 ist lediglich ein vages Statement zu der Auswanderung kroatischer Jugendliche und junger Erwachsenen zu entnehmen. Das Ziel ist es, mehr Arbeitsplätze zu schaffen und dadurch junge Leute dazu zu bewegen, in Kroatien zu bleiben. (vgl. ebd., S. 9)EuroskeptizismusSeit einiger Zeit befindet sich die gesamte Europäische Union in einer Krise, die mehrere Teilkrisen umfasst und deshalb auch Polykrise genannt wird. Dazu zählt unter anderem auch der Euroskeptizismus, der in allen Mitgliedsländern zunehmend wahrzunehmen ist. Dieser kann mit einzelnen Politiken oder dem Erhalt von Souveränitätsrechten begründet werden. (vgl. Weiss, S. 14)Auch wenn der Euroskeptizismus mittlerweile weit verbreitet ist, gibt es zwischen den Mitgliedsstaaten Unterschiede in der Ausprägung. Besonders neue Mitgliedstaaten, wie auch Kroatien, empfinden die Thematik des Kompetenz- und Souveränitätstransfers an die Europäische Union problematisch. Dieser Machtverlust wird als sensibel, historisch abrufbar aber auch politisch instrumentalisierbar wahrgenommen. (vgl. ebd., S. 14)LegitimitäskriseDie Europäische Union leidet also derzeit unter einem Stimmungstief, das mehrere Ursachen hat. Vor allem aber hagelt es immer mehr Kritik zum Thema Demokratiedefizit, Handlungsunfähigkeit und mangelnder Bürgernähe. Viele Bürger*innen begegnen der EU misstrauisch, da sie für sie sehr intransparent und wenig demokratisch erscheint. (vgl. Höreth 2004, S. 41)Aufgrund dessen machte es sich die EU bereits im Jahr 2002 zum Ziel, verfassungsmäßige und institutionelle Voraussetzungen zu schaffen, die demokratische Grundsätze innerhalb der erweiterten EU sowie die Steuerungsfähigkeit nach innen und die Handlungsfähigkeit nach außen ermöglichen sollen. Dieses ambitionierte Ziel konnte allerdings bislang nicht erreicht werden, da einzelne Mitgliedsstaaten auf die Gewichtung ihrer Stimmen im Ministerrat nicht verzichten wollten. (vgl. ebd., S. 41) Nach Höreth (2004) basiert das Demokratiedefizit nicht nur auf technische Probleme des Politikmanagements, sondern auf grundlegende Legitimitätsprobleme, die die Anerkennungswürdigkeit der EU in Frage stellen.FazitWie auch die anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union hat Kroatien mit den Hindernissen der Polykrise zu kämpfen. Doch die Gesamtsituation des Staates zeigt, dass das Land sich vor allem mit Themen wie dem Umgang mit Flüchtlingen im Rückstand befindet, was damit zusammenhängen könnte, dass sich politische, soziale und ideologische Strukturen, die sich im Laufe der Geschichte, aber vor allem während der Unabhängigkeitskriege gebildet haben, verfestigt haben.Die geringe Wahlbeteiligung und die 67%ige Zustimmung zum Beitritt in die Europäische Union lässt relativ offen, wie die kroatische Gesellschaft zu der Europäischen Union steht. Zunächst konnte allerdings das Gefühl geweckt werden, dass eine gewisse EU-Euphorie in der Gesellschaft Kroatien zu beobachten war. Nun aber äußern sich, wie in der gesamten Europäischen Union erkennbar, immer mehr Menschen skeptisch gegenüber der EU. Es erscheint immer noch so, als ob die Gesellschaft den Entscheidungsprozessen der Europäischen Union nur schwer folgen kann und sie sich damit unsicher fühlen.Die kroatische Regierung hat einige Maßnahmen getroffen, um den EU-Beitritt des Staates zu ermöglichen. Trotzdem gibt es Kritiker*innen, die der Meinung sind, die EU habe es Kroatien zu einfach gemacht. Nach ihr wurden die Kopenhagener Kriterien erfüllt, sonst hätte das Land nicht zu einem offiziellen Mitglied der Europäischen Union werden können.Doch ein genauerer Blick in die Strukturen des Staates und vor allem auf die Grenze zu Bosnien und Herzegowina zeigen: das Land muss weiterhin an sich arbeiten, um den Kriterien gerecht werden zu können. Die Europäische Union darf die Augen nicht verschließen, wie es derzeit getan wird, indem zuversichtlich über den Beitritt in den Schengen-Raum diskutiert wird. Als Friedensgemeinschaft ist die Aufgabe der Europäischen Union, Menschenrechte zu wahren und dort genauer hinzuschauen, wo diese verletzt werden. Allerdings setzt der Beitritt Kroatiens in die Europäische Union gleichzeitig auch ein wichtiges Zeichen und bringt den Staat, als einer der stabilsten Länder auf dem Balkan, dazu, aktiv zu werden und als Vorbild für den restlichen Balkan zu fungieren.Auch wenn der Beitritt kritisch hinterfragt werden kann, sollte also gesagt werden, dass der Staat durchaus Schritte macht, die ohne die Europäische Union wahrscheinlich nicht stattgefunden hätten. Kroatien profitiert sowohl wirtschaftlich, als auch gesellschaftlich von den Vorteilen der EU. Allerdings verlangsamen Defizite innerhalb der Politik, wie beispielsweise lange Verwaltungsverfahren die Fortschritte, so dass die Europäische Union zum einen Geduld zeigen, aber zum anderen die Problematiken innerhalb des Landes nicht ignorieren sollte.LiteraturverzeichnisBundeszentrale für politische Bildung (2013): 1. Juli: Kroatien tritt der EU bei. Online verfügbar unter https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/164274/1-juli-kroatien-tritt-der-eu-bei-28-06-2013, zuletzt geprüft am 14.09.2021.Europäische Kommission (2019): Schengen-Beitritt: Kroatien vor dem Beitritt zum Schengen-Raum. Online verfügbar unter https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/IP_19_6140, zuletzt geprüft am 30.09.2021.Holzner, Mario (2018): Wirtschaftliche Perspektiven für Kroatien. wiiw Forschungsbericht. Wien: The Vienna Institute for International Economic Studies.Horeth, Marcus (2004): Die erweiterte EU in der Legitimitätskrise. In: Der Bürger im Staat 54 (1), S. 41–48.Kušić, Siniša (2021): Kroatiens Weg in die EU . Hg. v. Bundeszentrale für politische Bildung. Online verfügbar unter https://www.bpb.de/apuz/158164/kroatiens-weg-in-die-eu, zuletzt geprüft am 14.09.2021.Mihm, Andreas (2021): Chinesen bauen Brücke in Kroatien, die EU zahlt. Hg. v. Frankfurter Allgemeine Zeitung. Online verfügbar unter https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/kroatien-china-baut-peljesac-bruecke-und-die-eu-zahlt-17461739.html, zuletzt geprüft am 30.09.2021.Richter, Solveig (2009): Zielkonflikte der EU-Erweiterungspolitik? Kroatien und Makedonien zwischen Stabilität und Demokratie. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik.Schrooten, Mechthild (2004): Ökonomische Perspektiven der EU-Osterweiterung. In: Der Bürger im Staat 54 (1), S. 17–20.Steindorf, Ludwig (2013): Ein kurzer Gang durch die Geschichte Kroatiens. Hg. v. Bundeszentrale für politische Bildung. Online verfügbar unter https://www.bpb.de/apuz/158166/ein-kurzer-gang-durch-die-geschichte, zuletzt geprüft am 30.09.2021.Tokarski, P.; Funk, S. (2018): Die Nicht-Euro-Staaten in der EU nach dem Brexit. In: SWP-Aktuell (68), S. 1–8.Weidenfeld, W.; Wessels, W. (2002): Jahrbuch der Europäischen Integration 2002/2003. Bonn: Europa Union Verlag.Weiss, S. (2004): Die Erweiterung aus der Sicht der Beitrittskandidaten. In: Der Bürger im Staat 54 (1), S. 11–17.
Blog: Rechtspopulismus
Das Konzept des demokratischen Rechtsstaates, bisher einigendes Fundament und Leitprinzip der europäischen Einigung, steht heute im Zentrum einer kritischen Debatte, die die Grundlagen des europäischen Friedensprojektes zu gefährden droht. Weltweit und insbesondere in Europa wächst die Sorge um den Erhalt der freiheitlich-demokratischen Werte. Populistische Bewegungen gewinnen an Einfluss, indem sie einfache Antworten auf die komplexen Herausforderungen unserer Zeit anbieten. Diese Bewegungen finden vor allem bei denjenigen Anklang, die sich inmitten des raschen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels nach Sicherheit und Beständigkeit sehnen. Sie neigen dazu, sich Lösungen wie nationaler Abschottung und der Etablierung autoritärer Regime zuzuwenden, um ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln (vgl. Möllers 2018, S. 7).Seit der Flüchtlingskrise 2015 haben populistische Strömungen in verschiedenen europäischen Ländern an Zulauf gewonnen. Ungarn und Polen sind prominente Beispiele, in denen rechtsnationale bis rechtsradikale Parteien an die Macht gekommen sind. Diese Regierungen stehen im Widerspruch zu den Grundprinzipien der Europäischen Union, einschließlich der Achtung der Menschenwürde, der Demokratie, der Freiheit, der Gleichheit und der Rechtsstaatlichkeit. Der Umbau des Staatswesens in diesen Ländern zeigt sich insbesondere in der Einschränkung der Unabhängigkeit der Justiz, der Verfassungsgerichtsbarkeit und der Medien (Bundeszentrale für politische Bildung 2022).Besonders in Ungarn, wo seit Viktor Orbáns zweiter Amtszeit im Jahr 2010 ein schleichender Prozess des Demokratieabbaus zu beobachten ist, wird die Bedeutung der Medienregulierung für die demokratischen Strukturen und die politische Landschaft offensichtlich. Die vorliegende Arbeit widmet sich dieser Problematik und beleuchtet, wie die Regulierung der Medien in Ungarn demokratische Prozesse und die politische Szenerie des Landes beeinflusst.Die Arbeit beginnt mit einer grundlegenden Definition des Begriffs "Medien" und einer Erörterung ihrer primären, sekundären und tertiären Funktionen im politischen Raum. Anschließend wird die Nutzung der Medien als Instrument der Regierungskommunikation und als Mittel der Machtsicherung untersucht. Eine Analyse der aktuellen Medienlandschaft in Ungarn, einschließlich der Einschränkungen der Pressefreiheit, der Meinungsvielfalt sowie der Kontrolle und Einflussnahme der Regierung auf die Medienorgane, bildet den Kern der Arbeit.Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Medienregulierung in Ungarn gelegt. Die Auswirkungen dieser Medienregulierung auf die Demokratie in Ungarn werden untersucht, um zu verstehen, wie Veränderungen in der Medienlandschaft die Grundpfeiler der Demokratie beeinflussen - die Bedeutung der Medien für eine demokratische Gesellschaft, die Einschränkungen der Demokratie durch Regulierungen in der Medienlandschaft und die politischen Auswirkungen auf das demokratische System. Abschließend wird in einem Fazit reflektiert, inwiefern die Medienregulierung in Ungarn als symptomatisch für eine Verschiebung weg von demokratischen Idealen gesehen werden kann.Ziel der Arbeit ist es, ein Verständnis der komplexen Wechselwirkungen zwischen Medienregulierung und demokratischen Prozessen in Ungarn zu erlangen und damit einen Beitrag zur aktuellen Debatte über die Bedeutung liberaler demokratischer Werte in Europa zu leisten.Die Rolle der Medien in der PolitikDer folgende Abschnitt befasst sich mit der Rolle der Medien in der Politik. Im Mittelpunkt steht dabei die differenzierte Betrachtung der primären, sekundären und tertiären Funktionen der Medien. Mit Hilfe dieser Unterscheidung ist es möglich, ein tieferes Verständnis dafür zu entwickeln, wie Medien die politische Landschaft gestalten und beeinflussen. Durch die Analyse dieser Funktionen wird untersucht, wie Medien Öffentlichkeit herstellen, Informationen verbreiten, politische Akteure kontrollieren und zur politischen Sozialisation und Bildung beitragen. Dies ist von entscheidender Bedeutung, um die komplexen Wechselwirkungen zwischen Medien und Politik vollständig zu erfassen. Primär-, Tertiär- und SekundärfunktionDie Macht der Massenmedien, bestehende Machtstrukturen herauszufordern, darf nicht unterschätzt werden. Durch die Sammlung, Aufbereitung und Verbreitung von Informationen, Wissen und politischen Ansichten wird die öffentliche Meinung wesentlich beeinflusst (Wittkämper, S. 37). Bereits in der Frühen Neuzeit erkannten der Adel und die Kirche als damalige Machthaber die potenzielle Bedrohung, die von den Medien ausging. Sie reagierten schnell und führten nach der Entdeckung des Buchdrucks Zensurmaßnahmen ein, um die zu druckenden Inhalte vorzuprüfen und ihre Herrschaft zu sichern (Strohmeier 2004, S. 69).In der heutigen Zeit spielen die Medien eine zentrale Rolle bei der Gestaltung der politischen Realitäten, da sie in der Lage sind, die politische Macht entweder zu stärken oder zu untergraben (Strohmeier 2004, S. 69). Ziel der folgenden Ausführungen ist die Veranschaulichung des Einflusspotenzials der Massenmedien durch die Darstellung ihrer grundlegenden Funktionen.Gerd Strohmeier weist auf die Bedeutung der primären, der sekundären und der tertiären Funktion der Massenmedien hin. Die Primärfunktion besteht darin, Öffentlichkeit herzustellen, die entsteht, wenn direkte Kommunikationsformen bevölkerungsbedingt nicht ausreichen. Massenmedien ermöglichen eine schnelle und einfache Verbreitung von Nachrichten und füllen so diese kommunikative Lücke (Strohmeier 2004, S. 72).Die Kontrolle der politischen Akteure und die Verbreitung von Informationen gehören zu der Sekundärfunktion. Ziel ist die umfassende und verständliche Vermittlung von Inhalten und damit die Beeinflussung der Meinungsbildung. Zugleich haben Massenmedien die Aufgabe, das Verhalten der politischen Institutionen zu überwachen, Missstände aufzudecken und Kritik zu üben (Strohmeier 2004, S. 72f.).Die Tertiärfunktion der Medien umfasst drei wesentliche Aspekte. Erstens die Förderung der politischen Meinungs- und Willensbildung, zweitens die Integration und politische Sozialisation und drittens die Vermittlung politischer Bildung. Diese Aspekte unterstützen die Entwicklung der Persönlichkeit des Einzelnen und seine Integration in die Gesellschaft, fördern das Verständnis für das politische System und regen zur aktiven Teilnahme am politischen Leben an. Darüber hinaus haben die Massenmedien einen entscheidenden Einfluss auf die Art und Weise, wie über bestimmte Themen nachgedacht und gesprochen wird, oft ohne dass sich die Menschen der Beeinflussung ihrer Meinungen durch die Medien bewusst sind (Strohmeier 2004, S. 73f.).Medien als InstrumentIm nächsten Schritt unserer Analyse konzentrieren wir uns auf die Rolle der Medien als politisches Werkzeug. Dabei unterteilt sich unsere Betrachtung in zwei Schlüsselaspekte. Einerseits die Nutzung der Medien für Regierungskommunikation, durch die Regierungen ihre Botschaften vermitteln, und andererseits die Anwendung der Medien als Mittel zur Machtsicherung, wodurch Einfluss auf die öffentliche Meinung genommen und politische Macht gefestigt wird.Medien als Instrument für RegierungskommunikationDie strategische Nutzung der Medien durch die Regierung wird vor allem in Bezug auf den Einfluss der Mediengesetzgebung auf die Demokratisierungsprozesse und die Politikgestaltung in Ungarn untersucht. Durch die gezielte Verbreitung politischer Botschaften und Entscheidungen interagieren Regierungen direkt mit der Bevölkerung, was nicht nur die Verbreitung von Informationen fördert, sondern auch die öffentliche Meinung prägt und politische Unterstützung generiert.Um den Rechtspopulismus zu verstehen, ist es notwendig, sich mit Cas Muddes Definition des Populismus auseinanderzusetzen, der Populismus als eine Ideologie betrachtet, die die Gesellschaft in zwei homogene und antagonistische Gruppen teilt: "das reine Volk" gegenüber "der korrupten Elite", wobei Politik als Ausdruck des allgemeinen Volkswillens verstanden wird (Mudde 2004, S. 543). Die Tendenz, dass rechtspopulistische Parteien seit den 1980er Jahren Wahlerfolge erzielen und sich etablieren, zeigt sich nicht nur in westeuropäischen, sondern auch in jungen Demokratien Osteuropas, einschließlich Ungarns (Geden 2006, S. 17f.).Rechtspopulisten positionieren sich als Vertreter der "schweigenden Mehrheit" in direktem Gegensatz zu den politischen und kulturellen Eliten und privilegierten Minderheiten, denen sie die Verfolgung partikularer Interessen vorwerfen (Geden 2006, S. 20f.). Ihre politische Rhetorik ist durch Vereinfachung und Komplexitätsreduktion gekennzeichnet, wobei sie sich organisatorisch von den etablierten Parteien abgrenzen, etwa durch die Zusammenarbeit mit außerparlamentarischen Gruppen, die Initiierung von Volksentscheiden oder die Präsenz charismatischer Führungspersönlichkeiten (Geden 2006, S. 22).Ein zentrales Element rechtspopulistischen Denkens ist der "Ethnopluralismus", der besagt, dass sich ethnisch und kulturell homogene Völker nicht vermischen sollten, was eine inhärente Ungleichheit der Völker suggeriert und kulturelle Begegnungen als konfliktträchtig ansieht (Bruns et al. 2015, S. 12f.).Im spezifischen Kontext Ungarns unter der Führung von Viktor Orbán zeigt sich die kritische Rolle dieser Medienstrategien. Die Regierung Orbán hat Medienregulierung bewusst eingesetzt, um ein medienfreundliches Umfeld für regierungsnahe Nachrichtenquellen zu schaffen und gleichzeitig den Raum für kritische Stimmen einzuschränken (Mudde 2004, S. 543). Dies schränkt nicht nur die Vielfalt und Freiheit der Medien ein, sondern hat auch tiefgreifende Auswirkungen auf demokratische Prozesse, indem es die Möglichkeiten für eine offene politische Debatte einschränkt.Diese strategische Nutzung der Medien für die Regierungskommunikation verdeutlicht die Doppelnatur der Medien in der Politik. Einerseits als Kanäle für die transparente Kommunikation politischer Inhalte und andererseits als Instrumente der Machtkonsolidierung, die die demokratischen Grundlagen untergraben können. Diese Dynamik ist entscheidend für das Verständnis der politischen Situation in Ungarn und der Rolle, die die Medienregulierung dabei spielt (Geden 2006, S. 17f.).Detlef Grieswelle betont in "Politische Rhetorik: Macht der Rede, öffentliche Legitimation, Stiftung von Konsens" die bedeutende Rolle der Rhetorik in der Politik. Rhetorik dient nicht nur der Durchsetzung und Legitimation von Macht, sondern auch der Kontrolle und Repräsentation von Interessen, was ihre Bedeutung als Instrument politischer Führung und Einflussnahme unterstreicht (Grieswelle 2000, S. 33). In diesem Zusammenhang ist die rhetorische Strategie des ungarischen Ministerpräsidenten von besonderer Relevanz, da mit ihr versucht wird, politische Legitimität für diese Vision zu schaffen und die Unterstützung der Bevölkerung zu gewinnen (Bruns et al. 2015, S. 12f.).Medien als Werkzeug zur Sicherung von MachtUm zu verstehen, wie die Medien zum Machterhalt beitragen, ist die Rhetorik von rechtspopulistischen Figuren wie Viktor Orbán besonders aufschlussreich. Orbán nutzt plakative und skandalträchtige Kommunikationswege, um mediale Aufmerksamkeit zu generieren die nicht nur seine Präsenz in der Öffentlichkeit stärkt, sondern auch eine Mobilisierung seiner Anhängerschaft bewirkt (Schnepf 2020, S. 5). In seinen politischen Reden kehren bestimmte rhetorische Muster immer wieder, darunter die Verwendung von Antagonismen, die eine Konfliktsituation erzeugen, insbesondere durch die Gegenüberstellung von "Elite" und "Volk". Dabei wird das "Volk" als unterdrückt dargestellt, während die rechtspopulistische Partei als volksnah inszeniert wird (Mudde 2004, S. 543). Eine charakteristische Einfachheit in den Botschaften rechter Parteien wird von Bischof und Senninger hervorgehoben. Je weiter rechts eine Partei steht, desto einfacher ist ihr Programm (Bischof/Senninger 2018, S. 484). Solche Diskurse verwenden prägnante und leicht verständliche Formulierungen für ansonsten komplexe politische Sachverhalte, suggerieren einfache Lösungen und nutzen Dramatisierungen und Metaphern. Insbesondere werden Migrant*innen durch metaphorische Vergleiche abgewertet (Hogan/Haltinner 2015, S. 533) und es wird auf die Bedrohung der nationalen Identität durch ethnische Minderheiten und Migrant*innen angespielt, ein Vorgehen, das Ruth Wodak als "politics of fear" beschreibt (Wodak 2015, S. 2).Diese Elemente rechtspopulistischer Rhetorik finden sich in Orbáns Äußerungen deutlich wieder, wie einige seiner Reden und Interviews exemplarisch zeigen. Besonders deutlich wird dies in seiner Darstellung von Migration als Bedrohung für das ungarische Volk, wobei er einen alarmistischen Ton anschlägt, um die migrationskritische Haltung der Regierung zu untermauern und ein Klima der Angst zu erzeugen: "Europa wird von einer beispiellosen Masseneinwanderung bedroht. (...) Wir sprechen heute von Hunderttausenden, nächstes Jahr werden es Millionen sein, ein Ende ist nicht in Sicht" (Orbán, zitiert nach Mendelski 2019, S. 8). Orbáns Wortwahl, in der er von der "Wahrheit" spricht, verdeutlicht seine Überzeugung von der Legitimität seiner Politik, wobei er durch Übertreibungen wie "Millionen", "massive Integration" oder "unerwartetes Ausmaß" eine Atmosphäre der Panik schafft.In einer Rede anlässlich seiner Vereidigung als Ministerpräsident präsentierte Orbán seine Vision einer Demokratie, die er als "christdemokratisch im 21. Jahrhundert" bezeichnete und damit ein stark von christlichen Werten geprägtes Bild nationaler Identität entwarf, das traditionelle Familienbilder bevorzugt und Homosexualität ausgrenzt. Diese Ausführungen zeigen, wie Orbán die Medien nutzt, um seine politische Botschaft zu verstärken und wie er die Medien als Instrument zur Sicherung seiner Macht einsetzt, indem er sich einer Rhetorik bedient, die sowohl mobilisiert als auch polarisiert, um seine Position zu festigen und Herausforderungen zu kontrollieren.Analyse der aktuellen Medienlandschaft in UngarnDer folgende Teil der Arbeit befasst sich mit der aktuellen Medienlandschaft in Ungarn. In der ersten Amtszeit Orbáns zwischen 1998 und 2002 gab es kaum Eingriffe in die Pressefreiheit, was auf mehrere Faktoren zurückzuführen ist. Da Ungarn in dieser Zeit noch auf den EU-Beitritt hinarbeitete, vermied Orbán bewusst Auseinandersetzungen mit der Europäischen Union über Fragen der Pressefreiheit. Dies änderte sich jedoch in der darauffolgenden Amtszeit ab 2010 drastisch: Ein neues Gesetz wurde eingeführt, das staatlichen Stellen die Einflussnahme auf die Medien ermöglichte und deren Regulierung legitimierte. Fortan nutzte die Regierung Orbán die Medien gezielt für ihre politischen Ziele.Einschränkungen der Pressefreiheit und Meinungsvielfalt in UngarnDas Beispiel Ungarns zeigt den Übergang von einem Demokratisierungsprozess zu einem schleichenden Verlust demokratischer Strukturen. Ursprünglich galt Ungarn aufgrund seiner politischen Fortschritte und wirtschaftlichen Stabilität in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren als Vorbild unter den EU-Beitrittskandidaten. Nach dem Fall der kommunistischen Einparteienherrschaft (1949-1989) und der Etablierung einer parlamentarischen Demokratie (ab 1990) unternahm das Land erhebliche Anstrengungen, um eine demokratische Staatsform zu etablieren. Wichtige Reformen dieser Zeit schufen unter anderem eine klare Trennung der Staatsgewalten (Legislative, Exekutive, Judikative) und die neue Verfassung verankerte Prinzipien wie Rechtsstaatlichkeit und Unabhängigkeit der Justiz (Ismayr 2002, S. 310ff.).Seit 2010 hat Viktor Orbán mit seiner Fidesz-Partei jedoch einen politischen Kurs eingeschlagen der den zuvor eingeleiteten Demokratisierungsprozess nicht nur gestoppt, sondern in einigen Bereichen sogar rückgängig gemacht hat. Ein 2010 verabschiedetes Mediengesetz, das es staatlichen Stellen erlaubt, die Medien zu überwachen und bei Verstößen zu sanktionieren, markiert einen Wendepunkt in der Einschränkung der Pressefreiheit und ist ein zentraler Faktor im Demokratieabbau des Landes (Bajomi-Lazar 2018, S. 273ff.). Freedom House hebt hervor, dass von allen Kriterien zur Bewertung des Zustands von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gerade die Pressefreiheit in Ungarn die dramatischsten Einbußen zu verzeichnen hat (Bajomi-Lazar 2018, S. 273).Die ungarische Medienlandschaft hat sich seit der Regierungsübernahme durch Orbán und Fidesz sukzessive verändert. Die Regierung kontrolliert den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, die staatliche Nachrichtenagentur Magyar Tavirati Iroda sowie einen erheblichen Teil der privaten Medien, die sich im Besitz von Orbán nahestehenden Personen befinden. Im Rahmen einer umfassenden Umstrukturierung wurden 570 leitende Angestellte der Rundfunkanstalten durch der Fidesz-Partei loyale Mitarbeiter ersetzt (Bajomi-Lazar 2018, S. 275f.).Für die regionale Berichterstattung sind seit Sommer 2017 ausschließlich unternehmerfreundliche Medien zuständig. Mit der Schließung einiger kritischer Zeitungen, darunter die überregionalen Blätter Nepszabadsag und Magyar Nemzet, ist die kritische Berichterstattung landesweit nahezu zum Erliegen gekommen. Zudem werden Journalisten, die sich kritisch über Orbán und seine Regierung äußern, nicht selten auf "schwarze Listen" gesetzt, eine Praxis, die offensichtlich darauf abzielt, Kritiker einzuschüchtern (Bajomi-Lazar 2018, S. 280).Kontrolle und Einflussnahme der Regierung auf MedienorganeEin neues Medienpaket mit Änderungen des Medien- und Pressegesetzes trat am 01.01.2011 durch die Regierung Orban in Kraft. Dieses sorgte damals europaweit für Schlagzeilen. Die Rechtsstaatlichkeit des Gesetzes wurde von der EU-Kommission angezweifelt. Auf einige Aspekte soll im Folgenden kurz eingegangen werden.Die Unabhängigkeit der Medien wurde durch das Mediengesetz erheblich geschwächt. Das Mediengesetz sah unter anderem ein Verbot bestimmter Äußerungen vor und legte eine Registrierungspflicht für alle Medien fest. Es drohte die Löschung und der Entzug der rechtlichen Möglichkeit, in Ungarn zu publizieren, wenn der Registrierungspflicht nicht nachgekommen wurde. Dies galt auch für Medienunternehmen, die außerhalb Ungarns in anderen Staaten der Europäischen Union (EU) tätig waren.Die Aufsicht über die Medien wurde nicht mehr von verschiedenen Behörden, sondern von einem einzigen Medienkontrollgremium ausgeübt. Das Medienkontrollgremium war für die Verhängung von Geldstrafen bei "politisch unausgewogener Berichterstattung" (Möllers 2018, S. 47) zuständig. Hinzu kam, dass viele Journalistinnen und Journalisten, die für den staatlichen Rundfunk arbeiteten, entlassen wurden und beispielsweise privaten, regierungskritischen Medien erschwert wurde, eine Rundfunklizenz zu erhalten. Die EU konnte durch die Androhung eines Vertragsverletzungsverfahrens zumindest eine Änderung der "EU-Ausländer betreffenden Aspekte" (Möllers 2018, S. 47) erreichen.MediengesetzgebungNoch bevor Ungarn seine neue Verfassung verankerte, stand die Regierung aufgrund der Verabschiedung eines restriktiven Mediengesetzes unter Beschuss. Das Gesetz, welches im Januar 2011 in Kraft trat, beschränkt deutlich die Freiheit der Medien und Presse (Salzborn 2015, S. 76). Das Hauptziel dieser Maßnahme ist die Dominanz der Regierung Orbáns über das Mediengefüge. Zu diesem Zweck wurde die Nationale Kommunikations- und Medienbehörde ("KESMA") ins Leben gerufen. Diese Behörde und der Medienrat erhielten erweiterte Befugnisse zur Überwachung und Lizenzierung von Medienangeboten. Unter anderem ist die Nationale Kommunikations- und Medienbehörde verantwortlich für die Vergabe von Sendelizenzen und übernimmt Aufgaben im Bereich des Verbraucher- und Wettbewerbsschutzes. Eine der Hauptaufgaben des Medienrates ist die Gewährleistung einer Berichterstattung (Bos 2021, S. 38). Neben der Neustrukturierung des Medienwesens führte die Regierung ein Fördermodell ein, das regierungsnahe Medien durch staatliche Werbeverträge finanziell unterstützt.Nach den Wahlen im Jahr 2014 erwarben Unternehmer, die der Regierung nahestehen, zunehmend Medien der Opposition, die anschließend in die neu geschaffene "Mitteleuropäische Presse- und Medienstiftung" eingebracht wurden (Bos 2021, S. 38). So schaffte es die Regierung Orbán, einflussreiche Medien der Opposition zu marginalisieren oder vollständig vom Markt zu nehmen. Ebenso wurden Online-Nachrichtenplattformen in das System eingegliedert (Bos 2021, S. 39).Samuel Salzborn kritisiert insbesondere den rechtlichen Charakter des neuen Mediengesetzes, das vage Generalklauseln beinhaltet, welche sich auf unbestimmte Konzepte wie "gute Sitten" berufen. Diese Klauseln sind offen für Interpretationen und ermöglichen damit eine gewisse Willkür. Die Definition dessen was als "gute Sitte" gilt kann staatlich bestimmt und gegen kritische Berichterstattung eingesetzt werden, was deren Sanktionierung zur Folge haben kann (Salzborn 2015, S. 77).Auswirkungen der Medienregulierung auf die Demokratie in UngarnNachdem im vorangegangenen Kapitel die aktuelle Medienlandschaft in Ungarn dargestellt wurde, widmet sich der folgende Abschnitt den Auswirkungen der Medienregulierung auf die demokratische Verfasstheit Ungarns. Anhand konkreter politischer Maßnahmen der ungarischen Regierung wird untersucht, wie die Visionen Orbáns umgesetzt wurden. Darüber hinaus wird analysiert, inwiefern die rechtspopulistische Politik die Qualität der ungarischen Demokratie beeinflusst und verändert hat.Bedeutung der Medien für die demokratische GesellschaftIm Zentrum der Debatte um die Rolle der Medien in der demokratischen Gesellschaft Ungarns steht die Transformationspolitik Viktor Orbáns und seiner Fidesz-Partei, die seit ihrem Regierungsantritt eine umfassende Kontrolle über die Medienlandschaft ausüben. Die Regierung nutzt diese Kontrolle strategisch als Instrument der Regierungskommunikation, um eine fast ausschließlich positive Berichterstattung über ihre Handlungen und Entscheidungen sicherzustellen. Regierungskritische Stimmen finden kaum Gehör, stattdessen wird Kritik systematisch unterdrückt und negative Nachrichten werden in einem für die Regierung vorteilhaften Licht dargestellt. Die gezielte Durchführung von Desinformationskampagnen, die Bajomi-Lazar als "Propaganda" bezeichnet, ist ein weiterer Baustein dieser Medienpolitik (Bajomi-Lazar 2018, S. 280f.).Die Verpflichtung von Arthur J. Finkelstein, einem erfahrenen Kampagnenstrategen aus den USA, durch Viktor Orbán unterstreicht den gezielten Einsatz der Medien zur Meinungsbildung. Das Phänomen der Verbreitung von teilweise oder vollständig gefälschten Nachrichten ist zwar kein Alleinstellungsmerkmal der ungarischen Medienlandschaft, die offene Zurschaustellung dieser Praktiken durch die ungarische Regierung ohne den Versuch, ihre Aktivitäten zu verschleiern, stellt jedoch einen klaren Bruch mit demokratischen Normen dar (Bajomi-Lazar 2018, S. 281).Diese Entwicklung wirft grundsätzliche Fragen nach den Auswirkungen der Medienregulierung auf die Demokratie in Ungarn auf. Die Einflussnahme auf die Medien und die damit einhergehende Unterdrückung pluralistischer Diskurse hat unmittelbare Folgen für die demokratische Gesellschaft. Indem die Medien als verlängerter Arm der Regierungskommunikation fungieren und kritische Berichterstattung marginalisiert wird, werden demokratische Grundwerte wie Meinungsvielfalt und Pressefreiheit massiv untergraben. Die strategische Manipulation der Medienlandschaft durch die Regierung Orbán verdeutlicht die Herausforderungen vor denen die Demokratie in Ungarn steht und unterstreicht die zentrale Rolle der Medienfreiheit als Grundpfeiler einer lebendigen und funktionierenden demokratischen Gesellschaft. Einschränkung der Demokratie durch Regulierungen in der MedienlandschaftDie Regulierung der Medienlandschaft in Ungarn durch Viktor Orbán und seine Fidesz-Partei hat weitreichende Folgen für die Demokratie im Land. Durch die systematische Übernahme und Anpassung der Medien an ihre Vorstellungen, insbesondere durch die Besetzung der Führungspositionen in den wichtigsten Medienorganisationen mit Verbündeten der Regierung, haben sie die Medien zu einem Instrument der Machtsicherung gemacht. Die Aufhebung der Unabhängigkeit der Medien ermöglicht es der Orbán-Regierung, die Berichterstattung vollständig für ihre politischen Ziele zu instrumentalisieren. Es dominiert eine einseitige Berichterstattung, die den Bürgern vor allem in den ländlichen Regionen wenig Spielraum lässt die Authentizität und Richtigkeit der präsentierten Nachrichten zu überprüfen. Die Bürger Ungarns stehen vor der Herausforderung, dass sie kaum Zugang zu alternativen Perspektiven oder kritischen Stimmen haben, was sie quasi dazu zwingt, den regierungsgesteuerten Nachrichten Glauben zu schenken (Bajomi-Lazar 2018, S. 281/282).Diese Einschränkung der Medienfreiheit und die Manipulation der Informationslandschaft durch die Regierung Orbán untergraben grundlegende demokratische Prinzipien, indem sie den freien Zugang zu Informationen einschränken und eine fundierte öffentliche Meinungsbildung verhindern. Durch die gezielte Meinungsmache und die Abschottung gegenüber kritischen Debatten werden die natürlichen demokratischen Kontrollmechanismen geschwächt und die Bevölkerung als Kontrollinstanz der Regierung faktisch entmachtet. Die Strategie, die Macht über die Medien zu festigen und dafür zu sorgen, dass keine Gegenmeinungen an die Öffentlichkeit gelangen oder Widerstand gegen politische Entscheidungen leisten können, ist ein deutliches Zeichen für den Missbrauch von Medienmacht zur Festigung autoritärer Strukturen.Diese Entwicklungen in Ungarn verdeutlichen die zentrale Bedeutung einer unabhängigen und pluralistischen Medienlandschaft für den Erhalt einer gesunden Demokratie. Die Einschränkung der Pressefreiheit und die gezielte Manipulation der Medien durch die Regierung stellen eine ernsthafte Bedrohung für die demokratischen Prozesse und die politische Freiheit im Land dar. Politische Auswirkungen auf das demokratische System UngarnsDie politischen Auswirkungen der Regulierung der Medien auf das demokratische System in Ungarn sind tiefgreifend und haben zu einer Verschlechterung der Qualität der Demokratie im Land geführt. Diese Veränderungen spiegeln sich in verschiedenen internationalen Indizes wider, die die demokratische Stabilität Ungarns bewerten. Der "Freedom in the World Index" von Freedom House stuft Ungarn als "teilweise frei" ein, da die Fidesz-Partei die Kontrolle über unabhängige Institutionen erlangt hat, was zu einer Schwächung der Aktivitäten von Oppositionellen, Journalisten, Universitäten und NGOs geführt hat (Freedom House 2021). Der "Nations in Transit Index" bezeichnet Ungarn sogar als "Transitional or Hybrid Regime" mit einem Wert von 49 von 100 Punkten, wobei 100 Punkte für eine funktionierende Demokratie stehen (Freedom House 2021b). Der Bertelsmann Transformationsindex beschreibt Ungarn als "defekte Demokratie", in den demokratischen Institutionen zwar existieren, aber eingeschränkt und ineffektiv sind (Bertelsmann Stiftung 2020, S. 13).Deutlich verschlechtert hat sich zudem die Platzierung Ungarns in der Rangliste der Pressefreiheit von "Reporter ohne Grenzen", wo das Land nur noch auf Platz 92 von 180 Ländern rangiert und die Situation der Pressefreiheit als problematisch eingestuft wird (Reporter ohne Grenzen 2021). Der "Rule of Law Index" des World Justice Project weist Ungarn den niedrigsten Wert in Osteuropa zu, weltweit liegt es auf Platz 60 von 128 (World Justice Project 2020).Diese Indizes und Bewertungen zeigen, dass die von Viktor Orbán vorangetriebene politische Transformation direkte negative Auswirkungen auf die Qualität der Demokratie in Ungarn haben. Einige Autoren wie Attila Ágh sprechen von der "ungarischen Krankheit" als antidemokratischer Herausforderung für die EU und beschreiben das Land als "worst case scenario" einer "elected autocracy" (Ágh 2015, S. 4, S. 16). János Kornai sieht in der Entwicklung seit Orbáns Amtsantritt eine Abkehr von Demokratie und Errungenschaften des Systemwechsels Ende der 1980er, einen "U-Turn" (Kornai 2015, S. 1). Samuel Salzborn identifiziert eine transformatorische Entwicklung hin zu einer Diktatur, bedingt durch rechtliche Veränderungen und eine zunehmende Ethnisierung der Innenpolitik (Salzborn 2015, S. 81).Andere Forscher sprechen von einem "hybriden Regime" und positionieren Ungarn in einer Grauzone zwischen Demokratie und Autokratie. András Bozóki und Dániel Hegedüs betonen, dass hybride Regime eine eigenständige Kategorie darstellen, die weder als Unterform der Demokratie noch der Diktatur zu verstehen ist (Bozóki/Hegedüs 2018, S. 1183). Attila Antal betont, dass das Orbán-Regime seine politische Anhängerschaft gezielt repolitisiert und den Rest der politischen Gemeinschaft depolitisiert hat (Antal 2017, S. 18).SchlussfolgerungDas Phänomen des Demokratieabbaus, beobachtet nicht nur in Ungarn, sondern weltweit und innerhalb Europas, unterstreicht eine kritische Herausforderung für die demokratische Ordnung vieler Staaten. Die systematische Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit in Ungarn seit Viktor Orbáns zweiter Amtszeit im Jahr 2010 zeichnet ein beunruhigendes Bild der Degradierung demokratischer Werte, das weit über die Grenzen Ungarns hinausreicht und die europäische Gemeinschaft insgesamt betrifft (Möllers 2018, S. 7; Ismayr 2002, S. 309ff.).Die zentrale Rolle der Medien in einer Demokratie, hervorgehoben durch ihre vielfältigen Funktionen wie die Schaffung von Öffentlichkeit, Informationsvermittlung, Kontrolle der Macht, soziale Integration und Bildung, unterstreicht die Bedeutung der Medienfreiheit für das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft (Strohmeier 2004, S. 69ff.). Die Kontrolle über die Massenmedien zu haben bedeutet, einen entscheidenden Einfluss darauf zu besitzen, welche Informationen die Bevölkerung erhält und wie sie die politische Realität wahrnimmt.Ungarns Entwicklung seit 2010 unter der Fidesz-Regierung ist besonders alarmierend, da sie zeigt, wie gezielt Propaganda eingesetzt wird, um die Regierungsperspektive zu stärken und oppositionelle Stimmen effektiv zum Schweigen zu bringen. Die offene Ausführung dieser Maßnahmen und das scheinbare Desinteresse der Regierung, ihre Aktionen zu verbergen, verdeutlichen eine besorgniserregende Gleichgültigkeit gegenüber demokratischen Standards (Bajomi-Lazar 2018, S. 281f.). Trotz der Transparenz dieser Aktivitäten hat die Europäische Union bisher wenig Einfluss auf eine positive Veränderung nehmen können, was den Demokratieabbau in Ungarn weiter vorantreibt.Die Situation in Ungarn ist nicht isoliert zu betrachten, sondern stellt ein ernstes Problem für die EU dar, da es die konstitutionellen und demokratischen Grundlagen der Gemeinschaft untergräbt. Die aktuellen Entwicklungen in Ungarn sind ein Warnsignal und erfordern eine dringende und koordinierte Reaktion auf europäischer Ebene, um die Demokratie zu schützen und zu fördern. Die Frage, wie die Medienregulierung in Ungarn die demokratischen Prozesse und die politische Landschaft des Landes beeinflusst, lässt sich klar beantworten: Sie führt zu einer erheblichen Einschränkung der Demokratiequalität, indem sie die freie Meinungsäußerung untergräbt, die politische Pluralität einschränkt und die Kontrollfunktion der Medien schwächt.Die Hoffnung liegt nun darauf, dass die internationale Gemeinschaft und europäische Institutionen wirksame Maßnahmen ergreifen, um die demokratischen Prinzipien in Ungarn zu stärken und einen weiteren Demokratieabbau zu verhindern. Die Bewahrung der Medienfreiheit und die Sicherstellung einer pluralistischen und unabhängigen Medienlandschaft sind essenziell für die Aufrechterhaltung einer lebendigen und gesunden Demokratie, nicht nur in Ungarn, sondern in allen demokratischen Staaten. LiteraturverzeichnisÁgh, Attila. 2015. 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Tropische Entwaldung ist eines der dringendsten Umweltprobleme unserer Zeit. Sie ist einer der wichtigsten Treiber des Klimawandels und führt zu hohen Verlusten von Biodiversität und Ökosystemdienstleistungen. Bolivien ist eines der Länder mit den höchsten Entwaldungsraten weltweit. Im Rahmen der weltweiten Bemühungen zur Lösung dieses Problems unter dem REDD- Mechanismus ist es wichtig, konkrete und länderspezifische Handlungsoptionen für eine effektive und effiziente Entwaldungsreduktion zu identifizieren. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist ein tiefgehendes Verständnis der komplexen Prozesse, die zu Entwaldung führen. Räumliche Modelle können hierfür wertvolle Informationen liefern, indem sie mögliche Einflussfaktoren in der Vergangenheit auswerten und Szenarien über künftige Entwicklungen generieren. In dieser Arbeit wird die logistische Regression als Schlüsselinstrument für eine systematische Identifikation von Handlungsoptionen angewendet, um die Ausbreitung der wichtigsten waldersetzenden Landnutzungsaktivitäten einzudämmen. Die gesamte Arbeit untersucht das bolivianische Tiefland als Modellregion. In einer Fallstudie wird zunächst die Expansion der mechanisierten Landwirtschaft im Department Santa Cruz untersucht. Der großflächige Soja-Anbau macht diese Region zu einem der Brennpunkte der Entwaldung in Südamerika. Ein logistisches Regressionsmodell über fünf Beobachtungszeitpunkte (1976, 1986, 1992, 2001 und 2005) identifiziert die wichtigsten Einflussfaktoren für die Ausbreitung der mechanisierten Landwirtschaft und analysiert ihre Wirkung über die Zeit. Es zeigt sich, dass die übergeordnete Entwaldungsdynamik über die Zeit stabil blieb, wobei es jedoch eine Tendenz zum Vordringen in die amazonischen, feuchteren Wälder im Norden von Santa Cruz gibt; eine analoge Entwicklung ist auch aus Brasilien bekannt. Die Modellierungsergebnisse werden genau validiert; dafür werden projizierte mit tatsächlichen Entwaldungsmustern verglichen und versteckte Korrelationen zwischen unabhängigen Variablen aufgedeckt. Die Fallstudie zeigt, dass die logistische Regression ein geeignetes Werkzeug für die weitergehenden Studien ist, unter der Voraussetzung, dass sie von sorgfältigen Evaluierungen und Plausibilitätschecks begleitet wird. In einer Folgeanalyse werden die drei wichtigsten direkten Ursachen für Entwaldung im gesamten bolivianischen Tiefland identifiziert: Mechanisierte Landwirtschaft war für 54% der Entwaldung zwischen 1992 und 2004 verantwortlich, gefolgt von Rinderzucht mit 27% und kleinbäuerlicher Landwirtschaft mit 19%. Mithilfe eines multinomialen Logitmodells werden die Einflussfaktoren dieser drei Landnutzungsformen analysiert. Die Resultate zeigen, dass die Expansion der mechanisierten Landwirtschaft hauptsächlich mit einem guten Zugang zu den Exportmärkten, fruchtbaren Böden und moderaten Niederschlagsbedingungen im Zusammenhang steht. Die Ausbreitung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft ist mit einem eher feuchten Klima assoziiert, außerdem mit fruchtbaren Böden und einem guten Zugang zu lokalen Märkten. Die Umwandlung von Wald in Weideland zeigt nur geringe Korrelationen mit Umweltfaktoren und lässt sich am besten mit dem Zugang zu lokalen Märkten erklären. Landnutzungsrestriktionen, etwa Schutzgebiete, scheinen die Expansion von mechanisierter Landwirtschaft zu verhindern, zeigen aber wenig Wirkung in Bezug auf kleinbäuerliche Landwirtschaft und Viehzucht. Eine Analyse von zukünftigen Entwaldungstendenzen zeigt die wahrscheinliche künftige Ausbreitung jeder der drei Landnutzungsformen und identifiziert insbesondere zwei mögliche neue Expansionsgebiete der mechanisierten Landwirtschaft bei Puerto Suarez und San Buenaventura. Die quantitativen Modellierungsergebnisse werden ergänzt durch eine qualitative Analyse historischer Prozesse, die die Landnutzungsmuster in verschiedenen Teilen des bolivianischen Tieflands geformt haben. Während die quantitative Analyse die neueren räumlichen Entwaldungsdynamiken gut erklären kann, scheinen die Zeitpunkte von Entwaldungsereignissen vor allem durch historische Faktoren und politische Interventionen bestimmt zu werden. In einer dritten Analyse wird – wieder am Beispiel Boliviens – ein systematischer Ansatz zur Identifikation von Handlungsoptionen entwickelt, wobei die Modellierungsergebnisse ein wichtiges Element bilden. Die Ableitung von Handlungsoptionen basiert auf dem räumlichen und ökonomischen Potenzial landwirtschaftlicher Expansion, auf den erwarteten Kosten einer Entwaldungsreduktion sowie auf den aktuellen rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen in Bolivien. Alle Analysen beziehen sich auf die drei direkten Ursachen von Entwaldung; für diese Landnutzungsformen werden spezifische Handlungsoptionen diskutiert. Die Eindämmung der Viehwirtschaft zeigt sich trotz des höheren Entwaldungsanteils der mechanisierten Landwirtschaft als Priorität, da die Umwandlung in Weideland für nahezu alle zugänglichen Wälder eine Bedrohung darstellt und da eine Reduktion zu relativ geringen Kosten möglich sein sollte. Eine schärfere gesetzliche Kontrolle sowie die Stärkung von zuständigen Institutionen auf nationaler und lokaler Ebene sind von höchster Bedeutung für die Reduktion aller drei Entwaldungstypen. Spezifische Maßnahmen sollten eine effizientere Produktion auf bereits genutzten Flächen gegenüber dem Vordringen in bewaldete Gebiete attraktiver machen. In diesem Zusammenhang könnten höhere Gebühren für legale Entwaldung die Ausbreitung von mechanisierter Landwirtschaft und Viehwirtschaft eindämmen. Auch eine Rückführung der Diesel-Subventionen dürfte die Expansion der mechanisierten Landwirtschaft bremsen. Solche Maßnahmen sollten durch die Förderung einer höheren räumlichen Produktionseffizienz ergänzt werden, etwa durch verbesserten Zugang zu Dünger oder technische Beratung und Unterstützung für höhere Bestockungsdichten. Die Ausbreitung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft scheint aufgrund der hohen Zahl von Akteuren schwerer kontrollierbar zu sein; wichtig wäre es aber, das Eindringen in Schutzgebiete zu verhindern und effizientere und nachhaltigere Anbauformen sowie auch Arbeitsplätze außerhalb der Landwirtschaft zu fördern. Die Entwaldungsmodellierung zeigt sich als wichtiges analytisches Werkzeug zum Verständnis der zugrunde liegenden Prozesse; sie kann wichtige Informationen zur Ableitung von Handlungsoptionen liefern. Zukünftige Forschung könnte die Möglichkeiten von komplexeren Szenarien durch die Integration dynamischer Elemente ausloten; entsprechende Möglichkeiten sind in bestehenden Modellierungsprogrammen angelegt. Im Ausblick dieser Arbeit wird außerdem die Technik des Kartierens von Opportunitätskosten des Waldschutzes vorgestellt: Sie ermöglicht Szenarien auf der Basis von nicht-räumlichen Faktoren, etwa von Preisen landwirtschaftlicher Produkte. Für die praktische Anwendung von Modellen scheint es allerdings wichtig zu sein, eine hohe Transparenz zu wahren, um regelmäßige Plausibilitätschecks zu ermöglichen. Es besteht weiterer Forschungsbedarf zur Identifikation geeigneter Handlungsoptionen für eine effektive und effiziente Entwaldungsreduktion. In der Diskussion um REDD scheint die Bekämpfung der Entwaldung durch industrielle Landwirtschaft und große Rinderfarmen nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. Dies könnte im Vorherrschen traditioneller Naturschutzkonzepte begründet sein sowie in einem ungerechtfertigten Fokus auf Kleinbauern. Auch der Schwerpunkt auf marktbasierten Lösungsansätzen scheint fragwürdig; nach den Ergebnissen dieser Arbeit könnte die direkte Unterstützung der Regierungen von tropischen Ländern bei der Umsetzung der erfolgsversprechendsten Maßnahmen zielführender sein. Des Weiteren scheint es wichtig, bei existierenden entwaldungsrelevanten globalen Märkten anzusetzen, etwa beim Handel mit Agrarrohstoffen wie Soja, Rindfleisch, Palmöl oder Tropenholz aus Kahlschlägen. ; Tropical deforestation represents one of the most urgent environmental problems of our time; it contributes heavily to climate change, causes immense losses of biodiversity and endangers important environmental services. Bolivia is among the countries with the highest deforestation rates in the world. In light of the current international efforts to reduce deforestation within the framework of REDD, effective and efficient country-specific policy options need to be identified to make progress on the ground. A prerequisite for the prioritization of such policy options is a detailed understanding of the complex processes driving deforestation. Spatial models can contribute valuable information to this end. They can provide quantitative evaluations of hypothesized drivers of deforestation in the past and also generate scenarios that represent probable developments in the future. This study applies spatially explicit regression models as a key instrument for the systematic identification of specific policy options suitable for mitigating the expansion of the main forest-depleting land uses. The entire study is based on Bolivia as a model country. The expansion of mechanized agriculture in the department of Santa Cruz is analyzed as a first case study. Soybean production has converted this area into one of the hotspots of deforestation in the entire Amazon. A logistic regression model covering five time steps (1976, 1986, 1992, 2001 and 2005) identifies the main determinants of the expansion of mechanized agriculture and explores the development of their effects over time. It shows that – while deforestation dynamics have been generally stable over time – there is a tendency of increased penetration into the more humid Amazonian forests in northern Santa Cruz, a development that is also known from Brazil. The model's results are thoroughly validated, including a comparison between projected and observed deforestation patterns and the investigation of hidden correlations between independent variables. The case study shows that logistic regression is a suitable tool for the purposes of the entire study, provided that careful evaluations and plausibility checks of the model outputs are conducted. In a subsequent analysis covering the entire Bolivian lowlands, three main proximate causes of deforestation are identified: mechanized agriculture was responsible for 54% of deforestation between 1992 and 2004, followed by cattle ranching with 27 %, and small-scale agriculture with 19%. A multinomial logit model is applied to analyze the determinants of each of these proximate causes of deforestation. The results suggest that the expansion of mechanized agriculture occurs mainly in response to good access to export markets, fertile soil and intermediate rainfall conditions. Increases in small-scale agriculture are mainly associated with a humid climate, fertile soil and proximity to local markets. Forest conversion into pastures for cattle ranching occurs mostly irrespective of environmental determinants and can mainly be explained by access to local markets. Land use restrictions, such as protected areas, seem to prevent the expansion of mechanized agriculture but have little impact on the expansion of small-scale agriculture and cattle ranching. An analysis of future deforestation trends reveals possible hotspots of future expansion for each proximate cause and specifically highlights the possible opening of new frontiers of deforestation due to mechanized agriculture in the areas of Puerto Suarez and San Buenaventura. The quantitative insights of the model are substantiated with a qualitative analysis of historical processes that have shaped land use patterns in different zones of the Bolivian lowlands to date. Whereas the quantitative analysis effectively elucidates the spatial patterns of recent agricultural expansion, the interpretation of long-term historic drivers reveals that the timing and quantity of forest conversion are often triggered by political interventions and historical legacies. In a third analysis, a systematic approach is developed in order to prioritize policy options for effective and efficient deforestation reduction, making use of the model outputs, among other things. Again, Bolivia is taken as a model country. The derivation of policy options is based on analyses of the spatial and economic potential of agricultural expansion, the expected costs of deforestation reduction, and the current legal and political framework in Bolivia. All analyses focus on the three proximate causes of deforestation; and specific policy options are discussed for these types of land use. It is concluded that, although mechanized agriculture caused more than half of all past deforestation in lowland Bolivia, cattle ranching activities should be targeted as a priority since their expansion threatens forests in many different locations and improvements could be achieved at relatively low costs. Enforcing legislation while strengthening institutions on both national and local levels is of utmost importance for the reduction of the expansion of all three land use categories. Specific measures should aim at giving an advantage to more efficient production on existing farms over the expansion into forested areas. In this context, a higher legal fee for deforestation has potential to mitigate forest conversion due to mechanized agriculture and cattle ranching farms, while a removal of subsidies for agro-diesel may specifically reduce the expansion of mechanized agriculture. Such measures could be complemented by a support for higher production efficiency, such as better access to fertilizer and techniques allowing increased cattle stocking densities. The expansion of small-scale agriculture seems to be difficult to control, due to the large number of agents; measures should focus on mitigating the encroachment into areas with land use restrictions, fostering more sustainable and space-efficient agricultural practices, as well as off-farm employment. Models of deforestation are found to be important analytical tools for a better understanding of the processes leading to deforestation; they can render important information for the development of policy options to combat deforestation. Further investigations may explore the possibilities of building more complex scenarios by adding dynamic elements that are contained in some existing land use modeling frameworks. In the outlook of this study, the mapping of opportunity costs of forest conservation is shortly introduced as a promising possibility of generating scenarios based non-spatial factors such as prices of agricultural goods. It is however concluded that, for practical applications, it seems reasonable to keep the transparency of models as high as possible in order to allow for constant plausibility checks of the model outputs. The study concludes that more research is needed to identify and evaluate suitable policy options to reduce deforestation on the ground. In the discussion on REDD, only little attention seems to be given to the development of mitigation strategies for large forest clearings driven by corporate agents and large cattle farms. This may be due to a certain prevalence of traditional approaches to biodiversity conservation within selected conservation areas and an unjustified focus on smallholders. Also the strong focus on market-based solutions may be questionable; according to this study it would be more appropriate to directly support the governments of tropical countries to implement the most promising measures. It may also be important to target existing markets that drive deforestation, i.e., global markets for beef, soybean, palm oil and tropical timber stemming from clear-cuts.
BASE
Blog: www.jmwiarda.de Blog Feed
Der Berliner Exzellenzverbund bereitet sich auf seine Evaluation vor. Es geht um viele Millionen und Berlins Standing als Wissenschaftsstandort. Doch in der BUA gibt man sich nach ruckeligem Start jetzt selbstbewusst und schwärmt vom neuen "Spirit". Ein Interview mit BUA-Sprecher Günter M. Ziegler und Geschäftsführerin Alexandra-Gwyn Paetz.
Günter M. Ziegler ist Mathematiker und im Hauptamt seit 2018 Präsident der Freien Universität. Alexandra-Gwyn Paetz ist seit 2022
Geschäftsführerin der BUA. Vorher leitete sie die Strategische Entwicklung und Kommunikation am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Foto: BUA.
Herr Ziegler, der Geschäftsführer der Einstein-Stiftung, Thorsten Wilhelmy, hat in der FAZ ein Moratorium der Exzellenzstrategie nach der kommenden Förderphase vorgeschlagen. Die
Hochschulen litten unter dem überhitzten Wettbewerb, argumentiert Wilhelmy. Über die Einstein-Stiftung finanziert der Berliner Senat die Berlin University Alliance (BUA) mit. Bezieht sich
Wilhelmys Diagnose also vor allem auf die vier BUA-Partnerinnen Freie Universität, Humboldt-Universität, Technische Universität und Charité?
Günter M. Ziegler: Ich verstehe den Vorstoß von Herrn Wilhelmy so, dass er auf das strukturelle Problem aufmerksam machen wollte, das alle Universitäten in Deutschland haben: Sie
erhalten eine zu geringe Grundfinanzierung aus den Landeshaushalten, und oben drauf kommt dann die Drittmittelfinanzierung unter anderem durch den Bund, und um die gibt es einen aufwändigen
Wettbewerb. In der Kombination von beidem entsteht eine ungute Abhängigkeit von Projektmitteln. Die Schlussfolgerung muss sein: Wir brauchen eine deutliche Stärkung der Grundfinanzierung der
Hochschulen, und zwar in einer Größenordnung, die bei Weitem die derzeitige Ausstattung der Exzellenzstrategie übersteigt. Dann haben wir eine starke Basis für einen echten Wettbewerb um
Exzellenzprojekte. Und den nehmen wir ernst, und dazu muss auch die Begutachtungspraxis passen. Wenn für einen Exzellenzcluster-Antrag weniger Zeit zur Verfügung steht als bei der Begutachtung
eines Sonderforschungsbereichs, dann stimmt etwas nicht.
Läge nicht eine andere Schlussfolgerung noch näher: das Geld aus der Exzellenzstrategie direkt in die Grundfinanzierung zu stecken, zum Beispiel über den Bund-Länder-Zukunftsvertrag
"Studium und Lehre stärken"?
Ziegler: Das funktioniert doch nicht. Als Universitäten wissen wir genau: Wenn die Politik das Geld aus dem Wettbewerb abzieht, ist es weg und kommt niemals bei uns an. Dann
landet es im Verteidigungshaushalt oder in anderen Löchern des Bundeshaushalts. Außerdem ist die Dotierung der Exzellenzstrategie so gering, dass Sie damit die Unterfinanzierung der Hochschulen
nicht im Ansatz lösen könnten.
Wollen Sie sagen, dass die Bundeswehr eine bessere Lobbyarbeit macht als die Hochschulen?
Ziegler: Ich will damit sagen, dass es sich um eine gesellschaftliche Grundsatzfrage handelt: Wieviel sind wir als Gesellschaft bereit, in unsere Zukunft zu investieren? Die
Entscheidung kann nicht lauten: Exzellenzwettbewerb oder Grundfinanzierung. Die Entscheidung muss lauten: Die Zukunft unseres Landes erfordert mutige Investitionen, angefangen mit der
Grundlagenforschung über die angewandte Forschung bis zum Transfer von Technologie und Wissen. Bereiche, die man nicht mehr voneinander trennen kann. Die großartigen Innovationen von BionTech,
die viele Leben in der Coronakrise gerettet haben, hatten ihren Anfang vor vielen Jahren in DFG-Sonderforschungsbereichen zu einem völlig abstrakten biochemischen Erkenntnisinteresse. Eine kluge
Politik wird also in das investieren, was Deutschland am besten kann und womit Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg reich geworden ist. In die Wissenschaft.
Bei aller Sympathie für diese Antwort: Trotz aller bereits getätigten Investitionen in Forschung, Wissenschaft und auch in die Exzellenzstrategie fällt die Bundesrepublik im
internationalen Standortvergleich weiter zurück. Beim BDI-Innovationsindikator etwa reichte es zuletzt nur noch für Platz zwölf von 35. Wenn Sie mehr Ressourcen für die Wissenschaft fordern, müssen Sie erstmal nachvollziehbar den Impact
belegen, den Sie mit dem Geld erzielen, das Sie bereits bekommen. Nehmen wir die BUA, den Exzellenzverbund, dessen Sprecher Sie sind. Wo ist dessen Effekt – abgesehen davon, dass die BUA der
Selbstfindung der beteiligten Universitäten helfen mag?
Ziegler: Sinn und Zweck der zweiten Förderlinie im Exzellenzwettbewerb…
…aus der die BUA als einziger Exzellenzverbund in Deutschland erfolgreich hervorging…
Ziegler: …ist die Stärkung der Strategiefähigkeit der Universitäten. Entsprechend der Größe unseres Verbundes ist auch unser diesbezüglicher Anspruch ein großer: Wir wollen nicht
nur die beteiligten Universitäten, sondern die Wissenschaft in Berlin insgesamt voranbringen und Berlin zu einem wirklich integrierten Wissens- und Innovationsraum entwickeln. Unsere Aufgabe für
die anstehende Evaluation am Übergang zwischen der ersten und zweiten Förderphase besteht darin, zu zeigen, wie weit wir auf diesem Weg gekommen sind, und zwar ganz konkret: Welchen Impact
leisten wir gemeinsam für die Zukunftsfähigkeit Berlins? Gelingt es uns zum Beispiel, die Förderung von Unternehmensgründungen gemeinsam noch erfolgreicher zu gestalten? Wie funktioniert beim
Transfer die Zusammenarbeit zwischen Hochschulen und außeruniversitären Forschungsinstituten mit den vielen Akteuren im Berliner Ökosystem?
"Ist es so ungewöhnlich, dass es eine Weile
braucht, bis man in einer neuen Gemeinschaft
Vertrauen zueinander entwickelt?"
Ich behaupte mal: Säßen Sie hier nicht in Ihrer Rolle als BUA-Sprecher, sondern als Präsident einer einzelnen Exzellenzuniversität, die die Freie Universität ja vor dem BUA-Antrag war,
würden Sie exakt dasselbe sagen zur Bedeutung von Innovation, Transfer und Co. Nur dass Sie nicht den ganzen Overhead und den Abstimmungsaufwand eines komplizierten Universitätsverbundes
hätten.
Alexandra-Gwyn Paetz: Das sehe ich etwas anders. Natürlich trägt das Potenzial jeder einzelnen Universität zur Innovationsfähigkeit des Landes insgesamt bei. Aber erst aus der
Zusammenarbeit entsteht etwas Neues, eine andere Art von Impact, ein Mehrwert, der über eine bloße Konkurrenz der einzelnen BUA-Partnerinnen nicht zu erzielen wäre. Genau das ist unser Anspruch.
Die BUA bringt komplementäre Disziplinen und Kompetenzen zusammen, und gemeinsam finden wir dann nachhaltige sowie verantwortungsvolle Lösungen für die tiefgreifenden Transformationsprozesse,
durch die unsere Stadt und unser Land gerade gehen.
Manche sagen: Das Wichtigste, was die BUA-Partnerinnen in den ersten Jahren zusammengebracht hat, war die gemeinsame Aussicht auf viel Geld und die gegenseitige misstrauische Kontrolle
bei dessen Verteilung – um sicherzugehen, dass keiner zu kurz kommt. Sie werden die Gutachter davon überzeugen müssen, dass sich das geändert hat. Was werden Sie ihnen sagen?
Paetz: Ich antworte jetzt als eine der Personen, die am Anfang nicht dabei war, und jetzt die Weiterentwicklung der BUA mit moderiert. Ich kann darum nicht bewerten, wie es ganz
am Anfang war. Aber ich will eine Gegenfrage stellen: Ist es so ungewöhnlich, dass es eine Weile braucht, bis man in einer neuen Gemeinschaft Vertrauen zueinander entwickelt? Wenn bei jeder
BUA-Runde die entsprechenden Vertreter*innen aller vier Partner am Tisch sitzen, dazu jemand aus der BUA-Geschäftsstelle, dann müssen die sich jeweils erst finden. Aber ich stelle fest, dass wir
genau dank all dieser Runden jetzt nicht mehr darüber sprechen, wieviel Geld proportional bei welcher BUA-Partnerin ankommt, sondern darüber, wer welche Kompetenzen für die gemeinsamen Vorhaben
einbringen kann. Darüber wie wir bei den großen Themen substanziell vorankommen. Und wie wir das, was wir schon geschafft haben, noch besser machen bis hin zu neuen Standards setzen können. Dazu
kommt die Erkenntnis, dass nicht alles gleichzeitig passieren muss, sondern wir gemeinsam priorisieren und relevante Meilensteine in Blick nehmen. Nehmen Sie das BUA-Ziel "Advancing Research Quality and Value": Die Krise, die wir in der BUA Ende 2021, Anfang 2022 hatten…
…als die BUA
Dutzende Stellenbesetzungen stoppte und dafür die Berliner Hochschulpolitik und das neue Hochschulgesetz verantwortlich machte, tatsächlich aber auch in sich selbst blockiert wirkte…
Paetz: …hat die vier Partnerinnen in der Folgezeit so sehr zusammengeschweißt, dass ich in der Runde der Präsident*innen ein echtes Vertrauensverhältnis und einen neuen Spirit
spüre. Das strahlt dann auch weiter in die Einrichtungen und die Stadt aus, wenn wir gemeinsam abgestimmt auftreten.
Das ging mir jetzt etwas schnell mit dem Versöhnungsnarrativ.
Ziegler: Natürlich war das am Anfang auch ein gegenseitiges Beäugen. Wer kriegt welchen Teil vom Kuchen ab, und wie stelle ich sicher, dass ich nicht über den Tisch gezogen
werde? Diese Fragen waren unterschwellig da – und das ist jetzt weg. Das liegt am neuen Spirit unter den Präsident*innen, was zudem durch die Schärfung unserer Governance gestützt wird. Im
ursprünglichen BUA-Antrag war zum Beispiel nur ein Board of Directors vorgesehen: die vier Präsidenten, die alles machen und entscheiden sollten. Ein Executive Board, bestehend aus den
Vizepräsident*innen für Forschung, haben wir später eingeführt. Und ich gebe zu: Als die Idee dazu aufkam, war ich skeptisch. Inzwischen weiß ich: Das war eine wichtige Nachsteuerung, wir sind
deutlich effektiver aufgestellt und strukturell näher am Wissenschaftsalltag.
"Hätten wir so ein Thema als FU
allein in den Mittelpunkt gestellt, wären
wir dafür verprügelt worden."
Wieder die Bitte um Konkretisierung: Woran machen Sie das fest?
Ziegler: Für mich ist unsere Zusammenarbeit mit der University of Oxford ein gutes Beispiel. Als BUA sind wir ein ebenbürtiges Gegenüber, und erst durch die BUA funktioniert der
Austausch so gut über alle Fächer hinweg bis hin zu den Bibliotheken und Sammlungen. Nur müssen sie diesen Austausch dann auch praktisch auf die einzelnen Institutionen herunterbrechen. Oder
nehmen wir nochmal das Beispiel "Research Quality": Hätten wir so ein Thema als FU allein in den Mittelpunkt gestellt, wären wir dafür verprügelt worden, erst recht in einer Phase, als wir wegen
einer bestimmten Doktorarbeit im Feuer standen…
…der Dissertation der damaligen Bundesfamilienministerin Franziska Giffey, der die FU erst nach einem zweiten Prüfverfahren Mitte 2021 den Doktorgrad entzog. Giffey war kurz zuvor wegen
der Plagiatsaffäre zurückgetreten, wurde aber Ende 2021 Regierende Bürgermeisterin von Berlin.
Ziegler: Als BUA aber konnten wir das Thema "Qualität von Wissenschaft" vorantreiben, gerade weil es sich um ein Anliegen handelt, das weit über eine einzelne Universität
hinausgeht. Wir haben als Verbund unter anderem die Berlin Science Survey etabliert, die Ergebnisse der neuen Umfragerunde kommen in wenigen Tagen raus.
Die Berlin Science
Survey befragt Berliner Wissenschaftler, wie sie selbst den Forschungsprozess wahrnehmen und an welchen Zielen sie ihre Arbeit ausrichten. Um Trends abzubilden, wird sie regelmäßig
wiederholt.
Ziegler: Das kann nicht aus einer einzelnen Universität kommen, und nur als Verbund sind wir in der Lage, aus den Ergebnissen die nötigen strategischen Schlussfolgerungen zu
ziehen und auch in die wissenschaftspolitische Debatte einzubringen. Wie weit wir dank der BUA in der Debatte über das Wesen von Wissenschaft gekommen sind, sehen Sie auch daran, wenn mit Ulrich
Dirnagl und mir zwei BUA-Wissenschaftler öffentlich über die Zukunft des wissenschaftlichen Publikationswesens
streiten.
Paetz: Um ein anderes Beispiel aus dem Bereich "Talents" zu nennen. Im Verbund haben wir gemeinsam die BUA Postdoc Academy gegründet – unsere gemeinsame Struktur, in der wir die
Postdocs aller BUA-Partnerinnen in ihrer frühen Karrierephase begleiten, ihnen Orientierung geben und überfachliche Qualifikationen ermöglichen. Vor allem aber steht ihnen so die gesamte Berliner
Wissenschaft als Netzwerk offen. Keine Partnerin hätte die Academy in vergleichbarer Geschwindigkeit und Größe oder mit demselben Impact aufbauen können Die ersten Kurse waren fast ohne Werbung
innerhalb von zwei Stunden ausgebucht.
Wenn Sie den Spirit der BUA so beschwören, verwaltet dann demnächst auch der Exzellenzverbund selbst seine Millionen? Das wäre doch der wahre Boost für die Institution. Oder erledigt das
weiterhin eine der Universitäten, in dem Fall die FU?
Paetz: Das war ein Ausschreibungskriterien der Exzellenzstrategie, dass das Geld bei einer verwaltenden Universität liegen muss. Wir entscheiden aber gemeinsam im Verbund, was
mit dem Geld passiert. Allerdings haben Sie recht: Die bereits erwähnte Governance der BUA haben wir weiterentwickelt. So hat das Land Berlin etwa die sogenannte Kooperationsplattform der Berlin
University Alliance als Körperschaft des öffentlichen Rechts gegründet – mit eigenem Stellenplan und eigenem Haushalt, was künftig stärker nutzen können und wollen. Solche Strukturen stärken
natürlich das Selbstverständnis der BUA.
Ziegler: Das ist genau das, was ich meine: Wir hatten bei der Gründung der BUA noch nicht diese Strukturen. Jetzt könnten die Fördergelder direkt auf unsere Kooperationsplattform
überwiesen und durch die BUA abgerechnet werden. Genau das streben wir für die nächste Förderphase an.
"Ehrlicherweise habe ich schon eine ganze Weile nicht mehr darüber nachgedacht, welcher Anteil der BUA-Gelder tatsächlich bei der FU landet."
Die entscheidende Frage ist: Wird die BUA in der Lage sein, strategische Schwerpunkte auch dann festzulegen, wenn sie zu einer anderen Geldverteilung führen als der Proporz bislang?
Paetz: Bei der Postdoc Academy läuft es genauso. Alle Partnerinnen bringen sich ein, aber es gibt keinen Schlüssel, der beispielsweise eine bestimmte Anzahl von
teilnehmenden Postdocs pro Institution festlegt.
Ziegler: Ehrlicherweise habe ich schon eine ganze Weile nicht mehr darüber nachgedacht, welcher Anteil der BUA-Gelder tatsächlich bei der FU landet.
Paetz: Angesichts des konsequenten Controllings bis auf Einzelprojektebene wäre es zwar möglich nachzurechnen, auf welchen Anteil die Partnerinnen jeweils kommen. Aber ob das
jemand tut, weiß ich nicht – es ist in unseren Diskussionen kein Steuerungskriterium.
Ziegler: Wir fragen uns das eher inhaltlich. Bei Berlin Quantum zum Beispiel, wo Wirtschaft, Forschungsinstitute und Universitäten zusammenwirken, interessiert uns, welche Themen
und Potenziale die Charité einbringt oder die Freie, die Technische oder die Humboldt-Universität. Unser gemeinsames Ziel ist, Berlin zu einem internationalen Hotspot für die Quantentechnologie
zu machen, und an diesem Ziel richten wir uns aus, nicht an der Geldverteilung.
Es besteht also keine Gefahr, dass die BUA mit einem Verbundkonzept in die anstehende Evaluation geht, das thematisch-strategisch einem fein ausgehandelter Gemischtwarenhandel
entspricht?
Paetz: Wir sind noch mitten in der Diskussion über das Konzept. Aber leitend in dem gesamten Prozess ist die Priorisierung nach Themen, zu denen wir gemeinsam im Verbund
Relevanz, Impact und Benefit erzeugen können – sowohl für die Gesellschaft als auch für jede BUA-Partnerin.
Ziegler: Die BUA ist ja kein Forschungsprojekt wie ein Exzellenzcluster, sondern ein Strategieverbund. In der aktuellen Förderphase hatten wir die sog. Grand Challenges in den
Mittelpunkt gestellt…
…die großen gesellschaftlichen Herausforderungen für Gesellschaft und Wissenschaft inmitten der Transformation…
Ziegler: …und da ging es ganz stark darum, erstmal die richtigen Leute der unterschiedlichen BUA-Partnerinnen zusammenzubringen. In der nächsten Förderphase werden wir
logischerweise intensiver an unseren Antworten auf diese großen Herausforderungen arbeiten – an den Antworten, die der Wissens- und Innovationsraum Berlin liefern kann. Die
thematisch-disziplinären Schwerpunkte ergeben sich ziemlich natürlich aus unseren gemeinsamen Forschungsstärken, wie sie sich aus den erfolgreichen Exzellenzclustern und Sonderforschungsbereichen
ablesen lassen. Wie etwa beim Cluster MATH+: Da hängen die betreffenden Fachbereiche der Universitäten drin, aber über den Forschungscampus, über die gemeinsame Infrastruktur und den
Technologietransfer wird das zu einem Schwerpunkt der Berliner Wissenschaft insgesamt.
Paetz: Alle Disziplinen an den Berliner Universitäten sind wichtig und gut – das steht völlig außer Frage. Unsere Aufgabe im Verbund ist viel konkreter, nämlich regelmäßig
gemeinsam zu analysieren, wo wir die Berliner Spitzenforschung strategisch-strukturell fördern können und wie sich das Berliner Forschungsprofil entwickelt. Genau dafür haben wir uns die letzten
Jahre aufgestellt und sind so zum Beispiel viel besser in der Lage mit Dritten, etwa der University of Oxford darüber zu sprechen, wo wir in Kooperation world-leading werden. Das ist das
Gegenteil ist vom bloßen Ausgeben von Forschungsgeldern, bei dem man erst hinterher schaut, was rauskommt, sondern es geht um gemeinsame Steuerung von (Infra-) Strukturen, damit diese zu den
kompetitiven Anforderungen der Spitzenforschung passen.
Müssen Sie sich überhaupt all die Mühe machen? Es gibt gewichtige Beobachter in der Wissenschaftsszene, die sagen: Die BUA ist "too big to fail". Mit anderen Worten: Die Gutachter aus
Wissenschaft und Politik hätten ohnehin nie den Mut, den gesamten Forschungsstandort Berlin aus der Förderung als Exzellenzverbund zu kicken. Selbst wenn die BUA es verdient hätte.
Ziegler: Das sehe ich anders. Wir stehen als Wissenschaftsraum unter dem Druck zu demonstrieren, dass wir gemeinsam Synergien realisieren können, die es vorher nicht gab. Wir
müssen nicht mit allen BUA-Vorhaben fertig sein, aber dass wir nachweisbar große Schritte vorangekommen sind, das wird von uns erwartet. Im Übrigen ist es auch mein Anspruch, die Gutachter zu
überzeugen. Mein Anspruch ist nicht, der Politik zu sagen: Sorgt dafür, dass wir nicht rausfliegen. Mein Anspruch ist, dass der bayerische Ministerpräsident Markus Söder Recht behält mit seiner
Aussage vor einigen Jahren, es sei bedenklich, dass die Berliner Universitäten sich zusammentäten und gemeinsam solche Erfolge feierten.
Die Bewunderung der Bayern ging jedenfalls nicht so weit, dass von den Münchner Universitäten, die beide einzeln den Exzellenzstatus errungen haben, ein Verbund eingefordert wurde. Das
war lange schon wegen persönlicher Antipathien des damaligen Spitzenpersonals undenkbar.
Ziegler: Bei allem Respekt auch als Alumnus der Ludwig-Maximilians-Universität: Wir reden hier über Berlin und nicht über München. Jeder Standort verfolgt die Strategie, die zu
ihm passt. Deshalb sehe ich uns auch nicht in Konkurrenz zu irgendwem, bin zugleich aber von unserem Weg überzeugt.
Paetz: Unser erfolgreicher Verbundantrag 2019 trug den Titel "Crossing boundaries toward an Integrated Research Environment". Nach fünf Jahren kann ich sagen: Da sind wir in
Berlin weiter. Ich freu mich schon darauf, wenn wir unsere Entwicklung nächstes Jahr auch den Gutachter*innen vorstellen werden.
Ziegler: Die Gründung der Berlin Research (BR) 50 zählt für mich zu den großen Erfolgen unserer Strategie. Da haben wir sicherlich eine Menge Grenzen überschritten bei der
weiteren Integration des Berliner Wissenschaftsraums. Jetzt geht es darum, den Wissens- und Innovationsraum weiter zu bewegen. Da bleibt viel zu tun und das macht auch jede Menge Spaß.
Und das neue Konzept heißt dann "Beyond the boundaries"?
Paetz: Wie gesagt, wir sind noch in der Entwicklung des Konzepts. Auf jeden Fall liegt das Selbstverständnis der Berlin University Alliance inzwischen stärker auf "Berlin" als
auf "University".
"Tue Gutes und rede drüber" scheint auch das neue Motto der BUA zu sein. Wie berichtet investieren Sie 900.000 Euro in eine
Marketingkampagne. Was sagen Sie Kritikern, die finden, Sie hätten das Geld lieber in die Wissenschaft gesteckt?
Ziegler: Die Nachfragen, die aus der BUA selbst kamen, hatten nie unsere Kampagne an sich zum Gegenstand, sondern die Gewichtung ihrer einzelnen Bestandteile. Für die
allermeisten sichtbar waren die stadtweiten Plakate in der ersten Phase der Kampagne. Das war ja auch Ihnen aufgefallen. Hier war das Ziel, den Verbund und Berlin als Das Offenes Wissenslabor
zunächst sichtbar zu machen, in der zweiten Phase stellen wir derzeit die Rolle und Themen der Exzellenzcluster in den Vordergrund. Dazu organisieren wir Formate, bei denen wir die verschiedenen
erforderlichen Perspektiven auf die großen Transformationsprozesse in Austausch bringen, beispielsweise zu ethischen Fragen im Kontext der KI.
Paetz: Die BUA braucht die Identifikation ihrer Mitglieder mit dem großen Ganzen, sie braucht auch die Unterstützung der Stadtgesellschaft, und dafür muss sie eine gewisse
Wahrnehmungsschwelle überschreiten. Es findet so viel statt in Berlin, wir haben so viele niedrigschwellige Angebote für die Bevölkerung, Spitzenforschung kennenzulernen. Aber nicht jeder bekommt
das mit bislang. Insofern ist ein gewisses Maß an „Bewerbung“ unumgänglich, um Wissenschaftskommunikation auch in seinem modernen Verständnis zu ermöglichen. Dazu suchen wir bewusst Wege aus
unserer "Bubble", beispielsweise zeigen wir Forschungsexponate nicht nur auf Konferenzen, sondern auch auf Berliner Wochenmärkten. Unsere Zusammenarbeit von Wissenschaft und Kunst haben wir im
Rahmen der diesjährigen Berlin Art Week vorgestellt – Teile davon kann derzeit jeder beim Festival of Lights erleben. Und wir planen weitere Highlights im kommenden Jahr sowohl im Stadtraum als
auch im Humboldt-Forum. Das ist übrigens auch schon in der von Ihnen genannten Summe budgetiert.
Ziegler: Am Ende muss so eine Kampagne für sich selbst sprechen, aber wenn wir damit Diskussionen über die Rolle und Inhalte der Berliner Spitzenforschung lostreten, umso
besser.
In eigener Sache: Journalismus kostet
Vielen Dank für Ihre Unterstützung meiner Arbeit! Wie steht es um den Blog? Ein aktueller Überblick und eine Bitte.
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Verkehr und Information
(Siehe dazu auch das downloadbare PDF-Dokument zu dieser Studie)
Die Entwicklung der regionalen Wirtschaft, des Handels und damit des Wohlstands hängen eng mit der zur Verfügung stehenden Verkehrsinfrastruktur zusammen. Der Verkehrssektor sorgt für die Mobilität von Personen sowie den effizienten Austausch von Gütern und Nachrichten und lässt die Bedeutung räumlicher Distanzen in den Hintergrund treten. Hierbei sind sämtliche Bereiche des Verkehrs- und Informationswesens von Bedeutung. In verschiedenen Studien konnten große wirtschaftliche Modernisierungseffekte für die frühe Neuzeit durch die Entwicklung des Postverkehrs in festen Fahrplänen sowie den Bau von Chausseen nachgewiesen werden. Die Innovationen im Bereich der Telekommunikation beschleunigen den Austausch von Informationen um ein Vielfaches, frühere Technologien werden ergänzt oder sogar vollkommen ersetzt durch neue Formen der Informationsvermittlung. (Ein Beispiel ist das Telegramm, das Ende des 19. Jh. und Anfang des 20. Jh. eine hilfreiche und schnelle Form der Nachrichtenübermittlung war, da es wenig Telefone gab und die Briefe eine Laufzeit von ca. 4 Tagen hatten. Im 21. Jh. werden Telegramme nur selten eingesetzt. Das Telegramm hat an Bedeutung verloren, da das Kommunikationsnetz ausgebaut wurde und mittlerweile modernere Möglichkeiten der Datenübertragung wie z.B. SMS, E-Mail, Instant Messaging, zur Verfügung stehen.) Später wurden hinsichtlich der Entwicklung und des Ausbaus des Eisenbahnverkehrs ähnliche Effekte für den Warenhandel und die Integration von Regionen in den überregionalen nationalen Markt und in den Welthandel für die Zeit der industriellen Revolution nachgewiesen. Es soll versucht werden, die quantitative Entwicklung von Indikatoren zu den verschiedenen Verkehrsbereichen Eisenbahn, Kraftfahrzeuge, Binnen- und Seeschifffahrt, Luftverkehr sowie Post- und Nachrichtenverkehr über einen möglichst langen Zeitraum wiederzugeben, um so aufbereitete Zeitreihen der Forschung zur Verfügung zu stellen.
Die vorliegende Datensammlung zum Themenbereich 'Verkehr und Information' enthält insgesamt 75 Zeitreihen, die sich auf den Zeitraum vom Beginn der Amtlichen Statistik zur Zeit des Deutschen Reiches im Jahr 1870 bis zur heutigen Bundesrepublik in den Grenzen vom 3. Oktober 1990 erstrecken; es soll also, soweit es die Quellen erlauben, der Zeitraum von 1870 bis 2010 statistisch wiedergegeben werden. Aufgrund der sich häufig ändernden Erhebungssystematiken sowie durch die Folgen des 1. und des 2. Weltkrieges können nicht für alle Zeitreihen kontinuierlich Daten für den gewünschten Zeitraum zur Verfügung gestellt werden. Entweder liegen für die Zeitabschnitte während der Kriege keine Daten vor oder aber die Vergleichbarkeit insbesondere bei unterschiedlicher Erhebungssystematik ist stark eingeschränkt. Letzeres Problem tritt in besonderer Weise für die Statistik aus der Zeit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik auf, aber auch die Statistik der früheren Bundesrepublik Deutschland (das Gebiet der alten Länder) kann erhebliche Brüche in der Systematik aufweisen. Der technische Fortschritt ist ein weiterer Grund, der das Fortführen kontinuierlicher Zeitreihen erschwert.
Die Zeitreihen zum Bereich 'Verkehr und Information' decken folgende Gebiete ab:
• 01: Eisenbahnen: Streckenlängen und Fahrzeugbestände (1850-2009)
• 02: Eisenbahnen: Personen- und Güterverkehr (1850-2002)
• 03: Straßenverkehr: Bestand an Kraftfahrzeugen (1902-2010)
• 04: Straßenverkehr: Straßenverkehrsunfälle (1906-2010)
• 05: Binnenschifffahrt: Bestand an Binnenschiffen (1872-2010)
• 06: Binnenschifffahrt: Güterverkehr auf den Binnenwasserstraßen (1909-2010)
• 07: Seeschifffahrt: Handelsschiffstonnage und Anzahl der Schiffe (1971-2010)
• 08: Seeschifffahrt: Güterumschlag bedeutender Seehäfen -
Hamburg, Bremische Häfen, Emden sowie Rostock, Wismar und Stralsund
(1925-2010)
• 09: Gewerblicher Luftverkehr (1919-2010)
• 10: Deutsche Reichs- und Bundespost, Telekommunikation (1871-2010)
Aufbau und Tabelleninhalt:
Zeitreihen zur Eisenbahn:
01: Eisenbahnen:
Streckenlängen und Fahrzeugbestände (1850-2009), Streckenlänge (alle Bahnen), Streckenlänge (Deutsche Reichsbahn-Bahn/Deutsche Bundesbahn), Fahrzeugbestände (alle Bahnen), Fahrzeugbestände (Deutsche Reichsbahn-Bahn/Deutsche Bundesbahn).
02: Eisenbahnen: Personen- und Güterverkehr (1850-2002)
Beförderte Personen (alle Bahnen), Geleistete Personenkilometer (alle Bahnen), Beförderte Güter (alle Bahnen), Geleistete Tonnenkilometer (alle Bahnen), Beförderte Personen (Deutsche Reichsbahn-Bahn/Deutsche Bundesbahn), Geleistete Personenkilometer (Deutsche Reichsbahn-Bahn/Deutsche Bundesbahn), Beförderte Güter (Deutsche Reichsbahn-Bahn/Deutsche Bundesbahn), Geleistete Tonnenkilometer (Deutsche Reichsbahn-Bahn/Deutsche Bundesbahn).
Zeitreihen zum Kraftfahrzeugverkehr:
03: Strassenverkehr: Bestand an Kraftfahrzeugen (1902-2010)
Kraftfahrzeuge insgesamt, Krafträder, Personenkraftwagen, Kraftomnibusse, Lastkraftfahrzeuge, Zugmaschinen, Sonderkraftfahrzeuge, Bevölkerung in 1000, Krafträder auf 1000 Einwohner, Personenkraftwagen auf 1000 Einwohner, Lastkraftfahrzeuge auf 1000 Einwohner.
04: Strassenverkehr: Straßenverkehrsunfälle (1906-2010)
Unfälle, Getötete, Verletzte.
Zeitreihen zur Binnenschifffahrt:
05: Bestand an Binnenschiffen (1872-2010)
Güterschiffe mit eigener Triebkraft (Anzahl), Güterschiffe mit eigener Triebkraft (Tragfähigk. in 1.000 t), Güterschiffe ohne eigene Triebkraft (Anzahl), Güterschiffe ohne eigene Triebkraft (Tragfähigk. in 1.000 t).
06: Güterverkehr auf den Binnenwasserstraßen (1909-2010)
Beförderte Güter (Mill. T.).
Zeitreihen zur Seeschifffahrt:
07: Handelsschiffstonnage und Anzahl der Schiffe (1871-2010)
Insgesamt, Anteil an Welthandelstonnage, Anzahl der Schiffe.
08: Güterumschlag bedeutender Seehäfen -
Hamburg, Bremische Häfen, Emden sowie Rostock, Wismar und Stralsund
(1925-2010)
Zeitreihen zur Luftfahrt:
09: Gewerblicher Luftverkehr (1919-2010)
Für deutsche Flughäfen: Beförderte Personen, Beförderte Luftfracht, Beförderte Luftpost.
Für deutsche Fluggesellschaften: Beförderte Personen, Personenkilometer (Pkm), Beförderte Luftfracht, Beförderte Luftfracht in Tonnenkilometer (Tkm), Beförderte Luftpost, Beförderte Luftpost in Tonnenkilometer (Tkm)
Zeitreihen zum Post- und Telekommunikationswesen:
10: Deutsche Reichs- und Bundespost, Telekommunikation (1871-2010)
Für das Deutsche Reich, die Alten Länder und die Neuen Länder bis 1990:
Beförderte Briefsendungen, Beförderte Paket- und Wertsendungen, Übermittelte Telegramme, Sprechstellen (Telefonanschlüsse), Ortsgespräche, Ferngespräche, Ton-Rundfunkgenehmigungen (Radioempfang), Fernseh-Rundfunkgenehmigungen.
Für Deutschland in den Grenzen vom 3. Oktober 1990 ab 1990:
Beförderte Briefsendungen, Beförderte Paket- und Wertsendungen, Übermittelte Telegramme, Sprechstellen (Kanäle) - Alle Service-Anbieter, Sprechstellen (Kanäle) - Dt. Telekom, Sprechstellen (Kanäle) - Wettbewerber der Telekom, Sprechstellen (Telefon-Anschlüsse) - Alle Service-Anbieter, Sprechstellen (Telefon-Anschlüsse) - Deutsche Telekom, Sprechstellen (Telefon-Anschlüsse) - Wettbewerber der Telekom, Mobilfunk, Teilnehmer, Verbindungsvolumen im Festnetz(in Mrd. Minuten; zuvor: Summe Ortsgespräche bzw. Ferngespräche) - Alle Service-Anbieter, Verbindungsvolumen im Festnetz(in Mrd. Minuten) - Dt. Telekom, Verbindungsvolumen im Festnetz(in Mrd. Minuten) - Wettbewerber, TAL-Anmietungen durch Wettbewerber der Deutschen Telekom (Mio Anmietungen), Ortsgespräche, Ferngespräche, Ton-Rundfunkgenehmigungen, Fernseh-Rundfunkgenehmigungen.
Zu den einzelnen Bereichen
Die Eisenbahn
Die Frage, ob die Eisenbahn als Staatsbahn oder als privat betriebenes Unternehmen geführt werden soll, begleitet die Eisenbahn schon seit ihren ersten Jahren. Vor allem in den wichtigen Handels- und Industriestädten werden in Deutschland private Aktiengesellschaften gegründet, um den Bau von Eisenbahnstrecken zu finanzieren. Dagegen setzt man in Baden und Braunschweig von Beginn an auf das Staatsbahnsystem. 1886 übernimmt schließlich der preußische Staat die bedeutende "Rheinische Eisenbahngesellschaft". Nach Ende des ersten Weltkrieges 1918 wurde die erste Verfassung eines demokratischen Staates, die Weimarer Verfassung 1919 für das Deutsche Reich beschlossen. Auf Grundlage dieser Verfassung wurde 1920 der Staatsvertrag zur Gründung der Deutschen Reichseisenbahnen in Kraft gesetzt. Die bis dahin noch den Ländern unterstellten staatlichen Eisenbahnen (bzw. Länderbahnen) gingen jetzt in Reichsbesitz über. Im Einzelnen waren dies:
die Königlich Bayerischen Staats-Eisenbahnen,
die Königlich Sächsischen Staatseisenbahnen,
die Königlich Württembergischen Staats-Eisenbahnen,
die Großherzoglich Badischen Staatseisenbahnen,
die Preußischen Staatseisenbahnen,
die Preußisch-Hessische Eisenbahngemeinschaft "K.P. u. G.H. StE",
die Großherzoglich Oldenburgischen Staatseisenbahnen und
die Großherzoglich Mecklenburgische Friedrich-Franz-Eisenbahn.
(Vergl.: http://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Reichsbahn_%281920%E2%80%931945%29)
Neben dieser Entwicklung waren in Deutschland immer sowohl staatseigene als auch private Bahnen tätig. Für die Zeit des Deutschen Reiches, für die ehemalige Bundesrepublik (alte Länder) sowie für Deutschland nach dem 1. Oktober 1990 werden daher die Angaben zu den aufgeführten Beständen jeweils für alle Bahnen zusammen und für die Staatsbahn im speziellen aufgeführt (d.i. Deutsche Reichsbahn, Deutsche Bundesbahn).
Zu der Entstehungsgeschichte der einzelnen deutschen Bahnen sowie den Entscheidungsphasen sind wertvolle Hinweise aus R. Fremdling und A. Kunz: Statistik der Eisenbahnen in Deutschland 1835 – 1989. Scripta Mercaturae Verlag, 1995, S. 19ff. zu entnehmen.
01: Eisenbahnen: Streckenlängen und Fahrzeugbestände (1850-2009)
Dieser Abschnitt enthält Zeitreihen zur Länge der Schienenstrecken und den Fahrzeugbeständen, die sich aufgliedern in Lokomotiven, Triebwagen, Personenwagen, Gepäckwagen und Güterwagen. Angaben für alle Bahnen zusammen zur Zeit des Deutschen Reiches sowie für die staatseigene Bundesbahn der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland in den Grenzen von 1945 wurden – mit Ausnahme der Reihe zu den Triebwagen – bereits von R. Fremdling und A. Kunz im Rahmen ihrer Studie "Statistik der Eisenbahnen in Deutschland 1835 – 1989. Scripta Mercaturae Verlag, 1995" erhoben. Sie decken den Zeitraum 1850-1932 für das Deutsche Reich und 1950-1989 für die Alten Länder (also die ehemalige Bundesrepublik) ab. Ergänzt wurden diese Reihen für 1938 bis 1940 aus den Statistischen Jahrbüchern für das Deutsche Reich bzw. für 1989 bis1993 aus den Statistischen Jahrbüchern für die Bundesrepublik Deutschland. Zusätzlich zu den Reihen von Fremdlung/ Kunz wurden in dieser Studie für die entsprechenden Werte zur Länge des Schienennetzes sowie zum Fahrzeugbestand speziell für die staatliche Bahn des Deutschen Reiches, also für die Deutsche Reichsbahn, sowie für alle Bahnen der Bundesrepublik bis 1993 zusammengestellt. Für die Zusammenstellung der Streckenlängen und Fahrzeugbestände wurde daher sowohl auf die Ergebnisse dieser Studie als auch auf die Publikationen des Statistischen Bundesamtes zurückgegriffen.
Für die neuen Länder können für die Zeit der ehemaligen DDR nur zur Staatsbahn – also zu der Deutsche Reichsbahn – Angaben gemacht werden, da es zur Zeit der DDR keine privaten Bahnen gab. Neben dem Statistischen Jahrbuch für die DDR wurden hier die von dem Statistischen Bundesamt herausgegebenen Sonderreihen mit Beiträgen für das Gebiet der ehemaligen DDR und die darin enthaltenen verkehrsstatistischen Übersichten herangezogen. Für die ersten Jahre nach der Wiedervereinigung werden noch Werte für die Gebiete der alten Bundesrepublik und der ehemaligen DDR in den Statistischen Jahrbüchern für die Bundesrepublik Deutschland gesondert ausgewiesen. Ab 1994 werden die Bestände nur noch für Gesamtdeutschland nachgewiesen, so dass die Datenreihen jeweils für die Neuen Länder und die Alten Länder mit dem Jahr 1990, spätestens 1993 enden und nur noch für Deutschland in den Grenzen vom 3. Oktober 1990 fortgeführt werden können.
Die Schienenstrecken werden als Eigentumslänge mit Stand am Ende des jeweiligen Kalenderjahres wiedergegeben. Der Fahrzeugbestand bezieht sich immer auf den Stand am Ende des Rechnungs- bzw. Betriebsjahres. Bis 1937 werden Eigentumsbestände der Bahnen ausgewiesen. Anschließend beziehen sich die Werte auf den Einsatzbestand, d.h., in den angegebenen Werten können auch von anderen Bahngesellschaften für den eigenen Bahnbetrieb geliehene Bestände mit enthalten sein.
Die Bahn durchlief grundlegende technische Veränderungen.
In den alten Ländern, dem Tätigkeitsgebiet der Deutschen Bundesbahn, wurden sukzessiv bis 1977 alle Dampflokomotiven durch Elektro- und Diesellokomotiven ersetzt. Die Schienenstreckentypen wurden vereinheitlicht (vollständiger Abbau von Schienenstrecken für Schmalspurbahnen). Neue Wagentypen und Zugtypen (InterCity, TransEuroExpress) wurden eingeführt. Dies alles kann im Rahmen der vorliegenden Studie nicht detailliert in Form von statistischen Zeitreihen nachgezeichnet werden, da dies den zeitlichen Rahmen des Projektes sprengen würde. Die technischen Veränderungen insbesondere im Bereich der Fahrzeugbestände, und hier besonders in Bezug auf die Triebwagen (Lokomotiven, etc.) haben zu einer Veränderung der Systematik geführt. Um die Darstellung der Reihen möglichst konstant zu gestalten, wurden neu hinzugekommene Triebwagentypen bzw. weiter ausdifferenzierte Wagentypen, die in der Statistik gesondert aufgeführt wurden, soweit es möglich war, zu Oberbegriffen zusammengefasst. Dies wird in den jeweils betreffenden Zeitreihen für den Zeitraum, auf den diese Vorgehensweise angewendet wurde, in den Anmerkungen kenntlich gemacht. So werden ab 1990 im Statistischen Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland unter dem Oberbegriff 'Triebwagen' die Kategorien 'Elektrische Lokomotiven', Diesellokomotiven', 'Elektrische Triebwagen' und 'Dieseltriebwagen' gesondert aufgeführt. Der Bestand der Lokomotiven wurde für die Vademecum-Studie durch die Aufaddierung der Kategorien 'Elektrische Lokomotiven' und 'Diesellokomotiven' erfasst. Dampflokomotiven wurden so lange erfasst, wie sie auch in den Statistischen Jahrbüchern der Bundesrepublik aufgeführt wurden. Für die Triebwagen wurde jeweils die Summe aus ´Elektrische Triebwagen´ und ´Dieseltriebwagen´ gebildet.
02: Eisenbahnen: Personen- und Güterverkehr (1850-2002)
Neben dem Fahrzeugbestand stellt die Leistung in den Bereichen der Personenbeförderung und der Güterbeförderung eine bedeutende betriebswirtschaftliche sowie verkehrsstatistische Größe dar. Der gemäß vergebenen Aufträgen durchgeführte Transport von Gütern inklusive der Be-, Um- und Ausladung, beinhaltet eine Vielzahl von Verkehrsunterstützungs-, Verkehrsvermittlungs- und Verkehrskoordinierungsprozessen. Zum einen kann die Verkehrsleistung in den absoluten Werten ausgedrückt werden, d.h. die Anzahl der transportierten Personen bzw. das Gewicht der transportierten Güter. Statistisch wird die Verkehrsleistung mit Hilfe einer Kennzahl zum Ausdruck gebracht, die für den Personentransport die Dimension »Pkm (Personenkilometer)« (= Personen X Kilometer) und für den Gütertransport die Dimension »tkm (Tonnenkilometer)« (= Tonnen X Kilometer) hat. Das Produkt aus der zurückgelegten Strecke und der Menge der transportierten Güter bzw. der beförderten Personen wird als 'Aufwandsgröße' im Transportwesen verstanden. Diese vier Größen werden jeweils für alle Bahnen zusammen sowie für die Deutsche Reichsbahn/Deutsche Bundesbahn im speziellen dargestellt – wobei für die neuen Bundesländer Angaben nur für die Deutsche Reichsbahn erhältlich sind. Auch hier kann für die Zeit des Deutschen Reiches auf die Studie von Fremdling und Kunz für alle Bahnen zusammen zurückgegriffen werden. Für die Deutsche Reichsbahn im speziellen werden die Angaben des Statistischen Reichsamtes in den herausgegebenen Jahrbüchern herangezogen. Für das Gebiet der alten Bundesländer stellen Fremdling und Kunz Kennzahlen für die Deutsche Bundesbahn zur Verfügung. Dementsprechend werden die Kennzahlen für alle in der Bundesrepublik Deutschland (Alte Länder) tätigen Bahnen zusätzlich aus der amtlichen Statistik erhoben.
Der motorisierte Strassenverkehr:
Rainer Flik beschreibt in seinen Arbeiten "Motorisierung des Straßenverkehrs, Automobilindustrie und Wirtschaftswachstum in Europa und Übersee bis 1939" (in: M. Lehmann-Waffenschmidt (Hg., 2002): Perspektiven des Wandels - Evolutorische Ökonomik in der Anwendung. Metropolis – Verlag für Ökonomie.) und insbesondere "Von Ford lernen? Automobilbau und Motorisierung bis 1933. Köln: Böhlau, 2001" die Ursachen für die verzögerte Durchsetzung des Automobils als Transportmittel sowie die verspätete Motorisierung der deutschen Bevölkerung. Es waren seiner Analyse zu Folge die schlechteren Rahmenbedingungen für den Automobilmarkt und weniger Unterschiede in den Bedürfnissen der Bevölkerung oder im Unternehmerverhalten, die dem Automobil in Deutschland zunächst zum Nachteil gereichten. In den dicht besiedelten und durch die Eisenbahn und Strassenbahn (sog. Pferdeomnibusse und Pferdebahnen, später um 1880 sukzessive ersetzt durch die Elektrische Stadt- bzw. Strassenbahn) gut erschlossenen Ballungsräumen Deutschlands spielte zunächst das Automobil für die Wirtschaft und den Transport der Güter eine untergeordnete Rolle. Darüber hinaus waren hohe Investitionskosten für den Ausbau von Strassen notwendig, während die Schienenstrecken für die Eisenbahn in den deutschen Großstädten schon vorhanden waren. Daher wurde auch durch die Besteuerungspraxis des Staates das Automobil gegenüber der Eisenbahn zunächst benachteiligt, was zur Folge hatte, dass die Motorisierung des Mittelstandes langsamer verlief als beispielsweise in den USA. Erst in den 1920er Jahren hat das Lastkraftfahrzeug in den Ballungsräumen sich als Transportfahrzeug durchsetzen können, während der Personenkraftwagen noch als teures Luxusgut nur wenigen wohlhabenden Personen zugänglich war. Dagegen spielte das Motorrad für die Motorisierung der deutschen Bevölkerung eine entscheidende Rolle. Deutschland hatte in den 30er Jahren die höchste Motorraddichte und war der bedeutendste Motorradproduzent auf dem Weltmarkt. Als das Automobil technisch ausgereift war und die für den wirtschaftlichen Betrieb notwendige Infrastruktur geschaffen war, konnte sich der Diffusionsprozess schneller und erfolgreicher entfalten. Flik unterscheidet in dem Diffusionsprozess des Automobils in Deutschland drei Stadien: Motorisierung der Oberschicht, Motorisierung des Gewerbe treibenden Mittelstandes und schließlich die Massenmotorisierung (Flik, R.: 2005: Nutzung von Kraftfahrzeugen bis 1939 – Konsum- oder Investitionsgut? In: Walter, R. (Hrsg.): Geschichte des Konsums. Erträge der 20. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 23-26. April 2003 in Greifswald. Stuttgart: Franz Steiner). Für die Zeitreihen zum Kraftfahrzeugbestand in Deutschland wird auf die Studiendaten von Flick zurückgegriffen, welche durch Daten der amtlichen Statistik (Statistisches Bundesamt und Kraftfahrt-Bundesamt) ergänzt werden. Ein weiteres Kapitel (Tabelle 04) zeichnet die Entwicklung der Strassenverkehrsunfälle statistisch nach.
03: Bestand an Kraftfahrzeugen (1902-2010)
Der Bestand der Kraftfahrzeuge nach Kraftfahrzeugtyp spiegelt die Durchsetzung dieses Verkehrsmittels wieder. Es liegen Zeitreihen zum Bestand der Kraftfahrzeuge insgesamt und Kraftfahrzeuge untergliedert nach den Typen Motorrad, Personenkraftwagen, Kraftomnibusse, Lastkraftfahrzeuge, Zugmaschinen und schließlich Sonderkraftfahrzeuge vor. Weiterhin werden der Bestand an Motorrädern, Personenkraftwagen und Lastkraftwagen pro 1000 Einwohner wiedergegeben.
Aufgrund vorgenommener Korrekturen können die Werte zu den einzelnen Reihen zwischen den verschiedenen Ausgaben der statistischen Jahrbücher abweichen. Da Flik sich in seiner Studie auf die Angaben der amtlichen Statistik stützt, wurden Werte des Statistischen Bundesamtes dann den Werten von Flik vorgezogen, wenn diese Publikationen neueren Datums sind und von den Angaben bei Flik abweichen.
Für das Deutsche Reich sind die Angaben auf den jeweiligen Gebietsstand Deutschlands bezogen. Das Saarland ist von 1922 bis 1935 nicht eingeschlossen. Die Angaben für 1939 beruhen auf einer Fortschreibung des Kraftfahrzeugbestands von 1938 und schließen die 1938 und 1939 dem Deutschen Reich angeschlossenen Gebiete nicht ein. Die Daten geben den Bestand jeweils zum 1. Januar wieder. Ferner wird bis 1933 der Bestand ohne vorübergehend abgemeldete Fahrzeuge, ab 1934 inklusive der vorübergehend abgemeldeten Kraftfahrzeuge angegeben. Bis 1914 wurde in der Erfassung zwischen Personenkraftwagen und Kraftomnibussen keine Unterscheidung getroffen, so wurden beide in der Kategorie Personenkraftwagen wiedergegeben. Unter der Rubrik 'Sonderkraftfahrzeuge' werden Fahrzeuge der Kommunen (Kommunalfahrzeuge) aufgeführt, wie z.B.: Straßenreinigungsmaschinen, Feuerwehrfahrzeuge, sowie ab 1948 Krankenwagen. Weiterhin werden Abschlepp- u. Kranwagen sowie Wohnwagen u. ähnliche Fahrzeuge dieser Kategorie zugeordnet.
Der Kraftfahrzeugbestand insgesamt für das Gebiet der alten Länder (ehemalige Bundesrepublik) wurde aus den Daten zu den einzelnen Fahrzeugtypen berechnet.
Die Werte für die neuen Länder bzw. für die ehemalige DDR sind für die Zeit bis 1989 den Statistischen Jahrbüchern für die DDR entnommen worden. Für die Zeit von 1990-1994 wurde die Publikation 'Verkehr in Zahlen', vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung herausgegeben, herangezogen. Bei der Erfassung der Sonderkraftfahrzeuge und der Kraftomnibusse wurde in der Statistik der ehemaligen DDR 1978 eine neue Systematik eingeführt, in der einige Fahrzeugtypen den jeweiligen Obergruppen neu zugeordnet wurden. Das hat in den beiden Fahrzeug-Gruppen zu einer starken Erhöhung der Fahrzeug-Anzahl geführt. Es muß dennoch festgehalten werden, dass der Anstieg der Fahrzeuge um 28000 bzw. 30000 Fahrzeuge von einem Jahr auf das andere sich nicht aus den Veränderungen der Fahrzeugbestände der anderen Fahrzeugtypen erklären lässt, so dass der Hinweis auf eine veränderte Systematik sich nicht in den Zahlen der Datenreihen wiederspiegelt.
04: Straßenverkehrsunfälle (1906-2010)
Insbesondere das Automobil hat den einzelnen Bürgern in der Gesellschaft in jüngster Zeit einen enormen Mobilitätszuwachs beschert. Im Laufe der Zeit konnten immer größere Teile der Bevölkerung am Individualverkehr partizipieren. Die Kehrseite der Mobilität einer ganzen Gesellschaft sind die Unfälle mit den Verletzten und Getöteten. Durch die massenhafte Verbreitung motorisierter Fahrzeuge, die sich im selben Verkehrsraum wie Pferde und Fuhrwerke, Fußgänger oder Radfahrer bewegen, steigt die Unfallwahrscheinlichkeit stark an. Auch die Geschwindigkeit der motorisierten Verkehrsmittel erhöht die Unfallwahrscheinlichkeit und die Schwere der Unfälle, den Personen- und Sachschaden enorm. Darüber hinaus hat die Strassenverkehrssicherheit und damit die Zuverlässigkeit, mit der Güter schnell und sicher transportiert werden können und unbeschadet am Zielort ankommen, einen empfindlichen Einfluß auf die wirtschaftliche Entwicklung. Denn der Transport übernimmt eine bedeutende Funktion als Wachstumsmotor durch die Erweiterung der Märkte. Eine besondere Zusammenstellung von langen Zeitreihen zur Entwicklung der Strassenverkehrsunfälle erscheint daher sinnvoll. Das Statistische Bundesamt definiert Straßenverkehrsunfälle wie folgt:
"Straßenverkehrsunfälle sind Unfälle, bei denen infolge des Fahrverkehrs auf öffentlichen Wegen und Plätzen Personen getötet oder verletzt wurden oder Sachschaden entstanden ist. Auskunftspflichtig für die Statistik der Straßenverkehrsunfälle ist die Polizei. Demzufolge sind Unfälle, zu denen die Polizei nicht gerufen wurde, in der Statistik nicht enthalten. ( In der Unfallstatistik ) … werden Angaben zu Unfällen, Beteiligten, Fahrzeugen, Verunglückten und Unfallursachen erfasst." Statistisches Bundesamt
Es wird regelmäßig vom Statistischen Bundesamt ein Heft der Fachserie 8, Reihe 7 mit langen Reihen zu Verkehrsunfällen herausgegeben. Auf der Basis dieser Publikation wurden die Reihen zu der Anzahl der Unfälle, der bei Unfällen Getöteten und der Verletzten zusammengestellt.
Die Schifffahrt
Eine der ersten Verkehrsmittel war die Fortbewegung mit Flößen, später mit Schiffen, zunächst in Ufernähe und auf Flüssen, später auf hoher See. Schon sehr früh wurde der Radius der Fortbewegung erheblich erweitert. Noch bevor die Staaten Europas die Blüte der Hochseeschifffahrt erreichten, haben sie schon die Flüsse als Transportwege für den Handel benutzt. Große Handelsstädte entstanden entlang der großen Flüsse Rhein, Main, Mosel, Donau, Oder, usw. Die Schifffahrt ermöglichte so schon früh den Austausch von Gütern und Ideen, brachte aber auch Auseinandersetzungen über territoriale, wirtschaftliche und militärische Interessen mit sich. Im Laufe der Zeit spezialisierte sich die Schifffahrt in zivile und militärische Bereiche, in Handel und Fischerei. Die Schifffahrt wird im folgenden unterteilt in Binnenschifffahrt und Seeschifffahrt.
05: Bestand an Binnenschiffen (1871-2010)
Die Binnenschifffahrt umfasst die Binnen-see-schifffahrt, Flussschifffahrt und Kanalschifffahrt, wobei im Rahmen der vorliegenden Studie auf die Fluss- und Kanalschifffahrt der Schwerpunkt gelegt wird. Binnenfischerei mit Fischerbooten und Transport mit Frachtschiffen auf Binnengewässern machten den Hauptanteil der Binnenschifffahrt aus. Im 17. Jh. wurden noch auf Flößen große Mengen Holz auf den Flüssen nach Holland transportiert. Ende des 18. Jahrhunderts kamen die Treidelschiffe zum Einsatz (Boote und Kähne durch Segel, Ruder, Staken oder Treidel fortbewegt). Mit Erfindung der Dampfmaschine setzten sich Schiffe mit eigener Triebkraft immer stärker in der Binnenschifffahrt durch. Sämtliche Massengüter wurden auf den Binnengewässern transportiert (z.B. Kohle, Erze und Erdölprodukte). Mit dem Ausbau von Binnenwasserstraßen und Schleusen, durch die eine Regulierung des Wasserstandes ermöglicht wurde, kann der Transport über die Binnenwasserstraßen beschleunigt werden. Heute übernimmt die Binnenschifffahrt Massentransporte in vielen Bereichen (Containertransport, Autotransport, etc.). Laut des Bundesverbandes für Deutsche Binnenschifffahrt dominieren Schütt- und greiferfähige Massengüter, wie etwa Baustoffe, Erze, Kohle und Stahl, mit einem Anteil von rund 70 % an der Gesamtmenge das Geschäft der Binnenschifffahrt (http://www.binnenschiff.de/). Für die Hütten- und Stahlindustrie ist die Binnenschifffahrt unentbehrlich. Auch in deutschen und europäischen Logistikketten stellt die Binnenschifffahrt ein unverzichtbares Glied dar.
Im Rahmen dieser Studie kann der Bestand der in der Binnenschifffahrt zum Einsatz gekommenen Schiffe nach Schiffstyp nicht wiedergegeben werden, da dies den Rahmen sprengen würde. Einer der einschneidendsten Veränderungen war die Dampfmaschine und damit die Möglichkeit, Schiffe mit eigener Triebkraft zu bauen. Daher wird hinsichtlich des Bestandes der Binnenschiffe zwischen Güterschiffen mit eigener Triebkraft und Güterschiffen ohne eigene Triebkraft unterschieden. Der Bestand der Schiffe wird dargestellt zum einen anhand der Anzahl der Schiffe, zum anderen aber mittels der Tragfähigkeit des Binnenschiffsbestandes in 1000 t.
Für das Deutsche Reich und für die Bundesrepublik Deutschland dient als Datenquelle die Studie von Kunz, Andreas (Hrsg.), 1999: Statistik der Binnenschiffahrt in Deutschland 1835-1989. St. Katharinen: Scripta Mercaturae Verlag.; GESIS Köln, Deutschland ZA8157 Datenfile Version 1.0.0; Datentabelle: Bestand an Binnenschiffen.
Die Angaben zu den Beständen beziehen sich für die Periode von 1845-1956 auf den 1.1. und ab 1957 auf den 31.12. des jeweiligen Jahres. Zum Teil wurden die Angaben vom Primärforscher geschätzt.
Für den Bestand an Binnenschiffen der ehemaligen DDR dient das Statistische Jahrbuch für die DDR, Jg. 1990, S. 260, Tab. ´Registrierter Bestand an Binnenschiffen´ als Datenquelle. Hier werden nur Schiffe mit eigener Triebkraft aufgeführt und es wird der Jahresdurchschnitt berichtet. Aussagen zu Schiffen ohne eigene Triebkraft können nicht gemacht werden.
Für Deutschland in den Grenzen von Oktober 1990 wurde das Statistische Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland als Datenquelle herangezogen. Die Werte beziehen sich immer auf den Stand zum 31.12. des jeweiligen Jahres. Es wurde die Summe aus Gütermotorschiffen und Tankmotorschiffen für Reihe der Schiffe mit eigener Triebkraft gebildet. Schlepper und Schubboote wurden nicht mit einbezogen. Fahrgastschiffe wurden ebenfalls nicht mit einbezogen. Güterschleppkähne und Tankschleppkähne wurden dagegen in die Reihe der Binnenschiffe ohne eigene Triebkraft aufgenommen.
06 Güterverkehr auf den Binnenwasserstraßen (1909-2010)
Der Transport von Gütern auf den Binnenwasserstrassen ist ein Indikator für die Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit der Binnenschifffahrt. Bedeutende Einflussfaktoren sind die verfügbaren Höhen der Wasserspiegel der Flüsse und später der Binnenkanäle. Der Bau von Schleusen hat den Transport auf Binnenwasserstraßen entscheidend beschleunigt. Kleinere Flüsse, wie z.B. der Neckar, der Main oder die Mosel wurden durch die Kanalisierung und den Bau von Schleusen erst schiffbar gemacht. Der Bau von Binnenlandkanälen ergänzt die Flüsse, indem zwei Flüsse miteinander verbunden werden (z.B. der Mittellandkanal). Insgesamt wurde durch solche Baumaßnahmen der Umfang der schiffbaren Wasserstraßen entscheidend erhöht. Bei der Erfassung der Transportleistung deutscher Binnenwasserstraßen ist auch der Gütertransport nicht-deutscher Fahrzeuge beteiligt.
Für das Deutsche Reich in den Grenzen vom 31.12.1937 wurde für den Zeitraum von 1909-1914 und 1932-1938 die Publikation vom Statistischen Bundesamt: Bevölkerung und Wirtschaft 1872-1972, S. 207 als Quelle herangezogen. Für 1919-1931sind die erhobenen Zeitreihen von Andreas Kunz: Statistik der Binnenschifffahrt in Deutschland 1835-1989; GESIS Köln, Deutschland ZA8157 Datenfile Version 1.0.0., Datentabelle: Verkehrsleistungen auf Binnenwasserstraßen verwendet worden.
Auch für die frühere Bundesrepublik Deutschland in den Grenzen von 1949, also die sogenannten Alten Länder, wurde für die Jahre 1936, 1938, 1947 u. 1948 auf die Publikation des Statistisches Bundesamtes: Bevölkerung und Wirtschaft, S. 207 zurückgegriffen. Für 1949-1989 stammen die Werte aus der Studie von A. Kunz (ZA8157 Datenfile Version 1.0.0.). Einbezogen wurden für das Bundesgebiet die Wasserstaßen des Elbegebietes, des Wesergebietes, des Mittellandkanalgebietes, das Westdeutsche Kanalgebiet, das Rheingebiet, das Donaugebiet, sowie Berlin (West). Auch der Durchgangsverkehr auf den deutschen Wasserstrassen wurde mit erfasst. Für den Bereich der ehemaligen DDR bzw. der Neuen Länder wurde auf das Statistische Jahrbuch für die DDR zurückgegriffen. In dieser Reihe werden die Transportwerte inklusive der von der Binnenreederei der DDR beladenen Schiffe anderer Länder berichtet. Ausnahmen bilden die Jahre 1960, 1965, 1970, 1975, 1980 und 1985 bis 1989. Hier werden nur für die deutschen Binnenschiffe die Werte angegeben.
Für das wiedervereinte Deutschland stehen die Transportwerte seit 1991 zur Verfügung. Die Werte wurden mittels einer Abfrage vom 15. Februar 2012 von der GENESIS-Online Datenbank ermittelt. (vergleiche: (www-genesis.destatis.de; Abfrage: ´Beförderte Güter (Binnenschifffahrt): Deutschland, Jahre, Hauptverkehrsbeziehungen, Flagge des Schiffes, Güterverzeichnis (Abteilungen)´)
07 Handelsschiffstonnage (1871-2010)
Eine leistungsfähige Seeschifffahrt hat schon früh zur Erweiterung der regionalen Märkte beigetragen. Ein Beispiel für die frühe Globalisierung stellt die Hanse dar, die ohne die Seeschifffahrt nicht möglich gewesen wäre.
Die zwischen Mitte des 12. Jahrhunderts und Mitte des 17. Jahrhunderts bestehenden Vereinigungen niederdeutscher Kaufleute hatte sich zum Ziel gesetzt, die Sicherheit der Überfahrt zu verbessern und die Vertretung gemeinsamer wirtschaftlicher Interessen besonders im Ausland wahrzunehmen. In den Zeiten ihrer größten Ausdehnung waren beinahe 300 See- und Binnenstädte des nördlichen Europas in der Städtehanse zusammengeschlossen. Eine wichtige Grundlage dieser Verbindungen war die Entwicklung des Transportwesens, insbesondere zur See. Die Kogge, ein bauchiges Handelsschiff, stellte den bedeutendsten größeren Schiffstyp der Hanse dar. Im ausgehenden 14. Jahrhundert wurden die Koggen mehr und mehr von anderen Schiffstypen abgelöst. Im 15. Jahrhundert setzte der Machtverlust der Hanse ein, der unter anderem auch durch die Entdeckung Amerikas ausgelöst wurde. Der bisher dominierende Ostsee-Westsee-Handel (heute Nordsee-Handel) wurde nun in überseeische Gebiete ausgedehnt. Dabei ging nicht etwa das Handelsvolumen der Hanse im eigentlichen Sinne zurück, es entstanden jedoch mächtige Konkurrenten, die die Bedeutung der Hanse für die einzelnen Städte und Kaufleute schwächten (siehe hierzu: http://de.wikipedia.org/wiki/Hanse und Rolf Hammel-Kiesow (2008): Die Hanse, München 4. aktualisierte Auflage).
Auch heute ist eine leistungsfähige Seeschifffahrt Voraussetzung für die Globalisierung. Arbeitsteilige Volkswirtschaften sind in starkem Maße vom überseeischen Handel abhängig. Die Handelsschiffstonnage gibt die Transportkapazität in Tonnen einer Handelsflotte an. Bei fortschreitender Technik im Schiffsbau steigt auch die Transportkapazität einzelner Schiffe, was die Wettbewerbsfähigkeit positiv beeinflusst. Die Entwicklung der Handelsschiffstonnage ist somit ein Indikator neben anderen, der die Stellung und Leistungsfähigkeit der nationalen Handelsflotte auf dem Weltmarkt angibt. Die Zusammenstellung der deutschen Handelsschiffstonnage gibt die Tonnage einmal in Bruttoregistertonnen und zum anderen, soweit die entsprechenden Werte aus den Quellen erhoben werden konnten, als Anteil an der Welthandelstonnage wieder. Auch die Anzahl der Handelsschiffe wird angeführt. Das Raummaß Bruttoregistertonne (abgekürzt = BRT) ist die Maßeinheit für die Tragfähigkeit der Seeschiffe. Es wird der gesamte umbaute Schiffsraum vermessen (Bruttoraumgehalt bzw. Bruttotonnage). Seit dem 1. Juli 1994 wird der Raumgehalt eines Schiffes in Bruttoraumzahl (BRZ) und Nettoraumzahl (NRZ) berechnet. Die Angaben für das Deutsche Reich beziehen sich auf das Reich in seinen jeweiligen Grenzen. Als Quellen wurde das Statistische Jahrbuch für das Deutsche Reich sowie die Publikation "Bevölkerung und Wirtschaft" des Statistischen Bundesamtes herangezogen. Ab 1900 geben die Werte den Stand zum 1. Juli des jeweiligen Jahres an. Für die Alten Länder bzw. das Gebiet der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland wurden die Werte aus der Publikation "Verkehr in Zahlen" des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Tabelle: ´Seeschifffahrt - Handelsflotte der BRD´ bezogen. Hier beziehen sich die Werte jeweils auf den 31 Dezember des jeweiligen Jahres. In dieser Quelle wurden Schiffe mit mechanischem Antrieb und einem Raumgehalt von mindestens 100 BRT und mehr berücksichtigt. Außerdem sind für den Zeitraum von 1975 – 1990 Schiffe unter der Flagge der Bundesrepublik einschl. ausländischer Schiffe mit Flaggenschein aufgenommen worden. Schiffe der BRD, die unter fremder Flagge fuhren, werden nicht berücksichtigt, da sie nicht für den deutschen Handel und Transport verwendet werden. Leider kann nach 1971 keine Angabe zum Anteil der deutschen Handelsschiffstonnage an der Welthandelstonnage gemacht werden. Für das Gebiet der ehemaligen DDR wurde das Statistische Jahrbuch für die DDR, Jahrgang 1990, als Quelle herangezogen. Hier ist der Stichtag der Bestandsangaben, wie im Falle des Deutschen Reiches, der 1.7. des jeweiligen Jahres. Für das wiedervereinte Deutschland in den Grenzen des 3. Oktobers 1990 beziehen sich die Angaben – wie für die ehemalige Bundesrepublik – auf den Stand zum 31.12. des jeweiligen Jahres. Als Quelle wurde die Publikation "Verkehr in Zahlen" des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung herangezogen.
08 Güterumschlag in bedeutenden Seehäfen - Hamburg, Bremische Häfen, Emden sowie Rostock, Wismar und Stralsund (1925-2010)
Der Güterumschlag eines Hafens ist ein Indikator für seine wirtschaftliche Bedeutung und der Einbettung des Hafens in der Logistikkette. Bei guter Anbindung an Bahn und Autobahn und kurzen, zügigen Be- und Entladungsphasen von Schiffen sowie LKWs und Bahn-Waggongs wird sich ein Hafen als Güterumschlagszentrum etablieren. Die Datentabelle K15.08 enthält für die wichtigsten Häfen Deutschlands die Entwicklung des Güterumschlags vom Deutschen Reich bis zum Jahr 2010 im wiedervereinten Deutschland in den Grenzen vom 3. Oktober 1990. Vor dem Hintergrund der Teilung Deutschlands nach dem 2. WK in zwei Staaten und der Auswahl der wichtigsten Häfen für die ehemalige DDR, wie sie in dem Statistischen Jahrbuch für die ehemalige DDR getroffen wurde, sind folgende Häfen in der Datentabelle aufgenommen worden: Hamburg, Bremische Häfen, Emden, Rostock, Wismar und Stralsund. Als Quelle dienen die Statistischen Jahrbücher für das Deutsche Reich, für die Bundesrepublik Deutschland und für die DDR. Für die neuen Länder wurde darüber hinaus noch die Publikation des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Verkehr in Zahlen, Jg. 1990, S. 282, Tabelle: 'DDR Kennziffern - Seehäfen und Binnenhäfen' herangezogen.
Die Luftfahrt
Mit der Erfindung des Flugzeuges tritt eine vollkommen neue Form der Fortbewegung auf den Markt. Die ersten Flugzeuge wurden zunächst nur für militärische Zwecke genutzt; 1919 setzte mit Gründung der Deutschen Luft-Reederei (DLR) in Deutschland eine Entwicklung hin zum zivilen Luftverkehr ein. Die Deutsche Luft-Reederei (DLR) wurde vom Reichsluftamt in Berlin als weltweit erste Fluggesellschaft für den zivilen Luftverkehr zugelassen. Zwischen Berlin und Weimar begann der regelmäßige Post- und Passagierverkehr. Die Luftpost mit Flugzeugen, die schon während des Ersten Weltkriegs entstand, wurde wesentlich ausgebaut. In den darauf folgenden Jahren entstanden viele kleine Fluggesellschaften, die häufig nur eine Strecke bedienten. Der technische Fortschritt ermöglichte schließlich die Entwicklung eines Verkehrsflugzeuges mit beheizbarer Kabine und gepolsterten Sitzen. 1926 wurde die "Deutsche Lufthansa AG" unter Beteiligung des Reiches, der Länder und Städte gegründet. Bis 1945 war sie Einheitsgesellschaft für den zivilen Luftverkehr mit weit verzweigtem europäischem Streckennetz. Mit der Kapitulation Deutschlands nach dem 2. Weltkrieg im Mai 1945 wurde die deutsche Luftfahrt zunächst unterbrochen. Nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der Einrichtung des Verkehrsministeriums konnte der zivile Luftverkehr wieder 1955 aufgenommen werden.
Der Luftverkehr hat gerade für eine international ausgerichtete Volkswirtschaft wie Deutschland eine enorme Bedeutung durch die hohen Mobilitätszuwächse in wirtschaftlichen Bereichen und im Bereich des Personenverkehrs. Mit Einsetzen des Luftverkehrs als Transportmittel ist eine Verringerung der Transportkosten und Transportzeiten zwischen weit entfernten Orten erreicht worden. Eisenbahn- und Schiffsverkehr stellen für den Flugverkehr aufgrund der größeren Gütermengen, die sie transportieren können, sowie der günstigeren Kosten pro transportierter Gewichtseinheit, weiterhin wichtige Mitbewerber im Bereich des Gütertransportes dar. Wesentliche Akteure des Luftverkehrs sind neben der Flugsicherung die Flughäfen und die Fluggesellschaften. In der Zeit von 1919 bis 1949 entwickelte sich der Luftverkehr bis in die 1970er Jahre hinein als ein stark staatlich regulierter Sektor. Die Luftverkehrsgesellschaften wie z.B. die Deutsche Lufthansa sowie die Flughäfen befanden sich oft im Besitzt des jeweiligen Heimatlandes. Ende der 70er Jahre setzte in den USA ein Deregulierungsprozess des Luftverkehrssektors ein, der schließlich auch in den 80er Jahren die Länder der Europäischen Union erfasste. Die Europäische Gemeinschaft verwirklichte in drei großen Liberalisierungsschritten in den Jahren 1987, 1990 und 1993 eine weitgehend vollständige Dienstleistungsfreiheit für den innereuropäischen Luftverkehr. (vergl.: St. Kraft: Geschäftsmodelle strategischer Luftverkehrsallianzen. Universität Gießen. WEB: http://www.org-portal.org/fileadmin/media/legacy/Gesch_ftsmodelle_strategischer_ Luftverkehrsallianzen.pdf)
09 Gewerblicher Luftverkehr der deutschen Fluggesellschaft und aller Fluggesellschaften auf deutschen Flugplätzen (1919-2010)
Solange der Luftverkehr noch nicht liberalisiert war, diente der größte nationale Flughafen der nationalen Fluggesellschaft als Hauptstützpunkt. Aufgrund der strikten Reglementierung des europäischen Luftverkehrs durch bilaterale Abkommen wurde den Fluggesellschaften die Streckenführung und Passagierbeförderung größtenteils vorgegeben. Nur, wenn es um Zubringerdienste (die sog. spokes) innerhalb des eigenen Landes ging, konnten die Passagierströme für Langstreckenflüge auf einen bestimmen Flughafen als sogenannten Hub (=gewählter Umsteigeflughafen einer Fluggesellschaft) konzentriert werden. Nach der Liberalisierung innerhalb der EU treten Flughäfen und Fluggesellschaften nun als selbständige Akteure auf, die Entscheidungen nach Effizienzgesichtspunkten fällen können. Die Flughäfen treten untereinander in den Wettbewerb ein. Mit dem Ausbau ihrer Kapazitäten und Dienstleistungen am Boden versuchen sie, für Fluggesellschaften als Hauptstützpunkt (das sog. Hub-and-Spokes-System ) attraktiv zu sein. Unternehmen des Güterverkehrs sowie die Teilnehmer des Personenverkehrs sollen aufgrund guter Serviceleistungen angesprochen werden. Die Fluggesellschaften wiederum konkurrieren über angebotene Flugrouten und Preise. (vgl. Gordon Paul Schenk, 2003: Auf dem Weg zu einem gemeinsamen Markt im Luftverkehr. Dissertation, Hamburg, S. 123 f.) Von daher erscheint es sinnvoll, die erbrachten Transportleistungen im Luftverkehr sowohl nach den Fluggesellschaften als auch nach den Flughäfen getrennt darzustellen. Es wurde versucht, möglichst lange kontinuierliche Datenreihen für Deutschland zur Zeit des Deutschen Reiches bis 1938/1940, jeweils für die frühere Bundesrepublik (Alte Länder) und die ehemalige DDR (Neue Länder) von 1950 bis 1990 sowie für das wiedervereinte Deutschland in den Grenzen vom 3. Oktober 1990 für die Zeit von 1990 bis 2010 zusammenzustellen. Für die Flughäfen wurden die Leistungen sämtlicher deutscher und ausländischer Fluggesellschaften aufgenommen. Zur Zeit des Deutschen Reiches ist auch der Luftschiffverkehr in den Zahlen mit enthalten. Für die Bundesrepublik Deutschland und das wiedervereinte Deutschland wurde der Gesamtverkehr einschließlich des Durchgangsverkehrs erfasst. Für die alten Länder (ehemalige Bundesrepublik) wurden die Werte folgender Flughäfen erfasst: Berlin-West, Bremen, Düsseldorf, Frankfurt, Hamburg, Hannover, Köln, München, Nürnberg, Stuttgart, ab 1977 Saarbrücken. Die Datenreihen für die Neuen Länder beziehen sich auf die Flughäfen Berlin- Schönefeld, Dresden, Leipzig/Halle, ab 1998 Erfurt.
Für die Fluggesellschaften werden jeweils neben den Beförderungsleistungen in absoluten Zahlen auch die Kennwerte der Transportleistungen, Personenkilometer und Tonnenkilometer angegeben. Für die ehemalige DDR wird in dem Statistischen Jahrbuch für die DDR nur für die Fluggesellschaft der ehemaligen DDR, die Interflug bzw. Deutsche Lufthansa der DDR berichtet, so dass für die Zeit von 1945 bis 1990 keine Angaben zu den Flughäfen gemacht werden können.
Folgende Zeitreihen sind in dieser Datentabelle aufgenommen worden:
Für die deutschen Flughäfen:
- Beförderte Personen in 1000;
- Beförderte Luftfracht in 1000 t.;
- Beförderte Luftpost in 1000 t.
Für die deutschen Fluggesellschaften:
- Beförderte Personen in 1000;
- Beförderte Personen in Personenkilometer;
- Beförderte Luftfracht in 1000 t.;
- Beförderte Luftfracht in 1000 Tonnenkilometer;
- Beförderte Luftpost in 1000 t.
- Beförderte Luftpost in 1000 Tonnenkilometer.
Die Nachrichtenübermittlung durch Post und Telekommunikation
Die Beförderung von Nachrichten, Kleingütern und zum Teil auch Personen ist ein wesentlicher Bestandteil eines funktionsfähigen Gemeinwesens. Bis zum späten Mittelalter gab es in dem damaligen Heiligen Römischen Reich deutscher Nationen kein etabliertes System der allgemeinen Nachrichtenübermittlung, sondern Kaiser, Klerus und Fürsten sendeten per Boten ihre Nachricht direkt zum Zielort. Der Habsburger Maximilian I. benötigte für die effektive Verwaltung seines Reichs eine zuverlässige und sichere Nachrichtenübermittlung. 1490 beauftragte er die Familie Torre e Tassis (später Thurn und Taxis) mit der Einrichtung einer systematisch organisierten Nachrichtenübermittlung. Durch die Einrichtung von Poststationen war die Übermittlung von Nachrichten nicht mehr an eine Person, den Boten, gebunden, sondern wurde – vergleichbar einem Staffelrennen – an der Station einem anderen Reiter übergeben. Der Nachrichtenbeförderung wurde bei Tag und bei Nacht durchgeführt. Dieses Poststationen-System wurde ständig erweitert, Briefe konnten so über große Distanzen innerhalb von 5 bis 6 Tagen transportiert werden. Die Nachrichtenübermittlung wurde extrem beschleunigt. Raum und Zeit waren plötzlich keine unüberwindbaren Hindernisse. War dieses Übermittlungssystem zunächst ausschließlich für kaiserliche Nachrichten eingerichtet, wurde schon 1530 die Post der Allgemeinheit zugänglich gemacht. In der darauffolgenden Zeit wurden von Landesfürsten, Herzogtümern und Städten konkurrierende Postrouten eingerichtet. Zwar wurde durch Kaiser Rudolf II. die Reichspost 1597 zum kaiserlichen Hoheitsrecht erklärt. Dieses Monopol, welches das Haus Thurn und Taxis als kaiserliches Lehen erhielt, wurde jedoch nicht von allen Landesfürsten anerkannt, was zu einer Vielzahl ausgehandelter bilateraler Verträge zwischen der Reichspost und den jeweiligen konkurrierenden lokalen Postunternehmen zwang. 1850 wurde schließlich der Deutsch-Österreichische Postverein als Zusammenschluß kleinstaatlicher Posten mit dem Ziel eines einheitlichen Tarifsystems gegründet, dem in der Folgezeit immer mehr deutsche Staaten beigetreten sind. Durch die politischen Ereignisse 1866/67 (Deutsch-Preußischer Krieg) wurde der Deutsche Postverein aufgelöst. Schon in dieser Zeit hat der technische Fortschritt zu großen Umwälzungen und neuen Perspektiven geführt. Als technische Erneuerung sind in diese Zeit gefallen: die Telegrafie, die Bahn, die als Transportmittel für die Post entdeckt wurde, und die Rohrpost. Die Preußen führten die Telegrafie 1832 offiziell ein (Telegrafenlinie von Berlin nach Koblenz). 1850 wurde der Deutsch-Österreichische Telegrafenverein gegründet, der den Anschluss an das belgische, französische und das englische Telegrafennetz ermöglichte. "Erst mit der Gründung des Deutschen Reichs 1871 unter Bismarck wurde auch das deutsche Postwesen endgültig unter einem Dach zusammengefasst und über 100 Jahre lang verstaatlicht." (Gregor Delvaux de Fenffe, www.planet-wissen.de/kultur_medien/ kommunikation/post/index.jsp ) Gebühren der Postbeförderung wurden vereinheitlicht, der Einsatz moderner Technologien forciert. Schließlich wurden mittels bilateraler Verträge die Beförderungshemmnisse über die Grenzen des Deutschen Reiches abgebaut.
Führte in der Entstehungszeit des Postwesens die Vielfalt eigenständiger, regionaler Postvereine aufgrund vieler Grenzen und unterschiedlicher Regeln zu einem unübersichtlichen und starrem System, so brachte die Liberalisierung des Post- und Telekommunikationswesens in Deutschland in den 1990er Jahren einen Anstieg der Auswahl für die Verbraucher, stark fallende Preise, neue innovative Dienste und damit mehr Flexibilität. Auslöser der Liberalisierungsprozesse nicht nur für Post und Telekommunikation, sondern für den gesamten Verkehrssektor, war das Binnenmarktprogamm der Europäischen Union, das europäische Wettbewerbsrecht und die Europäische Kommission als Akteur. Ziel der Liberalisierung ist es, wettbewerbsverzerrende staatliche Eingriffe und damit nationalstaatliche Gestaltungsspielräume einzuschränken. Nationalstaatliche Monopole sind wegen bestehender europarechtlicher Verpflichtungen nicht mehr zu halten. (vergl.: Susanne K. Schmidt: Liberalisierung in Europa. Campus, 1998; Justus Haucap / Coenen, Michael (2010): Ordnungspolitische Perspektiven Nr.01. Regulierung und Deregulierung in Telekommunikationsmärkten: Theorie und Praxis. Düsseldorf, Düsseldorfer Institut für Wettbewerbsökonomie DICE) Flankiert wird diese Entwicklung durch eine Vielzahl neuer Technologien der Kommunikation, wie das Internet mit seinen vielfältigen Möglichkeiten (Social Media, das Semantische Web, die Internet-Telefonie, der E-Mail-Verkehr), der Mobilfunk oder die Möglichkeit, SMS zu versenden.
10 Deutsche Reichs- und Bundespost (1871-2010)
Die quantitative Entwicklung der Dienstleistungen des Post- und Telekommunikationswesen von der Zeit des Deutschen Reichs bis zur Gegenwart soll mit folgenden Zeitreihen festgehalten werden:
- Beförderte Briefsendungen,
- Beförderte Paket- und Wertsendungen,
- Übermittelte Telegramme,
- Sprechstellen (Telefonanschlüsse),
- Ortsgespräche,
- Ferngespräche,
- Ton-Rundfunkgenehmigungen
- Fernseh-Rundfunkgenehmigungen
Durch die rasante technische Entwicklung können viele Reihen insbesondere ab den 1990er Jahren in dieser Form nicht mehr fortgeführt werden bzw. müssen durch weitere Reihen ergänzt werden, und zwar:
- Bezüglich der Telefone muss zwischen Telefon-Anschlüssen und Telefon-Kanälen unterschieden werden. Der klassische Analoganschluss ermöglicht durch das ISDN die Bereitstellung von mehreren Kanälen auf einen ISDN-Anschluss. Darüber hinaus stellt der Mobilfunk ein neues Medium dar, das neben dem Festnetzanschluss erfasst werden muß.
- Aufgrund der Monopolstellung, welche die Post für ca. 120 Jahre innehatte, ist sie die Eigentümerin wertvoller Infrastruktur. Im Falle des Telefons ist sie, bzw. die aus ihr hervorgegangene Deutsche Telekom AG Eigentümerin der Telefonanschlussleitungen. Das Telefonnetz kann als einziger Teil nicht oder nur schwer von alternativen Anbietern ersetzt werden und es wird für gewöhnlich von einem örtlichen Zugangsnetz-Monopolisten (die Deutsche Telekom) kontrolliert. Damit die Wettbewerber den Zugang zum Anschluss des Kunden auf wirtschaftliche Weise realisieren können, sorgt die Regulierungsbehörde für eine angemessene Tarifierung der Vorleistungen des etablierten Betreibers. Daher ist die Entwicklung der TAL-Anmietungen durch Wettbewerber ein wichtiger Indikator für den Prozess der Liberalisierung.
- Viele technische Neuerungen, die in letzter Zeit an Bedeutung gewonnen haben, sind im Rahmen dieser Tabelle nicht berücksichtigt worden, so. z.B. die Verbreitung der Internet-Anschlüsse in den Haushalten oder die Internet-Telefonie. Der Grund liegt darin, dass die Reihen oft erst mit Ende der 1990er Jahre oder später beginnen, wie man dies auch am Beispiel der TAL-Anmietungen sehen kann, für die erst mit dem Jahr 1998 der erste Wert erhoben wurde. Zum andern wurde versucht, soweit wie möglich, eine gewisse Vergleichbarkeit zu den Jahren vor 1990 beizubehalten. Für die Telefonanschlüsse bedeutet dies, dass für Deutschland ab 1990 die Sprechstellen, gezählt als Anzahl der Kanäle für alle Anbieter und für die Telekom AG im besonderen ausgewiesen werden. Nach 2007 ergibt sich ein Bruch in diesen Reihen, da ab 2008 nur noch die Sprechstellen, gezählt als Anschlüsse, ausgewiesen werden, womit sich die ausgewiesenen Zahlen verringern (ein Anschluss kann mehrere Kanäle bereitstellen).
- Für die 'Übermittelten Telegramme' sind aus den uns vorliegenden Quellen keine Werte zu entnehmen.
GESIS
In: Politische Studien: Magazin für Politik und Gesellschaft, Band 61, Heft 430, S. 64-74
ISSN: 0032-3462
World Affairs Online
25 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind aus einem unitären Hochschulsystem 15 einzigartige nationale Systeme hervorgegangen. Deren Entwicklung wurde von je eigenen ökonomischen, kulturellen und politischen Kräften beeinflusst und geprägt, sowohl nationalen wie internationalen Ursprungs (Johnstone and Bain 2002). Die vorliegende Doktorarbeit untersucht die Veränderungen der Governance von Hochschulsystemen der drei postsowjetischen Staaten Russland, Kasachstan und Moldau über den Zeitraum von 1991 bis 2015, analysiert, zu welchem Grad diese Entwicklungen einem Prozess der Konvergenz hin zu einem "globalen Modell" oder einem "postsowjetischen Modell" folgen und formuliert Hypothesen über die treibenden Kräfte und Pfadabhängigkeiten, welche auf nationalem, regionalen und globaler Ebene diese Entwicklungen befördert, gehemmt oder auf idiosynkratische Art und Weise geprägt haben. Die Ergebnisse zeigen, dass global propagierte Governanceinstrumente – wie z.B. Globalbudgets, erweiterte Befugnisse der Hochschulleitung, externe Qualitätssicherung, Stakeholdergovernancegremien – in allen drei untersuchten Ländern Verbreitung finden und ein Prozess der Konvergenz hin zu einem "global Modell" der Hochschulgovernance stattfindet. Gleichzeitig zeigen die Ergebnisse, dass die spezifischen Eigenarten der nationalen Governancearrangements durch die Einführung dieser neuen Instrumente in der Regel nicht ersetzt werden und dem Bestehenden stattdessen als zusätzliche Ebenen hinzugefügt werden. Wo die Logiken der neuen mit den alten Strukturen kollidieren, zeigt sich, dass sich die tradierten Strukturen und Prozesse in der Regel durchsetzen. Zudem zeigt sich, dass die Governancearrangements der drei untersuchten Länder eine große Zahl spezieller Eigenschaften teilen, durch die sie sich systematisch von jenem propagierten globalen Modell abheben. Jenes "Postsowjetische Modell" der Hochschulgovernance zeichnet sich durch dominante Rolle des Staates, Hierarchie als primäre und legitime Form der Governance sowie einen geringen Grad an Vertrauen zwischen den zentralen Akteuren des Hochschulsystems aus. Zuletzt illustriert die Dissertation die Divergenzen und Besonderheiten der Governancemodelle in Russland, Kasachstan und Moldau. Die vorliegende Dissertation leistet somit einen Beitrag zum Verständnis der Entwicklung der Governance der Hochschulsysteme in einer sich dynamisch entwickelten Weltregion, welche in der akademischen Literatur bislang nur wenig Aufmerksamkeit erhalten hat.:Table of Contents Table of Figures . 5 Preliminary remarks and acknowledgements . 6 Glossary . 8 1 Abstract . 11 2 Introduction . 13 2.1 Research Topic . 13 2.2 Starting point and personal research interest . 14 2.3 Research approach . 15 2.4 Relevance to research and practice . 16 2.5 Structure . 16 3 Steps towards a framework of analysis . 17 3.1 The Governance of Higher Education Systems . 17 3.1.1 Higher Education systems . 17 3.1.2 Governance in higher education . 23 3.1.3 Summary: Making sense of higher education governance . 32 3.2 The changing governance of higher education systems . 33 3.2.1 Conceptualizing forces of change in the governance of higher education systems: The 'Glonacal' agency heuristic . 33 3.2.2 Global trends and the emergence of a "global model" of higher education governance36 3.2.3 Instruments of Governance of Higher Education Systems . 49 3.2.4 Conclusion: A global model of HE governance? . 66 3.3 State of research on the governance of higher education in post-Soviet countries . 67 3.3.1 European Integration in the post-Soviet space . 70 4 Framework of Analysis and Research Design . 73 4.1 Research Questions and Scope of Analysis . 73 4.2 Research Methodology, Case Study Design, and Data Collection . 74 4.2.1 Case Studies and data collection . 74 4.2.2 Comparing the governance of higher education systems and assessing convergence . 77 4.2.3 Discussion of validity and reliability of the chosen case study design . 78 4.3 Limitations of the study . 79 5 The Point of Departure: The Soviet Union . 80 5.1 Introduction - Key features of the Soviet Higher Education system . 80 5.2 Structure of the HE system . 83 5.3 The governance of higher education in the Soviet Union . 85 5.3.1 Actors and their capabilities . 85 5.3.2 Educational Standards and Quality Assurance . 86 page 3 5.3.3 Regulation of admission into higher education . 88 5.3.4 Institutional governance, decision-making and institutional autonomy . 89 5.3.5 Financing of HEIs. 90 5.4 The HE Reforms of 1987 . 91 5.5 The break-up and transition of the Soviet higher education system . 94 6 The Russian Federation . 99 6.1 Introduction . 99 6.2 The development of the governance of the higher education system in Russia . 99 6.2.1 De-regulation and marketization of higher education (1991-2000) . 100 6.2.2 Renaissance of state control, internationalization and renewed investment into higher education (2000-2004) . 105 6.2.3 Asserting state control and promoting differentiation of the higher education system (2004-2012) . 110 6.2.4 Differentiated state steering (2012-2016) . 119 6.3 The governance model of the Russian HE system by 2015 . 128 7 The Republic of Kazakhstan . 134 7.1 Introduction . 134 7.2 The development of the governance of the higher education system in Kazakhstan . 135 7.2.1 Establishing statehood and institutions (1991-1999) . 136 7.2.2 Curbing corruption and saddling the market (1999-2004) . 139 7.2.3 Preparing to join the Bologna Space (2005-2010) . 146 7.2.4 Differentiation and expanding autonomy (2011-2017) . 153 7.3 The governance model of the Kazakh HE system by 2015 . 171 8 The Republic of Moldova . 173 8.1 Introduction . 173 8.2 The development of the governance of the higher education system in Moldova . 176 8.2.1 Experimentation and laisser-faire after independence (1991-1994) . 177 8.2.2 Attempts to establish impartial instruments to regulate quality (1994-2001) . 178 8.2.3 Re-Centralization of powers in the Ministry of Education (2001-2006) . 181 8.2.4 Creation of dysfunctional public structures (2006-2009) . 183 8.2.5 The long struggle for a new system of governance (2009-2015) . 184 8.3 The governance model of the Moldovan HE system by 2015 . 194 9 Cross-National Comparison of Developments and Discussion of Results . 197 9.1 How has the governance of higher education systems changed between 1991-2015? . 197 9.1.1 Common challenges and similar answers . 197 9.1.2 Diverging paths . 200 9.1.3 Two-track state steering system in Russia . 203 9.1.4 Marketization and expanding state-overseen stakeholder governance in Kazakhstan 205 page 4 9.1.5 Imitation of "European" institutions in Moldova . 207 9.2 Is there a convergence towards a "post-Soviet" or global model of governance of higher education systems? . 208 9.2.1 Quality Assurance . 208 9.2.2 Institutional Governance and University Autonomy . 210 9.2.3 Regulation of access . 211 9.2.4 Financing . 212 9.2.5 Conclusion: Is there a common model of governance? . 213 9.3 The interplay of national, regional and global factors on the development of the governance of higher education . 218 9.3.1 Global and European forces . 218 9.3.2 Regional forces . 224 9.3.3 National-level: Governments and Ministries responsible for higher education . 225 9.3.4 National-level: Stakeholder organizations. 232 9.3.5 National-level: Higher Education Institutions . 234 9.3.6 National-level: Institutional factors of path dependence . 235 10 Discussion and Outlook . 244 10.1 Concluding reflections on the contribution of this study to the field of research . 246 11 References . 247 12 Annexes . 269 12.1 Annex 1: Russia - The governance of the higher education system . 269 12.1.1 Russia: Structure of the higher education system . 269 12.1.2 Actors and their capabilities . 273 12.1.3 Instruments of higher education governance in Russia . 283 12.1.4 Competitive programs for investment and differentiation of higher education. 295 12.2 Annex 2: Kazakhstan – The governance of the higher education system . 299 12.2.1 Kazakhstan: Structure of the higher education system . 299 12.2.2 Actors and their capabilities . 302 12.2.3 Instruments of higher education governance in Kazakhstan . 310 12.3 Annex 3: Moldova – The governance of the higher education system . 322 12.3.1 Moldova: Structure of the higher education system . 322 12.3.2 Actors and their capabilities . 325 12.3.3 Instruments of higher education governance in Moldova . 328 12.4 Annex 4: The European "infrastructure" of quality assurance . 336 ; After 25 years of transformations of higher education systems in post-Soviet countries, the single Soviet model of higher education has evolved into fifteen unique national systems, shaped by economic, cul-tural, and political forces, both national and global (Johnstone and Bain 2002). International agencies such as the World Bank and the OECD have lobbied for a set of policies associated with the Washington Consensus (Neave, G. R. & van Vught, 1991). The Bologna Process has created isomorphic pressures, supported by EU policies and funding. Many post-Soviet States have responded to these influences, albeit with different motivations and unclear outcomes (Tomusk, 2011). Comparative research on these developments, however, is scarce and has primarily discussed them in terms of decentralization, mar-ketization and institutional autonomy (Heyneman 2010; Silova, 2011). This PhD thesis aims to 1) reconstruct the developments of governance of higher education systems, 2) analyze to what degree the developments represent a convergence towards a "global model" or a "Post-Soviet model" and 3) formulate hypotheses about driving forces and path dependencies at national, regional and global level which have driven or impeded these changes. Following work by Becher & Kogan (1992), Clark (1983), Jongbloed (2003), Paradeise (2009); Hood (2004); Dill (2010) and Dobbins et al. (2011), the research analyzes the object of analysis, the govern-ance of higher education systems, on five dimensions: 1. Educational Standards, quality assessment, and information provision; 2. Regulation of admissions to higher education; 3. Institutional structures, decision-making, and autonomy; 4. Higher education financing and incentive structures; and 5. The relationship of higher education and the state. Explanatory approaches draw upon perspectives of path dependence and models of institutional change drawing on work by North (1990), Steinmo (1992), Weick (1976), Pierson (2000) and Witte (2006). Three post-Soviet, non-EU, Bologna signatory states were selected to represent a diverse geographical sub-sample of the 15 post-Soviet States. The three countries studied in-depth are Russia, Moldova and Kazakhstan. The period of analysis comprises the changes taking place over a 25-year period between 1991 and 2015. Methodologically, the study rests on extensive literature analysis of previous academic publications, reports by international organizations such as the World Bank, OECD, and the EU, and national strategy papers. Building on this document analysis, over 60 semi-structured expert interviews were conducted with representatives of State organizations, HEIs and other stakeholder groups engaged in the govern-ance of higher education. The outcomes of interviews were used to situate developments in the particular page 12 social-political and societal contexts and to triangulate policy documents with various stakeholder per-spectives, in order to reconstruct how and why specific policy changes came about, were implemented or abandoned. The results show a differentiated picture: The governance instruments promoted by OECD, WB and EU are clearly recognizable in the 2015 governance arrangements in all three case countries. On this instru-ments-level "surface", a process of convergence towards the "global model" is clearly taking place. While these new instruments are being adopted, however, the specific national governance arrangements persist and continue to matter. Only in isolated instances are old instruments fully displaced. More com-monly, new structures are added as additional layers to existing governance arrangements. The three countries continue to share a number of unique characteristics which sets them apart from the Anglo-Saxon higher education systems, which have inspired the "global model". The dominating con-trolling role of the state has remained in place in all countries. This is strongly reinforced by national-level institutions and mental models which affirm hierarchy as the legitimate principle in governance and a lack of trust between actors in the system. In all case countries, the mutual expectation of state and HEIs alike remains that the state should be steering the higher education sector. This it does (Russia and Kazakhstan) or attempts to do (Moldova). Clearly, the adoption of governance instruments which are inspired by the "global model" does in no way equate with a retreat of the state. While the elements of university autonomy and stakeholder governance are slowly expanded, even this very process of loosening the reigns of the state is in great measure overseen and steered by the state. Shared character-istics, such as centralized control over admission; a state claim to steer and, in many cases, control the system; a hierarchical, authoritarian, personalized style of governance, management, leadership, as well as accountability form the discernable core of a common "post-Soviet" model of HE governance. The shared institutional past of the Soviet era, as well as common challenges, have facilitated and maintained these commonalities. As time passes, however, these post-Soviet commonalities are getting weaker. Divergent national-level forces and actors are driving or impeding reforms: While in Moldova, political volatility and underfund-ing have repeatedly undermined substantial reforms, Russia and Kazakhstan have each adopted govern-ance and management practices from New Public Management in new idiosyncratic ways: Kazakhstan has embarked on an authoritarian-driven decentralization program. Russia has created a two-tier system of state steering through financial incentivization and evaluation on the one hand, and tight oversight, control and intervention on the other. This dissertation sheds light on the developments, driving forces and mechanisms behind the convergence and divergence of approaches to higher education governance in an under-studied region of the world.:Table of Contents Table of Figures . 5 Preliminary remarks and acknowledgements . 6 Glossary . 8 1 Abstract . 11 2 Introduction . 13 2.1 Research Topic . 13 2.2 Starting point and personal research interest . 14 2.3 Research approach . 15 2.4 Relevance to research and practice . 16 2.5 Structure . 16 3 Steps towards a framework of analysis . 17 3.1 The Governance of Higher Education Systems . 17 3.1.1 Higher Education systems . 17 3.1.2 Governance in higher education . 23 3.1.3 Summary: Making sense of higher education governance . 32 3.2 The changing governance of higher education systems . 33 3.2.1 Conceptualizing forces of change in the governance of higher education systems: The 'Glonacal' agency heuristic . 33 3.2.2 Global trends and the emergence of a "global model" of higher education governance36 3.2.3 Instruments of Governance of Higher Education Systems . 49 3.2.4 Conclusion: A global model of HE governance? . 66 3.3 State of research on the governance of higher education in post-Soviet countries . 67 3.3.1 European Integration in the post-Soviet space . 70 4 Framework of Analysis and Research Design . 73 4.1 Research Questions and Scope of Analysis . 73 4.2 Research Methodology, Case Study Design, and Data Collection . 74 4.2.1 Case Studies and data collection . 74 4.2.2 Comparing the governance of higher education systems and assessing convergence . 77 4.2.3 Discussion of validity and reliability of the chosen case study design . 78 4.3 Limitations of the study . 79 5 The Point of Departure: The Soviet Union . 80 5.1 Introduction - Key features of the Soviet Higher Education system . 80 5.2 Structure of the HE system . 83 5.3 The governance of higher education in the Soviet Union . 85 5.3.1 Actors and their capabilities . 85 5.3.2 Educational Standards and Quality Assurance . 86 page 3 5.3.3 Regulation of admission into higher education . 88 5.3.4 Institutional governance, decision-making and institutional autonomy . 89 5.3.5 Financing of HEIs. 90 5.4 The HE Reforms of 1987 . 91 5.5 The break-up and transition of the Soviet higher education system . 94 6 The Russian Federation . 99 6.1 Introduction . 99 6.2 The development of the governance of the higher education system in Russia . 99 6.2.1 De-regulation and marketization of higher education (1991-2000) . 100 6.2.2 Renaissance of state control, internationalization and renewed investment into higher education (2000-2004) . 105 6.2.3 Asserting state control and promoting differentiation of the higher education system (2004-2012) . 110 6.2.4 Differentiated state steering (2012-2016) . 119 6.3 The governance model of the Russian HE system by 2015 . 128 7 The Republic of Kazakhstan . 134 7.1 Introduction . 134 7.2 The development of the governance of the higher education system in Kazakhstan . 135 7.2.1 Establishing statehood and institutions (1991-1999) . 136 7.2.2 Curbing corruption and saddling the market (1999-2004) . 139 7.2.3 Preparing to join the Bologna Space (2005-2010) . 146 7.2.4 Differentiation and expanding autonomy (2011-2017) . 153 7.3 The governance model of the Kazakh HE system by 2015 . 171 8 The Republic of Moldova . 173 8.1 Introduction . 173 8.2 The development of the governance of the higher education system in Moldova . 176 8.2.1 Experimentation and laisser-faire after independence (1991-1994) . 177 8.2.2 Attempts to establish impartial instruments to regulate quality (1994-2001) . 178 8.2.3 Re-Centralization of powers in the Ministry of Education (2001-2006) . 181 8.2.4 Creation of dysfunctional public structures (2006-2009) . 183 8.2.5 The long struggle for a new system of governance (2009-2015) . 184 8.3 The governance model of the Moldovan HE system by 2015 . 194 9 Cross-National Comparison of Developments and Discussion of Results . 197 9.1 How has the governance of higher education systems changed between 1991-2015? . 197 9.1.1 Common challenges and similar answers . 197 9.1.2 Diverging paths . 200 9.1.3 Two-track state steering system in Russia . 203 9.1.4 Marketization and expanding state-overseen stakeholder governance in Kazakhstan 205 page 4 9.1.5 Imitation of "European" institutions in Moldova . 207 9.2 Is there a convergence towards a "post-Soviet" or global model of governance of higher education systems? . 208 9.2.1 Quality Assurance . 208 9.2.2 Institutional Governance and University Autonomy . 210 9.2.3 Regulation of access . 211 9.2.4 Financing . 212 9.2.5 Conclusion: Is there a common model of governance? . 213 9.3 The interplay of national, regional and global factors on the development of the governance of higher education . 218 9.3.1 Global and European forces . 218 9.3.2 Regional forces . 224 9.3.3 National-level: Governments and Ministries responsible for higher education . 225 9.3.4 National-level: Stakeholder organizations. 232 9.3.5 National-level: Higher Education Institutions . 234 9.3.6 National-level: Institutional factors of path dependence . 235 10 Discussion and Outlook . 244 10.1 Concluding reflections on the contribution of this study to the field of research . 246 11 References . 247 12 Annexes . 269 12.1 Annex 1: Russia - The governance of the higher education system . 269 12.1.1 Russia: Structure of the higher education system . 269 12.1.2 Actors and their capabilities . 273 12.1.3 Instruments of higher education governance in Russia . 283 12.1.4 Competitive programs for investment and differentiation of higher education. 295 12.2 Annex 2: Kazakhstan – The governance of the higher education system . 299 12.2.1 Kazakhstan: Structure of the higher education system . 299 12.2.2 Actors and their capabilities . 302 12.2.3 Instruments of higher education governance in Kazakhstan . 310 12.3 Annex 3: Moldova – The governance of the higher education system . 322 12.3.1 Moldova: Structure of the higher education system . 322 12.3.2 Actors and their capabilities . 325 12.3.3 Instruments of higher education governance in Moldova . 328 12.4 Annex 4: The European "infrastructure" of quality assurance . 336
BASE
Kumulative Sammlung aktueller Verträge aus dem Bereich Abrüstung, Rüstungsbeschränkung und -kontrolle sowie internationaler humanitärer Vereinbarungen, mit Angaben über die Verhandlungen, Vertrags- und Signaturstaaten und einem Kurzkommentar über die militärpolitische Bedeutung. Ausgangspunkt jedes Bandes sind die oben angeführten Verträge sowie die zeitlich vorangehenden Dokumente in Englisch und deutscher Übersetzung. Diesen schließen sich in chronologischer Anordnung Nachfolgeverträge und -vereinbarungen bis zum angegebenen Stichtag an. Zwei Inhaltsverzeichnisse, deutsch und englisch und eine chronologische Übersicht der Texte erleichtern das Auffinden der gesuchten Dokumente. (SWP-Rtr)
World Affairs Online
In: https://freidok.uni-freiburg.de/data/9293
Für die Wirtschaft von Vietnam ist die Ausfuhr von Holzprodukten mit 3,8% des Bruttosozialprodukts ein wichtiger Bestandteil (Nguyen, 2011). Im Jahr 2010 benötigte die holzverarbeitende Industrie von Vietnam 6,4 Mio. m³ Rundholzäquivalente, von denen nur 1,6 Mio. m³ (25%) aus heimischen Wäldern stammte (To and Canby, 2011). Die restlichen 4,8 Mio. m³ (75%) wurden aus anderen Ländern eingeführt (Nguyen, 2009). Es ist Ziel der vietnamesischen Regierung, dass in Zukunft 80% des Rohholzverbrauchs der heimischen Holzindustrie aus den Wäldern (Naturwäldern und Plantagen) des Landes geliefert werden. Bis heute sind lediglich 1% der vietnamesischen für die Holzproduktion bestimmten Wälder (insgesamt mehr als 2,4 Mio. ha) in Bezug auf ihre Nachhaltigkeit zertifiziert, dieser Anteil soll bis 2020 auf 30% ansteigen. Um die genannten Ziele zu erreichen, ist es entscheidend, die Holzbereitstellungsketten in Vietnam weiterzuentwickeln. Die angestrebte Erhöhung der nationalen Holzversorgung wird dabei auch deutliche Änderungen im Bereich der Holzbereitstellung nach sich ziehen, und zwar sowohl bei der Nutzung von Naturwäldern als auch bei der Bewirtschaftung von Plantagenwäldern. Es ist sowohl aus nationaler Sicht wie auch im Hinblick auf die internationale Konkurrenzfähigkeit des Forst-Holz-Sektors von Vietnam entscheidend, dass diese Veränderungen so gestaltet werden, dass auch zukünftig eine nachhaltige Holzbereitstellung gewährleistet ist. Aus verschiedenen Gründen, wie z.B. niedrige Arbeitskosten, großes Angebot von Arbeitskräften gerade im ländlichen Raum, geringe Verfügbarkeit von Investitionskapital und auch wegen der kleinen und zerstreut liegenden Nutzungsflächen, bedient sich die Holzernte und –bereitstellung in Vietnam heute weit überwiegend traditioneller und handarbeits-intensiver Methoden. Parallel mit der geplanten höheren Nutzung werden zwangsläufig auch höher mechanisierte Systeme eingesetzt werden. Diesen Übergang zu begleiten und seine Konsequenzen für die Nachhaltigkeit abzuschätzen ist Oberziel der vorliegenden Arbeit. Unter Anwendung des Konzepts des Sustainability Impact Assessment (SIA), welches die drei Aspekte der Nachhaltigkeit (Wirtschaft, Ökologie, Gesellschaft) umfasst, soll das Nachhaltigkeitsprofil verschiedener Holzbereitstellungsketten in einem Fallstudien-basierten Ansatz dargestellt und analysiert werden. Dabei werden exemplarisch die folgenden Nachhaltigkeitsindikatoren herangezogen: Ausnutzungsgrad des Rundholzes, Arbeitsproduktivität, Bereitstellungskosten, Beschäftigungseffekte, Lohnhöhe, Unfallhäufigkeit, Emission von klimaschädlichen Gasen, Entstehung von gesundheitsschädlichem und nicht-gesundheitsschädlichem Abfall, sowie Schäden am Waldboden. Vier Fallstudien wurden dabei ausgewählt, um die Verhältnisse für typische Nutzungsverhältnisse in Vietnam exemplarisch darzustellen: Selektive Nutzung von natürlichen (Regen-) Wäldern in eher flachem und in steilem Gelände sowie Eukalyptusplantagen, die im Kurzumtrieb und mit Kahlschlagmethoden geerntet werden, ebenfalls in gemäßigtem und imsteilem Gelände. Die analysierten Bereitstellungsketten begannen im Wald mit der Vorbereitung der jeweiligen Nutzungsbestände und umfassten alle folgenden Schritte und Prozesse der Holzbereitstellung und des Holztransports bis hin zur Holzindustrie. In den verschiedenen Fallstudien kamen sowohl traditionelle Technologien (Handarbeit, Zugtiere) wie auch teilmechanisierte Systeme (Motorsäge, Traktoren, Forwarder, Lastwagen) zum Einsatz. Die Datenermittlung erfolgte durch ausgedehnte eigene Zeitstudien aller Prozesse vor Ort, ergänzt durch Befragungen von Führungskräften und Mitarbeitern und unter Verwendung einschlägiger Statistiken, Literaturangaben und Datenbanken. Die beiden Fallstudien zur selektiven Nutzung von Naturwäldern im steilen Gelände (FWSC1) sowie im gemäßigten Gelände (FWSC2) zeigen, dass es deutliche Unterschiede hinsichtlich der Nachhaltigkeitswirkungen zwischen den beiden Bereitstellungsketten gibt, die durch die unterschiedlichen angewendeten Holzernte- und –bereitstellungsmethoden verursacht werden. In FWSC1 werden direkt nach der Fällung die Stämme vor Ort im Wald mit der Motorsäge in Bohlen (Volumen 0,20 – 0,35 m³) zerlegt, um diese danach mit Hilfe von Büffeln aus dem Wald heraus zu transportieren. In FWSC2 wurde nach dem Fällen mit der Motorsäge mit einem Kettenfahrzeug mit Seilwinde das Rundholz zur Fahrstraße geschleift. Nach dem Transport mit Lastwagen wurden die Sägeholzblöcke dann im Sägewerk zu Brettern verarbeitet. Die Rundholzausnutzung war bei diesem zweiten Prozess dabei mit 66,6% des Volumens des geernteten Baumes um 27,2%-Punkte höher als bei der ersten Methode, wo die Bohlen bereits im Wald mit Motorsägen zugerichtet wurden. Bei beiden Holzernteverfahren blieb eine relativ große Menge an Gipfelholz, Ästen und (bei FWSC1) Sägeresten ungenutzt im Bestand liegen. In Bezug auf die Produktivität wurden in FWSC1 88,6% des Zeitverbrauchs für Motorsägen-Arbeit auf das Zuschneiden von Bohlen im Wald verwendet, so dass sich insgesamt eine sehr niedrige Produktivität für die Motorsägen-Arbeit von 0,25m³ je Stunden ergab. Auch die Produktivität beim Herausziehen des Holzes mit Büffeln war mit 0,12m³ je Stunde gering. Im Gegensatz dazu war bei dem höhermechanisierten Verfahren sowohl die Motorsägen-Produktivität mit 11m³ je Stunde wie auch die Produktivität der Traktor-Rückung mit 6,7m³ je Stunde deutlich höher. Dies wirkt sich auch auf die Bereitstellungskosten aus: Während diese im FWSC1 bei 50,40 € je m³ Sägeholz lagen, betrug der Kostensatz einschließlich der Sägeholzherstellung im Sägewerk bei FWSC2 nur 34,90 € je m³. In Bezug auf die Umweltaspekte zeigt sich, dass das geringer mechanisierte Verfahren niedrigere Mengen an klimaschädlichen Gasen (7,83 kg CO2-Äquivalente je m³ Sägeholz) frei werden, während bei FWSC2 22,68 kg CO2-Äquivalente je m³ freigesetzt werden. Auch der Waldboden war bei der mechanisierten Methode mit 12,8% etwas stärker in Anspruch genommen als bei der Holzbereitstellung mit Büffeln (10,7%). Insbesondere ist aber ein starker Schädigungsgrad des Bodens mit 6,2% bei mechanisierten Verfahren fast doppelt so hoch wie bei dem Einsatz von Büffeln (3,45%). Diese Ergebnisse decken sich mit Werten aus der Literatur, die allerdings auch darauf hinweisen, dass eine sorgfältig geplante Holzerntemaßnahme (Reduced Impact Logging – RIL) ebenfalls zu niedrigeren Schadwerten zwischen 4 und 5% der Fläche führen kann. Für die Holzbereitstellungsketten in Eukalyptus-Kurzumtriebs-Plantagen (FWSC3 – Steilgelände und FWSC 4 – mäßig geneigtes Gelände) sind die Voraussetzungen für die Holzbereitstellung und den Holztransport günstiger als in den beiden untersuchten Fällen der Naturwaldnutzung. Die Ergebnisse zeigen, dass die Rundholzausnutzungsrate mit 79,8% in FWSC3 bzw. 68,9% in FWSC4 relativ hoch ist. Die meisten bei der Aufarbeitung zurückbleibenden Stammteile und Äste wurden im Nachgang von den Waldarbeitern als Feuerholz gesammelt trotz des geringen Durchmessers der gefällten Bäume. Die Geländeneigung hatte nur einen geringen Effekt auf die Produktivität der Motorsägen. Sie betrug 1,95 m³ je Stunde für Fällen und Ablängen in FWSC3 während die Produktivität im gemäßigten Gelände mit 2,11 m³ je Stunde etwas höher lag. Hier wurde das Einschneiden der Stämme nach Langholzrückung erst am Wegrand vorgenommen. Erstaunlicherweise waren die Unterschiede in der Produktivität beim Vorliefern und Rücken des Holzes an die Waldstraße in beiden Fällen nur gering: Sie betrug 0,26 m³ je Stunde in FWSC3, wo im steilen Gelände die bereits zugeschnittenen Rundholzstücke per Hand zum Wegrand gerollt wurden; und 0,33 m³ je Stunde in FWSC4, wo im flachen Gelände Büffel für das Holzrücken eingesetzt wurden. Entsprechend zeigen die Bereitstellungskosten in beiden Holzbereitstellungsketten relativ geringe Unterschiede: Bis zum Verbraucher (Papierfabrik) betrugen die Kosten in FWSC3 10,36 € je m³, während sie in FWSC4 mit 11,7 € je m³ nur wenig höher lagen. Deutliche Unterschiede gab es indessen bei den frei werdenden klimaschädlichen Gasen: In FWSC3 betrug dieser Wert 7,35 kg CO2-Äquivalente je m³ Rundholz, während er in FWSC4 beim Einsatz von Tieren bei nur 2,94 kg CO2-Äquivalente je m³ lag. Entscheidend war hierbei, dass bei FWSC3 das Laden und Entladen des Holzes mit Kran bzw. Lader mechanisiert erfolgte, während das Be- und Entladen in FWSC4 von Hand bewältigt wurde. Die Bodenschäden lagen bei der Plantagennutzung im Kahlschlagbetrieb deutlich höher als zuvor bei der selektiven Nutzung im Naturwald: Beim Fällen und Vorliefern von Hand (FWSC3) war die beschädigte Bodenfläche mit 34,7% nochmals höher als beim Einsatz von Büffeln in FWSC4 mit 22,7% der Fläche. Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen, dass ein möglicherweise zukünftig höherer Grad der (Teil-) Mechanisierung mit positiven Nachhaltigkeitseffekten in Hinblick auf Rohholzausnutzung, Produktivität und Bereitstellungskosten einhergehen dürfte. In Hinblick auf die sozialen Aspekte sind die Ergebnisse weniger eindeutig: Einerseits ist eine deutlich verminderte Schwere der körperlichen Arbeit und auch eine geringere Unfallneigung zu erwarten. Zum anderen gehen jedoch auch Arbeitsplätze durch Mechanisierung verloren. Wie die Literaturangaben zeigen, könnte dieser Effekt jedoch zum Teil kompensiert werden durch die geplante Erhöhung der Nutzung einerseits und durch Arbeitsplätze, die im nachgelagerten Bereich z.B. bei der Wartung und Instandhaltung von Maschinen entstehen werden. In Bezug auf die Umweltwirkungen Emission klimaschädlicher Gase sowie Störungen des Waldbodens werden höhermechanisierte Methoden in der Tendenz ebenfalls zu höheren Belastungen führen. Diese können z.T. durch bessere Planung und Überwachung (RIL) begrenzt oder sogar kompensiert werden, wie entsprechende Literaturangaben zeigen. Die Möglichkeiten und Effekte einer höheren Mechanisierung wurden am Beispiel der Holzbereitstellungskette von Zellstoffholz aus Plantagen unter günstigen Geländebedingungen (FWSC4) im Sinne einer Variantenstudie detailliert analysiert: Das Ergebnis zeigt, dass unter den gegebenen Geländeverhältnissen das Vorliefern und Rücken von Holz mit Büffeln so wie das besonders anstrengende händische Beladen und Entladen von Holz auf die Transportfahrzeuge durch eine einfache "Traktor-Trailer-Kran" Kombination mechanisiert werden könnte. Ein landwirtschaftlicher Traktor der Stärkeklasse 60 kp mit einem Rundholzanhänger, auf dem ein hydraulischer Kran montiert ist, könnte auch unter den gegebenen für eine Nutzung ungünstigen strukturellen Bedingungen der Eukalyptusplantagen (geringe Stückmasse des Plantagenholzes und kleine Schlagflächen) eingesetzt werden. Die Investitionssumme würde für Vietnam 34.100,-- € betragen. Dies würde zu Bereitstellungskosten von 14,81 € je m³ Rundholz frei Werk führen (wobei die LKW nicht wie derzeit überladen sind). Dieser Kostensatz wäre 15,3 niedriger als die hier untersuchte Methode unter Einsatz von Handarbeit und Zugtieren. In Bezug auf die sozialen Aspekte würde die Einführung eines entsprechend mechanisierten Traktor-Trailer-Kran-Systems den Beschäftigungseffekt von 13,9 Stunden je m³ auf 4,26 Stunden je m³ mehr als halbieren, während andererseits die Löhne von derzeit 3,37 bis 4,29 € je Schicht auf 7,14 bis 17,85 € je Schicht erhöht wurden. Die höhere Mechanisierung würde ein besseres Training der Mitarbeiter erfordern, aber gleichzeitig geringere Risiken für Unfälle und eine verbesserte Ergonomie bedeuten. In Bezug auf die Umweltwirkung würde der Übergang auf das höher mechanisierte System zu einem etwas höheren Ausstoß von klimaschädlichen Gasen (10,18 kg CO2-Äquivalente je m³ Rundholz gegenüber 7,2 kg CO2-Äquivalente je m³ Rundholz in der derzeitigen Arbeitsweise führen. Der durch den Traktoreinsatz beeinträchtigte Anteil des Waldbodens würde sich je nach Arbeitsorganisation ggf. noch erhöhen. Er könnte aber auch abgesenkt werden, auch wenn eine klare Arbeitsorganisation und Überwachung der Maschinenbewegungen auf der Fläche als Standard eingeführt würde. Um den für Vietnam zu erwartenden Übergang auf eine höhere Mechanisierungsstufe auf breiter Fläche zu begleiten, sollte ein nationales Projekt angestoßen werden, zu dem auch systematische Aus- und Fortbildung der im Wald tätigen Arbeiter sowohl im Hinblick auf Arbeitsverfahren wie auch auf Sicherheit und Ergonomie gehören sollte. Auch wäre es günstig, größere Nutzungseinheiten festzulegen, um die Vorteile einer höheren Mechanisierung voll nutzen zu können. Schließlich wäre die Vergabe von Investitionshilfen und Steuer- sowie Importzollsenkungen zu erwägen, um den Akteuren die Anschaffung leistungsfähiger und zugleich schonender Forsttechnik zu erleichtern. Insgesamt zeigen die Ergebnisse Wege und Möglichkeiten auf, wie in Vietnam dem laufenden Trend zu mehr Nachhaltigkeit im Forstsektor entsprochen werden kann. Dies ist auch eine notwendige Vorbereitung zu der angestrebten Ausweitung der Nachhaltikeitszertifizierung nach den verschiedenen Konzepten (FSC, PEFC usw.). Auch zur Erfüllung der Erwartung von Importländern, dass die eingeführten Holzprodukte hohen sozialen und Umweltstandards genügen, ist es notwendig, dass die Wälder in Vietnam nachhaltiger als bisher bewirtschaftet und entsprechend zertifiziert werden. Hierbei ist insbesondere die Art und Weise der Holzbereitstellung und der Gestaltung der Holzernteketten zwischen Forst- und Holzindustrie entscheidend. Die Durchführung von systematischen Sustainability Impact Assessments (SIA) ist wie in dieser Arbeit gezeigt, ein geeigneter und strukturierter quantitativerAnsatz, um das Nachhaltigkeitsprofil und insbesondere die Schwachstellen der derzeitigen Praktiken aufzuzeigen und Hinweise in Richtung auf eine verbesserte Nachhaltigkeit zu geben. ; Timber related export revenues are an important component in GDP of Vietnam with 3.8% in 2010 (Nguyen, 2011). In 2010, a total of 13.1 million m3 roundwood equivalent was needed for Vietnam's wood processing industry of which only 6.48 million m3 (49.5%) was supplied by domestic forests, the remaining 6.62 million m3 (50.5%) was imported from other countries (Nguyen, 2009; To and Canby, 2011). The target of Vietnamese government by 2020 is that 80% of raw wood material that is processed domestically will be harvested from the country's plantations and natural forests and 30% of production forests (more than 2.4 million ha) will be certified from less than 1% at present. In order to reach these goals, the sector of the domestic forest wood supply chain in Vietnam will play an increasingly important role and will be paid more attention. The envisaged growth of the national wood supply will lead to substantial and significant changes in the forest-wood supply chain (FWSC) in terms of the utilization of natural forests and of plantation forest management. To monitor and shape these changes in a way that supports the sustainability of wood supply is crucial both from the national perspective and for the international competitiveness of the forest wood sector of Vietnam. At present, due to reasons such as low labour costs, employees availability, low available investment capital as well as small areas and the scattered distribution of single harvesting units, the current wood supply in Vietnam is mainly carried out by labour-intensive methods, but parallel to the planned increase in the utilization rate, more mechanized supply chain systems are likely to be introduced. To monitor and assess the options and consequences of this change is the underlying objective of this study. Using the concept of a sustainability impact assessment, taking into account the three aspects of sustainability (economy, ecology and society) the sustainability profile of different forest wood supply chains was analyzed on a case study basis. The following sustainability indicators were addressed: wood utilization rate, labor productivity, production cost, employment, wage level, rate of accidents, green house gas emissions, hazardous and non-hazardous waste and disturbed forest floor area disturbed. Four case studies were selected to represent and assess typical forest wood supply chains in Vietnam: Selective harvesting of natural (rain) forests on moderate and on steep terrain, Eucalyptus plantation forests harvested in a clear-cut method after short rotation, also on moderate and on steep terrain. The analyzed production chains started in the forest with preparing the stand and included all subsequent steps of wood procurement and transport, ending at the mill gate the of wood industries. Traditional technologies (manual labor, buffaloes) as well as partly mechanized systems (chainsaws, tractors, forwarders, trucks) were employed. Data collection was carried out in the field by extensive time studies of all processes, inquiries to managers and workers, and the use of statistics, literature and data banks. The two cases of selective harvesting of natural forests FWSC1 (steep terrain) and FWSC2 (moderate terrain) show that there was a significant difference of sustainability impacts between the two chains mainly due to the various operation methods applied in the logging and transport processes for each chain. In FWSC1 after felling, the logs were sawn into sawnwood by chainsaws directly in the forest at stump side with only 35.6% of the standing tree volume utilized. The boards 0.20-0.35 m3sw per board were extracted by buffaloes from the forest. In FWSC2, a tractor was used for roundwood skidding and following truck transport, the logs were sawn into boards at a local sawmill. The sawlog utilization rate was 66.6% of the standing tree volume of which 45.3% was utilized as sawnwood (27.2% higher than FWSC1) and 21.3% were sawing residues produced at the sawmill. A large amount of the whole tops and branches from logging were left in forests in the both chains. In FWSC1, up to 88.6% of the time consumption of the chainsaws was spent on board sawing, which resulted in a relatively low productivity of chainsaws with only 0.25 m3sw/PMacH for the activities from felling to the board sawing while a productivity of 0.12 m3sw/PAniH was measured for buffalo skidding. On the contrary, in FWSC2 the productivity of felling and delimbing at stump areas by chainsaw was rather high with 11.0 m3sw/PMacH, and a productivity of 6.7 m3rw/PMacH for the roundwood skidding by tractor TDT55 was measured. The resulting, production costs calculated for all the processes in FWSC1 were 50.40 €/m3sw, which was 44.4% higher than in FWSC2 with only 34.90 €/m3sw calculated for the processes until sawing board at the sawmill. However, regarding environmental aspects, FWSC1 with lower mechanization emitted lower GHG with 7.83 kgCO2eq/m3sw calculated to the sawmill, while in FWSC2, GHG emissions were much higher with 22.68 kgCO2eq/m3sw calculated including the board sawing operation at the sawmill. Also, the total disturbed area caused by the logging operations was almost the same in the two chains with 10.7% in FWSC1 and 12.8%. FWSC2 with a higher logging intensity and a higher level of mechanization caused 6.21% of heavy disturbed area while this was only 3.45% in FWSC1. The disturbed area of forest soil in FWSC2 is in the range of 10-25%, which is also reported for other conventional selective logging cases (FAO, 1989; Hendrison, 1989; Verissimo et al., 1992) but much larger than the disturbed area of only 3.8% and 4.5% caused by cases where the Reduced Impact Logging method (RIL) applied (FAO, 1997; Marsh et al., 1996). For the plantation chains FWSC3 (steep terrain) and FWSC4 (moderate terrain), which both applied th clear-cut method, the conditions for log skidding and transport were more favorable than in the two natural forest cases. The study results show that the roundwood utilization rate in plantations was relatively high with 79.8% in FWSC3 and 68.9% in FWSC4. Most of the tops and branches from logging were collected for firewood use although the DBH of the felled trees was much smaller than in the natural forest cases. The terrain slope had only a small effect on chainsaw productivity. The productivity in felling and bucking in FWSC3 with the steep terrain was 1.95 m3rw/PMacH while it was somewhat higher with 2.11 m3rw/PMacH in FWSC4 with the moderate terrain. Similarly, there were also small difference in skidding productivity between the two study cases with 0.26 m3rw/PManH in FWSC3 using manpower to roll logs on the steep terrain and 0.33 m3rw/PAniH in FWSC4, where buffaloes were used for skidding. The production costs of the two plantation chains varied with 10.36 €/m3rw calculated to the paper mill in FWSC3, where loading and unloading were mechanized by forwarder, while it was higher in FWSC4 with 11.70 €/m3rw at the paper mill. Due to the partly mechanized loading method applied, the total GHG emissions in FWSC3 calculated to the paper mill were 7.25 kgCO2eq/m3rw, while by using a manual loading method, FWSC4 emitted only 2.94 kgCO2eq/m3rw calculated to the paper mill from the chainsaws and trucks. On forest soil, where the clear felling method was used, the plantation chains caused a larger disturbed area with 34.7% of the total logging area in FWSC3 and 22.7% in FWSC4 compared to the selective felling in the natural FWSC1 and FWSC2. The results of the study show that in order to improve FWSCs towards more sustainability, a higher level of mechanization with more suitable machines is the first and key proposal, while training in occupational safety, closer supervision and inspection of logging activities, as well as the improvement of operational harvesting planning are needed for all four case studies. In addition, the utilization of branches, tops and other residues is also strongly recommended in natural forest cases. An example of the potentials of higher mechanization was further analyzed in more detail for the pulpwood supply in FWSC4. The results of the analysis show that under the current conditions in Vietnam, buffalo skidding and manual loading and unloading in FWSC4 could be replaced by a tractor-trailer crane system. A tractor of 60 hp plus a trailer equipped with a grapple is recommended for unfavourable forest conditions, such as the small DBH of trees and the small area of the harvesting unit in FWSC4. The total investment for the tractor and trailer crane would be less than 34,100 €, which would result in a total cost of the FWSC to the paper mill of about 14.81 €/m3rw without overloading in transport, which is 15.3% lower than with the current method. Considering social aspects, the introduction of a tractor-trailer system would reduce the employment rate from 13.90 hours/m3rw to 4.26 hours/m3rw, while increasing the wage of employees in extraction, loading and unloading from 3.37-4.29 €/shift to 7.14-17.85 €/shift in current FWSC4. There are a number of studies such as Ahmedabad (1975) and Sindhu and Grewal (1991) that have reported mechanization did not lead to a reduction in human employment rate due to an expansion in production and demand for manufacturing, servicing, distribution, repair and maintenance as well as other complementary jobs which substantially increased due to mechanization. The actual policy of the Vietnamese government aims at increasing the plantation area substantially, and by this, new jobs could compensate the negative employment effects of mechanization. Higher mechanization would require better training in occupational accidents and ergonomics, and better protection for workers by the use of necessary safety protection equipment and improved working conditions. This would improve the current situation of occupational accidents and other health risks for the employees. With regard to environmental issues, the use of the tractor-trailer system would emit 10.18 kgCO2eq/m3rw of GHG instead of 7.25 kgCO2eq/m3rw in the current chain. On the other hand, there are a number of studies such as FAO (1998); Malmer and Grip (1989); Wang (2000) concluding that using tractors for log extraction causes a more heavily disturbed area compared to manual and animal skidding. However, a number of studies reported that the negative impacts of mechanization in logging and transport on the environment could be minimized to an acceptable level if the operational harvesting is fully and carefully planned and supervised Becker (1987) and Lewark (1990). In order to achieve a higher level of mechanization, a project of mechanization in timber harvesting and transport as well as training programs in occupational safety and ergonomics should be considered. Harvesting units with a large area should be created to be suitable for mechanization. In addition, suitable policies supporting financial investments in the mechanization of the logging and transport sector should be promulgated, including reduced import taxes for appropriate forest and agricultural machines. The results of the study show ways and means to address the current international trend in the forest-wood sector towards sustainable management through the grant of forest certificates (such as FSC, PEFC, etc). To fulfill the environmental and social responsibility requirements of exported wood products, domestic forests must be managed and utilized in a sustainable way and thus be certified with special attention to the wood supply chains from forest to wood industry (To and Canby, 2011). The comprehensive assessment and understanding of the sustainability impacts of forest-wood supply chains is necessary and can be considered as the first and basic step towards providing solutions to improve current forest-wood supply practices in Vietnam towards more sustainability.
BASE
Blog: Nachhaltigkeit, Postwachstumsgesellschaft und das gute Leben
Ohne eine günstige und üppige Energieversorgung, die an Verlässlichkeit nichts vermissen lässt, ist der Wohlstand unserer Gesellschaft undenkbar. Seit der Zeit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert ist die Frage der Energieversorgung zunehmend in den Mittelpunkt unserer ökonomischen Interessen gerückt. Damit wurde das Thema Energieversorgung auch zum Gegenstand der Politik. Seit dieser Zeit haben alle deutschen Regierungen sich mit Priorität darum bemüht, dass Energie in Deutschland in ausreichendem Maße zur Verfügung steht und für breite Schichten der Gesellschaft und für möglichst alle Industrieanwendungen zu einem akzeptablen Preis angeboten werden kann.Hat es sich dabei zu Beginn dieses Prozesses vor allem darum gedreht, wie man möglichst günstig und in großen Mengen an primäre Energieträger kam, vornehmlich Kohle, später Öl und Gas, so hat sich in den letzten zwanzig Jahren vieles in Deutschland verändert. Seit die Naturwissenschaften uns immer eindrucksvoller vor Augen führen, dass fossile Energieträger durch den Ausstoß von Treibhausgasen den Klimawandel herbeigeführt haben und in zunehmendem Maße verschärfen, ist der Menschheit und damit auch Deutschland in großem Stil daran gelegen, Energiequellen zu erschließen, die der Umwelt keinen Schaden zufügen, uns gleichzeitig aber nicht in die Vormoderne zurückfallen lassen.Eine breite gesellschaftliche Debatte ist seitdem entstanden, mit welchen Methoden man am besten dieses Ziel erreichen kann und welche sich eher nicht eignen, um dem Klimawandel zu begegnen und gleichzeitig den Industriestandort Deutschland nicht zu gefährden. Insbesondere die Partei Bündnis90/Die Grünen und die ihr nachgeordneten Lobbyorganisationen hatten einen entscheidenden politischen Einfluss auf die deutsche Gesellschaft und Politik, sodass in den letzten zwei Dekaden ein Transformationsprozess in Gang gesetzt wurde, der es sich zum Ziel setzt, die deutsche Volkswirtschaft mit sauberen und erneuerbaren Energien zu versorgen. Dieser Prozess, der gemeinhin als Energiewende bezeichnet wird, ist extrem vielgestaltig und umfasst einen radikalen und durchgehenden Umbau unserer Art, Energie zu erzeugen und zu nutzen, und ist ein international einmaliges und vielbeachtetes Projekt.Energiewende in Deutschland – Begriffsklärung "Der Wohlstand unserer Gesellschaft hängt von einer funktionierenden Energieversorgung ab. Ohne Strom, Wärme und Mobilität ist unser Alltag nicht mehr denkbar. Das Ziel der Energiewende ist es deshalb, eine sichere, wirtschaftliche und umweltverträgliche Energieversorgung zu realisieren. Die Erforschung von Technologien und gesellschaftlichen Konzepten zur nachhaltigen Energieerzeugung, -umwandlung und -verteilung stehen daher im Fokus dieses Projekts." (BMBF 2023)Die Energiewende beschreibt nach dieser Definition also einen umfassenden, aber auch notwendigen Umbau unserer Energieversorgung. Dieser Umbau ist notwendig, da beim Verbrennen von fossilen Energieträgern wie Kohle, Öl oder Gas Treibhausgase entstehen (vgl. BMBF, 2023), welche den Klimawandel verursachen und zunehmend verschärfen. Die Energiewende fußt im Grunde auf zwei Säulen. Erstens geht es um die Versorgung der deutschen Volkswirtschaft und der deutschen Bevölkerung durch Erzeugung und Speicherung von Energie (hauptsächlich Strom), der aus erneuerbaren Quellen stammen soll. Vor allem Wind- und Wasserkraft, aber auch Solarenergie stehen dabei im Vordergrund. So sollen die erneuerbaren Energien bis 2050 rund 60% unseres Bruttoendenergieverbrauchs und sogar 80% unseres Bruttostromverbrauchs decken. (vgl. BMBF, 2023)Da Sonne und Wind ohne Speichertechnik aber nicht grundlastfähig sind, also nicht kontinuierlich zur Verfügung stehen, muss Deutschland neue Technologien entwickeln, um überschüssigen Strom langfristig speichern zu können, um ihn dann in das Netz einzuspeisen, wenn er benötigt wird, oder in anderer Form in nutzbare Energie umzuwandeln und an anderer Stelle zu einem späteren Zeitpunkt zur Verstromung zu nutzen oder für andere Anwendungen. Solche Arten der Umwandlung sind vor allem Power-to-Gas, also die Umwandlung von elektrischem Strom in Wasserstoffgas. Dieses durch Elektrolyseverfahren gewonnene Gas kann entweder durch Brennstoffzellen verstromt werden oder in das Erdgasnetz eingespeist werden. (vgl. BMBF, 2023)"Ebenso denkbar ist die Umwandlung von überschüssigem Wind- oder Solarstrom in Wärme (Power-to-Heat), in flüssige Kraftstoffe (Power-to-Fuel) oder in Basischemikalien (Power-to-Chemicals)." (BMBF, 2023)Die Speicherung von überschüssigem Strom aus erneuerbaren Energien soll also vielerlei Gestalt annehmen. Zweitens ist es notwendig, den Energieverbrauch im großen Stil zu reduzieren, dazu soll bis 2050 rund 50% weniger Primärenergie verbraucht werden als 2008. Erreicht werden soll dies durch verschiedene Innovationen in unterschiedlichen Bereichen. Von effizienteren Motoren und Kraftwerken über Gebäudesanierungen bis hin zu Einsparungen bei Industrieprozessen. Ein weiterer Schritt ist die Nutzung der Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) bei der die entstandene Wärme aus der Stromgewinnung bei Industrieprozessen oder zum Heizen genutzt werden soll. (vgl. BMBF, 2023)Diese großflächige Speicherinfrastruktur befindet sich gerade erst im Aufbau und wird erst in der Zukunft eine große Rolle bei der Transformation weg von fossilen Energieträgern hin zu erneuerbaren Energien spielen. Ebenfalls Zukunftsmusik ist die notwendige Dezentralisierung unserer Energieversorgung. Große konventionelle Kraftwerke werden in Zukunft keine Rolle mehr bei der Energiegewinnung in Deutschland spielen, sondern ersetzt werden durch eine dezentrale Struktur mit zahlreichen kleinen Produktionsanlagen. Dafür müssen sich unsere Stromnetze massiv verändern hin zu intelligenten Stromnetzten, an denen alle relevanten Akteure wie Produzenten, Verteiler und Verbraucher beteiligt sein müssen (vgl. BMBF, 2023), wenn das Projekt gelingen soll.Die Energiewende beschreibt also einen massiven Transformationsprozess aller unserer Lebensbereiche, um unsere Gesellschaft und unsere Volkswirtschaft in eine nachhaltige Energieversorgung zu überführen, die auf erneuerbaren Energien fußen soll. Eine Form der erneuerbaren Energien hat hier bisher noch keine Erwähnung gefunden und ist in den Medien und der Forschung auch bei weitem nicht so stark präsent wie Wind- und Solarenergie, nämlich die Geothermie. Um diese Energieform soll es in diesem Beitrag gehen.Funktionsweise der Geothermie"99 % der Erde sind heißer als 1.000 °C – ein gewaltiges Energiepotenzial." (EnBW, 2023) Es ist nach diesem Zitat nicht verwunderlich, dass sich ausgerechnet ein Energiekonzern so sehr für eine erneuerbare Energiequelle einsetzt. Doch bevor man sich anschaut, welches Potenzial Geothermie für Deutschland hat, sollte man sich anschauen, wie diese Form der Energiegewinnung funktioniert, denn daraus leitet sich ab, ob und wo Geothermie genutzt werden kann."Geothermie bezeichnet die in der Erdkruste gespeicherte Wärmeenergie und die ingenieurtechnische Nutzung. Geothermie kann zum Heizen, Kühlen und zur Stromerzeugung eingesetzt werden. In Deutschland steigt die Temperatur in der Erdkruste durchschnittlich um 3 Kelvin pro 100 Meter an. Dementsprechend erschließen oberflächennahe und tiefe Geothermie Bereiche unterschiedliche Temperaturniveaus." (Umweltbundesamt, 2023)Geothermie nutzt also die natürliche Wärme des Erdinneren. Je tiefer man bohrt, desto wärmer wird es. Es werden daher auch grundsätzlich zwei Arten von Geothermie voneinander unterschieden: Die oberflächennahe Geothermie und die tiefe Geothermie. (vgl. UBA, 2023) Bei der oberflächennahen Geothermie handelt es sich um eine Variante dieser Energieerzeugung, die in geringer Tiefe und mit geringer Temperatur arbeitet. Bei tiefer Geothermie werden mehrere Kilometer tiefe Bohrlöcher benötigt, um Erdschichten mit hohen Temperaturen erreichen zu können."Die Oberflächennahe Geothermie nutzt den Untergrund bis zu einer Tiefe von ca. 400 m und Temperaturen von bis zu 25 °C für das Beheizen und Kühlen von Gebäuden, technischen Anlagen oder Infrastruktureinrichtungen. Hierzu wird die Wärme oder Kühlenergie aus den oberen Erd- und Gesteinsschichten oder aus dem Grundwasser gewonnen. Neben klassischen Anwendungsformen zur Bereitstellung von Raumwärme und Warmwasser wird die Oberflächennahe Geothermie auch zur Beheizung von Gewächshäusern sowie zur Enteisung von Weichen oder Parkplätzen eingesetzt." (Bundesverband Geothermie e.V., 2023)Sie ist damit die am häufigsten genutzte Form der Erdwärme, da sie für viele auch private Anwendungen in Frage kommt. In Deutschlands privaten Hauhalten und öffentlichen Gebäuden wie Krankenhäusern oder Schulen sind Stand 2020 über 440.000 Geothermieanlagen unterschiedlichster Machart verbaut. Jährlich kommen etwa 20.500 (vgl. Bundesverband Geothermie e.V., 2023) dieser Oberflächenanlagen dazu. In der folgenden Abbildung (siehe Link) sieht man eine der gängigsten Formen der oberflächennahen Geothermie, wie sie hauptsächlich in privaten Wohnhäusern verbaut wird: https://www.geothermie.de/fileadmin/_processed_/d/9/csm_Schema_Haus_WP_BV_20171024_final_deutsch_ed82c836bd.jpg Bei der oberflächennahen Geothermie werden einige Unterkategorien unterschieden (Abbildung siehe Link): https://www.geothermie.de/fileadmin/_processed_/5/3/csm_181122_Blockgrafik_Geothermie_003-02_bc7ad8b59a.jpg Von allen diesen Unterkategorien hat sich die Erdwärmesonde als die häufigste Variante durchgesetzt. Diese Sonden sind senkrechte Bohrungen, in die mit einer Art Zement befestigte Rohre eingelassen werden. Diese Rohre werden mit einer Trägerflüssigkeit befüllt. Dabei handelt es sich meist um Wasser, welches mit Frostschutzmittel versetzt wurde. Dieses Wasser nimmt die Wärme aus dem Inneren der Erde auf und transportiert sie zur Wärmepumpe an die Oberfläche.Für das Bahnnetz zum Beispiel zum Beheizen von Weichen kommen spezielle Anlagen zum Einsatz, die CO2 als Trägerflüssigkeit nutzen. Wenn mehrere oder größere Einheiten gleichzeitig durch dieselbe Anlage beheizt werden sollen, wird ein ganzes Sondenfeld in den Boden eingebracht. Dies ist aber aufwändiger und bedarf einer sehr genauen Planung, damit sich die einzelnen Sonden nicht gegenseitig die Wärme entziehen. (vgl. Bundesverband Geothermie e.V., 2023)Bei größeren Projekten wie z.B. Wohngebieten können auch Brunnenanlagen verbaut werden. Diese müssen aber mit Filteranlagen ausgestattet sein, um Verunreinigungen des Grundwassers zu verhindern. Daneben können auch Erdwärmekollektoren ins Erdreich eingelassen werden oder sogenannte Energiepfähle. Bei beiden ergibt sich ein finanzieller Vorteil durch die dafür nur in geringem Maße notwenigen Aushubarbeiten. (vgl. Bundesverband Geothermie e.V., 2023)Da die Temperaturen im Sommer an der Oberfläche höher sind als im Erdinneren kann Geothermie auch als Ersatz für herkömmliche Klimaanlagen verwendet werden. Grundsätzlich benötigen alle Arten von Geothermie eine Form von Wärmetauschung, die elektrischen Strom benötigt. In diesen Wärmepumpen befindet sich eine Chemikalie, die bereits bei geringer Temperatur verdampft. Das dabei entstehende Gas wird in einem Kompressor verdichtet. Der so erreichte Druck wird als Wärme an das Heizungssystem abgegeben. Wenn das Gas abkühlt, verflüssigt es sich wieder, der Druck wird durch ein Ventil abgebaut. (vgl. Bundesverband Geothermie e.V., 2023)"Die tiefe Geothermie stößt gegenüber der oberflächennahen Nutzung von Erdwärme in andere Dimensionen vor. Es werden nicht nur Wärmereservoire in größeren Tiefen erschlossen und dabei Bohrlöcher von bis zu fünf Kilometer Tiefe gebohrt. Auch die damit betriebenen Anlagen sind wesentlich größer und leistungsfähiger." (UBA, 2023)Grundsätzlich funktioniert tiefe Geothermie genauso wie oberflächennahe Geothermie. Es gibt aber einige technische Unterschiede, die das Potenzial dieser Variante verändern und Einfluss haben auf ihre Anwendungsmöglichkeiten. Tiefe Geothermie ist vollständig unabhängig von den Jahreszeiten und sehr leistungsstark. Ganze Stadtviertel können damit über Fernwärme versorgt werden. Bei entsprechender Tiefe und damit Temperatur kann mit tiefer Geothermie sogar Strom erzeugt werden. (vgl. UBA, 2023) Bei der tiefen Geothermie werden grundsätzlich drei Typen unterschieden.Bei tiefen Erdwärmesonden ist das Prinzip dasselbe wie bei oberflächennahen Sonden. Der Unterschied besteht neben der Tiefe des Bohrlochs aufgrund der hohen Temperaturen darin, dass keine Wärmepumpe benötigt wird. Die Wärme kann direkt durch das Heizungssystem verwendet werden. (vgl. Bundesverband Geothermie e.V., 2023) Der entscheidende Vorteil dieses Typs liegt darin, dass er nahezu überall genutzt werden kann, da es sich um einen geschlossenen Wasserkreislauf handelt, für den kein Austausch mit dem Grundwasser notwendig ist. Das System kann einfach mit Wasser befüllt werden, welches dann in die Tiefe geleitet wird und so die Wärme nach oben transportiert.Genau das ist bei der hydrothermalen Geothermie anders. Sie ist auf natürliche Grundwasserreservoirs angewiesen. Ohne Gesteinsschichten, die ausreichend Grundwasser führen, ist diese Variante also nicht nutzbar, da das Thermalwasser über eine Bohrung nach oben und über eine zweite Bohrung wieder nach unten geleitet werden muss. (Abbildung hier: https://www.geothermie.de/fileadmin/_processed_/e/7/csm_Geotherm_Energiebereitstellung_de_thumb_03_62a402241e.png)Sind keine natürlichen Thermalwasservorkommen vorhanden, gibt es noch die Möglichkeit, dieses künstlich in das Gestein zu pressen. Die sogenannte petrothermale Geothermie ist die Variante mit den größten Potenzial in Deutschland, da hier durch Stimulationsmaßnahen im Erdreich die Gegebenheiten, die es braucht, um tiefe Geothermie zu nutzen, künstlich hergestellt werden. Das Gestein wird durch Geoengineering so präpariert, dass man unter hohem Druck Wasser in die Gesteinsschicht presst, welches sich dann in der Tiefe aufwärmt. (vgl. Bundeverband Geothermie e.V., 2023) Dieses warme Wasser kann dann wie gewohnt zur Wärmegewinnung genutzt werden.Neben diesen gängigen Formen der Geothermie gibt es noch einige Sonderformen wie das Speichern saisonal anfallender Wärme z.B. beim Kühlen von Gebäuden oder die Nutzung von Erdwärme aus Tunneln und Bergbauanlagen. (vgl. Bundesverband Geothermie e.V., 2023)Potenzial der Geothermie in Deutschland"Die Erdwärme steht uns ganzjährig und verlässlich zur Verfügung, sie ist wetterunabhängig, krisensicher und nahezu unerschöpflich. Darum ist es richtig, die Nutzung der Erdwärme in Deutschland weiter voranzubringen. Wir haben daher einen Konzeptvorschlag mit acht konkreten Maßnahmen entwickelt, den wir in einem ersten Schritt zur Konsultation stellen wollen, um darauf aufbauend konkrete Geothermieprojekte an den Start zu bringen. Die Nutzung der Erdwärme muss nach unserer Einschätzung konsequent zusammen gedacht werden mit dem Ausbau und der Dekarbonisierung der Wärmenetze. Denn beides ist gerade für Kommunen und bei der Entwicklung einer klimaneutralen Wärmeversorgung wichtig." (Robert Habeck)Dieses Zitat des Bundesministers für Wirtschaft und Klimaschutz spricht Bände darüber, welche Bedeutung der Geothermie in Zukunft beigemessen werden wird. Das Potenzial der Geothermie hängt mit ihrer Funktionsweise zusammen, die ihre Anwendungsmöglichkeiten bedingt. Bis 2030 sollen fünfzig Prozent der Wärmeleistung in Deutschland klimaneutral erzeugt werden. Dazu soll unter anderem ein geothermisches Potenzial von 10 TWh erschlossen werden. (vgl. BMWK, 2023)Besonderes Potenzial wird der Geothermie, geographisch gesehen, in solchen Regionen beigemessen, in denen die Wärmeerzeugung auch ohne Wärmepumpen möglich ist. Diese Regionen sind vor allem die norddeutsche Tiefebene, der Oberrheingraben und das Alpenvorland (siehe Link unten für Kartenübersicht). Hier haben sich mehrere Projekte bereits etabliert, einige davon auch bereits mit großer Heizleistung (vgl. BMWK, 2022). Karte: https://www.stadtwerke-speyer.de/de/Ueber-uns/Engagement/Geothermie/Geothermie/Geothermie-temperaturkarte-3500-unter-nn-20220316__scaled__317_451.png Bayern ist bei der Nutzung der tiefen Geothermie Vorreiter in Deutschland und hat bereits konkrete Pläne für die zukünftige Nutzung in seinem Energiekonzept erarbeitet. So soll mittelfristig 1% des bayrischen Gesamtverbrauchs durch diese Technologie gedeckt werden und etwa 0,6% des Stromverbrauchs. Bei der oberflächennahen Geothermie gehen die Zahlen der zu verbauenden Anlagen in die zehntausende. (vgl. Bayrisches Energiekonzept, 2011)Hier zeigt sich aber bereits eine Begrenzung der Nutzung von Geothermie. Während oberflächennahe Geothermie nahezu überall genutzt und vor allem für das Heizen und Kühlen von kleinen bis mittleren Gebäudeeinheiten eingesetzt werden kann, ist die tiefe Geothermie auf einige Regionen in Deutschland beschränkt. Jedenfalls nach dem aktuellen Wissensstand.Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz will in den nächsten zwei Jahren eine großangelegte Datenkampagne fahren, um eine einheitliche Lagebeschreibung für die Nutzung der Geothermie in ganz Deutschland zu erstellen. In einer entsprechenden Explorationskampagne im Jahr 2023 an etwa hundert Standorten, an denen günstige Bedingungen zu erwarten sind, soll das Potenzial näher erforscht werden. (vgl. BMWK, 2022)Des Weiteren ist bisher die Nutzung von Geothermie für die Stromproduktion noch nahezu unerforscht. Forschungsprojekte wie z.B. der EnBW in Bruchsal oder im elsässischen Soultz-sous-Forêts sollen diese Wissenslücke schließen, befinden sich aber erst im Aufbau. Welches Potenzial sich hier für die deutsche Energiewende ergeben wird, lässt sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen. Die Stromproduktion mit Geothermie an einem Standort der Stadtwerke München ist zugunsten der Wärmegewinnung zum Heizen eingestellt worden. (vgl. Bundesverband Geothermie e.V., 2023)Die Frage bleibt also, welches Potenzial Geothermie denn nun tatsächlich hat. Klar ist, dass Geothermie nicht den gesamten Wärmebedarf in Deutschland decken kann. Während oberflächennahe Geothermie überall eingesetzt werden kann, um Gebäude zu beheizen, so gibt es in der Industrie Anwendungen mit über 200 Grad Celsius, die nicht durch Geothermie in Kombination mit einer großen Wärmepumpe bereitgestellt werden können. Trotzdem können in Deutschland 70 GW Leistung installiert werden und damit bis zu 300 TWh pro Jahr an Wärmeleistung. Dies entspricht in etwa der Hälfte des zukünftigen Wärmebedarfs aller Gebäude in Deutschland. (vgl. DW, 2023)Damit entfaltet die Geothermie eine Leistung, die zumindest für einen sehr großen Bereich der Energie- und Wärmewende ein großes Potenzial aufweist. Wenn man in Betracht zieht, wie stiefmütterlich dieses an und für sich gewaltige Energiepotenzial bisher genutzt wurde, kann hier von einer kleinen Wärmerevolution gesprochen werden, die unsere Art zu heizen und zu kühlen grundlegend verändern wird. Geothermie ist gerade auf dem besten Weg, in einigen Jahren ein fester Bestandteil unseres Alltags zu werden. Die große Unbekannte an dieser Stelle bleibt die Frage, ob Stromproduktion mit Geothermie in Deutschland in großem Umfang überhaupt möglich ist oder ob es nicht doch eher zugunsten der Wärmegewinnung ungenutzt bleiben sollte.Beispiel MünchenIn München erstreckt sich ein über 900 Kilometer langes Fernwärmenetz (vgl. SWM, 2023), das die meisten Münchner Haushalte mit Wärme zum Heizen versorgt. Um dieses riesige Netz klimaneutral zu bekommen, wird einiges an Anstrengung nötig sein. Doch die Stadt München sitzt auf ihrer eigenen nachhaltigen Wärmequelle.Wie bereits oben erwähnt, eignet sich das Alpenvorland, zu dem München gehört, besonders gut für alle Arten von Geothermie. Im Grunde ist ganz Bayern für diese Methode der Wärmegewinnung gut geeignet. Theoretisch könnten bis zu 40% des bayrischen Wärmebedarfs durch Geothermie gedeckt werden. 25% sind von der bayrischen Staatsregierung als Zielmarke ausgegeben worden. (vgl. SZ, 2022) In München sollen mehrere Standorte zusammenwirken, um zwischen 70% und 80% des Wärmebedarfs zu decken. (vgl. Münchner Merkur, 2022) Sechs Anlagen sind derzeit in Betrieb: Die Geothermieanlage Freiham ist seit 2016 in Betrieb und liefert Fernwärme an den Münchner Westen. In Dürrnhaar steht seit 2012 eine Anlage, die zur Stromproduktion verwendet wird. In Kirschstockach wurde ursprünglich Strom produziert. Dies wurde aber zugunsten von Fernwärme aufgegeben. Sie produziert seit 2013. In Sauerlach wird ebenfalls Strom und Fernwärme produziert. Sie ist eine der leistungsstärksten Anlagen in München. Die Anlage in Riem zur Wärmeerzeugung ist seit 2004 in Betrieb und hat damit die Vorreiterrolle inne. Sie ist für die Messestadt und die Neue Messe München zuständig. In München-Sendling steht Deutschlands leistungsstärkste Geothermieanlage. Sie wird in Zukunft Fernwärme für 80.000 Menschen liefern können. (vgl. SWM, 2023)Ziel der Stadt München ist es, bis 2040 durch Fernwärme ihren Wärmebedarf klimaneutral zu decken. (vgl. SWM, 2023) Damit ist München zu einer Art Modellstadt für die deutsche Energiewende und für Interessenten aus der ganzen Welt geworden, die in der Geothermie einen entscheidenden Beitrag zum Klimaschutz und zur Energiesicherheit sehen.In München und in ganz Südbayern hat sich jedenfalls ein Boom hinsichtlich der Geothermie entwickelt. Die Süddeutsche Zeitung spricht von einer Goldgräberstimmung. (vgl. SZ, 2022) Ein durchaus passender Ausdruck angesichts des bergbaulichen Charakters, den diese Technologie nun mal an sich hat. In jedem Falle sind Politik und Unternehmen auf die Region aufmerksam geworden und wollen dort zum Teil große Summen investieren. Allein die Stadt München will bis zu einer Milliarde Euro in den Ausbau der Geothermie investieren, um ihre Ziele bezüglich der Nutzung der Geothermie zu erreichen. (vgl. Münchner Merkur, 2022) Der Bund wird ebenfalls drei Milliarden Euro in den Ausbau dieser Technologie stecken und einige private Unternehmen haben große Investitionen angekündigt. (vgl. SZ, 2022)Es gibt aber auch einige Dinge, die man durchaus als Nachteile dieser Technologie ansehen könnte und die in München zu Herausforderungen führen. Wie bereits erwähnt, ist es notwendig, bergbauartige Maßnahmen zu ergreifen, um Geothermie nutzen zu können. Dies setzt einen hohen Aufwand voraus und hat hohe Einstandskosten zur Folge (vgl. SZ, 2022). Des Weiteren ist die Nutzung von Geothermie zur Wärme- und Stromproduktion gleichzeitig momentan nur bei Neubaugebieten profitabel. (vgl. Münchner Merkur, 2022)Es stehen also noch einige ungeklärte Fragen in München im Raum. Dennoch kann man sagen, dass dieses großangelegte Projekt den Charakter einer Blaupause für andere Ballungsgebiete haben wird, in denen Geothermie ebenfalls in diesem Umfang möglich wäre. Städte wie Hamburg, Bremen oder Mannheim liegen ebenfalls in Gebieten mit großem Potenzial für Geothermie, in einigen davon sind auch schon Projekte hierzu angelaufen. (vgl. Bundesverband Geothermie e.V., 2023)FazitEiner der wichtigsten Bestandteile der Energiewende ist die Dezentralisierung der Energieversorgung. Dies betrifft nicht nur Standorte, sondern auch die Formen der Energiegewinnung. Wenn man sich also von der Geothermie das Potenzial gewünscht hätte, dass diese Technologie die endgültige Lösung der Energiefrage ist, wird man enttäuscht werden. Der Bundesverband Geothermie e.V. selbst spricht von einem zwar großem, aber auch begrenzten Potenzial. Wir werden also in diese Technologie investieren, wahrscheinlich sogar sehr viel. Aber wir werden auch andere Formen der Energiegewinnung benötigen, um die Energiewende zu schaffen.Es hat durchaus etwas Befreiendes zu wissen, dass man hier auf etwas gestoßen ist, das Grenzen hat. In einer Zeit, in der die Dimensionen von Konsum und Produktion Ausmaße angenommen haben, die nach menschlichem Ermessen kaum noch erfassbar sind und eigentlich auch kaum noch zu kontrollieren, ist die Geothermie ein Stück weit eine Antithese zu dieser Grenzenlosigkeit. Das Umweltbundesamt sagt, dass die technologischen Herausforderungen der Geothermie beherrschbar und lokal begrenzt sind. Nicht jedes Land und nicht jede Region kann Geothermie in derselben Weise nutzen. Inwieweit Geothermie in der Zukunft eine Rolle spielen wird, bleibt auch in Deutschland damit noch offen und bedarf weiterer Forschung. QuellenBayerische Staatsregierung (2011). Bayerisches Energiekonzept "Energie innovativ" BMBF / Bundesministerium für Bildung und Forschung (2023). Geothermie. https://www.bmbf.de/bmbf/de/forschung/energiewende-und-nachhaltiges-wirtschaften/energiewende/energiewende_node.html Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (2023). Eckpunkte für eine Erdwärmekampagne Geothermie für die Wärmewende. https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Downloads/Energie/eckpunkte-geothermie.pdf?__blob=publicationFile&v=1 Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (2022). Geothermie für die Wärmewende – Bundeswirtschaftsministerium startet Konsultationsprozess. https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Pressemitteilungen/2022/11/20221111-geothermie-fuer-die-waermewende.html Bundesverband Geothermie e.V. (2023). https://www.geothermie.de/aktuelles/nachrichten.html Deutsche Welle (2023): Geothermie auf dem Vormarsch? https://p.dw.com/p/4KFIlEnBW (2023). Geothermie. https://www.enbw.com/erneuerbare-energien/geothermie/ Münchner Merkur (2022) Die Energie der Zukunft: Wird München bei Geothermie zur Blaupause für Deutschland? https://www.merkur.de/wirtschaft/geothermie-energie-zukunft-muenchen-deutschland-kraftwerk-anlage-projekt-sendling-zr-91526752.html Süddeutsche Zeitung (2022). Goldgräberstimmung im Münchner Süden. https://www.sueddeutsche.de/muenchen/landkreismuenchen/muenchen-stadtwerke-geothermie-erdwaerme-laufzorn-1.5722522 SWM / Stadtwerke München (2023). Geothermie: Den Schatz aus der Tiefe sinnvoll nutzen https://www.swm.de/magazin/energie/geothermie Stadtwerke Speyer (2023). Geothermie. https://www.stadtwerke-speyer.de/geothermie?ConsentReferrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F Umweltbundesamt (2023). Geothermie. https://www.umweltbundesamt.de/themen/klima-energie/erneuerbare-energien/geothermie#oberflachennahe-geothermie
In: https://freidok.uni-freiburg.de/data/7550
Forschungskonzept Das Nachhaltigkeitsleitbild der Agenda 21 und die damit verknüpften Rollenerwartungen an die Privatwirtschaft sind ein Bezugsrahmen der vorliegenden Doktorarbeit. Die Agenda 21, ein zentrales Dokument der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung (UNCED 1992), und Dokumente der Folgekonferenzen weisen der Privatwirtschaft eine zentrale Rolle bei der Verwirklichung nachhaltiger Entwicklung zu: Wirtschaftsunternehmen sollen Wertschöpfung auf der Grundlage umweltverträglichen Umgangs mit natürlichen Res-sourcen erreichen. Als verantwortungsvolle Unternehmen sollen sie die Interessen ihrer Anspruchsgruppen berücksichtigen, und diese Gruppen sollen ihrerseits die Privatwirt-schaft bei der Realisierung nachhaltiger Entwicklung unterstützen. Regierungsunabhängige Umweltorganisationen erwarten von der Privatwirtschaft umwelt-verträglichen Umgang mit natürlichen Ressourcen und üben entsprechend Druck auf Unternehmen aus. Die Literatur dokumentiert jedoch Konflikte zwischen dem Rollenver-ständnis der Privatwirtschaft und den Erwartungen internationaler Organisationen und zivilgesellschaftlicher Anspruchsgruppen. Seitens der Unternehmen bestehen Zweifel, ob die Anforderungen dieser Akteure angemessen sind und inwieweit sie die ihnen zuge-wiesene Verantwortung übernehmen sollen. Auf diese Problematik bezieht sich die vor-liegende, 2006 bis 2008 durchgeführte qualitative empirische Untersuchung. Das Ziel der Forschungsarbeit war, den Wissensstand zum Umgang kleiner bis mittelgro-ßer Produktionsunternehmen mit ihren Rohstoff liefernden natürlichen Ressourcen zu erweitern - ihrer Rolle in Marktketten, ihrer Beziehungen zu Stakeholdern und die Berück-sichtigung natürlicher Ressourcen durch ihr Management. Als Beispiel ausgewählt wur-den Holzmöbel erzeugende Unternehmen (Möbelhersteller), eine mittelständische Bran-che der holzverarbeitenden Industrie. Da Möbelproduktion hohe Wertschöpfung aus Roh-holz ermöglicht, erschien dieses Beispiel aufschlussreich im Hinblick auf die allgemeine Annahme der Agenda 21, hohe ökonomische Wertschöpfung aus Holz lasse Impulse für nachhaltige Waldwirtschaft erwarten. Die Untersuchung wurde in Regionen mit unter-schiedlichen gesellschaftlichen, volkswirtschaftlichen und insbesondere forst- und holz-wirtschaftlichen Rahmenbedingungen durchgeführt. Forschungsfragen waren: Wie stellt sich "Forst" aus der Sicht von Möbelherstellern dar? In welcher Beziehung stehen Möbelhersteller zu ihren Anspruchsgruppen und wie kom-munizieren sie "Forst" gegenüber diesen Gruppen? Wie berücksichtigen Möbelhersteller "Forst" in ihren Entscheidungen? Der Verfasser stellt diese Forschungsfragen unter den Oberbegriff "Forstrationalität". Das Konstrukt "Forstrationalität" umreißt, wie Entscheidungsträger in der Holzindustrie Wald-bewirtschaftung als ihre Rohstoffbasis wahrnehmen und in Entscheidungen einbeziehen. Es umfasst alle Aspekte der Wahrnehmung und Interpretation sowie des Verhaltens holz-verarbeitender Industrieunternehmen bezüglich ihrer Rohstoffquelle "Forst". Grundlagen hierfür sind Theorien der Ressourcenabhängigkeit (Pfeffer und Salancik 1978/2003; Steimle, 2008) und des Sensemaking (Weick 1995, 2001). Informationen zur Beantwortung der Forschungsfragen wurden in drei Zentren der Möbel-industrie mit unterschiedlichen gesellschaftlichen und forstlichen Rahmenbedingungen in Brasilien und in Deutschland gewonnen: in Rio Branco do Acre (RBA) im brasilianischen Amazonasgebiet; in São Bento do Sul (SBS) in Südbrasilien und in Nordrhein-Westfalen (NRW) in Deutschland. Die drei Regionen in zwei Ländern vergleichende Feldforschung stellte besondere Anforderungen an die Forschungsmethodik. Vorgehen und Aufbau der Erhebungsinstrumente waren in den drei Regionen identisch: Grundlegendes empirisches Wissen vermittelten Inhaltsanalysen von Fachzeitschriften der Möbelwirtschaft (1) sowie die Auswertung von Sekundärinformationen (2). Telefonische Leitfadeninterviews mit Ex-perten (3) beleuchteten die Unternehmensumfelder und gaben allgemeine Hinweise zum Verhalten von Entscheidungsträgern der Möbelindustrie. Das Spektrum der "Forstrationa-litäten" der Entscheidungsträger erschloss sich im persönlichen Kontakt bei Betriebsbesu-chen; in jeder Region wurden zwei Hersteller von Massivholzmöbeln und ein Hersteller von Möbeln aus Holzwerkstoffen ausgewählt (4). Ergebnisse der Fachzeitschriftenanalyse Die quantitative Inhaltsanalyse von Fachzeitschriften diente dazu, das Gesamtspektrum der für den Wirtschaftszweig Möbelindustrie relevanten Fachthemen kennen zu lernen und die relative Bedeutung der Themenfelder "Umweltschutz" sowie "Waldressour-cen/Forstwirtschaft" einzuschätzen. Zusammenfassend konnten folgende Schlüsse gezo-gen werden: 1. Die Themenfelder "Umwelt" und "Forst" interessieren in der Möbelindustrie, erhalten aber in der Fachpresse weniger Raum als Themenfelder wie Wirtschaft, Technologie und Wettbewerb. 2. Im Themenfeld "Umwelt" sind in Deutschland wie in Brasilien Aspekte des eigenen Produktionsstandortes (innerbetrieblicher Umweltschutz) die bedeutendsten Themen der Möbelindustrie. 3. In der brasilianischen Möbelindustrie stehen "forst"-bezogene Aspekte stärker im Fo-kus als in Deutschland. Ergebnisse der regionalen Fallstudien Ergebnisse der Untersuchungsphasen (2) bis (4) stellt die Dissertation in Form von drei regionalen Fallstudien mit identischer Gliederung vor: a) Rahmenbedingungen der Möbel-hersteller b) Nicht-marktliche Anspruchsgruppen c) Lieferanten von Holzprodukten d) Mö-belabnehmer e) Interaktion der Möbelhersteller untereinander f) Forst- und Umweltmana-gement. Die regionalen Fallstudien bestätigen die Einsicht aus der Fachzeitschriftenanalyse, dass die spezifische Situation des gesamten regionalen Sektors "Forst- und Holzwirtschaft" die brasilianischen Möbelhersteller stärker prägt als die in NRW. So fanden in RBA in jünge-rer Zeit einschneidende forst- und umweltpolitische sowie institutionelle Veränderungen statt, die neue Rahmenbedingungen für alle holzbe- und -verarbeitenden Unternehmen gesetzt haben. In der Region SBS beschäftigt "Forst" die Möbelhersteller ebenso wie an-dere Zweige der Holzwirtschaft wegen eingetretener oder in der Zukunft erwarteter Holz-knappheiten sowie angesichts staatlicher Kontrolle der Verwendung von Holz aus legaler Waldnutzung. In NRW werden hingegen die einheimische Waldbewirtschaftung ebenso wie die Verarbeitung von Vorprodukten aus nichttropischen Holzarten als unproblematisch wahrgenommen, forstliche Themen erscheinen nicht als kritisch im Makroumfeld der Mö-belindustrie. In NRW wie in SBS dominiert die Auseinandersetzung mit gesamt- und bran-chenwirtschaftlichen Kerndaten, mit nationalen und internationalen Markttrends sowie mit technologischen Entwicklungen die Agenda der Möbelhersteller. Die Möbelhersteller unterliegen der Aufsicht von Umweltbehörden. Die Kontrolle des in-nerbetrieblichen Umweltschutzes, zum Teil verknüpft mit Arbeitsschutz, zeigte sich in al-len drei Regionen als Schwerpunkt der Aktivität dieser Behörden. Anders als in Deutsch-land unterliegt in Brasilien die Holzbeschaffung durch holzbe- und -verarbeitende Betriebe behördlicher Kontrolle. Die Fachverbände der Möbelindustrie in allen drei Fallstudienregionen definieren als ihre zentrale Aufgabe die Vertretung der Interessen ihrer Mitgliedsunternehmen gegenüber Politik und Gesellschaft. In beiden brasilianischen Fallstudienregionen, in denen forstbe-zogene Probleme die Möbelindustrie intensiv beschäftigen, sehen die Möbelindustriever-bände forstbezogene Angelegenheiten auch als ihre Aufgabe. In RBA agiert der Verband mit dem Ziel, die behördliche Registrierung von Möbelproduzenten des informellen Sek-tors voranzubringen und diese zur Verarbeitung von Holz aus legaler Waldnutzung zu verpflichten. In SBS haben die Möbelfachverbände in Perioden der Holzknappheit der Entwicklung der regionalen Forstwirtschaft und der Holzversorgung der Möbelindustrie große Aufmerksamkeit gewidmet; zur Zeit der Untersuchung drängten andere wirtschaftli-che Probleme die Waldthematik in den Hintergrund. Die durch die Forschungsarbeit erfassten Möbelhersteller stehen selten in direktem Kon-takt mit privaten Umweltorganisationen. Sie nehmen jedoch wahr, dass diese Organisa-tionen die Rahmenbedingungen der Möbelindustrie durch Verbraucherkampagnen, An-forderungen an die ersten Stufen der Forst-Holz-Wertschöpfungsketten und durch politi-sches Lobbying indirekt beeinflussen. Die Abhängigkeit der Möbelhersteller von Holzproduktlieferanten variiert in den drei Un-tersuchungsregionen. In NRW ist diese Abhängigkeit schwach ausgeprägt, weil die Mö-belhersteller Vorprodukte regional wie überregional problemlos einkaufen können und weil auch große Holzlieferanten Ansprüche der Möbelindustrie etwa bezüglich der Qualität, Abmessungen und Vorfertigung von Schnittholz und Holzwerkstoffen berücksichtigen. In Brasilien stellt sich die Situation anders dar. In SBS haben große bis mittelgroße Möbel-hersteller wegen der Unsicherheit der Holzversorgung und der Qualität von Vorprodukten aus Holz Schritte zur Rückwärtsintegration unternommen (eigene Sägewerke, vereinzelt eigene Bewirtschaftung von Kiefern-Plantagen) oder alternative Vorproduktquellen ge-sucht. In RBA stellt die behördlich kontrollierte Forderung, nur Holz aus "ordentlicher Waldwirtschaft" zu verarbeiten, die zu einem großen Teil staatlich geförderten Möbelher-steller des formellen Sektors vor Probleme. Denn ein hoher Anteil des entsprechenden regional verfügbaren Tropenholzes wird in Form von Holzhalbwaren in andere Regionen Brasiliens verkauft oder exportiert. Für die Möbelhersteller in RBA sind die Einkaufspreise hochwertiger Holzvorprodukte, insbesondere wenn diese aus zertifiziertem Holz erzeugt werden, deshalb in den letzten Jahren stark gestiegen, während die Möbelpreise aufgrund der Konkurrenz zahlreicher kleiner informeller Produzenten, aber auch durch das Angebot kostengünstig produzierter Serienmöbel aus Südbrasilien unter Druck stehen. Nur wenige gut organisierte Möbelhersteller in RBA scheinen bislang tragfähige Strategien zu verfol-gen, um diesem Dilemma zu begegnen. Die Beziehung von Möbelherstellern zu ihren Abnehmern ist in allen drei Fallstudienregio-nen durch Abhängigkeiten der Möbelhersteller geprägt. In RBA hängen formell registrierte Möbelhersteller stark von öffentlichen Aufträgen ab. In SBS sind Möbelhersteller von der Serienproduktion für den Exportmarkt abhängig; vielfach geben Auslandskunden die Mo-delle vor und haben großen Einfluss auf die Möbelpreisbestimmung. Beim Möbelabsatz im Inland stehen die Hersteller in NRW wie in SBS großen Einkaufsverbänden oder Kon-zernunternehmen des Möbeleinzelhandels gegenüber. In allen drei Regionen erhält die Möbelindustrie von ihren unmittelbaren Möbelabnehmern wie von Endverbrauchern nur schwache "Forst"-Signale - die Herkunft des für die angebo-tenen Möbel verarbeiteten Holzes aus "legaler" oder "nachhaltiger" Waldbewirtschaftung ist allenfalls ein nachrangiges Einkaufskriterium bzw. ist sie nur in Marktnischen relevant. Eine Ausnahme bilden die öffentlichen Auftraggeber in RBA, deren Möbelbeschaffung explizit den Aufbau nachhaltiger regionaler Forst-Holz-Wertschöpfungsketten in Acre stüt-zen soll. Experten der drei Untersuchungsregionen bezeichneten die Interaktion von Möbelherstel-lern untereinander als wenig kollegial, sondern wettbewerbsgeprägt. Unternehmen koope-rierten primär in für den Wettbewerb wenig relevanten Bereichen (z.B. gemeinsame Mes-sebesuche im Ausland). Die Initiative zu intensiverer Kooperation gehe häufig von Ver-bänden oder staatlichen Organisationen aus. Die Unternehmensbesichtigungen und Gespräche mit Experten zeigten, dass die in die Untersuchung einbezogenen Möbelhersteller nicht über ein systematisch aufgebautes Umweltmanagement verfügen. Die Beschäftigung mit Umweltproblemen orientiere sich vorwiegend an den für sie relevanten umweltrechtlichen Vorschriften. In NRW befolgen die Möbelhersteller nach Experteneinschätzung durchweg die Umweltauflagen; ihre Pro-duktionsbetriebe unterliegen strengen Kontrollen der Umweltbehörden. In Brasilien um-fassen behördliche Umweltschutzanforderungen für Möbelhersteller zusätzlich zum inner-betrieblichen Umweltschutz auch die Auflage, die Holzherkunft aus legaler Waldnutzung nachzuweisen. Bezüglich der Umsetzung der Umweltschutzanforderungen auf betriebli-cher Ebene ergab sich in beiden brasilianischen Regionen ein differenziertes Bild. Theoriebezogene Ergebnisinterpretation Der Verfasser versuchte zu verstehen, wie Unternehmer und Manager in der holzverar-beitenden Industrie das eigene Umfeld wahrnehmen und deuten, wie sie Entscheidungen treffen und begründen. Im Fokus stand die Forstrationalität von Entscheidungsträgern in möbelerzeugenden Unternehmen. Von ihm verfolgte Interpretationsansätze waren: 1. die Unterscheidung von Anlässen forstbezogenen Verhaltens der Möbelhersteller; 2. die Unterscheidung von Verhaltensbezugsebenen und Zeithorizonten; 3. die Prüfung, inwieweit das spezifische Verhalten bezüglich der für die Möbelher-stellung beanspruchten natürlichen Ressource Wald generellen Verhaltensmu-stern von Entscheidungsträgern in Produktionsunternehmen entspricht. Zu (1) Anlässe forstbezogenen Verhaltens Gefragt werden kann nach der wahrgenommenen Dringlichkeit forstbezogener Signale, die ein Möbelhersteller aus seinem Umfeld erhält: Können Anspruchsgruppen aus seiner Sicht ein bestimmtes forstbezogenes Verhalten verlangen bzw. erzwingen? Die Fallstudi-en legen den Schluss nahe, dass Möbelhersteller Einflüsse von Produktketten-externen Anspruchsgruppen wahrnehmen und reflektieren. Die Intensität wahrgenommener An-sprüche ist jedoch offenbar nur selten so hoch, dass sie Reaktionen der Möbelhersteller auslöst. In der Untersuchung erkennbar waren aber Verhaltensänderungen brasilianischer Möbelhersteller nach Einführung der DOF-Dokumentation zum Nachweis der Beschaffung von Holz aus legalen Quellen. Im Umkehrschluss lässt sich vermuten, dass Möbelherstel-ler forstbezogene Themen aus ihren Umfeldern vorwiegend als Signale wahrnehmen, die sie ihrem Selbstverständnis entsprechend individuell bewertet mit ihren Strategien ver-knüpfen, die sie aber auch ignorieren können. Die Art der für die Herstellung eines Möbelstücks verwendeten Holzvorprodukte bzw. die Materialkombination lenkt die Aufmerksamkeit von Möbelkäufern mehr oder minder stark auf den Bezug zum "Forst", wodurch auch die Forstrationalität der Möbelhersteller beein-flusst wird. In der Untersuchung ergaben sich diesbezüglich Unterschiede des Selbstver-ständnisses und der Marketingkommunikation zwischen Herstellern von Möbeln aus Holzwerkstoffen und aus Massivholz, bei den letzteren wiederum bezüglich der Möbelher-stellung aus Tropenholz oder nicht-tropischen Holzarten. Hersteller von Massivholzmö-beln stellten häufig einen Bezug ihrer Möbel zur Natur oder zum Wald her. Dabei betonten Hersteller von Tropenholzmöbeln die Individualität einzigartiger Holzarten aus artenrei-chen Naturwäldern; Hersteller von Möbeln aus nicht-tropischen Holzarten hingegen hoben die Herkunft der Möbelhölzer aus nachhaltig bewirtschafteten "nicht-tropischen" Wäldern hervor. Hersteller von Holzwerkstoffmöbeln argumentierten "ökologisch" mit den Vorteilen hoher Holzausbeute bei der Herstellung und Verarbeitung von Holzwerkstoffen, wodurch Waldressourcen geschont würden. Die brasilianischen Möbelhersteller sehen sich mit Ungewissheiten der Holzversorgung konfrontiert; sie interpretieren diese unterschiedlich, auch innerhalb der beiden Fallstudi-enregionen. In allen drei Untersuchungsregionen bekannten sich die in die Untersuchung einbezogenen Möbelhersteller zur Verarbeitung von Holz aus unbedenklichen Quellen. Sie erwarten Absatzrisiken für den Fall diesbezüglicher Zweifel ihrer Abnehmer. Gegen-wärtig sei kritisches Hinterfragen der Herkunft von Möbelhölzern seitens der Möbelab-nehmer jedoch selten und beziehe sich vorwiegend auf Tropenholz. Zu (2) Verhaltensbezugsebenen und Zeithorizonte Waldbewirtschaftung ist nur in wenigen Fällen ein eigenes Tätigkeitsfeld von Möbelher-stellern. Mit ihrem forstbezogenen Verhalten ergreifen Möbelhersteller folglich in der Re-gel nicht unmittelbar forstwirtschaftliche Maßnahmen, sondern beeinflussen diese indirekt oder reagieren auf die von anderen Akteuren gesetzten Forstthemen. Dies erfolgt zum einen durch Auswahl der für die Möbelproduktion eingesetzten Materialien und deren Be-schaffung, also durch ein direkt an die Möbelproduktion gebundenes Verhalten. Zum an-deren geschieht dies durch den Umgang und die Kommunikation mit Anspruchsgruppen im unmittelbaren Umfeld und im Makroumfeld. Materialorientiertes Verhalten und die Be-ziehungen zu Anspruchsgruppen stehen jedoch nicht isoliert nebeneinander, sondern können miteinander verknüpft sein, etwa weil bei Materialwahl-Entscheidungen das Ver-trauen zu Lieferanten und Abnehmerpräferenzen berücksichtigt werden. Mit Blick auf die Zeithorizonte der Entscheidungen von Möbelherstellern machte die Ana-lyse deutlich, dass in deren Kurzfristperspektive Forstrationalität von untergeordneter Be-deutung ist und andere Aspekte der Unternehmensumfelder im Vordergrund stehen (z.B. Holzversorgung für das aktuelle Produktionsprogramm und Wettbewerb). In der mittel- und langfristigen Zeitperspektive hingegen erhalten forstbezogene Überlegungen und Maßnahmen (wie Einsatz alternativer Holzvorprodukte oder Verwendung von Holz aus zertifizierter Waldbewirtschaftung) größeres Gewicht. Zu (3) Spiegelt Forstrationalität generelle Verhaltensmuster? Etliche der in der Forschungsarbeit registrierten Ausprägungen von Forstrationalität der Möbelhersteller lassen sich allgemeinen Verhaltensmustern von Entscheidungsträgern in Wirtschaftsunternehmen zuordnen: Legitimation: Die in die Untersuchung einbezogenen Möbelhersteller in allen drei Unter-suchungsregionen hoben hervor, ihr eigenes forstbezogenes Verhalten, insbesondere die Wahl der verarbeiteten Holzvorprodukte, sei gesetzeskonform und ökologisch unbedenk-lich. Diesen Standpunkt vertraten sie unabhängig von ihren jeweiligen Möglichkeiten, die Rohstoffquellen der beschafften Materialien zu beurteilen und zu beeinflussen. Anpassung: Die Möbelhersteller reagieren auf Anforderungen aus ihren Umfeldern, etwa auf behördliche Vorschriften und Kontrollen, Kritik von Umweltschutzverbänden, Nachfra-ge von Verbrauchern oder veränderte Wettbewerbsbedingungen. Solche Reaktionen schließen auch das forstbezogene Verhalten ein, wobei Vermeidung (zum Beispiel Ver-zicht auf die Verarbeitung von Tropenholz) ein alternatives oder komplementäres Verhal-ten sein kann. Antizipation: Unternehmen entwickeln Antizipationsstrategien, um sich auf erwartete zu-künftige Herausforderungen, Risiken und Chancen frühzeitig einzustellen. Dieses Verhal-ten zeigten Möbelhersteller in allen drei Untersuchungsregionen, etwa in ihrem Umgang mit der Forst-Holz-Produktketten-Zertifizierung oder der Erprobung neuer Holzarten und Holzwerkstoffe. Innovation: Sie ist eine Form der Umsetzung von Anpassung und Antizipation, ist aber für die Massivholz-Möbelhersteller auch eine eigenständige Verhaltensform. Zum Teil haben sie dabei Aspekte der Waldbewirtschaftung (besonders deutlich bei den Möbelherstellern in SBS, die Plantagenbewirtschaftung als neues Geschäftsfeld integriert haben) und der Weiterentwicklung ihrer Rohstoffbasis von vornherein im Blick, zum Teil ergeben sich se-kundäre Effekte für die Forstwirtschaft. Die vorliegende Untersuchung zur "Forstrationalität" holzverarbeitender Unternehmen hat gezeigt, dass Möbelhersteller Stärken und Schwächen der Waldnutzung in ihrer Standort-region wahrnehmen und forstbezogene Entscheidungen reflektiert treffen. Wie sie ent-scheiden, hängt von den Rahmenbedingungen der Industrie, dem Verhalten ihrer An-spruchsgruppen, von den spezifischen Unternehmensstrategien, auch von Wertvorstel-lungen der Eigentümer und Manager ab. Ihnen stehen bestimmte staatliche und private Anspruchsgruppen mit Erwartungen gegenüber, die dem Konzept nachhaltiger Entwick-lung der Agenda 21 entsprechen. Die Unternehmensbeispiele der Fallstudien zeigen ein-zelne Ansatzpunkte für die Verwirklichung nachhaltiger Entwicklung in waldreichen Re-gionen durch die Herstellung von Möbeln. Jedoch erscheint das gegenwärtige forstbezo-gene Verhalten der Möbelhersteller nicht umfassend nachhaltigkeitsorientiert, sondern pragmatisch selektiv abgestimmt auf die Erfordernisse, Interessen und Handlungsmög-lichkeiten der Unternehmen. Potenzial der Möbelindustrie, höhere Wertschöpfung durch immaterielle Phasen der Produktion (ihr Marketing, speziell die Produktgestaltung) zu erreichen, ist vorhanden. Auf der Grundlage neutraler Nachhaltigkeitsüberprüfung in der Holzwertschöpfungskette durch anerkannte Forstzertifizierungs-Systeme könnten von Holzmöbelherstellern durchaus stärkere Impulse für die Entwicklung und Aufrechterhal-tung nachhaltiger Forstwirtschaft ausgehen. Abschließend seien die theoretischen Erklärungsansätze Ressourcenabhängigkeit und Sensemaking angesprochen, denen in dieser Forschungsarbeit gefolgt wurde. Der Zu-sammenhang zwischen beiden ist bereits aus Pfeffer (1978) ableitbar. Steimle (2008) stellt diesen Zusammenhang explizit her, um das Nachhaltigkeitsverhalten von Unter-nehmen theoretisch zu erklären. Auch der Verfasser kombinierte beide Ansätze: Das Konzept der Ressourcenabhängigkeit war hilfreich bei der Analyse der Umfeldeinbettung der Möbelhersteller und bei der Interpretation ihrer Beziehungen zu bestimmten An-spruchsgruppen; der Sensemaking-Ansatz erleichterte es, die Umfeldwahrnehmung aus Sicht der Entscheidungsträger in der Möbelindustrie und ihr forstbezogenes Verhalten zu verstehen. ; Research concept The guideline to sustainability provided by Agenda 21, and the associated expectations of private enterprise with respect to their role in sustainability, represent a frame of reference for the study presented in this Ph.D. thesis. Agenda 21, a central document of the United Nations Conference on Climate and Development (UNCED 1992), and documents pro-duced by the following conferences attribute a central role to private enterprise in the real-isation of sustainable development. Commercial enterprises are expected to create value on the basis of an environmentally acceptable use of natural resources. Responsible en-terprises should accommodate the interests of the respective stakeholder groups, and these groups should in turn support private enterprise in the achievement of sustainable development. Non-governmental environmental organisations' expectations of private enterprise revolve around the environmentally appropriate use of natural resources and, accordingly, they exert pressure on businesses to do so. Nevertheless, the literature documents conflicts between commercial enterprise's understanding of its role and the expectations of interna-tional organisations and civil stakeholder groups. From the perspective of enterprise, doubts exist over whether the demands of these actors are reasonable and over the ex-tent to which commercial enterprise should assume the responsibility attributed to it. The objective of this study was to deepen the knowledge of the use by small and medium sized enterprises (SMEs) of the natural resources providing the raw materials necessary for their production activities – their role in market chains, their relationships with stake-holders and the consideration given to the management of natural resources. Enterprises manufacturing wood furniture were chosen for the study, as a representative example of an SME branch within the wood processing industry. As furniture production facilitates high value creation from raw wood, this example was deemed to be revealing with respect to the general assumption of Agenda 21 that high economic value creation from wood generates impulses for sustainable forestry. The investigation was carried out in regions with contrasting social, economic and especially forest and wood industry framework con-ditions. The research questions were: How do furniture manufacturers perceive 'forestry'? What is the relationship between furniture producers and the corresponding stakeholder groups, and how do they communicate 'forestry' to these groups? How do furniture producers ac-count for 'forestry' in their decisions? The author posed these questions under the overarching concept 'forest rationality.' The 'forest rationality' construct outlines how decision makers in the wood industry perceive forest management as the basis of their raw material supply, and how they account for it within decision making. It incorporates all aspects of the perception and interpretation, as well as the behaviour of wood processing enterprises with respect to the source of their raw material, 'forestry.' The basis for this is theories relating to resource dependence (Pfeffer and Salancik 1978, 2003; Steimle, 2008) and 'sensemaking' (Weick 1995, 2001). The information used to answer the research questions was obtained from three centres of the furniture industry in Brazil and in Germany, each with different social and forestry framework conditions. The three centres were in Rio Branco do Acre (RBA) in the Bra-zilian Amazon, in São Bento do Sul (SBS) in southern Brazil and in Nordrhein-Westfalen (NRW) in Germany. The comparative data collection carried out in the three regions posed particular demands in terms of the research methods. The approach chosen and the design of the data collection instruments were identical in the three regions. Funda-mental empirical knowledge was provided by means of a content analysis of furniture in-dustry journals (1) and the evaluation of secondary information (2). Guided telephone interviews with experts (3) illuminated the environments in which the enterprises operate and provided general insights into the behaviour of decision makers in the furniture in-dustry. The spectrum of forestry reasoning of the decision makers was further developed through personal contact made during visits to companies. In each region two producers of solid wood furniture and a producer of furniture from derived timber products were se-lected (4). Results of the journal analysis The quantitative content analysis of industry journals served to provide information about the overall spectrum of issues relevant for the furniture industry, and allowed for an as-sessment of the relative significance of the issues 'environmental protection' and 'forest resources/forestry.' The conclusions may be summarised as follows: 1. The issues 'environment' and 'forestry' are of interest within the furniture sector, but receive less attention in the industry press than topics such as economics, technology and competition. 2. In the furniture industry in both Germany and Brazil, the most important themes under the heading 'environment' are aspects concerning the local production site (enterprise-internal environmental protection). 3. 'Forestry'-related aspects are the focus of greater attention within the Brazilian fur-niture industry than the German. Results of the regional case studies The results of the research phases (2) to (4) are presented in the dissertation in the form of three regional case studies with an identical structure, namely a) the framework condi-tions affecting furniture manufacturers, b) non-market stakeholder groups, c) suppliers of wood products, d) furniture consumers, e) interaction between furniture manufacturers, f) forest and environmental management. The regional case studies confirmed the view provided by the analysis of the industry press that the specific situation of the entire regional 'forestry and wood industry' affects the Brazilian furniture manufacturers more so than those in NRW. In RBA there have re-cently been drastic changes in forestry and environmental policy, as well as institutional changes, which have generated new framework conditions for all wood producing and processing enterprises. In the SBS region 'forestry' occupies furniture manufacturers as much as other branches of the wood sector due to existing or expected future shortages of wood, and as a consequence of state control over the use of wood from legitimate forestry. In NRW, on the other hand, native forest management and the processing of materials derived from non-tropical tree species are considered to be unproblematic, and forestry-related themes do not appear to be critical in the macro-environment of the furni-ture industry. In NRW and in SBS the issue of core economic data for the sector as a whole, and branches within the sector, of national and international market trends and of technological developments dominate the agenda of the furniture manufacturers. The furniture manufacturers are subject to restrictions imposed by environmental authori-ties. The control of enterprise-internal environmental protection, linked in part with work safety, was identified as a focus of the activities of these authorities in all three regions. Unlike in Germany, in Brazil the sourcing of wood by wood processing enterprises is sub-ject to official control. The representative associations within the furniture industry in all three case study regions define as their central task the representation of the interests of their member organisa-tions to policy makers and society. In both Brazilian case study regions, in which forestry-related problems greatly occupy the furniture industry, the furniture industry associations also view forestry-related matters as being within their remit. In RBA the responsible as-sociation is seeking to advance the official registration of furniture manufacturers within the informal sector and to oblige them to process only wood obtained from legal sources. In SBS the furniture associations have focused considerable attention on the development of regional forestry and the supply of wood to the furniture industry in periods of wood shortage. At the time of this study, however, other economic problems had pushed the issue of forestry into the background. It was observed that the furniture producers studied as part of the research are rarely in direct contact with private environmental organisations. However, they are aware that these organisations indirectly influence the framework conditions affecting the furniture industry through consumer campaigns, by placing demands on the first links of the forest-wood value chain and through political lobbying. The dependence of the furniture producers on the suppliers of wood products varies be-tween the three study regions. This dependency is weak in NRW because the furniture manufacturers can source materials regionally and beyond without any difficulties, and because large wood suppliers take into consideration the demands of the furniture in-dustry with respect to quality, dimensions and the preparation of sawn wood and derived timber materials. This contrasts with the situation in Brazil. In SBS large to moderately large furniture manufacturers have taken a number of steps towards backward vertical integration (establishment of own sawmills, in some cases resorting to the management of pine plantations) or have sought alternative sources of pre-finished materials. The rea-sons for this are the uncertainty of the wood supply and the quality of the pre-finished wood products. In RBA the statutory requirement that only wood derived from 'legitimate sources' be used in manufacturing poses problems for the largely state-sponsored furni-ture manufacturers in the formal sector. A large proportion of the regionally available tropical wood is sold in or exported to other regions of Brazil in the form of part-wood goods. The prices paid by furniture manufacturers for high quality pre-finished wood pro-ducts, particularly those made of certified wood, have increased considerably in recent years, whereas furniture prices are under great pressure due to competition from numer-ous small, informal manufacturers and as a result of the supply of cheaply manufactured, mass produced furniture from southern Brazil. As yet, only a few well-organised furniture manufacturers in RBA appear to have adopted a strategy capable of countering this di-lemma. In all three regions the relationship between furniture manufacturers and their customers is characterised by dependencies of the furniture manufacturers. In RBA formally regis-tered furniture manufacturers are greatly dependent upon public contracts. In SBS furni-ture manufacturers are dependent upon mass production for the export market, with inter-national customers often specifying the models and exerting a considerable influence on price setting. In terms of national sales, the manufacturers in NRW and in SBS are pitted against the large purchasing associations and groups within the furniture retail industry. In all three regions the furniture industry receives only weak 'forestry' signals from its di-rect costumers and end users – that the wood used in the furniture provided is sourced from 'legal' or 'sustainable' forest management is, at best, a subordinate purchase cri-terion, or is only relevant in niches within the market. The public clients in RBA are an exception as their furniture acquisitions are explicitly intended to support the development of sustainable regional forest-wood value chains in Acre. Experts from the three research regions characterised the interaction between furniture manufacturers as competitive, with little cooperation evident. Any cooperation between the enterprises occurs primarily in those areas that are of little relevance for competition (e.g., visits to exhibitions abroad). Initiatives prompting intensive cooperation often stem from associations or governmental organisations. The visits to the enterprises in the three regions and discussions with the experts revealed that the furniture manufacturers involved in the study do not possess a systematically de-veloped system of environmental management. Consideration of environmental problems is oriented primarily towards the relevant environmental regulations. According to the ex-perts, in NRW the furniture manufacturers adhere to the rules. Their production facilities are subject to strict controls by the environmental authorities. In Brazil the statutory envi-ronmental regulations for furniture manufacturers include not only the enterprise-internal environmental protection stipulations but also the means to demonstrate that the wood used stems from legal sources. The implementation of the environmental protection re-quirements at operational level was found to be variable in the two Brazilian regions. Interpretation of the results in a theoretical context The author sought to understand how entrepreneurs and managers in the wood process-ing industry perceive and interpret their own environment; how they make and justify deci-sions. The focus was on the forestry reasoning exhibited by decision makers in furniture manufacturing enterprises. The interpretative approaches followed were: 1. The differentiation of motives for forestry-relevant behaviour displayed by furniture manufacturers; 2. The differentiation of behavioural planes of reference and time horizons; 3. The examination of the extent to which the specific behaviour with respect to the forest resource, as the principal source of the raw material used in the manufac-ture of furniture, corresponds to the general behavioural patterns of decision mak-ers in manufacturing enterprises. On (1) motives for forestry-related behaviour One might enquire as to the perceived urgency of the forestry-related signals that a furni-ture manufacturer receives from his environment: can, as far as the manufacturer is con-cerned, stakeholder groups demand or even force a certain forestry-related behaviour? The case studies suggest that furniture manufacturers perceive and take into consider-ation influences exerted by stakeholder groups external to the product chain. It would ap-pear, however, that the intensity of the perceived demands is rarely so high as to cause a reaction on the part of the manufacturers. Changes in the behaviour of Brazilian manufac-turers did become evident in the study after the introduction of the DOF documentation requiring that they be able to prove the wood they use is sourced legally. Conversely, it can be assumed that furniture manufacturers predominantly perceive forestry-related themes within their environment as signals, which they assess individually on the basis of their own beliefs and either integrate within their strategies or ignore. The type of pre-finished wood product – or combination of materials – used in the manu-facture of a piece of furniture serves to focus the attention of furniture buyers onto the relationship with 'forestry' to a greater or lesser extent, through which the forestry reason-ing of the manufacturers is also influenced. The investigation revealed differences in understanding and in marketing approaches between the manufacturers of furniture made of derived timber products and those of furniture made from solid wood; and in the latter case there was a further distinction between users of tropical and non-tropical tree spe-cies. The manufacturers of solid wood furniture often draw a link between their furniture and nature or the forest. Manufacturers of furniture made with tropical wood emphasise the individuality of unique types of wood stemming from natural forests rich in species. The manufacturers of furniture using non-tropical species, alternatively, accentuate the fact that their wood stems from sustainably managed 'non-tropical' forests. Manufacturers using derived timber products base their 'ecological' arguments on the advantages of the low levels of waste in the production and processing of derived timber products, as a re-sult of which forest resources are used more efficiently. The Brazilian furniture manufacturers are concerned by the uncertainties surrounding the supply of wood. The associated problems are perceived differently by different manufac-turers, even within the two case study regions. In all three study regions the furniture manufacturers involved in the study avowed the use of wood from legitimate sources, and expect risks to their sales if their customers were to have doubts in this regard. At present there is little critical scrutiny of the origins of the wood used in furniture by the consumer, however, and that which exists focuses predominantly on the use of tropical wood. On (2) behavioural planes of reference and time horizons In only very few cases is forest management an activity undertaken by furniture manufac-turers. The forestry-related behaviour of the furniture manufacturers does not involve di-rect participation in forest management operations, but rather in influencing these indi-rectly, or in reacting to the forest issues taken up by other actors. This is expressed in the choice of the materials used in furniture manufacture, and in their procurement; that is, through behaviour linked directly to furniture manufacture. It is also expressed in the communication with stakeholder groups situated in the enterprises' immediate surround-ings and in their macro-environment. Material-oriented behaviour and the relationship with stakeholder groups are not independent issues but may be linked; for example, because in decisions concerning material selection the manufacturer's trust in the supplier and the preferences of the consumers are taken into consideration. In terms of the time horizons of the decisions made by furniture manufacturers, the analy-sis made clear that forestry reasoning plays a subordinate role in their short term perspec-tive, and that other aspects are of greater importance for the enterprises in question (e.g., wood supply for the current production programme and competition). Forestry-related considerations and measures (e.g., the use of alternative pre-finished wood products or the use of certified wood) are afforded greater weighting in the medium to long term. On (3) whether forest rationality reflects general patterns of behaviour Many of the forms of forest rationality of the furniture manufacturers identified in the re-search can be matched to general behavioural patterns of decision makers in commercial enterprises: Legitimacy: The furniture manufacturers from all three regions involved in the study em-phasised that their own forestry-related behaviour complies with the law and is ecologi-cally sound, particularly the choice of pre-finished wood products. They adopted this posi-tion irrespective of their abilities to judge or influence the sources of the raw materials pro-cured. Adaptation: The furniture manufactures react to demands from their environment, such as statutory regulations and controls, criticism from environmental protection associations, requests from customers and altered competition conditions. Such reactions also incorpo-rate their forestry-related behaviour, with avoidance (e.g., avoiding the use of tropical wood) a possible alternative or complementary behaviour. Anticipation: Enterprises develop anticipation strategies in order to prepare in advance for expected future challenges, risks and opportunities. This behaviour was exhibited by furni-ture manufacturers in all three study areas; for example, in their manner of dealing with forest-wood product chain certification and in the testing of new wood types and derived timber products. Innovation: Innovation is a form of manifestation of adaptation and anticipation, but is also a distinct form of behaviour in the case of the manufacturers of solid wood furniture. They have, to a certain extent, aspects of forest management (particularly evident in the case of the furniture manufacturers in SBS that have integrated plantation management as a new area of operations) and the further development of their raw material base firmly in focus from the outset. There are also secondary effects for forestry. This study of the 'forest rationality' of wood processing enterprises shows that furniture manufacturers perceive the strengths and weaknesses associated with forest utilisation in their regions, and that they reflect carefully on forestry-related decisions. The decisions they make depend on the framework conditions within the industry, the behaviour of the associated stakeholder groups, the strategy of the specific enterprise and on the ideals of the owners and managers. They are confronted by the expectations of certain state and private stakeholder groups; expectations that correspond with the concept of sustainable development espoused by Agenda 21. The enterprises included in the case studies re-vealed individual starting points for the achievement of sustainable development in forest-rich regions through the production of furniture. However, the current forestry-related be-haviour of the manufacturers is not comprehensively geared towards sustainability. Rather it is pragmatically selective, tailored to the needs, interests and possible courses of action available to the respective enterprise. The potential for furniture manufacturers to achieve greater value creation in the non-material phases of the production process (marketing, and especially product design) exists. On the basis of neutral sustainability assessments in the wood value creation chain, carried out by recognised forestry certification systems, it is certainly possible for manufacturers of wood furniture to create greater impulses for the development and maintenance of sustainable forestry. Finally, to the theoretical approaches offering a potential explanation considered in the study, namely resource dependence and 'sensemaking.' The connection between the two could already be inferred from Pfeffer (1978). Steimle (2008) revealed the link between the two explicitly, in order to explain theoretically the sustainability behaviour of enter-prises. The author of this study also combined both approaches. The concept of resource dependence was helpful in the analysis of how embedded manufacturers are in their envi-ronment, and in the interpretation of their relationship with certain stakeholder groups. The 'sensemaking' approach rendered it easier to understand the perception by decision mak-ers in the industry of their business environment and their forestry-related behaviour.
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