Die Dissertation von L. Zuckerman (auch bekannt als Layla Zami) erforscht die Wechselbeziehungen zwischen Erinnerung, Bewegung, Diaspora und Zeit/Raum in Tanzproduktionen des 21. Jahrhunderts. In einer innovativen transkulturellen, transdisziplinären und transtemporalen Perspektive setzt die Publikation den Akzent auf die Solo-Arbeiten von sieben zeitgenössischen Choreograph_innen, die in Deutschland, Frankreich, Taiwan, Martinique, Palästina und den USA leben, und Interpret_innen ihrer eigenen Stücke sind. Ausgehend von der Hypothese, dass Körper eine zentrale Rolle in der Aushandlung und Überwindung von Machtverhältnissen spielen, fragt die Forschung was geschehen kann, wenn tanzende Körper die Vergangenheit in die Gegenwart transportieren, im materiellen und im metaphorischen Sinne. Die Autorin leitet ein neues Konzept ein, das im Englischen sowohl Substantiv als auch Verb ist: (to) perforMemory. Sie reflektiert die Besonderheiten der Ausdruckform Tanz in der Darstellung, Herstellung, und Tradierung von kultureller Erinnerung im Bezug auf historische Traumata wie der Holocaust, der Transatlantische Sklavenhandel, die Maafa, die Nakba und zeitgenössische gesellschaftspolitische Herausforderungen. Das als Spirale konzipierte Buch lädt zu einer Wanderung durch diasporische Tanz_schaften, in denen sich Fragestellungen zu Identität, Körperlichkeit, Zugehörigkeit, Räumlichkeit und Zeitlichkeit entfalten, und sich in der Diskussion von bestimmten Tanzsequenzen wechselseitig beleuchten. Die Doktorarbeit basiert auf den Ergebnissen einer vierjährigen internationalen Forschung. Die Quellen schöpfen aus unterschiedlichen Fachrichtungen, u.a. Gender und Queer Studies, Tanz/Performance, Kulturwissenschaften, Erinnerung, Postkoloniale Studien, Literatur, Quantenphysik, und Lyrik. Die Veröffentlichung beinhaltet ebenfalls die vollständigen Transkripte von persönlichen Gesprächen, die die Autorin mit den Künstler_innen Oxana Chi, Zufit Simon, Wan-Chao Chang, André M. Zachery, Farah Saleh, Christiane Emmanuel und Chantal Loïal aufgenommen hat, sowie Links zu Performance-Ausschnitten. ; The dissertation by L. Zuckerman (aka Layla Zami) explores the interrelations and interactions between memory, movement, diaspora, and spacetime in 21st century dance productions. In an innovative transcultural, transdisciplinary and transtemporal approach, the publication focuses on solo works by seven contemporary dancers-choreographers based in Germany, France, Taiwan, Martinique, Palestine and the USA. Contending that corporeality is a site and a source of power, the research asks what happens when moving bodies propel the past into the present, metaphorically and materially. The author introduces a new concept: (to) perforMemory, which is both a noun and a verb, and discusses the specificity of dance in the production and transmission of cultural memory in relation to historical trauma such as the Holocaust, the Transatlantic Slave Trade, Maafa, the Nakba and contemporary sociopolitical challenges. Conceived in a spiral-like fashion, the book takes the reader through diasporic dancescapes in which notions of identity, home, embodiment, spatiality and temporality unfold and are brought into resonance with each other in the discussion of specific dance examples. The theoretical references connect such various fields as gender studies, dance and performance studies, cultural memory studies, postcolonial studies, literature, quantum physics, queer studies and poetry. Based on doctoral research conducted across the globe from 2013 to 2017, the electronic publication also features the full interview transcripts of personal conversations recorded by the author with the artists Oxana Chi, Zufit Simon, Wan-Chao Chang, André M. Zachery, Farah Saleh, Christiane Emmanuel and Chantal Loïal, as well as links to audiovisual performance excerpts. ; La thèse explore les interrelations et interactions entre mémoire, mouvement, diaspora et espace-temps dans la danse au XXIème siècle. Dans une approche transculturelle, transdisciplinaire et transtemporelle, la publication se concentre sur des pièces solo chorégraphiées et interprétées par sept chorégraphes contemporain.e.s basé.e.s en Allemagne, France, Martinique, Palestine, à Taiwan et aux Etats-Unis. Estimant que les corps humains sont objets et sujets de relations de pouvoir, la thèse étudie ce qui se passe lorsque les corps dansent le passé au temps présent, au sens propre et au sens figuré. L'auteure introduit un nouveau concept: (to) perforMemory, à la fois un substantif et un verbe en anglais. Elle met en relief la spécificité de la danse comme forme de production et transmission de la mémoire culturelle, en relation avec des traumas historiques tels que l'Holocauste, la Traite triangulaire ou Maafa, la Nakba ainsi que des défis sociopolitiques contemporains. Conçu comme une spirale, le livre est une invitation au voyage à travers des paysages diasporiques dansés, dans lequel les notions d'identité, d'appartenance, de spatialité, de temporalité et de représentation émergent tour à tour, et s'illuminent mutuellement dans l'analyse de séquences de danse concrètes. Le corpus théorique puise dans des domaines aussi variés que les études de genre, la danse, les études postcoloniales, la litérature, les Cultural Studies, la physique quantique, les études queer et la poésie. Basée sur des recherches doctorales conduites de 2013 à 2017 à travers le monde, cette publication électronique comprend également les transcriptions intégrales des entretiens personnels menés avec les artistes Oxana Chi, Zufit Simon, Chantal Loïal, Christiane Emmanuel, Farah Saleh, Wan-Chao Chang, et André M. Zachery, ainsi que des liens vers des extraits audiovisuels de spectacles.
Diese Dissertation erforscht die Verhandlung des Spannungsfeldes von Macht und Wissen durch verschiedene Arten des Zuhörens in Hindustani Klassischer Instrumentalmusik(-wissenschaft). Ich argumentiere, dass Zuhören als aktiver Modus des Umgangs mit Musik in diesem Spannungsfeld auf zwei miteinander verbundenen Ebenen eine Rolle spielt. Erstens ist Zuhören als selektive Wissenspraktik zu verstehen, die die normativen Grenzen und Inhalte von dem, was als Hindustani Klassische Instrumentalmusik gehört wird, aktiv mitgestaltet und manipuliert. Zweitens mobilisieren Musiker-und-Musikwissenschaftler aber genau diese distinkten Arten von Zuhören als diskursive Topoi innerhalb (normativer Diskurse über) musikalische Wissenspraktiken: Die Fähigkeit, auf eine gewisse Weise zu hören und das Er_hörte (explizit nicht) zu verbalisieren und/oder zu repräsentieren, ist durch komplexe historische Macht- und Wissensdynamiken mit Autorität aufgeladen. Damit kann die Fähigkeit zu hören als Baustein von Autorität in musikalischen Machtverhandlungen innerhalb zweier miteinander verwobener Wissensinstitutionen, Gharānā-und-Musikwissenschaft, mobilisiert werden. In meiner Dissertation analysiere ich einige Elemente dieser doppelten Existenz des Zuhörens, die mir während meiner Feldforschung mit Schülern dreier kanonisierter Instrumentalmusiker der Maihar gharānā, Ali Akbar Khan, Annapurna Devi, und Nikhil Banerjee, begegnet sind. Während diese Analysen explizit exemplarisch und fragmentiert angelegt sind, argumentiere ich, dass sie die Dringlichkeit der Hinterfragung, der Denaturalisierung standardisierter (musikwissenschaftlicher) (Hör-)Analysekategorien und -formen, wie auch der damit verbundenen und reproduzierten Machtstrukturen (hier: Musikwissenschaft-und-gharānā), aufzeigt. Zentral ist dabei die Frage, welches Wissen uns alternative Modi des Zuhörens über Spannungsfelder innerhalb zeitgenössischer musikalischer Praktiken (Sangīt encounters) eröffnen können. Dabei zeigt sich, dass das postkoloniale Dilemma auch in der Musikwissenschaft allgegenwärtig ist: es manifestiert sich in der Unmöglichkeit, mich in meinen eigenen Analysen komplett von standardisierten, und wie ich argumentiere stark kolonial geprägten, (akademischen) Hörgewohnheiten zu trennen. Die Herausforderung dieser Dissertation liegt in der Suche nach dem Hören als de_kolonialer Wissenspraktik, im gleichzeitigen expliziten Bewusstsein der Tatsache, dass dieses Suchen immer fehlschlagen wird. Der Wert dieser Arbeit liegt damit weniger im Zugewinn konkreten Faktenwissens, sondern mehr in der Dekonstruktion autoritativen Wissens und dem Suchen nach alternativen Wissenspraktiken. Um die historische Entwicklung und inhärente Komplexität der in der Hindustani Klassischen Musik(-wissenschaft) üblichen Hörstandards aufzuzeigen, analysiere ich in meinem Kapitel 'Resonances of Historical Fragments,' wie bestimmte Arten des selektiven Zuhörens innerhalb von politisch konnotierten Texten eingesetzt wurden, um spezifische Ideen über Hindustani Musik zu erzeugen. Ich zeige dabei, dass die Maßstäbe der In-Wert-Setzung von Musik über das Zuhören in orientalistischen wie auch nationalistischen Schriften des 18. bis frühen 20. Jahrhunderts vergleichbar und gleichermaßen problematisch waren, obwohl diese Diskurse unterschiedliche Ziele verfolgten. Dass sich diese Arten von musikalischer Aneignung über selektives Zuhören in den Post-Independence-Studies wiederfanden und auch heute noch immer unkritisch reproduziert werden, zeige ich im Kapitel 'On the Double Existence of Listening.' Ich argumentiere, dass obwohl in poststrukturalistischen und postkolonialistischen Studien in der Musikwissenschaft ähnliche Dynamiken von Macht und Wissen bereits kritisch hinterfragt wurden, die Erforschung von Hindustani Klassischer Musik sich aber von solch grundlegenden Fragen über die Selbstverständlichkeit von Analysemethoden, -arten, und die Repräsentation von Wissen über Musik, besonders erfolgreich abgegrenzt hat. Basierend auf Annemarie Mols Verständnis von Wissen als Praktik, die manipuliert werden kann schlage ich vor, Zuhören als manipulierbare Wissenspraktik zu verstehen. Dieses Verständnis erlaubt es, die doppelte Bedeutung der Produktivität von Zuhören zu betonen: Zuhören ist nicht nur selektiv, sondern ein produktiver Akt in dem Sinne, dass es bestimmte Wirklichkeiten überhaupt erst erzeugt. Vor diesem Hintergrund ist das akademische Zuhören als Teil der Praxis zu verstehen und steht nicht über oder außerhalb von ihnen: Sowohl akademische als auch musikalische Wissenspraktiken per_formen (hornscheidt 2012) die Musik, ihre ästhetische Grenzen und Inhalte, die sie lediglich vorgeben objektiv zu (re)präsentieren. Im nächsten Kapitel, 'Methods after Method', gehe ich auf meinen methodologischen Umgang mit den Herausforderungen dieser doppelte Daseinsform des Zuhörens ein, und darauf, wie sich diese Herausforderung zwangsläufig auch in der Form der Dissertation widerspiegelt. Das darauffolgende Kapitel 'Dynamics of Canonization' stellt die Musiker vor, mit deren Schülern ich mich befasst habe. Diese Schüler kanonisieren ihre Lehrer_innen (teilweise retrospektiv), indem sie immer wieder Schritte und spezifische Aspekte von deren musikalischen Werdegängen musikalisch und diskursiv hervorheben, In-Wert-Setzen. Ich argumentiere, dass Kanonisierung hier eher ein Werkzeug der Legitimierung der (Musik der) Erinnernden ist denn eines, das den Wert derer repräsentiert, der sich erinnert wird. In den nächsten drei Kapiteln analysiere ich Momente der Spannung, in denen Konflikte über die Grenzen und Inhalte der Hindustani Klassischen Instrumentalmusik über das Zuhören verhandelt werden. Ich zeige auf, wie verschiedene, immer komplex konnotierte Arten des Zuhörens nach "Klang," "Ton" und "Virtuosität" diese musikalischen Elementen immer unterschiedlich per_formen. Dieser Ansatz ist als Alternative zum Aufzeigen verschiedener, angeblich gleich zu bewertender, Perspektiven auf ein schon existierendes musikalisches Objekt zu verstehen. Ich zeige stattdessen, wie durch diese unterschiedlichen Wissenspraktiken Hindustani Klassische Instrumentalmusik erst per_formiert wird, und dabei als Vielfalt erscheint (im Sinne von Mols (2002) Konzept des "multiple"). Ich beende die Dissertation mit dem Plädoyer, dass eine Anerkennung dieser ontologischen Vielfalt, ohne auf normative Mechanismen von Macht und Wissen zurückzufallen, auch ein Versuch sein muss, die dazugehörige Fiktion der musikwissenschaftlichen und künstlerischen Autorität über musikalische Bedeutung und musikalischen Wert aufzugeben. ; In this book, I explore frictions over musical details as indicative of a field of tension between musical knowledge and power that is thoroughly intertwined with its academic study. To do justice to this complexity, in this book I adopt an emphatically "restless" (Agawu 2003; Abels 2016a, 2016b; Kramer 2016) approach. I seek to lay bare "the enabling constructs of […modes of listening as] knowledge systems," (Agawu 2003: xvii), which include and inform what is considered legitimate musical knowledge practices within both academia and Maihar gharānā. With anthropologist Annemarie Mol, I understand knowledge not "as a matter of reference, but as one of manipulation" (Mol 2002: 5). This allows an approach that moves beyond, rather than rejecting, one mode of listening as authoritative. Instead, I examine how modes of listening, as "knowledge practices" (ibid.: 5), interact with and shape contemporary realities of Hindustani classical instrumental music. I explore empirical material presented as sangīt "encounters": (Ahmed 2000) moments of tension regarding musical nuances that, so I argue, can be analyzed as strategies of controlling, transgressing, and transforming the normative boundaries of a musical system. This follows from the conviction that naturalized aesthetic boundaries become audible only in the moment of their disruption.
Während die meisten von uns die gefühlt unendliche Aneinanderreihung von Sonntagen mit Heimwerken, Nachrichten schauen und Entschleunigung verbrachten, nutzte der Theoretiker, Essayist und Filmkritiker Drehli Robnik den Lockdown in Österreich, um sich in seiner Monografie Ansteckkino. Eine politische Philosophie und Geschichte des Pandemie-Spielfilms von 1919 bis Covid-19 mit dem Verhältnis von Kino, Pandemie und Sozietät auseinanderzusetzen.Mit Ansteckkino knüpft Robnik nahtlos an sein bisheriges Werk an. Er untersucht populären Spielfilm, in diesem Fall "Ansteckkino", "Ansteckungsfilm", "Pandemie-Spielfilm" (S. 14), im Kontext von Politik und Geschichte. Es handelt sich hier um keine filmwissenschaftliche oder kulturwissenschaftliche Arbeit, sondern um eine historisch-philosophische, die "anhand von 167 Pandemiefilmen aus 100 Jahren deren Geschichte und Gegenwart in anhaltenden Formen und Wiederholungen" (S. 9) verhandelt. Dabei werden hauptsächlich die Narrative der Filme und weniger deren Ästhetik untersucht. Genre- und Morphologiefragen zur Definition von Ansteckungsfilmen sucht man vergebens, stattdessen beschreibt Robnik seinen Gegenstand flüchtig als "Filme, die als ganze oder in Teilen das Problem vermitteln, dass man einander ansteckt, wie also am täglichen sozialen Umgang etwas Gefährliches hervortritt" (S. 14). Mit einer "politischen Philosophie und Geschichte des Filmes, durch Film", wendet sich Robnik gegen eine ahistorische, gegen eine anthropologische und gegen eine psychologische Philosophie, die soziale Missstände mit der Begründung "der Mensch sei halt so" naturalisiert (S. 11f). Seine Kritik setzt dabei beim politischen Anspruch auf Egalität an.Der Autor versteht Film als Wahrnehmung, und zwar als "Wahrnehmung von Konflikten und Ermächtigungskämpfen, von Veränderung der Herrschaftsmächte in ihrer Prozesshaftigkeit" (S. 12). Wie tangieren diese Wahrnehmungen die Alltage der Bevölkerung politisch? Ähnlich wie im Kino, lädt uns Drehli Robnik ein, sich in seinem Werk zum "Wahrnehmen von Kontingenz von Wirklichkeit zu versammeln" (S. 15). Wenn er die Einleitung mit "Streit-Geschichte in Film-Wahrnehmung" betitelt, richtet er seinen Fokus auf die Gesellschaft als Konfliktfeld, es geht um politische Bewegung, "Gründungen" im Streit, immer mit Menschen. (Film-)Geschichte wird brüchig, kann immer wieder neue Potentiale entwickeln, die eben auch rassistisch, antisemitistisch, aggressiv White sein können, beziehungsweise in konspirative Machthandlungen münden (vgl. S. 12f). Diese Monografie arbeitet sich nicht systematisch an einer These ab. Auf eine lineare Argumentation durch die Kapitel hindurch wird zumeist verzichtet. Stattdessen hangelt sich der Text mit groben Stichworten und Perspektiven anhand des Gegenstandes "Pandemie-Spielfilm" entlang. Dabei werden vier Linien für die politische Philosophie und Geschichte des Ansteckungsfilms herauskristallisiert: "Vermachtung von Lebensprozessen", "Dechiffrierung von Infrastrukturen", "Verselbstständigung von Namen" und "Spannung zwischen Normalablauf gesellschaftlicher Regulierung und souveräner Macht". Entlang dieser Linien werden "Gender- und Klassenverhältnisse sowie rassistisch überformte Machtverhältnisse" aufgedeckt (S. 21).Dabei analysiert Robnik unter anderem "Ansteckungsfilm zwischen 1919 – 1945", "Postkoloniales Nachkriegskino 1950 – 1970", "Mittelalter-Ansteckungsfilm", "westliche Ansteckungsfilme im Kalten Krieg der 1950er–1960er Jahre", "Zombie-Ansteckungsfilme" und auch aktuelle Ansteckungsfilme des 21. Jahrhunderts. Die Einschränkung in der Filmauswahl wird vom Autor reflektiert. Trotz seiner Bemühungen bleibe das nicht-westliche, nicht-weiße Kino unterrepräsentiert. Die biopolitische "Vermachtung von Lebensprozessen" wird ausführlich anhand vom "Ansteckungsfilm 1919 – 1945" beschrieben. Es geht um biopolitische Regime, deren Macht am menschlichen Körper ansetzt und die Bevölkerung als schieres Leben definiert (S. 25f). Unter faschistoiden Bedingungen liegt eine rassenhygienische Vernichtung biologischer Feinde nahe. Der Feind, der Fremdkörper, der Andere infiziert das Volk. Er muss von der biopolitischen Gemeinschaft ausgeschlossen werden. So wird die Stadt in der Handlung von M – Eine Stadt sucht einen Mörder (1931) als ein "biopolitisches Ensemble, das einen Mörder sucht und diesen immunitär selbstreinigend als Fremdkörper ausstößt" (S. 34), gelesen. Auch die "Spannung zwischen Normalablauf gesellschaftlicher Regulierung und souveräner Macht" lässt sich da bereits als Motiv erkennen. Demokratische Sicherheitsmaßnahmen werden im Ausnahmezustand übergangen. Der Pandemiefilm ist voll Selbstjustiz und Allein-Herrschaft, da er oft vom Ausnahmezustand handelt und darin "Suspendierung regulärer Rechtstaatlichkeit" ein sich wiederholendes Phänomen ist (S. 28).Bei der "Verselbstständigung von Namen" handelt es sich um "Fragwürdig-Werden alter und Auftauchen unvorhergesehener neuer 'Namen' und Geltungsansprüche" (S. 21). Eine Pandemie als einschneidendes Ereignis in der Geschichte, in der verfestigte symbolische Ordnungen offenbart/geöffnet/gebrochen werden. Welche neuen Bedeutungskämpfe gibt es um die Signifikanten Herrscher, Staatshilfe und Gesundheit? Welche politischen Auswirkungen folgen für die Gesellschaft?Die "Dechiffrierung von Infrastrukturen" ist eine "Sozialdiagnostik mit Zügen von Archäologie", wohl im foucaultschen Sinne. Dispositiv-Analysen unter Pandemiebedingungen. Wie schauen die Netze zwischen Institutionen, Subjekten und allen anderen Dispositiv-relevanten Elementen aus? Wie wandeln sie sich? Widmen wir uns für einen Moment zur Veranschaulichung von Robniks Arbeitsweise seiner Lektüre von Pest in Florenz (1919), die unmittelbar vor Nennung der vier Linien erfolgt. Der 1919 erschienene Film markiert den Startpunkt in das philosophisch-historische Unterfangen, obwohl es sich sicher nicht um den allerersten Pandemiefilm handelt und obwohl Murnaus Nosferatu (1922) die bekanntere Auswahl gewesen wäre. In Florenz bricht die Seuche aus, eingeschleppt aus Venedig, dem sündigen sehr nahen Osten. Die Epidemie kommt auch in Nosferatu aus dem Osten, genauso wie COVID-19 in Wuhan seinen Anfang nahm. Es ist nicht zu übersehen, dass hier auch rassistische Projektionen mitschwingen. Der politische Sinn in Pest in Florenz erinnert Robnik an Siegfried Kracauers Ideologiekritik des Weimarer Kinos. Demnach kultivierte sich im Kino eine Sicht der Gesellschaft, in der "nur 'Tyrannei' oder aber 'Chaos' als einzige Chance", abseits von Egalität und demokratischen Prinzipien möglich wäre (S. 19). Mit den Florentinern wird religiös-mythisch abgerechnet. Die Infektion als Heilmittel gegen Freude, Lust und Wollust. Letztendlich werden die Florentiner aus der symbolischen Ordnung verbannt, die katholische Kirche erklärt sie als vogelfrei und damit außerhalb des Gesetzes. Die Florentiner versuchen sich zu schützen, indem sie sich innerhalb der Stadt abriegeln und kranke Kinder an ihren Grenzen abweisen. Die Wiederholung dieses Plots wird es dann 101 Jahre später an den EU-Außengrenzen geben. Der Begriff Ansteckung wird im Laufe der Monografie geöffnet. Die Infektion wird hier zur Kommunikation innerhalb gesellschaftlicher Netzwerke. Körper erscheinen somit in einem relationalen Geflecht aus Ansteckung, Affizierung und Resonanz. Dabei erinnert diese Begriffsöffnung an den New Materialism, der um Diana Coole und Samantha Frost Ausdruck findet. Die Pandemie erinnert uns daran, dass strikte Subjekt-Objekt-Trennungen zu problematisieren sind. Vielmehr interagieren Körper prozesshaft auf der Ebene der Immanenz. Daran anknüpfend sieht der Autor in der Ablehnung von Krankheiten als Ausschluss, das Potential "hegemoniale Subjektformen anzufechten". (S. 128) Betrachtet man eine Zeitspanne von 100 Jahren, so ist es nicht weiter verwunderlich, dass auch Medienkultur im Text Beachtung findet, denn "Konzepte von Mediengesellschaft stehen Konzepten von viraler Verbreitung nahe" (S. 139). Beide Konzepte können auf gesellschaftliche Machtverhältnisse verweisen, teilen sich somit eine politische Ader. Die Rolle der Medienpräsenz im Ansteckkino zeigt sich vor allem in Informationsverbreitungsmaschinen wie Zeitung, Fernsehen und Internet. Sowie die Globalisierung die Verbreitung des Virus befeuert, so führen unsere medialen Settings zu Informations-Spreading, und leider auch in korrumpierter Form zur Angstverbreitung. Aber den Medien sind auch Potentiale eingeschrieben. In Pandemiefilmen dienen Medien – von Kamera bis zum Mikroskop – "zum Sehen-Können von zuvor (zu) wenig gesehenen sozialen Verhältnissen" (S. 139). Der Film an sich wird für Robnik zum Mikroskop. Das fehlende Fazit sowie die Abstinenz einer eindeutig formulierten These zu Beginn, sowie eine sprunghafte Argumentationsführung erschweren die Zugänglichkeit des Buches. Die Menge an Filmbeispielen dient zwar als gelungenes "Inventar" des Pandemiefilms, oft hätte man sich jedoch einen längeren Verbleib bei einzelnen Filmbeispielen gewünscht. Zusätzlich wurde die Lektüre, durch die zwischen wissenschaftlichem und essayistischem Stil fluktuierende Sprache erschwert. Die essayistischen Passagen beinhalten viele Wortspiele, die leider eher störend wirken und nicht zur Argumentation beitragen. Trotzdem ist dem Autor gelungen, mit differenzierter Betrachtungsweise der Filme zu zeigen, dass die Thematik Pandemie immer schon eng mit dem Kino verbunden war. Entlang des Filmes denkt Robnik die Kontingenz der Gesellschaft. Gleichzeitig werden die Filme dekonstruiert, bis deren Rassismen, Sexismen und Machtverhältnisse eindeutig werden. Niemals geht es in diesem Buch um eine rückwärtsgewandte historische Behandlung von Filmen. Die Vergangenheit sammelt sich immer am Punkt Gegenwart. Damit nutzt der Autor jede Gelegenheit über Analogien Vergangenheit und Gegenwart zu verknüpfen, die Wiederholung zu beschreiben und die Differenz herauszuarbeiten.
Ausgangspunkt des Forschungsprojektes ist der mobile Straßenhandel in Berlin. Der Souvenirverkäufer türkischer Herkunft am Checkpoint Charlie, die pakistanischen Schmuckverkäufer am Alexanderplatz und andere MikrounternehmerInnen verkaufen Schmuck, Snacks, Zeitungen und andere Waren. Während sie sich täglich auf städtischen Straßen und Plätzen bewegen, sichern sie ihre ökonomische Existenz. Sie bilden eine gesellschaftlich randständige Ökonomie, deren oftmals migrantischen Subjekte überwiegend aus der Peripherie einer globalisierten Welt kommen. Solche alltäglichen Stadtszenen stellen glokalisierte Begegnungs- und Verdichtungsräume dar und machen die Globalisierung westlicher Metropolen augenfällig. Sie verweisen aber auch auf das problematische Verhältnis zwischen urbaner Raumnutzung, Arbeit, Migration, Informalisierung und Prekarität. Der Arbeit liegt die Annahme zugrunde, dass im Kontext der Neoliberalisierung des Städtischen nicht nur politökonomische, sondern auch migrationspolitische Prozesse die städtische Raumproduktion strukturieren. Der mobile Straßenhandel bietet für die Untersuchung dieses Zusammenhangs zentrale Aspekte: sowohl der Standort dieser städtischen Ökonomie im öffentlichen Raum verbunden mit Fragen der städtischen Repräsentation, die Positionalität der migrantischen Straßenhändler_innen als auch das Verständnis dieser ökonomische Praxis als 'informelle' Ökonomie. Entlang dieser Aspekte wird dieses Verhältnis anhand der Regulierung und Praxis von Straßenhandel mittels ethnographischer Interviews, Dokumentenanalyse und Expert_inneninterviews untersucht. Für die theoretische Einordnung und Analyse sind feministische, rassismuskritische, post- und dekoloniale Ansätze herangezogen worden. Um sowohl die epistemischen Voraussetzungen der Arbeit als auch den multiperspektivischen methodischen Ansatz darzustellen, ist die Arbeit in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil der Arbeit "Wissen Produzieren" wird das analytische und theoretische Setting für eine selbst- und gesellschaftskritische Befragung der eigenen wissenschaftlichen Zugänge und Produktionsbedingungen der forschenden Person entwickelt, um im nächsten Teil der Arbeit den Stadtraum Berlin mehrdimensional zu kontextualisieren. Im zweiten Teil "Berlin Verorten" wird der Forschungsstand zur urbanen Informalität, kritischen Rassismustheorie und zur unternehmerischen Stadt eingeführt. Danach werden die historischen, sozio-kulturellen und politökonomischen Rahmenbedingungen des mobilen Straßenhandels in Berlin aufeinander bezogen, um die Produktion des öffentlichen Raumes sowie die Auseinandersetzungen und Verhandlungen der Straßenhändler mit diesen Bedingungen darzustellen. Zum einen wird die Perspektive der migrantischen Straßenhändler vor dem Hintergrund der strukturellen Diskriminierung von Menschen mit Migrationshintergrund auf dem Arbeitsmarkt und den Ausgangsbedingungen für migrantische Existenzgründung beleuchtet und in den Fokus gestellt. Zum anderen werden die diskursiven Setzungen und Formen der Repräsentationen der Berliner Stadtentwicklungsplanung als "Metropole" und als "europäische Stadt" in der Nachwendezeit dargestellt, in der die Funktion des öffentlichen Raumes gedeutet wurde. Der abschließende und dritte Teil "Stadtplanung Dezentrieren" fasst die in dieser Arbeit gewonnenen Erkenntnisse für eine Bewertung und Einordnung der mikroökonomischen Informalität postkolonialer Migrant_innen in westlichen Metropolen zusammen und akzentuiert diese für die politische Praxis von Planung in der neoliberalen Stadt. Die Zusammenfassung wird durch zwei Fallstudien ergänzt, die insbesondere die Frage der Selbstorganisation herausarbeiten: der Food Market im Preussenpark, Berlin, bekannt auch als "Thaiwiese" und Red Hook Food Vendors Market Place, Brooklyn, New York. Die Untersuchungen zum Straßenhandel zeigen auf, dass hier Potentiale für die Demokratisierung des Städtischen vorliegen, die mit einer aktiven Anti-Diskriminierungspolitik verknüpft werden können. ; The point of departure for this research project is the practice of mobile street vending in Berlin. The souvenir seller of Turkish origin, the Pakistani jewelry seller on Alexanderplatz and other entrepreneurs all sell jewelry, food, newspapers and other wares. They secure their livelihoods while moving around streets and public spaces on a daily basis. Street vending is a marginalized economy, whose actors are mostly migrants from the peripheries of a globalized world. Such urban scenes of daily life not only illustrate glocalized spaces of encounter and agglomeration, but also further the globalization of western metropolises. At the same time, street vending refers to the problematic relations of urban spatial uses, labor, migration, informalization and precariousness. Therefore this research argues that within the context of urban neoliberalization, it is not only politico-economic forces that structure urban space production, but policies of migration as well. In connection with this assumption, mobile street vending raises many themes that merit research: issues of urban representation, the positionality of the migrant street vendors, and the understanding of this economic practice as an 'informal' economy. Alongside these issues, urban space production was investigated with regard to the regulation and practice of street vending by means of ethnographic interviews, document analysis and expert interviews. The project draws on feminist, critical race, postcolonial and decolonial theories to establish the project's theoretical framework and categories of analysis. In order to present the project's epistemic prerequisites and multiperspectival methodology, the dissertation is divided into three parts. The first section, "Producing Knowledge," develops the theoretical and analytical settings for a critical interrogation of the academic avenues of access. This enables a multi-dimensional contextualization of the project in the urban space of Berlin in the next section. The second section "Locating Berlin" introduces the current research on urban informality, critical race theory and the entrepreneurial city. The connections between the historical, socio-cultural and politico-economic parameters of mobile street vending in Berlin are then established, in order to describe the production of public space as well as the conflicts and negotiations of street vendors with these conditions. On the one hand, the focus lies on the perspectives of the migrant street vendors against the backdrop of structural discrimination against migrants on the German labor market. On the other hand the focus lies on the function of public space in Berlin after reunification when urban planning emphasized the representation of the city as a "metropolis" or as a "European city". The final section, "Decentering Urban Planning," summarizes the findings of this project for the assessment and indexing of the microeconomic informality of postcolonial migrants in western metropolises, and accentuates the findings for the political practice of planning in the neoliberal city. The summary is supplemented by two other case studies that focus on the question of self-organization: the food market in Preussenpark, Berlin, also known as "Thaiwiese" and Red Hook Food Vendors Market Place in Brooklyn, New York. The studies on street vending show that the potential for urban democratization does exist, particularly if they are connected to active anti-discrimination policies.
Florian Malzacher, freier Autor, Dramaturg und Kurator, tätig unter anderem in leitender Funktion beim Festival steirischer herbst in Graz (2006–2012) und beim Impulse Theater Festival in Düsseldorf, Köln und Mühlheim (2013–2017), geht in seiner neuen Monographie einem Theater im Spannungsfeld von Repräsentation und Partizipation nach. Dabei akzentuiert er bereits in der Einleitung, dass es ihm in Gesellschaftsspiele. Politisches Theater heute nicht um eine umfassende Darstellung aller möglichen als politisch beschreibbaren Theaterformen gehe; vielmehr strebe er "ein suchendes Buch über ein suchendes Theater, das Teil einer suchenden Gesellschaft" sei, an (S. 16). Diese einführenden Worte lassen eine gewisse Unentschlossenheit in der Auswahl der Fallbeispiele und Analysefelder befürchten – eine Sorge, die sich rasch als nichtig erweist, geht es dem Autor doch klar um die Benennung eines politischen Theaters, das politische Prozesse, Visionen und Lösungsversuche nicht nur zeigt, sondern bewusst mitgestaltet. Die Fokussierung auf tendenziell postdramatische Theaterformen des deutschsprachigen Raums erscheint angesichts von Malzachers Biographie naheliegend. Die fünf Hauptkapitel sind schlaglichtartig in die Begriffe "Repräsentation", "Identitätspolitiken", "Partizipation", "Kunst und Aktivismus" sowie "Theater als Versammlung" unterteilt. Darin werden Beispiele primär institutionellen Theaterschaffens der letzten zehn Jahre diskutiert, um Gestaltungs- und Wirkungsmöglichkeiten eines politischen Theaters auszuloten, das einen dezidiert aktivistischen Anspruch erhebt. Wie vielfältig dieser Anspruch besetzt werden kann, zeigt sich schon in den Beispielen des ersten Kapitels zur "Repräsentation". Dieses widmet sich zunächst der Neuauflage einer bereits existierenden Inszenierung von Josef Bierbichlers Roman Mittelreich. Die Regisseurin Anta Helena Recke bediente sich dabei der 2015 uraufgeführten Inszenierung von Anna-Sophie Mahler und brachte diese mit ausschließlich schwarzen Schauspieler*innen in den Hauptrollen auf die Bühne der Münchner Kammerspiele (2017). Gleiches Bühnenbild, gleicher Text, gleicher Ablauf – nur Schauspieler*innen, der Chor und die Musiker*innen werden ausgetauscht, um eine, so Recke, "Schwarzkopie" auf die Bühne zu bringen. Diese Form der appropriation art thematisiert "den (Alb)traum völliger Assimilation" (S. 20) und ist laut Malzacher zugleich eines der überraschend seltenen Beispiele für institutionelle Selbstkritik im Theater. Die generelle Problematik der Repräsentation auf den europäischen und insbesondere deutschsprachigen Bühnen führt Malzacher auch historisch aus: Demnach versuchten performance arts und happenings seit den 1960er Jahren der Repräsentation "zu entkommen, indem sie den Fokus ganz auf die Präsenz, die Gegenwärtigkeit der Situation legten, die sie selbst erzeugen" (S. 28). Im Theater seien diametrale Vorstellungen der Repräsentationsproblematik zu finden: Während manche Theaterformen versucht haben, beispielsweise unter dem Einfluss von Antonin Artaud, die Differenz zwischen Repräsentation und Repräsentiertem und damit zwischen Kunst und Leben aufzuheben, wollten andere, darunter am prominentesten Bertolt Brecht, diese transparent machen und zugleich jene Personengruppen einbeziehen, die künstlerisch wie politisch nicht ausreichend repräsentiert sind. Brecht war sich jedoch schon Anfang der 1930er Jahre der Repräsentationsproblematik bewusst, als er seinen Begriff der "Menschenfresserdramatik" ins Spiel brachte: "Doppelte Ministergehälter wurden den Mimen ausgeworfen, welche die Qualen der Ausgebeuteten möglichst naturgetreu imitieren konnten" (zit. nach S. 30). Die Frage, wer wen repräsentiert, habe sich jedoch in den letzten drei Jahrzehnten zugespitzt, wenn man an die Arbeiten von Rimini Protokoll und ihren "Expert*innen des Alltags" oder an Formen der (Selbst-)Repräsentation in Theaterhäusern mit Kompanien kognitiv beeinträchtigter Schauspieler*innen denkt. Die Repräsentationsfrage erschöpft sich jedoch nicht in der Besetzungspolitik und im Umgang mit gesellschaftlichen Minderheiten auf der Bühne, sondern wird angesichts der Diskurse des Anthropozäns, des Animismus und des Post-Humanismus aktuell auf anderen Ebenen virulent. Denn eine seriöse Auseinandersetzung mit Repräsentation im Theater schließt konsequenterweise auch nicht-menschliche Wesenheiten mit ein, beispielsweise in Mette Ingvartsens evaporated landscapes (2009), in der Landschaften aus Nebel und Licht choreographiert werden, oder in Stefan Kaegis Solo für einen Androiden Uncanny Valley (2018), in welchem der Mensch durch einen Roboter ersetzt wurde. Die Prognose von Malzacher in dieser Hinsicht bleibt optimistisch: "Während der Mangel an Perfektion des Roboters vielleicht bald schon Schnee von gestern ist, wird der menschliche Makel des Fehlerhaften auch künftig zum Theater gehören, das immer ein Medium der radikalen Gegenwärtigkeit und des Menschlichen, also des Kompromisses und des Scheiterns" sei (S. 46 f).Angesichts der wissenschaftlichen und feuilletonistischen Beschäftigung mit "Identitätspolitik" bleibt jenes Kapitel überraschend kurz, was sicherlich auch daran liegt, dass das Thema in den anderen Teilen des Buchs immer wieder aufscheint. Malzacher nimmt hier trotz der Kürze eine globale Perspektive ein, führt politische Diskurse der amerikanischen identity politics gleichermaßen aus wie postkoloniale Theorien von Gayatri Chakravorty Spivak sowie Slavoj Žižeks Kritik an linker Identitätspolitik. Es ist das einzige Unterkapitel, das ohne ausführliches Fallbeispiel aus dem Theater auskommt und eher perspektivisch, in gewisser Weise utopisch bleibt: "Dabei ist die komplexe Gemengelage [der Identitätspolitik] eigentlich eine ideale Voraussetzung für eine Kunst, deren Aufgabe es nicht ist, alles einfacher zu machen, sondern neue Horizonte zu eröffnen, andere Lebens- und Sichtweisen mit den eigenen zu konfrontieren, eigene Verstrickungen in die politischen Dilemmas unserer Zeit aufzudecken. [.] Doch Angst, Schmollen oder Nostalgie sind keine guten Ausgangspunkte, um Kunst zu machen oder zu rezipieren. Besser sind Neugierde, Empathie und Mut" (S. 62). Konkreter wird es im Kapitel zur "Partizipation". Hier verlässt Malzacher auch zunächst die deutschsprachige bzw. mitteleuropäische Perspektive und befasst sich mit Antanas Mockus, der 1995 Bürgermeister von Bogotá wurde. Mit dem Konzept der cultura ciudadana (Bürgerkultur) integrierte er praktische Theatererfahrungen in seine Politik und nutzte Strategien der zeitgenössischen Kunst, um "Alltagssituationen zu dekontextualisieren, sie anders zu rahmen, sie verstehbar zu machen" (S. 65). Seine Maßnahmen als Bürgermeister führten Bogotá weg vom unrühmlichen ersten Platz in der Weltrangliste gefährlichster Städte: Er veranlasste beispielsweise mittels Marketingmaßnahmen Kinder in weiten Teilen der Zivilbevölkerung dazu, Druck auf ihre Eltern auszuüben, damit sie in örtlichen Geschäften private Waffen gegen Spielzeug eintauschen. Auch ließ er sich in einem "Super-Bürger"-Kostüm fotografieren, um sich über seine vermeintliche Macht zu mokieren. In seine kugelsichere Weste – eine tägliche Standardausrüstung für kolumbianische Politiker*innen seines Status – schnitt er ein herzförmiges Loch, inszenierte dieses somit zugleich als eine Art Achillesferse und propagierte Gewaltfreiheit, während er damit zugleich sein eigenes Leben riskierte. Mit der politischen Popularisierung von theatralen Inszenierungsstrategien war Antanas Mockus ausgesprochen erfolgreich. Dieses konkrete Beispiel wird gleich einer Utopie in die Argumentation Malzachers eingeführt, wenn der Autor daraufhin attestiert, dass ein politisches Theater der Partizipation, in welcher das Publikum zur Beteiligung bewegt wird, meist nur eine vorgetäuschte Beteiligung meine, nämlich eine "als Aktivität verkleidete Passivität" (S. 67). Hier wird Malzacher auch fordernd: "Wo Theater politisch sein will, muss es sich mit der Frage nach Teilhabe auseinandersetzen und sich mitten hinein in das skizzierte Dilemma bewegen" (ebd.). Er unterscheidet zwischen Beispielen partizipativen Theaters, die gleichzeitig als Realität und als Fiktion erfahren werden (She She Pop, Arbeiten der Performerin Ann Liv Young) und stellt ihnen ein Theater der Immersion gegenüber, das "Partizipation als Unterwerfung" praktiziere. Als Beispiel fungiert hierbei ein multimediales Projekt, dessen Produktionskontext jedoch theatralen Inszenierungs- und Schautraditionen folge: DAU, ein seit 2009 laufendes Film- und Performancespektakel des russischen Filmemachers Ilja Chrschanowski, sei zunächst für die Beteiligten immersiv. Hunderte Schauspieler*innen, aber auch Wissenschaftler*innen, Köch*innen, Pfleger*innen etc. werden für drei Jahre in ein 24/7 Dauerrollenspiel im ukrainischen Charkiw angesiedelt. In Kostümen spielen sie in einem gigantomanischen Filmset und vor zahlreichen versteckten und nicht-versteckten Kameras den Alltag eines physikalischen Geheiminstituts nach, und zwar unter "immersiven Bedingungen; Gewalt, Alkohol und einige Kindszeugungen inklusive" (S. 90). DAU entspreche damit der künstlerisch-gigantomanischen Realität fiktiver Filme wie etwa Peter Weirs The Truman Show (1998) oder Charlie Kaufmans Synecdoche, New York (2008). Darin sieht Malzacher jedoch das Gefahrenpotenzial der Immersion: "Es geht nicht um Emanzipation und Erkenntnis, sondern um Unterwerfung" (S. 91). Nahezu gegenteilig zu DAU verhalten sich die Fallbeispiele im Kapitel "Kunst und Aktivismus", in dem er künstlerische Strategien und Taktiken rezenter Protestkulturen thematisiert. Die Arbeiten der Londoner Clandestine Insurgent Rebel Clown Army (C.I.R.C.A.) versuchen in laufende Proteste zu intervenieren und aufgeheizte Konfrontationen zwischen Demonstrant*innen und Polizist*innen mit theatralen Mitteln zu verwirren bzw. die Exekutive zum Lachen zu bringen und somit eine zugespitzte Situation zu entschärfen. C.I.R.C.A. sind sogenannte artivists, die mittels theatraler Strategien Machtverhältnisse nicht nur in Frage stellen, sondern unterbrechen. Ähnlich funktionieren die Arbeiten des US-amerikanischen Performancekünstlers William Talen, der als charismatischer TV-Evangelikaler namens Reverend Billy zusammen mit anderen Künstler*innen die Church of Stop Shopping ins Leben gerufen hat. Ästhetisch und rhetorisch inspiriert von klerikalen US-Fernsehsendern tritt er mit Predigten und eigenen Gospelsongs in Gemeindezentren auf, aber auch auf Straßenkreuzungen, Parkplätzen und in Shopping Malls, um den neoliberalen Konsum zu kritisieren. Zu deutschen Beispielen kehrt Malzacher mit dem Zentrum für Politische Schönheit (ZPS) zurück, beendet das Kapitel jedoch mit dem Beispiel des hoax, dem Streich in Form einer Falschmeldung mit dem Ziel, Massenmedien auf eine falsche Fährte zu locken: Als einen Höhepunkt der hoax-Strategie nennt er dabei die Arbeiten des Aktivistenduos The Yes Men, bestehend aus Jacques Servin und Igor Vamos. Durch die falsifizierte Identität von Servin als Sprecher des Konzerns Union Carbide gelang es ihnen 2004, am 20. Jahrestag der Industriekatastrophe mit tausenden Todesopfern im indischen Bhopal, in den Morgennachrichten der BBC World zugeschalten zu werden und eine Entschuldigung des Konzerns zu formulieren sowie Milliardenentschädigungen anzukündigen. Dass hinter der Figur des Firmensprechers der Yes Man Jacques Servin stand, flog noch am selben Tage auf, doch da war der Wert des Mutterkonzerns Dow Chemical an der Wall Street bereits um zwei Milliarden US Dollar gefallen. Der kurzfristige Börseneinbruch beweise: "Was ethisch richtig ist, wird vom Markt nicht unbedingt honoriert" (S. 106). The Yes Men sowie die Church of Stop Shopping gehören zur Strategie des laughtivism, die der serbische Aktivist Srđa Popović in die Protestkultur eingeführt hat. Im letzten Kapitel zum "Theater als Versammlung" werden Strategien von Theatermacher*innen beschrieben, in deren Arbeiten Partizipation mittels Entscheidungsgewalt ein aktiver Bestandteil der Inszenierung ist. Mit Milo Raus General Assembly und Die Kongo Tribunale sowie Jonas Staals New World Summits wird das politische Potenzial von Theatern als Orte der Versammlung hinterfragt. Die Beispiele thematisieren die Partizipation eines Publikums, das eingeladen wird, Abstimmungen durchzuführen, innerhalb von fiktiven Tribunalen ein Urteil zu sprechen oder politische Forderungen an eine fiktive Weltklimakonferenz zu formulieren. Gemäß der Kuratorin Miwon Kwon findet hier Kunst nicht im sondern als öffentlicher Raum statt, was Malzacher als "das vielleicht wichtigste Anliegen politischen Theaters" benennt (S. 125). Malzacher hält fest, dass die Unterscheidung zwischen den Arbeiten Milo Raus und anderen preenactments darin liege, dass Raus Arbeit eine emotionale Identifikation mit den Figuren anstrebt. Und während dieser in seinem Genter Manifest betone, dass Theater kein Produkt, sondern ein Produktionsvorgang sei, dessen Vorarbeiten ebenfalls öffentlich sichtbar sein müssen, kritisiert Malzacher, dass just diese Vorarbeiten von Rau unsichtbar bleiben, weil sonst "das Streben nach Realismus, nach affektiver Katharsis, nach emotionaler Identifikation" konterkariert würde (S. 141). Malzacher schlussfolgert, dass Theater Versammlungen "re-enacten, enacten oder pre-enacten" und gleichermaßen "Räume der Analyse, der Reflektion, der Imagination oder der Intervention" schaffen kann – "aber in dem Augenblick, in dem es zur tatsächlichen Versammlung wird, endet der Realismus und die Realität beginnt. Mit all ihrer Theatralität" (S. 143). Mit Gesellschaftsspiele. Politisches Theater heute liefert Florian Malzacher insgesamt einen vielstimmigen und detaillierten Einblick in aktuelle Entwicklungen eines politisch-aktivistischen Theaters und nimmt dabei zugleich historische Kontextualisierungen vor. Dass der Autor komplexe Begriffe (Immersion, Partizipation, u.a.) in ihrer kultur- bzw. theatertheoretischen Bestimmung für seine Zwecke stets nur kurz diskutiert, trübt den positiven Gesamteindruck keineswegs, da die Monographie eine Verortung des gegenwärtigen politischen Theaters anhand des Materials aus der Theaterpraxis und nicht basierend auf bestehenden Theoriemodellen anstrebt.
Westlicher Geist im östlichen Körper? – Das Fragezeichen im Titel verweist bereits auf die wesentlichen Anliegen der Theaterwissenschaftlerin Kuan-wu Lin in ihrer umfassenden Arbeit, die als Dissertation im Rahmen des Internationalen Gaduiertenkollegs Inter Art Studies an der FU Berlin entstanden ist: ein In-Frage-Stellen von Fusionen einander fremder Theater- und Schauspielkonzepte, eine Dekonstruktion des interkulturellen Theaters, das Abwiegen und Bewerten der Gewichtung aufeinander prallender Kulturen in einem nunmehr transkulturellen Feld. Die Überprüfung der zentralen Fragestellungen – nämlich warum in China bzw. in Taiwan Fusionen von griechischen Tragödien und chinesischen Theatertraditionen stattfinden, welches Ziel damit verfolgt wird und inwiefern sie mit Interessen des Westens in Verbindung stehen – erfolgt anhand zweier Medea-Inszenierungen in China bzw. in Taiwan. In drei Teilen und einem Epilog forscht die Autorin nach Gründen für die Kombination von Elementen griechischer Tragödien und traditionellem chinesischen Theater. Ihren Überlegungen vorangestellt ist eine These der britischen Altphilologin Edith Hall, wonach die griechische Tragödie "fast alle Grenzen von Zeit, Raum und Kulturtraditionen" (S. 10) überschreitet. Die Verbreitung der griechischen Tragödie nach 1968 hänge, Hall zufolge, mit einer Suche nach Alternativen zum naturalistischen westlichen Theater zusammen, welches in vielen ehemals kolonialisierten Ländern als "konkretes Symbol der ästhetischen Kultur der imperialistischen Unterdrücker" (ebd.) angesehen werde. Diese Thesen aufgreifend fragt Kuan-wu Lin, ob die griechischen Tragödien tatsächlich so universell sind, wie Hall dies darstellt, und ob eine Fusion tatsächlich eine Befreiung von einem westlichen Kulturimperialismus bedeutet. Im ersten Kapitel werden für die Untersuchung wesentliche Begriffe wie 'kulturelle Identität', 'Authentizität', 'Tradition', 'Exotismus', 'Orientalismus' und 'Hybridität' diskursiv verhandelt, wobei die Autorin unter anderem unter Bezugnahme auf Überlegungen von Edward Said, Gayatri Chakravorty Spivak und Homi Bhabha argumentiert. An deren Thesen anknüpfend fragt Lin, "in welcher Form der Exotismus heute erscheint und inwiefern diese Form des Exotismus mit seiner imperialistischen Vergangenheit zusammenhängt" (S. 59). Im zweiten Kapitel widmet sich die Autorin der Analyse zweier Inszenierungen der Medea von Euripides: zuächst Luo Jin-lins Arbeit von 1989, die als erste chinesische Adaption dieser griechischen Tragödie in einer traditionellen chinesischen Theaterform ('Xiqu') gilt, und die bis heute die im Ausland erfolgreichste chinesische Aufführung einer griechischen Tragödie ist. Ihr gegenübergestellt wird die erste Adaption einer griechischen Tragödie in Taiwan aus dem Jahr 1993 von Lin Xiu-wei und der Contemporary Legend Theater Company, in der aus Medea die Loulan Nü (Loulan Prinzessin) wird. Die Analysen kreisen im Groben um zwei Fragen: Welche Zielsetzung beinhalten Adaptionen griechischer Tragödien als Xiqu, und wie wurde die kulturelle und ästhetische Diskrepanz zwischen dem antiken griechischen Theater und dem Xiqu in den beiden Inszenierungen überwunden? Der chinesische Regisseur Luo Jin-lin etwa will für ein "nicht-chinesisches" (S. 91) Publikum ein als authentisch empfundenes Xiqu inszenieren und zugleich einem chinesischen Publikum ein authentisches antikes griechisches Theater vorführen. Kuan-wu Lin beschreibt, wie die Euripideische Medea zu diesem Zweck den Filter der Zensur passieren muss, um dennoch ins konfuzianische Weltanschauungsmodell zu passen, welches bis heute den Rahmen für traditionelle chinesische Theaterformen und deren Rezeption vorgibt. So wird Medea zunächst in den Rollentyp des Xiqu, 'Dame im Frauengemach', gepresst – einer 'unschuldigen, jungen Frau, die noch zu Hause wohnt'. Sämtliche nach konfuzianischer Ansicht als negativ angesehene Charakterzüge einer Frau, wie Eifersucht, Eigenwilligkeit und Unbezähmbarkeit werden eliminiert, sodass Medea "trotz ihrer Rache bei den chinesischen Zuschauern Mitleid erwecken kann" (S. 123). Wenn die chinesische Medea schließlich auch auf die Rollentypen 'junge lebhafte Frau' und 'Frau mit Schwert und Pferd' zurückgreift, um ihre passive Haltung zu verlassen und ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, ist dies für die Autorin "bestes Indiz dafür, dass das traditionelle chinesische Weiblichkeitsideal durch Euripides' Medea-Figur umgestürzt wird" (S.133). In der zweiten zur Analyse herangezogenen Inszenierung wurde Lin Xiu-wei von ihrem Ehemann Wu Xing-guo, Leiter der Contemporary Legend Theater Company, mit der Regie beauftragt, um aus einer weiblichen Perspektive heraus einen feministischen Akzent zu setzen. Zu Recht stellt Kuan-wu Lin nun den vorgeblich feministischen Ansatz der Regisseurin in Frage – etwa wenn sie beschreibt, wie diese "den Besitz ergreifenden Charakter sowie die vergängliche Schönheit einer Frau für den Seitensprung des Ehemannes verantwortlich [macht], während dies von ihr gleichzeitig als 'feministische' Interpretation des Geschlechterkonflikts behauptet wird" (S. 159). Mit der Fusion griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen als kulturpolitische Strategie setzt Kuan-wu Lin sich im dritten Teil ihrer Arbeit auseinander. Sie kommt zu dem Schluss, dass "griechische Tragödien und chinesische Theatertraditionen […] als Deckmantel für wirtschaftliche Interessen [fungieren], die auf den globalen Markt in Form der internationalen Theaterbühne abzielen" (S. 249). Das European Cultural Centre of Delphi, welches Künstler aus aller Welt einlädt, in ihrer eigenen Sprache und vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Kulturtradition griechische Tragödien zu adaptieren, entscheide de facto allein darüber, was unter 'eigener Sprache' zu verstehen ist. Es bestimmt somit maßgeblich über die Art und Weise des stattfindenden Kulturaustausches, was zur Folge hat, "dass das Xiqu bei seinem Erscheinen auf der Weltbühne auf Grund des westlichen Universalitätsanspruchs der griechischen Tragödie untergeordnet wird" (S. 282). Um ihre Argumentationen zu bekräftigen, zieht Lin im dritten Teil ihrer Studie eine weitere Inszenierung zur Analyse heran, bei der griechisches Theater mit Xiqu verbunden wird: Bakai (nach Euripides' Bakchen), eine Arbeit des nach Amerika emigrierten chinesischen Schauspielers und Regisseurs Chen Shi-zheng, 1996 in Peking. Mit der Regie beauftragt wurde Chen vom Leiter der New York Greek Drama Company Peter Steadman, von dem auch das Konzept stammte. Anhand von Aussagen Samuel P. Huntingtons, ehemaliger US-Außenminister und Autor des – im Übrigen in der westlichen Welt höchst umstrittenen – Buches The Clash of Civilisations (1996), der etwa im wirtschaftlichen Aufstieg Chinas eine Gefahr für die westliche Kultur sieht, schließt Kuan-wu Lin, dass die Universalisierung der westlichen Kultur und Werte (wie Menschenrechte und Demokratie) nur einen Vorwand darstelle, "um die Machtausdehnung der USA zu legitimieren" (S. 319). Die Thesen Huntingtons fließen Kuan-wu Lin zufolge in die Arbeit Peter Steadmans ein, der damit zum Zerfall der Kulturtradition sowie zur kulturellen Entwurzelung beitrüge. Leider bleibt die Autorin bei ihrem Anliegen, in ihren Analysen politische Implikationen zu berücksichtigen, durchwegs sehr einseitig; für die Entwicklung der chinesischen Kultur wesentliche politische Ereignisse des 20. Jahrhunderts werden fast vollständig ausgeklammert. So macht sie etwa veraltete Inhalte der Peking Oper und die Konkurrenz durch Fernsehen und Kino dafür verantwortlich, dass "die Peking-Oper-Schauspieler seit den 1970er Jahren immer weniger Zukunftsperspektiven hatten" (S. 150). Nicht problematisiert wird, dass während der Kulturrevolution, also in den Jahren 1966 bis 1976, die traditionelle Peking Oper und damit wesentliche Darstellungskonventionen chinesischer Theaterkunst verboten waren und in der Folge zunehmend in Vergessenheit gerieten, – eine Tatsache, die unter Umständen auch zu kultureller Entwurzelung beitragen kann. In einem Epilog zieht Kuan-wu Lin den Schluss, dass die Fusion griechischer Tragödien mit traditioneller chinesischer Schauspielkunst sowohl von chinesischer und taiwanesischer als auch von westlicher Seite benutzt werde, um damit eigene Interessen durchzusetzen. Angesprochen werden beispielsweise der Zugang zu internationalen Theaterfestivals auf der chinesischen Seite und die Konstruktion der Universalität der westlichen Kultur auf der westlichen Seite. Vor allem die USA setzen sich, so die Autorin, seit dem Ende des Kalten Krieges für solche Fusionen ein, "um damit ihre kulturelle Dominanz zu untermauern" (S. 321). Schon in der Antike wurde Theater als Medium im Dienst politischer Ideologie verstanden, und sind Kuan-wu Lin zufolge heute – gleichsam als Folge dieser Haltung – Analogien zwischen dem demokratischen Imperialismus des alten Griechenlands und der US-Amerikanischen Außenpolitik zu erkennen. Daher lautet das Fazit ihrer Studie: Indem vom Westen kulturelle Grenzen und Identitäten geschaffen werden, können Hierarchien aufgebaut und Konflikte geschürt werden. Und nur wenn Konflikte aufgebauscht oder gar selbst initiiert werden, kann eine Neue Weltordnung als gemeinsames Interesse der ganzen Menschheit erfolgreich propagiert und implementiert werden (S. 337). Kuan-wu Lin schreibt sich mit ihrer Arbeit in den postkolonialen Diskurs ein, wobei zur Illustration ihrer Argumentation hauptsächlich zwei Inszenierungen aus den Jahren 1986 bzw. 1993 herangezogen werden. Im Literaturverzeichnis finden sich nur wenige Studien zur Thematik des interkulturellen Theaters. Unerwähnt bleiben etwa Patrice Pavis' Theatre on the crossroads of culture von 1992 oder Christine Regus' 2009 erschienenes Werk über interkulturelles Theater im 21. Jahrhundert, in dem durchaus ein Wandel hin zu einer dialogischen Annäherung zwischen den Kulturen konstatiert wird. Es wäre daher meiner Ansicht nach spannend gewesen, aktuelle Inszenierungen, die mit der Fusion griechischer Antike und traditionellem Xiqu experimentieren – falls es solche gibt – in Hinblick auf die zentralen Fragestellungen genauer unter die Lupe zu nehmen und zu überprüfen, ob die Conclusio Kuan-wu Lins auch für interkulturelles Theater im 21.Jahrhundert noch ihre Berechtigung hat.
Das Phänomen der Obdach- und Wohnungslosigkeit (OL&WL) in Großstädten ist weltweit verbreitet und wird spätestens seit den 1990er Jahre versucht sozial- und stadtgeographisch unter dem Schlagwort "geographies of homelessness" zu fassen. Homeless cities werden als Ergebnisse komplexer Geographien der Obdach- und Wohnungslosigkeit verstanden und sind dabei viel mehr als nur Verortungen von Hilfsstrukturen, Ergebnisse "spezieller" Raumnutzungsstrategien oder Mechanismen sozialer Kontrolle in städtischen Räumen. Die Frage nach der Konstruktion von homeless cities durch verschiedenste Geographien der Obdach- und Wohnungslosigkeit eröffnet Möglichkeiten, aufzuzeigen, dass diverse homeless cities Bestandteil jeder Stadt sind bzw. sein können. Diese Diversität basiert auf individuellem (Alltags-)Wissen, Theorien und Praktiken obdach- und wohnungsloser (ol&wl) Menschen, die eng verwoben sind mit den Prozessen, Politiken und Ordnungen einer Stadt: seien es Prozesse der Aufwertung durch eine "tourist city", Wohnraumpolitiken beeinflusst durch die "neoliberal city" oder gesellschaftliche Ordnungen einer "postcolonial city". Demzufolge wird nicht von einem bereits vorhandenen Repertoire an bestehenden Geographien der Obdach- und Wohnungslosigkeit einer Stadt ausgegangen, sondern von deren individuellen Konstruktionen in Verknüpfung mit historisch-gesellschaftlichen sowie aktuellen stadtpolitischen Kontextualisierungen. Gerade visuelle Ansätze bieten sich dabei an, Zugänge zu den homeless cities nicht nur zu eröffnen, sondern auch diverse Verschränkungen der Zusammenhänge im Alltag der Städte zu verdeutlichen und offenzulegen. Konzeptionell werden die Städte Hamburg und Rio de Janeiro als Fallstudien im Sinne einer postkolonialen Stadtforschung nach Jennifer Robinson in ihrer "Gewöhnlichkeit" theoretisierend als "ordinary cities" verstanden. Diese werden ausgehend von den visuellen Geographien einiger ihrer homeless cities betrachtet, um das interdependente Wirkungsgefüge von Geographien der Obdach- und Wohnungslosigkeit in Hamburg und Rio aufzuzeigen. Dabei zeigen und erläutern in den zwei Fallstudien insgesamt zwölf ol&wl Bewohner_innen mit Hilfe von Fotografien ihre Perspektiven auf Hamburg und Rio de Janeiro. Das dadurch gewonnene Wissen über Orte, Dynamiken, Erfahrungen, Politik, Positionen und gesellschaftliche Verhältnisse in den beiden Städten wird in intertextuell-intersektionellen Analysen nachgezeichnet und in seiner Relationalität untersucht. Die persönlichen visuell-verbalen Konfigurationen, die sich aus der Verknüpfung zwischen Bild und Text durch die Befragten ergeben, werden so vor dem Hintergrund des historischen Umgangs mit OL&WL im jeweiligen Kontext betrachtet und ebenso in Verhältnis zu aktuellen Debatten und Aushandlungen um die Thematik gesetzt. Dabei zeigen sich deutliche Kontinuitäten und Brüche, aber vor allem Intersektionen von Machtverhältnissen im Umgang mit OL&WL in beiden Kontexten, welche sowohl die diskursive Ebene, Praktiken aber auch gesellschaftliche Aushandlungen betreffen. Zentral für die Untersuchung der Zusammenhänge zwischen diesen unterschiedlichen Dimensionen erwiesen sich die politics of control und politics of care. Historische und aktuelle Formen von Gewalt und Fürsorge sowie Diskriminierung und Solidarität spiegeln sich in diesen wieder und legen Prozesse und Mechanismen der Normalisierung der urbanen Verhältnisse in ihrem Verhältnis zu Menschen in Situation der OL&WL offen. Der Fokus der Arbeit auf die visuell-mediale Verhandlung der Thematik der OL&WL stellt in beiden Kontexten heraus, wie visuelle Repräsentationen und Sehkonventionen eine wirkmächtige Rolle bei der Normalisierung gesellschaftlicher Machtverhältnisse einnehmen, indem diese ol&wl Menschen als urbane "Andere" darstellen. Ordinary homeless cities stellen das Ergebnis des Zusammenspiels zwischen individuellen Erfahrungen und historisch-strukturellen Umgangspraktiken mit OL&WL sowie politischen, ökonomischen und sozialen Dynamiken in einer Stadt dar. Ordinary homeless cities werden häufig als marginal und anders betrachtet und vom urbanen Geschehen ausgegrenzt, obwohl sie alltäglich durch deren Interdependenzen hervorgebracht werden. Gerade in der unhinterfragten Gewöhnlichkeit dieses Zusammenspiels wirken Machtverhältnisse, welche Menschen in Situation der OL&WL als urbane "Andere" normalisieren. Diese Normalisierungsprozesse gilt es ständig zu hinterfragen und anzugreifen, indem Zusammenhänge aufgezeigt, Machtverhältnisse benannt und Blicke und konventionelle Sichtweisen irritiert werden – und so die Komplexität der ordinary homeless cities in urbanen Gesellschaften deutlich wird. ; The phenomenon of homelessness in big cities is globally present and since at least the 1990s, social and urban geography are attempting to grapple with it under the slogan "geographies of homelessness. Homeless cities are understood as a result of complex geographies of homelessness and are more than the mere locating of support structures, results of particular space utilization stratgies or mechanisms of social control in urban spaces. The question of the construction of homeless cities though various geographies of homelessness opens possibilities to show that many Homeless Cities can be or are a part of any city. This diversity is based on individual (everyday-) knowledge, theory and practice of homeless people, who are closely linked with processes, politics and orders of a city: be it processes of upgrading through a "tourist city", housing politics informed through the "neoliberal city" or the social orders of a "postcolonial city". Accordingly, an existing repertoire of geographies of homelessness is not presumed, in favour of individual constructions alongside historic-societal as well as current urban-political contextualizations. In particular visual approaches promise not only access to homeless cities, but also to highlight and reveal various entanglements of relations of the everyday life of a city. Conceptionally, the cities of Hamburg and Rio de Janeiro will be understood as case studies of postcolonial urban research in "ordinary cities", in line with Jennifer Robinson. These will be looked at through the visual geographies of some of their homeless cities, in order to interrogate the interdependent causal network of geographies of homelessness in Hamburg and Rio. In the two case studies, twelve homeless residents will show and explain their perspectives on Hamburg and Rio de Janeiro through the aid of photography. The subsequently acquired knowledge on places, dynamics, experiences, politics, positions and social relations in the two cities will be traced in intertextual-intersectional analyses and probed for its relationality. The personal, visual-verbal configurations, which result from the connection of image and text by the interviewees, will thus be looked at before the backdrop of the respective historical handling with homeless people and also put in relation to current debates and negotiations around the theme. Through that, significant continuities and disruptions, and in particular intersections of power relations in regard to homeless people come to the fore, which affect both the discursive level, practice and societal negotiations. For the investigation of the relations between those different dimensions, the politics of control and the politics of care have proven pivotal. In these, historic and current forms of violence and care, as well as discrimination and solidarity have become apparent and reveal processes and mechanisms of normalization of urban relations in their relation to people in situations of homelessness. The focus of this piece lies on the visual-medial handling of the subject of homelessness and exposes, how visual representation and conventions of gaze inhabit powerful roles in the normalization of social power relations, by displaying homeless people as urban Others. Ordinary homeless cities are the result of the interplay between individual experiences and historic-structural practices of handling homelessness, as well as political, economic and social dynamics of a city. Ordinary homeless cities are often regarded as marginal and separate from urban happenings, even though they are produced daily through their interdependencies. In particular the unquestioned ordniariness of this interplay are a function of power relations, which normalize people in situations of homelessness as urban others. These processes of normalization are to be questioned and resisted constantly by revealing connections, naming power relations and by disrupting conventional gazes and perspectives, in order to trace the complexity of ordinary homeless cities in urban societies.