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In diesem Beitrag stellt Hannah Wieland folgenden Text vor:Hammel, Laura (2020): Wie passen (Rechts-)Populismus und der Glaube an Verschwörungstheorien zusammen?; Heinrich-Böll-Stiftung Baden-Württemberg, https://www.boell-bw.de/de/2020/11/11/wie-passen-rechts-populismus-und-der-glaube-verschwoerungstheorien-zusammen. Der Artikel von Laura Hammel beschreibt die Thematik, inwiefern Rechtspopulismus und der Glaube an Verschwörungstheorien zusammenhängen. Es wird exemplarisch dargestellt, wie die Landtagsfraktion der AfD aus Baden-Württemberg bestimmte Verschwörungstheorien während der Corona-Pandemie genutzt hat, um mit unzufriedenen Bürgern und Bürgerinnen aufgrund der Covid-Einschränkungen zu sympathisieren.Zusammenfassend erörtert der Beitrag, inwiefern rechtspopulistische Parteien Verschwörungstheorien nutzen, um Anhänger*innen für ihre Partei zu rekrutieren und welche Parallelen sich zwischen den beiden Bewegungen erkennen lassen. Dabei wird näher beleuchtet, wie Verschwörungstheorien argumentieren, auf welche Vorurteile sie ihre Argumentation aufbauen und welche Rolle das Internet spielt.Zudem wird die Tatsache beleuchtet, dass Verschwörungstheorien auch ganz allgemein gesehen immer häufiger im Zusammenhang mit Rechtspopulismus auftreten, jedoch nur selten systematisch untersucht werden. Viele rechtspopulistische Parteien in liberalen Demokratien der westlichen Welt erfahren einen deutlichen Zuwachs. Aufgrund dieser Veränderung beobachten Expert*innen auch immer häufiger, dass Verschwörungstheorien von führenden Rechtspopulist*innen verbreitet werden. Als Beispiel zeigt der Text hier die Twitter-Aktivitäten des ehemaligen amerikanischen Präsidenten Donald Trump.Als erster Punkt wird im Beitrag die Argumentationsstruktur von Verschwörungstheorien näher beschrieben. Der Tübinger Amerikanistik-Professor Michael Butter, der seit vielen Jahren zu Verschwörungstheorien forscht, versteht Verschwörungstheorien als Erzählungen, die "[…] behaupten, dass eine im Geheimen operierende Gruppe, nämlich die Verschwörer, aus niederen Beweggründen versucht, eine Institution, ein Land oder gar die ganze Welt zu kontrollieren und oder zu zerstören." (Butter, zit. nach Hammel 2020). Ganz grundlegend ausgedrückt stellen Verschwörungstheorien also den argumentativen Versuch dar, weitreichende soziale und politische Ereignisse und deren Folgen durch eine angebliche Verschwörung vollumfänglich zu erklären.Er zeigt sich, dass die Argumentationsstruktur bei Verschwörungstheorien festen Mustern folgt und es dabei keine Zufälle gibt. Anhand dieser Tatsache wird nun deutlich, dass Ereignisse wie die Corona-Pandemie nicht als zufällige Folge eines komplexen Sachverhalts, der Krankheitsübertragung zwischen Mensch und Tier, gesehen werden, sondern vielmehr als ein von Menschen gezüchteter Virus, der den Verschwörern bei der Umsetzung ihrer Pläne hilft.Diese Gedanken, dass Menschen eine uneingeschränkte Handlungsfähigkeit besitzen, führt zu dem Gedanken, dass die Corona-Pandemie von bestimmten Menschen erzeugt wurde, um ihren Willen durchzusetzen. Es ist somit kein Platz für die Tatsache, dass man mehrere Ereignisse berücksichtigen muss, um eine solche Veränderung in der Welt zu erklären. Diese deutliche und klare Darstellung zu komplexen Ereignissen auf der Welt machen Verschwörungstheorien für viele Menschen attraktiv. Motive werden klar benannt und stehen im direkten Gegensatz zu wissenschaftlichen Erklärungsversuchen, die für normale Menschen manchmal schwer zu fassen sind.Ein weiterer Punkt ist, dass laut Verschwörungstheoretiker*innen Ereignisse wie die Corona-Pandemie Teil einer größeren Verschwörung sind, die mit mehreren Ereignissen verbunden sind und mehrere Generationen betrifft. Somit ist die Pandemie nur ein weiterer Baustein von vielen der letzten Jahrzehnte, die letztendlich zur Übernahme der Weltherrschaft führen.Ein weiterer Punkt, der im Artikel aufgezeigt wird, ist der Umstand, dass bei Verschwörungstheorien nie etwas so ist, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint. Als Beispiel hierfür werden die Kontaktbeschränkungen genannt, die eben nicht als Maßnahme zur Eindämmung des Corona-Virus gesehen werden, sondern zur Einschränkung der Freiheit der Bevölkerung, die sich langfristig zu Untertanen einer Diktatur entwickeln soll. Denn im Sinne der Verschwörungstheorien stehen sich in unserer Welt die guten Mächte, das Volk, und die bösen Mächte, die Eliten, in einem unüberwindbaren Dualismus gegenüber.Diese Erklärung leitet den Artikel dann auch direkt zum nächsten Punkt, und zwar der Feindbildkonstruktion bei Verschwörungstheorien. Der Artikel thematisiert, dass Verschwörungstheorien ihre Feindbilder meist auf schon existierenden Stereotypen einer Gesellschaft aufbauen. Beispielsweise die Verbindung von verschwörungstheoretischen Narrativen und antisemitischen Vorurteilen wird immer häufiger erkannt oder auch die Tatsache, dass wenn sich das Land in einer wirtschaftlichen Krisensituation befindet, der Hass sich gegen Milliardäre richtet und ihnen die alleinige Schuld zugeschrieben wird. Desweiteren lässt sich festhalten, dass Verschwörungstheorien einzelne Personen zu Sündenböcken machen, um dem Übel der Welt ein Gesicht zu geben.Im weiteren Verlauf des Artikels wird thematisiert, welche Rolle das Internet bei der Verbreitung von Verschwörungstheorien spielt. Als erstes lässt sich erkennen, dass durch die vielen verschiedenen Medien, wie etwa You Tube, viel mehr Menschen mit Verschwörungstheorien konfrontiert sind und letztendlich dann natürlich auch mehr Menschen daran glauben, da sie einfach sichtbarerer werden. So werden viele Menschen durch Suchmaschinen zu Verschwörungstheorien geleitet, obwohl sie eigentlich nicht danach gesucht haben.Die Vernetzung zwischen den Anhänger*innen wird durch Social Media sehr viel leichter. Sie können sehr viel schneller und besser in Kontakt treten, was natürlich dazu führt, dass sie sich immer wieder und viel stärker in ihren Absichten bestärken können. Doch auch wenn es durch die genannten Fakten offensichtlich scheint, dass Verschwörungstheorien mehr Akzeptanz in unserer heutigen Mediengesellschaft bekommen, zeigt der Artikel, dass eigentlich das Gegenteil passiert ist.Natürlich ist es offensichtlich, dass es heutzutage viel mehr alternative Medien gibt, jedoch waren z.B. in den 1950er Jahren Verschwörungstheorien ganz anders angesehen als in unserer heutigen Welt. Sie waren viel mehr legitimiert und wurden von allen gesellschaftlichen Schichten geglaubt und auch weiterverbreitet. Dieses Bild hat sich verändert, denn seit Mitte des 20. Jahrhunderts sind Verschwörungstheorien, auch wenn sie in unserer Gesellschaft immer mehr werden, in den meisten Bereichen der Gesellschaft negativ behaftet.Wer aber glaubt letztendlich an Verschwörungstheorien? Als Beispiel wird die AfD genannt. Häufig fühlen sich die Anhänger*innen dieser Partei machtlos, da sie ihren politischen Einfluss als gering wahrnehmen und sich in ihrem sozioökonomischen Dasein bedroht fühlen. Menschen, die ihre Situation subjektiv so wahrnehmen und sich machtlos fühlen, gehören häufig zur populistischen Wählerschaft. An diesem Punkt stellt der Artikel somit die erste Parallele zwischen Rechtspopulismus und Verschwörungstheorien her. Im Kern bedeutet es, dass Menschen, die einer der beiden Bewegungen zugehörig sind, ein Gefühl der Machtlosigkeit empfinden und mit verschiedenen Ängsten konfrontiert sind, Ihre Privilegien und ihre Position in der Gesellschaft zu verlieren. An dieser Stelle ist es für viele Menschen der Glaube an Verschwörungstheorien, der ihnen hilft, sich den sozialen Wandel besser zu erklären, denn sie können die Veränderungen als das Produkt einer Verschwörung sehen.Den ideologischen Kern der beiden Bewegungen bildet die Vorstellung, dass das ehrenhafte Volk gegenüber korrupten, elitären Politiker*innen steht. Im Sinne vieler Rechtspopulist*innen haben die Politiker*innen sich vom Volk abgewendet, um ihre eigenen Interessen zu vertreten. Diese Gedanken teilen Sympathisanten von Verschwörungstheorien ebenfalls. Somit treffen sich diese beiden Bewegungen an dem Punkt, dass die Eliten abgesetzt werden müssen, um dem Willen des Volkes wieder Gehör zu verschaffen.Hierfür wäre es zudem sehr hilfreich, wenn sich die parlamentarische Demokratie in eine direkte Demokratie wandelt, denn nur dann entscheidet wirklich das Volk und eben nicht die Lobbyisten. Laut ihrer Ansichten ist es ihnen also möglich, den Willen des Volkes zu repräsentieren und jeder, der einer ethnischen, religiösen oder sexuellen Minderheit angehört und so ein anderes Denken unterstützt, hat in dieser konservativen Wertegesellschaft keinen Platz. Denn jegliche Veränderung in Richtung Vielfalt ist eine Bedrohung.Eine weitere Gemeinsamkeit der beiden Bewegungen ist, dass ihre Ansichten und Überzeugungen in vielen Bereichen der Gesellschaft nicht toleriert werden. Mit der anschließenden Stigmatisierung in der Gesellschaft suggerieren Sie in ihren eigenen Reihen, dass sie der unangenehmen Wahrheit auf der Spur sind und es nur ein Beleg dafür sei, dass sie den Eliten gefährlich werden könnten.Im weiteren Verlauf des Artikels wird der Experte Mark Fenster zitiert. Er sieht Verschwörungstheorien nicht als notwendiges Element des Rechtspopulismus. Denn es zeigt sich, dass die populistische Ideologie eigentlich auch ohne Verschwörungstheorien ihre Reichweite aufbauen kann und auch häufig keine Verschwörungstheorien nutzt. Im Gegensatz dazu sind Verschwörungstheorien laut Mark Fenster immer populistisch.Im nächsten Abschnitt des Artikels ergänzt Michael Butter die Argumentation von Fenster und stellt klar, dass sich in seinen Augen rechtspopulistische Parteien perfekt eignen, um Verschwörungstheorien zu integrieren, da sie im Vergleich zu anderen Parteien dazu bereit sind, zweifelhafte Aussagen oder eben Verschwörungstheorien in ihren eigenen Reihen zu akzeptieren.Der nächste Abschnitt im Artikel erörtert nun anhand der eben bestimmten Faktoren der Gemeinsamkeiten zwischen Verschwörungstheorien und Rechtspopulismus, inwiefern die Landtagsfraktion der AfD in Baden-Württemberg Verschwörungstheorien für ihre Zwecke eingesetzt hat. Der Artikel legt offen, wie die AfD Baden-Württemberg ihre gewählte Rolle als Anti-Establishment während der ersten Proteste gegen die verhängten Corona-Einschränkungen mit Hilfe von Verschwörungstheorien versucht zu festigen.Die verschwöhrungstheoretischen Inhalte werden strategisch eingesetzt, um die entsprechende Zielgruppe zu gewinnen. Um dieses Ziel zu erreichen, zeigt es sich, dass die Landtagsfraktion der AfD sich einem verschwörungsrhetorischen Wandel unterzogen hat, um sich so in noch einem Punkt von den anderen Parteien zu unterscheiden. Der Artikel beschreibt , dass sich viele AfD-Politiker*innen mit fragwürdigen Aussagen wie etwa, dass das Corona-Virus von Menschen erzeugt wurde, bemerkbar machten.Solche Aussagen lassen eine Weltanschauung erkennen, die eindeutig die Kriterien von Verschwörungstheorien erfüllen. Zu Beginn der Corona-Pandemie jedoch waren die Pressemitteilungen der AfD noch nicht wirklich mit populistischen Aussagen oder Verschwörungstheorien gezeichnet. Vielmehr wollten sie, dass die Regierung, speziell Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne) "das Virus endlich ernst nehme".Erst im Zuge der vielen Proteste um die Bewegung ,,Querdenker" 711 lassen sich fragwürdige Aussagen von Fraktionsmitglieder*innen erkennen. Als dann schließlich am 19. März auch noch die Voraussetzung für das erste Soforthilfeprogramm anhand der Feststellung der Naturkatastrophe und dem Beschluss eines Nachtragshaushalts des Landes geschaffen war, hat sich die AfD dazu entschieden, ihre selbsgewählte Rolle als Fundamentalopposition hinter sich zu lassen.Verschiedene Abgeordnete der AfD richteten sich an die anderen Parteien und wollten sich dafür einsetzen, nun nicht mehr ausgeschlossen zu werden und endlich in die Arbeit des Parlaments mit einbezogen zu werden. Beim interfraktionellen Gesetzentwurf von Grünen, CDU, SPD und FDP/DVP zur Feststellung der Naturkatastrophe, die eine rechtliche Voraussetzung für den Nachtragshaushalt und somit die Soforthilfe gewährleistet, wurde die AfD jedoch auf eigenen Wunsch nicht mit einbezogen.Daraufhin folgte ein strategischer und rhetorischer Wandel der AfD. Erneut wurde versucht, den anderen Parteien undemokratisches Verhalten vorzuwerfen und im Pandemiehöhepunkt wurde versucht, mit finanzpolitischen Forderungen zu punkten, wie zum Beispiel einer Haushaltsperre oder einer Steuerbefreiung für bestimmte Branchen. Der Wandel von einer politisch sachlichen Orientierung zu einer populistisch-verschwörungstheoretischen Rhetorik zeigt, dass die AfD-Fraktion sehr wohl bereit ist, ihre Strategie schlagartig zu wechseln. Jedoch beschreibt der Artikel, dass die AfD mit dieser Taktik keinen Zuspruch beim Volk erfuhr, da ihr als junger, unerfahrenen Partei in der Gesellschaft nicht die entsprechenden Kompetenz zugesprochen wird.Als sich dann, Mitte April, die bundesweiten Proteste gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie verschärften und speziell in Stuttgart die Bewegung "Querdenken 711" immer größer wurde, beobachteten Expert*innen, dass die Akzeptanz alternativer und verschwörungstheoretischer Meinungen immer auffallender wurde. Der Artikel beschreibt weiterhin, dass bei diesen Bewegungen die Corona-Einschränkungen als Instrument gesehen werden, um die Rechte der Bürger* innen langfristig einzuschränken und um eine Diktatur zu errichten.Besonders bei der Impfthematik wurden Verschwörungstheorien in Bezug auf Bill Gates immer populärer. An dieser Ausgangssituation hat die AfD-Fraktion in Baden-Württemberg versucht anzuknüpfen. Dies lässt sich an der Tatsache beobachten, dass sich die Pressemitteilungen der AfD nun immer mehr populistisch zuspitzen und immer mehr versucht wird, die Themen der Proteste aufzugreifen. Beispielsweise die Tatsache, dass die Maskenpflicht eine Einschränkung der Grundrechte bedeutet.Weiter im Artikel werden Aussagen der AfD wie etwa "Zwangsimpfung" oder, dass die Gesellschaft sich zu einer "Gesundheits und Hygienediktatur" entwickelt, aufgegriffen. Die AfD-Landtagsfraktion solidarisierte sich mit den Protesten und nahm sogar selber an Demonstrationen teil. Desweiteren organisierte sie eigenständige Demonstrationen, unter anderem in Stuttgart, bei der die Bundesabgeordnete Alice Weidel sprach.Der Artikel hält fest, dass die AfD Baden-Württemberg nicht zu allen Zeiten der Pandemie gleichermaßen populistische und verschwörungstheorretische Inhalte transportierte. Jedoch mit dem Aufkommen der Proteste änderte sie ihre Strategie und Rhetorik. Das liegt vor allem daran, dass sie mit sachlichen Vorschlägen nicht gepunktet hat. Mit ihrer neuen Strategie, die ein Misstrauen gegenüber den politischen Entscheidungsträger*innen signalisiert, konnten sie die Protestierenden als neue Zielgruppe gewinnen.Die Offenheit gegenüber Verschwörungstheorien der Protestbewegung machte sich die AfD zunutze, um gezielt die Wut auf die Regierung zu schüren. Sie entwickelten sich zu bekannten Mustern zurück und etablierten sich wieder stärker als Opposition zu den anderen Parteien. Fraglich ist jedoch, inwiefern der Strategiewechsel der AfD wirklich Erfolg bringen und sich bei den nächsten Wahlen bemerkbar machen wird. Denn oft sind die Anhänger*innen solcher verschwörungstheoretischer Bewegungen von der Institution Partei sehr entfremdet und sympathisieren lieber mit charismatischen Leitfiguren direkt aus der Protestbewegungen wie etwa Michael Ballweg, dem Gründer der Bewegung "Querdenker 711". Somit zeigt der Artikel, dass die Versuche der AfD, eigene Demonstrationen und verschwörungstheoretische Reden gegen die Kontaktbeschränkungen zu veranstalten, als gescheitert angesehen werden können.
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1. Einleitung Das Besondere an Wilhelm Heitmeyer ist, dass er uns empirisch erklärt, was wir vorher nur vermutet oder gesagt bekommen haben. Der Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer, Jahrgang 1945, forscht seit Jahrzehnten zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Rechtsextremismus (Universität Bielefeld, o.J.). Bekannt geworden ist er als Gründungsdirektor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld 1996, wo er bis zu seiner altersbedingten Emeritierung als Direktor fungierte. Seine Langzeitstudie "Deutsche Zustände" zu rechtsextremen Einstellungen in der Gesellschaft und zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit machen ihn zu einem der "wichtigsten Rechtsextremismus-Forscher der Bundesrepublik" (Laudenbach, 2023).Im folgenden Beitrag soll es um ausgewählte Arbeiten von Heitmeyer gehen. In seinen jüngeren Veröffentlichungen nimmt er die Mechanismen von Krisen und daraus resultierenden Kontrollverlusten als Treiber von autoritären Versuchungen in den Fokus. In Bezug darauf wird in der vorliegenden Arbeit genauer auf Heitmeyers Beitrag zur Erklärung des Erstarkens des "autoritären Nationalradikalismus" eingegangen. Hierunter fällt die Partei "Alternative für Deutschland (AfD)", die den Kern dieses Politiktypus in Deutschland ausmacht.Heitmeyer stellte um die Jahrtausendwende die These auf, der globalisierte Kapitalismus bringe vielfältige Schieflagen mit sich in Form von Desintegration, Abstiegsängsten und Kontrollverlusten. Damals ahnte er noch nichts von den Krisen, die in den folgenden "entsicherten Jahrzehnten" auf uns zukommen und uns vor erhebliche Herausforderungen stellen würden (Heitmeyer, 2018, S. 89).Die aufgestellte These rund um soziale, politische und ökonomische Strukturentwicklungen wurde mit individuellen und kollektiven Verarbeitungsmustern gekoppelt und 2022 um Krisen der "Post-9/11"-Ära und Kontrollverluste als Krisenfolgen erweitert. Diese wiederum bilden einen Nährboden für autoritäre Versuchungen, für sogenannte rechte Bedrohungsallianzen als politische Folgen autoritärer Entwicklungen.Die Ergebnisse der Langzeitstudie eignen sich, um das Aufkommen und Erstarken einer autoritär nationalradikalen Partei wie der Alternative für Deutschland zu beleuchten. Heitmeyer ist es, der durch seine Sozialstrukturanalyse das vielzitierte Fünftel (19,6%) der Bevölkerung empirisch nachweisen konnte, das der rechtspopulistisch eingestellten Gruppe in der Bevölkerung mit Einstellungen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit zugeordnet werden kann (Schaefer, Mansel & Heitmeyer, 2002, S. 125 f.).Wahlpolitisch blieben diese Teile der Bevölkerung lange unbedeutend. Die Wähler:innen waren meist keiner Partei zugehörig, sie "vagabundierten" zwischen den Parteien von Wahl zu Wahl oder wählten gar nicht; viele harrten in einer "wutgetränkten Apathie". Bis zu dem Jahr, als die AfD auf die politische Oberfläche trat und ab 2015 eine radikale Entwicklung nahm; ein "politisches Ortsangebot" für diese Teile der Bevölkerung ist gefunden (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 113 ff.).Im folgenden wird zuerst eine begriffliche Rahmung des Politiktypus des "autoritären Nationalradikalismus" vorgenommen. Zentrale Schemata der Arbeiten von Wilhelm Heitmeyer sollen beleuchtet werden. Nach diesen Ausführungen wird der Blick auf Krisen und Kontrollverluste und ihre Funktion als Treiber autoritärer Entwicklungen gerichtet. Im letzten Schritt geht es um die Ausprägung des autoritären Nationalradikalismus in Form der AfD.2. Der autoritäre NationalradikalismusUm über Heitmeyers Arbeiten zu schreiben, bedarf es einer Konturierung der von ihm verwendeten Begriffe. Im Folgenden werden die Begriffe des Autoritarismus und der dichotomischen Welt- und Gesellschaftsbilder erklärt, um anschließend den politischen Typus des autoritären Nationalradikalismus von Rechtspopulismus und Rechtsextremismus abzugrenzen und entsprechend zu erläutern. 2.1 AutoritarismusDas Legitimations- und Strukturmuster politischer Macht des Autoritarismus gründet auf einer Beziehung zwischen "Machthaber:innen" in Regierungen, Parteien und anderen Organisationen und "Machtunterworfenen". Unter Machthaber:innen versteht man Amts-, Funktions- und Handlungsträger:innen, während Machtunterworfene Mitglieder, Gefolgsleute oder Anhänger:innen sind (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 31). Abhängig ist diese Beziehung in der sozialen Praxis von der Autorität der Machthabenden und der Reaktion der Unterworfenen.Autorität kann aus Bewunderung, begeisterter Unterstützung, Respekt, Ehrfurcht oder gleichmütiger Duldung aus freien Stücken zugeschrieben werden und gründet in Anerkennung. Jedoch wird Autorität dann autoritär, "[...] wenn Willfährigkeit aufgenötigt, Unterwerfung durch Täuschung bewirkt, Gehorsam durch Drohung oder handgreifliche Gewalt erzwungen wird" (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 32).Eine dominante Rolle spielen Grunderzählungen in der Entwicklung des Autoritären. Hierzu zählen die Bedrohung von Ordnung, die Auflösung von Identitäten, das Zerstören von Hierarchien und Dominanzen, Fantasien vom Untergang des (deutschen) Volkes sowie der Opferstatus aufgrund des Agierens feindlicher Mächte sowohl aus dem Inneren wie von außen (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 35). Diese Kennzeichen der Bedrohung, Auflösung, Zerstörung, des Untergangs etc. haben die Funktion, kollektive Ängste zu schüren. Zugleich sollen so Mobilisierungen in Gang gesetzt und autoritäre Bewegungen und Bestrebungen angetrieben werden (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 35).Frankenberg & Heitmeyer beschreiben die politische Rhetorik des Autoritären als Diskurslogik, die sich vor allem in Wahlpropaganda und programmatischen Erklärungen zeigt. Diese konstruieren manichäische Weltbilder, weisen eine dichotomische Struktur auf und manifestieren sich auf drei Ebenen, wie die folgende Abbildung zeigt. Häufig anzutreffen sind die Gegensätze von Volk vs. Elite, geschlossene vs. offene Gesellschaft, wir vs. die oder Ungleichwertigkeit vs. Gleichwertigkeit. Abbildung 1: Dichotomische Welt- und Gesellschaftsbilder (Quelle: eigene Darstellung nach Heitmeyer, 2018, S. 248)2.2 Dichotomische Welt- und GesellschaftsbilderDiese Gegensätze laufen auf "Entweder-Oder"-Konflikte hinaus, die sich immer aufs "Ganze" beziehen, da es um "Alles" geht (Heitmeyer, 2022 b, S. 275). Der Streitgegenstand wird der Verhandlung oder dem Kompromiss entzogen, ein "Mehr-oder-Weniger" ist nicht möglich. Die von autoritären Bewegungen, Organisationen und Regimen geführten Konflikte zielen demnach nicht auf Verständigung oder Verhandlungen ab. Es geht um "[...] Entscheidungen zugunsten einer rigiden Machtdurchsetzung und Machtsicherung mit möglichst umfassender Verhaltenskontrolle in allen Lebensbereichen der Gesellschaft und den Institutionen des politischen Systems" (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 37).Gesellschaftliche Entwicklungen sind von immer höherer Komplexität und Ambivalenz geprägt. Ebenso nimmt ihre Unübersichtlichkeit zu und sie verändern sich mit zunehmender Geschwindigkeit. In diesem Zuge stehen politische Akteur:innen vor der Herausforderung, ihre Ambitionen und Machtansprüche für die jeweilige Wähler:innenschaft passend aufzubereiten. Hierzu gehört das Anbieten von Welt- und Gesellschaftsbildern, die Unübersichtlichkeit strukturieren, Entschleunigung versprechen und Komplexität reduzieren. Aus diesen Gründen werden von gemäßigten und extremen rechten Bewegungen und Parteien solche Dichotomien verwendet, die das Ordnen der eigenen Gefühlslagen, Erfahrungen und der eigenen Weltsichten erleichtern. 2.3 Populismus und RechtspopulismusPopulismus sieht Heitmeyer als Stil der Mobilisierung, der übergehen kann in eine "machiavellistische Strategie zur Erlangung oder Verteidigung der Macht" und auf marginalisierte Gruppen abzielt. Hinzu kommt häufig eine populistisch etikettierte Rhetorik und schlichte, aber einflussreiche Weltdeutungen, die dazu dienen, Ressentiments zu aktivieren, um eine imaginäre, kollektive Identität zu beschwören. Dies ganz im Sinne eines authentischen Volkes oder "der Nation" gegen Elit:innen, gegen "das System", Minderheiten oder die "Lügenpresse" (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 24).Nach Heitmeyer hat sich eine allgemein akzeptierte Definition von Populismus etabliert, wonach eine Bewegung dann als populistisch charakterisiert werden kann, "[...] wenn ihr die Unterscheidung zwischen dem "wahren" Volk einerseits und den ausbeuterischen, dekadenten, volksverräterischen Eliten andererseits zugrunde liegt" (Heitmeyer, 2018, S. 231). Heitmeyer verwendet mittlerweile meist den Begriff autoritär anstelle von populistisch, im Folgenden wird ebenfalls diese Bezeichnung verwendet.Beim Rechtspopulismus prangert Heitmeyer eine "inflationäre Verwendung" ohne wirkliche Trennschärfe an, der keine einheitliche Definition hat, oftmals jedoch als Form des Autoritarismus mit "dünner Ideologie" und als Vergangenheitsorientierung beschrieben wird (Heitmeyer, 2018, S. 231). Im Allgemeinen bezeichnet er den Rechtspopulismus als eine Ergänzung des populistischen Grundprinzips "Volk gegen Elite" um eine nationalistische Rhetorik (Heitmeyer, 2018, S. 232).Zur These der "dünnen Ideologie" führt Heitmeyer an, dass sich populistische bzw. autoritäre Bestrebungen nicht nur durch ihren Politikstil und einer auf Machterwerb zielenden Strategie auszeichnen, sondern durch ein "Set von Ideen" und einem spezifischen Politik- und Demokratieverständnis, also ein Muster zur Deutung der gesellschaftlichen Wirklichkeit anbieten, das sich nicht nur auf Kritik an Elit:innen und demokratischer Repräsentation beschränkt."Mit der ideologischen Kombination und politischen Handlungsagenda von Antielitismus und Antipluralismus, einer Kultur der unmittelbaren Kommunikation, einem xenophoben Nationalismus und dem Phantasma imaginärer Gemeinschaftlichkeit entfernt sich die Beschreibung des Populismus weit von demokratischen grass roots und nimmt die Deutungsangebote aus dem Lager des Autoritarismus an" (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 25). 2.4 Autoritärer NationalradikalismusDer Einheitsbegriff des Rechtspopulismus als "catch-all-term" wird nach Heitmeyer der sperrigen Realität nicht gerecht und hat viele alternative Benennungen verkümmern lassen. Zudem werden mit Nutzen dieses Begriffes durch Wissenschaft, Politik und Medien Vernebelungstaktiken der politischen Akteur:innen und Bewegungen bedient, da nicht die genauen ideologischen Komponenten ihrer jeweiligen Programme benannt werden. Das Abbilden der vielfältigen Realität muss auch begrifflich differenziert abgebildet werden, was notwendig ist, um "Gegengifte" zu entwickeln. Daher müssen die Begriffe "sperrig und unpoliert" sein (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 105).Der autoritäre Nationalradikalismus bewegt sich zwischen dem Rechtspopulismus und dem gewalttätigen Rechtsextremismus bzw. Neonazismus. Anzumerken ist, dass es sich nicht um eine faschistische Gesinnung handelt, da der italienische Faschismus nicht mit dem Nationalsozialismus identisch ist, in dem der Antisemitismus zentral ist (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 106). Der gewalttätige Rechtsextremismus schreckt viele Wähler:innen oder Sympathisant:innen ab, da er in öffentlichen Räumen situativen Schrecken verbreiten will.Im Gegensatz dazu weist der Rechtspopulismus eine "flache" Ideologie auf und ist mit der dramatisierten Konfliktlinie Volk vs. Elite auf kurzzeitige Erregungszustände ausgerichtet, die über klassische Massenmedien und die sozialen Medien verbreitet werden sollen, wie Abbildung 2 anschaulich darstellt (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 106). Der autoritäre Nationalradikalismus hingegen zielt auf die destabilisierende Veränderung gesellschaftlicher und politischer Institutionen. Zudem bedient er sich dichotomischer Welt- und Gesellschaftsbilder, um destabilisierende Veränderungen erreichen zu können. Abbildung 2: Die Erfolgsspur des autoritären Nationalradikalismus (Quelle: eigene Darstellung nach Heitmeyer, 2018, S. 236; Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 107)Drei markante Charakteristika des autoritären Nationalradikalismus werden in der Sozialforschung hervorgehoben. Diese werden im folgenden erklärt und in Kapitel 6 auf die AfD bezogen:Das Autoritäre zeigt sich in der Betonung einer hierarchischen sozialen Ordnung, in Forderungen nach rigider Führung politischer Institutionen und in einem fundamentalistischen Verständnis des Agierens und Opponierens auf politischer Ebene ohne Kompromisse. Politik und Gesellschaft sollen also entsprechend einem Kontrollparadigma organisiert werden. Dichotomische Gesellschaftsbilder sind maßgebend und operieren als Grundlage für kämpferisch initiierte "Entweder-oder-Konflikte" (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 105).Die Betonung der besonderen Stellung des deutschen Volkes bildet das Nationale des autoritären Nationalradikalismus. Formulierungen und Parolen wie "Deutschland den Deutschen" oder "Deutschland zuerst" unterstreichen eine Überlegenheit gegenüber anderen Völkern, Nationen, ethnischen und religiösen Gruppen und eine neue, "deutsche" Vergangenheitsdeutung wird reklamiert (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 105 f.).Das Radikale, vom ursprünglichen Wortsinn aus dem Lateinischen (radix = Wurzel) her bestimmt, richtet sich gegen die offene Gesellschaft und die liberale Demokratie, die trotz zahlreicher kritikwürdiger Defekte erst durch jahrzehntelange Entwicklungen und Freiheitskämpfe ermöglicht wurden. Ein rabiater und emotionalisierter Mobilisierungsstil wird dazu angewendet, der sich vor allem durch menschenfeindliche Grenzüberschreitungen auszeichnet (vgl. Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 106).Weiterhin ist auf acht Elemente hinzuweisen, die zum Instrumentarium des organisierten autoritären Nationalradikalismus zählen:""Deutsch-Sein" als Schlüsselkategorie und sicherheitsspendender Identitätsanker;Propagandierung dichotomer Weltbilder;Kontrollparadigma als Versprechen einer autoritären sozialen Ordnung;Emotionalisierung gesellschaftlicher Probleme als Kontrollverluste;eskalativer Mobilisierungsstil zur Wiederherstellung von Kontrolle;Forcierung sozialer Vergleichsprozesse zwecks Radikalisierung;Ausnutzen der "Gewaltmembran", um mit bestimmten Begriffen andernorts Gewalt freizusetzen und Legitimationen zu liefern;Konstruktion einer "Opferrolle", um Sympathisanten an sich zu binden und ein Recht auf "Notwehr" zu etablieren" (Heitmeyer, 2018, S. 213-276; Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 111).Diese Elemente sind deshalb wichtig zu nennen, da sie als Grundlage für drei wichtige Ziele dienen, die autoritär nationalradikale Parteien verfolgen:Das Besetzen vakanter politischer Themenräume, die von etablierten Parteien in der Vergangenheit übersehen wurden,das Verschieben des Sagbaren, wobei Heitmeyer auf die Theorie des "Overton-Windows" hinweist, sowie drittensdie Normalisierung von Positionen und dadurch die Schaffung neuer Normalitätsstandards (vgl. Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 111 f.).Der autoritäre Nationalradikalismus wird ab Kapitel 5 ausführlich in Bezug auf die Partei "Alternative für Deutschland" dargestellt, die den Kern des autoritären Nationalradikalismus in Deutschland bildet. 2.5 Rechtsautoritär und rechtsextremDen Bezug von Autoritärem zu Rechtsautoritärem und Rechtsextremem begründen Frankenberg & Heitmeyer damit, dass "für die Übersetzung des Autoritären in die aktuellen gesellschaftlichen und politischen Zustände und Entwicklung [...] eine Fokussierung auf das rechtsautoritäre und rechtsextreme Spektrum angebracht" ist (2022, S. 40).In Ermangelung einer umfassenden Definition von Rechtsextremismus, die die Dimension der Gewalt beinhaltet, hat Heitmeyer ein eigenes Konzept vorgelegt (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 40). Dieses akzentuiert die "Kernverbindung" von Ideologie der Ungleichheit und Gewaltakzeptanz. Die Ideologie der Ungleichheit enthält zwei zentrale Dimensionen, wobei die erste gruppenbezogen auf Ungleichwertigkeit ausgerichtet ist und sich später als "gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" ausgeprägt hat:"Sie zeigt sich in Facetten wie nationalistische bzw. völkische Selbstübersteigerung; rassistische Einordnung; soziobiologische Behauptung von natürlichen Hierarchien; sozialdarwinistische Betonung des Rechts des Stärkeren; totalitäre Normverständnisse im Hinblick auf Abwertung des "Anders-Sein" und die Betonung von kultureller Homogenität gegen Heterogenität" (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 40 f.).Diese erste Dimension lässt sich als Vorlage für die späteren Studien "Deutsche Zustände" von Wilhelm Heitmeyer verstehen. Die zweite Dimension der Ideologie der Ungleichheit hat sich als lebenslagenbezogen erwiesen und verweist auf Ausgrenzungsforderungen in Form von kultureller, politischer, rechtlicher, ökonomischer sowie sozialer Ungleichbehandlung von Fremden bzw. "Anderen".Die Gewaltakzeptanz haben Frankenberg & Heitmeyer in vier ansteigend eskalierende "Varianten der Überzeugung unabänderlicher Existenz von Gewalt" kategorisiert, hinter denen die Grundannahme steht, dass Gewalt als "normale Aktionsform zur Regelung von Konflikten" und demnach als legitim angesehen würde (2022, S. 41). Insofern überrascht die Tatsache nicht, dass etwa rationale Diskurse oder demokratische Regelungsformen von sozialen und politischen Konflikten abgelehnt und autoritäre oder gar militaristische Umgangsformen und Stile betont werden (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 41).Die politikwissenschaftliche Forschung zum Rechtsextremismus sieht Heitmeyer fixiert auf politische Symbole, historisch-politische Bezugnahmen, Parteiprogramme und Wahlerfolge. Jedoch reicht dieser Fokus nicht aus, um den Aufschwung rechter und rechtsextremer Kräfte in der Gesellschaft zu erklären – weshalb der "[..] Blick auf die Zusammenhänge zwischen ökonomischen, sozialen und politischen Strukturentwicklungen, den individuellen und kollektiven Verarbeitungen und den politischen Handlungskonsequenzen, wenn ein entsprechendes Handlungsangebot vorhanden ist", geweitet werden muss (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 41).Dies beschreibt das "Analyseschema" (siehe Abbildung 5) im folgenden Kapitel. Fürderhin sollen nicht einzelne Aspekte oder Ereignisse parzelliert betrachtet werden, sondern mittels des "konzentrischen Eskalationskontinuums" die "rechten Bedrohungsallianzen", die bis in die Mitte der Gesellschaft hineinreichen, sichtbar werden. Hierzu hat Heitmeyer 2018 ein weiteres Untersuchungsmodell entwickelt (siehe Abbildung 3). Die beiden Schemata werden folgend beschrieben. Vorangestellt finden sich die zentralen Ausgangspunkte und Thesen von Wilhelm Heitmeyer, auf denen die Schemata beruhen. 3. Heitmeyers Arbeiten: Zentrale Thesen und SchemataWilhelm Heitmeyers Studien knüpften ursprünglich an die mittlerweile vielzitierte Prognose Ralf Dahrendorfs aus 1997 an, dass wir uns "an der Schwelle zum autoritären Jahrhundert" befinden würden, da vieles auf solch eine Entwicklung hindeuten würde (Dahrendorf, 1997; Heitmeyer, 2022 b, S. 256). Dahrendorf wies vor über 25 Jahren auf das verhängnisvolle Zusammenwirken von Ökonomie, politischer Partizipation und sozialer Integration bzw. Desintegration hin und deutete dieses Spannungsverhältnis als eine "Quadratur des Kreises". Heitmeyer fragt in diesem Zusammenhang, "zu wessen Lasten diese Spannungen gehen würden" und "[...] wie sich unter dem Druck der kapitalistischen Kontrollgewinne die individuellen, kollektiven und institutionellen Kontrollverluste auswirken würden" (Heitmeyer, 2022 b, S. 256).Insbesondere die Langzeitstudie "Deutsche Zustände" zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit hat ergiebiges Daten- und Analysematerial erbracht, welches Heitmeyer in seinen Arbeiten verwendet (Heitmeyer, 2018, S. 28). Das Projekt mit seinen jährlichen repräsentativen Bevölkerungsbefragungen dient dazu, Langzeitverläufe sichtbar zu machen und eignet sich, um das Aufkommen und Erstarken der autoritär nationalradikalen AfD zu beleuchten.Heitmeyer konnte mit Hilfe der Resultate empirisch Zusammenhänge in zwei Richtungen nachweisen: "für die Unterstützung autoritärer Bewegungen sowie Parteien und gegen verschiedene Gruppen in der Gesellschaft (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 55). Je deutlicher man autoritäre Überzeugungen vertritt, desto eher stimme man fremdenfeindlichen und rassistischen Äußerungen zu, abgeschwächt auch Äußerungen zu Antisemitismus, Heterophobie und klassischem Sexismus sowie der These von Etabliertenvorrechten, also sozialer Dominanz in einem Hierarchiengefüge.So kam Heitmeyer auf das oben erwähnte und seither vielzitierte Fünftel der Bevölkerung (19,6%), das Einstellungen zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit hegt und als "Machtmaterial" für autoritäre Bewegungen, Parteien und Regime zur Etablierung und Sicherung von autoritären gesellschaftlichen und politischen Machtstrukturen dienen kann (Schaefer, Mansel & Heitmeyer, 2002, S. 125 f.; Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 56). 2001 formulierte Wilhelm Heitmeyer seinen Ausgangspunkt wie folgt:"Die zu verfolgende These geht davon aus, daß [sic] sich ein autoritärer Kapitalismus herausbildet, der vielfältige Kontrollverluste erzeugt, die auch zu Demokratieentleerungen beitragen, so daß neue autoritäre Versuchungen durch staatliche Kontroll- und Repressionspolitik wie auch rabiater Rechtspopulismus befördert werden" (Heitmeyer, 2001, S. 500).Der sogenannte "autoritäre Kapitalismus" entstand durch eine neoliberale Politik rund um die Jahrtausendwende. Weitreichende ökonomische Kontrollgewinne in einerseits gesellschaftlichen Lebensbereichen über soziale Standards von Verdiensten und soziale Absicherung sowie andererseits über Standortentscheidungen waren zu verzeichnen, ergo übergriffig eindringende Prozesse, sodass nun mehr ökonomische Dominanz als Quelle für Kontrolllosigkeit sowie für Anomie gilt.Diese weitreichenden Kontrollgewinne des Kapitals wurden begleitet von ebenso weitreichenden politischen Kontrollverlusten nationalstaatlicher Politik, verbunden mit sozialen Desintegrationsprozessen von Teilen der Bevölkerung. Diese Auswirkungen blieben auf politischer Ebene allerdings solange wahlpolitisch folgenlos, bis ein entsprechendes politisches Angebot auf den Plan trat. In Deutschland erschien dieses Angebot in Form des autoritären Nationalradikalismus der AfD, besonders anschaulich im Jahr 2015 durch die politisch-kulturelle Krise der Flüchtlingsbewegungen und die Spaltung der AfD auf Bundesebene (Heitmeyer, 2022 a, S. 301; Heitmeyer, 2022 b, S. 261).2018 schreibt Heitmeyer, dass sich dies tatsächlich so ereignet hat und sich empirisch nachweisen lässt: "Ein zunehmend autoritärer Kapitalismus verstärkt soziale Desintegrationsprozesse in westlichen Gesellschaften, erzeugt zerstörerischen Druck auf liberale Demokratien und befördert autoritäre Bewegungen, Parteien und Regime" (Heitmeyer, 2018, S. 23). Nachfolgend werden das Modell des konzentrischen Eskalationskontinuums und das Untersuchungsschema beschrieben. 3.1 Konzentrisches EskalationskontinuumMit dem Schema des konzentrischen Eskalationskontinuums soll dargestellt werden, wie autoritäre Eliten auf Legitimation und Partizipation – unter anderem durch die Bürger:innen - angewiesen sind, zumindest so lange, wie sie ein "formales Demokratiesystem westlicher Prägung" aufrecht erhalten wollen oder auch durch soziale, politische und ökonomische Gegenkräfte dazu genötigt werden.Heitmeyer rückt somit die "[...] Entstehung von Eskalationsdynamiken ins Blickfeld, mit denen die zustimmende oder schweigend duldende Beteiligung von erheblichen Teilen der Bevölkerung zu erfassen ist" (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 43). Das konzentrische Eskalationskontinuum dient dazu, die Wucht rechter Bedrohungsallianzen herauszukristallisieren und soll helfen, Gewalt, Gewaltstadien und deren Ursachen besser verstehen zu können.Betrachtet werden Einstellungen und Verhaltensweisen einzelner unverbunden nebeneinander lebender Personen sowie formelle Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Vereinigungen. Dem Eskalationsmodell zugrunde liegt das Milieukonzept. Heute sind nicht mehr zwingend physische Kontakte notwendig, da Milieubildung auch im virtuellen Raum stattfindet. Heitmeyer weist darauf hin, dass in diesem Zusammenhang durch ein entstehendes "Wir"-Gefühl gleichzeitig eine abwertende, diskriminierende und ausgrenzende "Die"-Kategorie mitgeliefert wird.Das Schema stellt im "Zwiebelmodell" fünf Stufen dar, die als Einstellungsmuster der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in Teilen der Bevölkerung zu verstehen sind, die wiederum autoritären Versuchungen nachgeben und somit den Autoritären Nationalradikalismus der AfD in Deutschland, aber auch Fidesz in Ungarn oder der FPÖ in Österreich begünstigen (Heitmeyer, 2022, S. 43). Die jeweiligen eskalierenden Akteur:innengruppen in den Schalen des Modells werden kleiner, während die Gewaltorientierung im Inneren des Modells zunimmt.Als Kernmechanismus und verbindendes Element der Schalen zueinander werden die verschiedenen Legitimationsbrücken genannt. Fürderhin darf nicht unerwähnt bleiben, dass die Ideologie der Ungleichwertigkeit der kleinste gemeinsame Nenner aller Schichten des Eskalationskontinuums ist. Sie dient als Legitimationsfundus für personen- wie gruppenbezogene Diskriminierung, Ausgrenzung und Gewalt (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 20). Abbildung 3: Konzentrisches Eskalationskontinuum (Quelle: eigene Darstellung nach Heitmeyer, 2018, S. 356; Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 59) Nachfolgend werden die Schichten im Spektrum von rechtem Denken bis zum terroristischen Handeln kurz erläutert: Die äußerste Schicht repräsentiert die gesamte Bevölkerung, in der in unterschiedlichem Ausmaß Einstellungen vertreten werden, je nach gesellschaftlicher Debatte, die der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit zugeordnet werden können. Diese Einstellungen in der Bevölkerung stellen individuelle Positionierungen dar, die parteipolitisch gebunden, "freischwebend" sein oder auch zwischen Parteien "vagabundieren" können. Diejenigen Teile der Bevölkerung mit menschenfeindlichen Einstellungen sympathisieren zwar maßgeblich mit der AfD, sind an sie jedoch nicht zwangsläufig gebunden und können auch andere Parteien präferieren und wählen (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 60).Das Milieu des autoritären Nationalradikalismus, insbesondere der AfD, das an diese erste Schicht anschließt, präsentiert und propagiert entsprechende Ausgrenzungsstrategien und konstruierte Feindbilder. Die AfD "saugt" die jeweiligen individuellen Einstellungen in der Bevölkerung auf und verdichtet sie zu kollektiven Aussagen, die sie dann wiederum auf die politische Agenda setzt. Sie konzentriert also potenzielle menschenfeindliche Einstellungen in der Bevölkerung, die bereits im Vorfeld durch andere Bewegungen, wie beispielsweise Pegida, verdichtet wurden und bildet für sie den parlamentarischen Arm.Ein weiteres Kennzeichen dieses Milieus ist eine gewisse ideologische Heterogenität, da die Einstellungen von "[...] rechtskonservativen bis hin zu "Übergangspositionen" in das systemfeindliche Milieu des völkischen "Flügels" der AfD" reichen" (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 62). Zudem bemüht sich die AfD um den Anstrich einer "bürgerlichen" Partei, um anschlussfähig an die Mitte der Gesellschaft zu sein.Im systemfeindlichen Milieu ist man parteipolitisch eindeutig im rechtsextremen Milieu verortet, Bezug genommen wird etwa auf die NPD, was auch für die extremistisch-modernistische Identitäre Bewegung gilt. Gemeint sind also rechtsextremistische Bewegungen und neonazistische Kameradschaften, die sich an einschlägigen historischen Vorbildern orientieren. Die gemeinsame Grundlage stellt die Ideologie der Ungleichwertigkeit dar. In diesem Milieu sind bereits Gewaltattitüden verbreitet, Gewalt wird akzeptiert und zur Ausübung ist man situativ bereit (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 62). Jedoch lässt man sich in Form von Parteien durchaus darauf ein, vorübergehend am demokratischen System teilzunehmen.An staatliche Vorgaben passt man sich nur aus strategischen Überlegungen an, indem beispielsweise Demonstrationen angemeldet werden; zugleich ist "Systemüberwindung" das zentrale Ziel: "In der "Parteifantasie" arbeitet man auf den "Volksaufstand" hin, mit dem die Vergangenheit wiederhergestellt werden soll. Es ist ein offener und weitgehend öffentlicher Kampf gegen das verhasste System" (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 64).Diese wenn auch nur vorübergehende Teilnahme am demokratischen System gilt als wesentlicher Unterschied zur vorletzten Schicht, dem klandestinen terroristischen Planungs- und Unterstützungsmilieu. Es schließt jegliche Teilnahme am demokratischen System aus und fasst jede partielle und temporäre Teilnahme als Verrat an der Bewegung auf (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 64). Dieses Milieu gilt als noch radikaler und agiert im Geheimen, oft mit eindeutiger Gewaltoption oder Gewalttätigkeit. Ziel ist der "Umsturz", wenn nötig mit Waffengewalt, weshalb dieser verdeckte Kampf auch aus dem Untergrund unterstützt wird – hier weist Heitmeyer auf die hohe Zahl untergetauchter rechtsextremistischer Straftäter:innen als aufschlussreiches Indiz hin (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 64).Den Kern der "Zwiebel" stellen terroristische Zellen oder Einzeltäter:innen dar. Den Unterschied zur vorherigen Eskalationsstufe stellt das alleinige Merkmal des "Grad(s) der Klandestinität und Vernichtungsrealisierung" dar: "Die einen führen zum Schein noch ein "normales" Alltagsleben, die anderen eine Existenz im Untergrund. Sie beschaffen Waffen, erstellen Todeslisten und bereiten sich auf den Tag X vor. Die einen planen die Vernichtungstaten, die anderen setzen sie um" (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 64).Die fünf Schichten des konzentrischen Eskalationskontinuums werden durch sogenannte "Legitimationsbrücken" zusammengehalten. Diese können dann entstehen, wenn es für gesellschaftliche Entwicklungen keine Lösungen zu geben scheint. Die Entwicklungen werden als Bedrohungen empfunden, für die die "Anderen", beispielsweise Geflüchtete oder Menschen mit anderen Lebensstilen, oder "die da oben", ergo der Staat als Ganzes, demokratische Institutionen oder demokratisch gewählte Entscheidungsträger:innen, verantwortlich gemacht werden. Diese kollektiven Schuldzuweisungen aus Teilen der Bevölkerung können sich dann in gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit übersetzen.Zum anderen können sich die Legitimationen aus Verschwörungsideologien, aus Anleihen bei gesellschaftlichen Ordnungen oder historischen ideologischen Konzepten, wie dem Regime des Nationalsozialismus, dessen Ordnung wiederhergestellt werden soll, ergeben. Diese beispielhaft aufgezeigten Legitimationsquellen werden dann im Eskalationskontinuum von den äußeren Schichten weiter nach innen "transportiert (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 65). Heitmeyer hat vier solcher Legitimationsbrücken jeweils zwischen den Stufen bestimmt, wie die folgende Abbildung zeigt:Abbildung 4: Legitimationsbrücken im Eskalationskontinuum (Quelle: eigene Darstellung nach Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 67)1. Das Einstellungsmuster gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in Teilen der Bevölkerung stellt den Ausgangspunkt dar. Es dient dem autoritären Nationalradikalismus der AfD als Legitimation, entsprechende Feindbilder aufzubauen und zuzuspitzen. Wichtig anzumerken ist, dass auch Menschen mit diesen Einstellungen, die nicht die AfD wählen oder mit ihr sympathisieren, zu diesem Legitimationsfundus beitragen. Sie bestimmen das gesellschaftliche Klima mit, aus dem die AfD ihre politische Legitimation "saugt" (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 66 f.).2. Führende Vertreter:innen des autoritären Nationalradikalismus der AfD machen von einer "Gewaltmembran" Gebrauch, was bedeutet, dass eine aggressive Rhetorik die trennende Membran zur nächsten Stufe in gewissen Fällen durchdringen kann und den Weg freilegt für autoritär nationalradikale Bewegungen mit weiteren Aufheizungen – psychische Gewaltandrohungen können von gewalttätigen Akteur:innen in physische Gewalt umgesetzt werden, "[...] ohne dass diese Gewalt den sprachlichen Urhebern und Legitimationsbeschaffern direkt zuzurechnen wäre" (Heitmeyer, 2018, S. 271). Durch diese Gewaltmembran werden dem systemfeindlichen Milieu Motive für entsprechende Gewalt geliefert. Zur aggressiven Rhetorik zählen beispielsweise Erzählungen von einem "Bevölkerungsaustausch", Parolen wie "Corona-Diktatur" oder das Beschwören von Untergangsszenarien von Führungskräften der AfD. Auch das Propagieren einer Reinterpretation der deutschen Geschichte insbesondere seitens des völkischen "Flügels" der AfD durch Begriffe wie "Umvolkung" bringt die Gewaltmembran zum Schwingen. Diese Rhetoriken und Untergangsfantasien erzeugen Handlungsdruck (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 67 f.).3. Das systemfeindliche Milieu ist geprägt von verschiedenen Akteur:innen, die sich auf der Schwelle zur Legitimation offener Gewalt gegen Vertreter:innen des Staates und gegen Minderheiten bewegen. Heitmeyer führt als Beispiel die Partei "Die Rechte" an, die den klandestinen terroristischen Planungsmilieus Motivation und Legitimation liefert (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 68).4. Im letzten Schritt stehen die klandestinen Planungsmilieus. Diese errichten im Gegensatz zu den vorherigen Eskalationsstufen keine zusätzlichen ideologischen Legitimationsbrücken. Ihr Ziel sind die "Brücken zur Tat" und das Abschirmen terroristischer Akteur:innen gegen staatliche Verfolgung (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 68).Hieraus resultiert die Schlussfolgerung, dass über verschiedene, eskalierende Stufen jene Teile der Bevölkerung, die explizite autoritäre Einstellungen oder Einstellungen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit aufweisen, an politischer Gewalt beteiligt sind; nicht zwangsläufig als Täter:innen im juristischen Sinne, aber als Gehilf:innen und Legitimationshelfer:innen, wie das konzentrische Eskalationskontinuum anschaulich darstellt (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 43). Das Modell des konzentrischen Eskalationskontinuums wird in Kapitel 6 in Bezug auf das Auftreten der AfD näher erläutert und an Beispielen untersucht.3.2 Analyseschema2018 hat Heitmeyer ein weiteres Analyseschema eingeführt. Ausgangspunkt für dieses soziologische Analysekonzept ist die Thematik, dass allein das Vorhandensein von autoritären Versuchungen in Teilen der Bevölkerung nicht ausreicht, um die entsprechenden Inhalte dann auch umgesetzt zu sehen. Hierzu ist es notwendig, dass diese Einstellungen in der Bevölkerung zusammen mit autoritären politischen Angeboten wirken. Insofern, formuliert Heitmeyer, "[...] wäre es zu kurz gegriffen, die Entstehung von autoritären Versuchungen nur aus Fehlentwicklungen des politischen Systems erklären zu wollen" (2018, S. 21).Die erste Ebene des Analyseschemas bildet Interdependenzen zwischen dem ökonomischen, sozialen und politischen Bereich ab. Diese sind als strukturelle Entwicklungen gekennzeichnet. Die unter "individuelle Verarbeitung" genannten Punkte sind von großer Bedeutung. Zentral ist hier, wie diese Erfahrungen bzw. Wahrnehmungen der ersten Ebene seitens der Bevölkerung subjektiv und individuell verarbeitet werden. Die individuellen Verarbeitungsmechanismen werden nach der Konzeption von Heitmeyer durch die "gesellschaftliche Integrations- und Desintegrationsdynamik" geprägt. Hierfür sind die folgenden Faktoren und Fragen von besonderer Bedeutung:"Sicherheit oder Unsicherheit der materiellen Reproduktion, der Anerkennung, des Statusaufstiegs, der Statussicherung bzw. des Statusabstieges, und ein Gefühl der Kontrolle über die eigene Biografie.Wird die eigene Stimme bzw. die Stimme der sozialen, ethnischen oder religiösen Gruppe, der Personen sich zugehörig fühlen, von den Regierenden wahrgenommen oder vielmehr ignoriert?Verlässlichkeit oder Erosion sozialer Beziehungen und Anerkennung der eigenen Identität bzw. der Identität der eigenen Gruppe durch Dritte, um emotionale Zugehörigkeit zu sichern" (Heitmeyer, 2018, S. 22).Zentral in Heitmeyers Analyse sind der Kontrollverluste und die Defizite in der Wahrnehmung sowie der subjektive Begriff der Anerkennung. Diese Verarbeitungen haben Auswirkungen auf die Integrations- und Desintegrationsprozesse bzw. auf Anerkennungsverhältnisse, aus welchen im letzten Schritt politische Konsequenzen, also politische Handlungsfolgen, resultieren.Essenziell ist an dieser Stelle die Tatsache, dass die individuellen Verarbeitungen auch als Grund dafür angeführt werden können, weshalb nicht alle Teile der Bevölkerung, die unter einer Art von Desintegrationsdynamik leiden, zwangsläufig für autoritäre Versuchungen anfällig sind und sich wahlpolitisch entsprechend verhalten. Von einer Krisenfolge betroffen zu sein, hat also nicht zwangsläufig das Annehmen eines autoritär nationalradikalen Angebots zur Folge (Heitmeyer, 2022 b, S. 269).Auch die autoritären Bewegungen, Parteien und Regime weisen autoritäre Versuchungen auf, die zu entsprechenden Einstellungen und Entscheidungen führen, die das gesellschaftliche Zusammenleben beeinflussen, da sie Bezug auf die ökonomischen, sozialen und politischen Systeme nehmen (Heitmeyer, 2018, S. 21 f.). Dieses Schema wurde von Heitmeyer mit diversen theoretischen Ansätzen angelegt und ausgefüllt mit empirischen Daten (Heitmeyer, 2022 b, S. 252).Das Theoriegeflecht aus mehreren sich ergänzenden disziplinären Zugängen besteht aus der Theorie Sozialer Desintegration von Anhut & Heitmeyer, der Konflikttheorie von Hirschman, der Theorie kapitalistischer Landnahme von Dörre, der Anomietheorie von Thome und dem kontrolltheoretischen Ansatz aus der Sozialpsychologie von Frey & Jonas. Die für das Analysekonzept wichtigsten Charakteristiken dieser Theorien werden in Heitmeyer 2018 und 2022 b ausführlich erklärt. Die genauere Betrachtung dieser Theorien würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen, weshalb darauf an dieser Stelle verzichtet wird.Abbildung 5: Analyseschema (Quelle: eigene Darstellung nach Heitmeyer, 2018, S. 21)Erfolge rechter Parteien und Bewegungen wären demnach nicht möglich gewesen ohne bestimmte Entwicklungen im sozialen System der Gesellschaft, im politischen System der Demokratie und im ökonomischen System des globalisierten Kapitalismus (Heitmeyer, 2018, S. 16). Durch das vorliegende Analyseschema soll verdeutlicht werden, wie autoritärer Kapitalismus in Zusammenwirken mit sozialen Desintegrationsprozessen und politischer Demokratieentleerung als "Ursachenmuster für die Realisierung autoritärer Sehnsüchte" fungiert (Heitmeyer, 2018, S. 16 f.).Demokratieentleerung meint, dass ein Teil der Bevölkerung das Gefühl hat, nicht mehr wahrgenommen zu werden und gleichzeitig das Vertrauen schwindet, dass die herrschende Politik bzw. die Regierung willens und fähig ist, soziale Ungleichheit zu bekämpfen. Dies mündet bei Teilen der Bevölkerung in ein Gefühl, Bürger:innen zweiter Klasse zu sein (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 48). Heitmeyer hat 2022 das Analyseschema ergänzt; die Komponenten Krisen und Kontrollverluste wurden entsprechend ausdifferenziert (siehe Abbildung 6). Im Folgenden werden Krisen und Kontrollverluste als besondere Treiber autoritärer Entwicklungen und die dahingehende Erweiterung des Analyseschemas beleuchtet.4. Krisen und Kontrollverluste als Treiber autoritärer EntwicklungenEine Krise wird von Frankenberg & Heitmeyer durch drei Charakteristika definiert. Die bisherigen sozialen, ökonomischen und politischen Routinen zur Bewältigung von Ereignissen greifen nicht mehr und die bis dato vorhandenen Wissensbestände zur Problemlösung reichen nicht aus. Zusätzlich sind die Zustände, wie sie vor diesen Ereignissen herrschten, nicht wieder herstellbar. Darüber hinaus konkurrieren in solch krisenhaften Situationen verschiedene Möglichkeiten zu ihrer Bewältigung, was wiederum anomische Verhaltensunsicherheiten erzeugt (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 45).Die Kombination der drei Kriterien legt nahe, dass "Situationen mit notstandsähnlichem Zuschnitt" mit der Erfahrung von Kontrollverlusten verflochten sind (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 45; Heitmeyer, 2023, S. 253). Insofern verwundert die Tatsache nicht, wenn die These vertreten wird, dass krisenhaft zugespitzte Entwicklungen und Ereignisse nicht allein, jedoch in besonderem Maße als Treiber und Pfade des Autoritären sowie rechtsextremer Aktivitäten zählen (Heitmeyer, 2022 b, S. 251).Von autoritären Regimen wird in Krisen oder notstandsähnlichen Situationen erwartet, dass sie Sicherheit und die Wiedergewinnung der Kontrolle gewährleisten können (2022, S. 44 f.). Zudem werden die Ereignisse von der Bevölkerung individuell je nach Betroffenheit und auch Resilienz unterschiedlich bearbeitet. Diese Verarbeitung wiederum wird unterschiedlich intensiv und nachhaltig in individuelle Befürchtungen sowie kollektive Ängste übertragen. Somit dienen sie dazu, Vorstellungen von Entsicherungen und Kontrollverlusten zu erzeugen, die sich identifizieren lassen als Treiber autoritärer Bestrebungen (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 45 f.).Eine weitere wichtige Unterscheidung in der Konzeption von Krise ist die Unterteilung in zwei Typen von Krise. Der erste Typus, sektorale Krisen, erfasst unterschiedliche Lebensbereiche und Funktionssysteme einer Gesellschaft schlagartig und mit massiven "Funktionsstörungen". Dazu gehören ein zeitlich entzerrtes Auftreten sowie die Lokalisierung in unterschiedlichen Teilbereichen der Gesellschaft. Zudem gab es verschiedene Instrumente, um diese Funktionsstörungen einzudämmen und gravierendere Auswirkungen zu verhindern.In der "Post-9/11"-Ära, in den sogenannten "entsicherten Jahrzehnten" seit Beginn des 21. Jahrhunderts, werden nach Heitmeyer vor allem drei – mit 9/11 als religiös-politische Krise vier - verschärfte Gefahrenlagen als sektorale Krisen identifiziert. Dazu zählt ab 2005 die Einführung von Hartz IV als eine sektorale, soziale Krise für gewisse Teile der Bevölkerung, die mit Statusängsten oder auch mit sozialem Abstieg konfrontiert waren. Weiter ist ab 2008/2009 die weltweite Banken- und Finanzkrise zu nennen, die die "systemrelevante" Finanzökonomie ins Wanken brachte mit Ausstrahlungseffekten auf das Gesamtsystem als ökonomisch-politische Krise. Fürderhin wird die sogenannte "Flüchtlingskrise" 2015/2016 als sozial-kulturelle bzw. kulturell-politische Krise angesehen, die das politisch-administrative System prägte (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 46; Heitmeyer, 2022 b, S. 255).Der zweite Typus bezieht sich auf systemische Krisen. Sie erfassen das gesamte Gesellschaftssystem in sich zuspitzenden Gefahrenlagen. Als langsame bzw. schleichende systemische Krise kann die Klimakrise angesehen werden, als "schnelle" systemische Krise die COVID-19 Pandemie. Hier werden die Potenziale für autoritäre Entwicklungen besonders offen sichtbar, da zahlreiche "Einhegungsinstrumente" nicht greifen, wodurch politische, individuell-biografische und kollektive Kontrollverluste auftreten, die politisch instrumentalisiert und mit Verschwörungstheorien und Wahnvorstellungen verbunden werden können (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 46 f.). Krisen lösen je nach Gefahrenlage individuelle und kollektive Befürchtungen aus, die sich in der Vorstellung einer "kollektiven Hilflosigkeit" verdichten können.In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach Krisenängsten, ob und wie sie zu Treibern autoritärer Entwicklungen werden können. Ängste, unabhängig davon, ob eingebildet oder realistisch, ob auf Wissen oder Unwissen beruhend, lassen sich schwerlich von einer politischen Klasse, von Unternehmen oder dem freien Markt abfangen. Je mehr sich Gefahrenlagen häufen und sich Wahrnehmungen von Kontrollverlusten sowie Unsicherheiten ausbreiten, fallen auch Rechtsprechung und Verfassung als Orientierungsmedien aus und auch Wissenschaften können diese nicht mit der Lieferung von Begleitgewissheit neutralisieren.In solchen Situationen "[...] mutieren selbst Realängste, die vor greifbaren, konkreten Gefahren warnen, zu frei flottierenden, allfälligen Befürchtungen, die jede Risikoeinschätzung verhindern und irrationale Rettungsbedürfnisse wecken" (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 53). Diese Situationen können dann von autoritären Bewegungen, Organisationen und Regimen ausgebeutet werden, indem zunächst Ängste geschürt und im zweiten Schritt die Anhänger:innen mit wahnhaften Rettungsphantasien "versorgt" werden. Alexander Gaulands Aussage, "Wir werden uns unser Land und unser Volk zurückholen", liefert ein entsprechendes prominentes Beispiel für das Versprechen, die Kontrolle wieder herzustellen (Reuters Staff, 2017; Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 53; Nickschas, 2023).Eine Annahme von Heitmeyer & Heyder lautet hier, dass die Faktoren der Standortlosigkeit und Kontrollverluste Autoritarismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit bestärken. Eine Variante zur Wiederherstellung von Stabilität stellt die Demonstration von Überlegenheit dar, die durch autoritäre Aggression ausgeübt werden kann. Um wirklich Überlegenheit demonstrieren zu können, muss diese möglichst risikoarm sein; dies ist dann gegeben, wenn besonders schwache, machtlose Gruppen als Gegner:innen ausgewählt werden (Heitmeyer & Heyder, 2002, S. 62). Empirisch stehen Abstiegsängste in einem signifikanten Zusammenhang mit einerseits Kontrollverlust-Situationen und andererseits der Abwertung schwacher Gruppen:"Wenn jemandem das eigene Leben außer Kontrolle gerät (oder zu geraten scheint), kann das Panik erzeugen. Zur Panikbekämpfung erfolgt dann eine Selbstaufwertung, die gleichzeitig die Abwertung von ungleichwertig markierten Gruppen bedeutet (Flüchtlinge, Migranten, Langzeitarbeitslose etc.)" (Heitmeyer, 2018, S. 109).Die individuellen Verarbeitungsmuster von Krisen und (gefühlten) Kontrollverlusten lassen sich durch entsprechende autoritäre Angebote von "rechtspopulistischen Mobilisierungsexperten" – mittels scharf konturierter Feindbilder und Kontrollversprechen - politisch aufladen und bedienen zur vermeintlichen "Wiederherstellung von Ordnung" (Heitmeyer, 2018, S. 106).2022 stützt Heitmeyer also die oben erwähnte These von Krisen als besondere Treiber autoritärer Entwicklungen und rechtsextremer Aktivitäten, indem er formuliert, dass der Blick auf Veränderungen in Richtung autoritärer Entwicklungen in gesellschaftlichen und politischen Verläufen geweitet werden soll, die unter verstärktem Einfluss zeitlich verdichteter Krisen stattfinden (Heitmeyer, 2022 b, S. 251). Das soziologische Analysekonzept von 2018 wird entsprechend angepasst um die zwei zentralen Eskalationstreiber Krisen und Kontrollverluste bzw. "Kontrollverluste als Krisenfolgen" (siehe Abbildung 6).Dies geht aus der Abbildung insofern deutlich hervor, als in die Strukturentwicklungen der ökonomischen, sozialen und politischen Dimension "[...] verschiedene Krisen mit unterschiedlichen Auswirkungen "hineingewirkt" und Einfluss genommen haben auf die individuellen psychologischen und sozialen Verarbeitungen, die wiederum mit Kontrollverlusten durchsetzt waren – immer auch je nach Krisenbetroffenheit" (Heitmeyer, 2022 b, S. 252 f.). Hierdurch entstanden durch das generelle Bedürfnis nach Realitätskontrolle Handlungsoptionen, die mehrfach variieren und auch autoritäre Versuchungen bzw. Gefahren beinhalten können.Abbildung 6: Analyseschema, erweitert und angepasst (Quelle: eigene Darstellung nach Heitmeyer, 2018, S. 21; Heitmeyer, 2022 b, S. 254)Fürderhin ist anzufügen, dass sich Kontrollverluste in Krisen verschiedenartig ausdrücken und sich Verhaltensmöglichkeiten zur Realitätskontrolle, also zur Lösung von Problemen, massiv verengen, insbesondere in systemischen Krisen. Individuelle Suchbewegungen setzen ein, um das grundlegende Bedürfnis nach Realitätskontrolle zu befriedigen. Diese Suchbewegungen schließen politische Suchbewegungen nach autoritären Akteur:innen mit ein, die die Wiederherstellung von Kontrolle durch Reduktion der Krisenkomplexität versprechen (Heitmeyer, 2022 b, S. 256).Krisen und Kontrollverluste treten daher als Treiber autoritärer politischer sowie gesellschaftlicher Entwicklungspfade in Erscheinung, da indes eine kritische Masse entstanden ist, die nicht mehr in der Lage ist, ihr zentrale Bedürfnis nach Realitätskontrolle im "bisher gewohnten Maße" zu realisieren. Genau das bieten autoritäre Akteur:innen im Gegensatz zur abnehmenden Kapazität liberaler Demokratien, geeignete Lösungen schnell zu finden und die Kontrolle wiederherzustellen (Heitmeyer, 2022 b, S. 257). Zudem ist diese versprochene Wiederherstellung keine Wiederherstellung des vorhergehenden Prä-Krisenzustandes, "[...] sondern eine autoritäre Veränderung von Kontrolle und damit auch veränderte ökonomische, soziale, kulturelle und politische Verhältnisse" (Heitmeyer, 2022 b, S. 257).Als Indiz sieht Heitmeyer zwei Mechanismen, die besonders hervorstechen: Einerseits die Ambivalenz, dass zahllose Widersprüche zunehmen, und andererseits die Ambiguität, dass zunehmende Komplexität von modernen Gesellschaften gepaart sind mit uneindeutigen Situationen und Zukünften. Ambivalenz- und Ambiguitätstoleranz kristallisieren sich also als unabdingbar heraus, um autoritären Versuchungen nicht nachzugeben."Denn wenn Sitationen [sic] oder auch die Anwesenheit von fremden Menschen als unberechenbar oder unkontrollierbar wahrgenommen werden, dann reagieren Personen, deren Ambiguitätstoleranz niedrig ist, mit vereinfachten Weltsichten oder Stereotypen, um wieder Ordnung, Struktur und Kontrolle zu erreichen" (Heitmeyer, 2018, S. 80).Hinzu tritt das Verschwimmen von gesellschaftlichen Koordinaten, die eigentlich als Vergewisserungen der jeweils eigenen Position in der Gesellschaft dienen, welches die Suchbewegungen nach politischen Akteur:innen aktiviert, die vorgeben, Widersprüche zu lösen, Unklarheiten in Klarheiten verwandeln und Kontrolle wiederherzustellen versprechen (Heitmeyer, 2018, S. 109 ff.; Heitmeyer, 2022 b, S. 258 f.).Hieraus könnte die Folgerung gezogen werden, dass das Potenzial von autoritären Versuchungen in der Moderne angelegt sei: "Ambivalenzen und Ambiguitäten als Grundparadigma der Moderne entfalten unter dem Druck von Krisen und damit verbundenen Kontrollverlusten eine neue Wucht, die ins Autoritäre drängt" (Heitmeyer, 2022 b, S. 259). Beispielsweise ist die erwähnte "Entweder-Oder" Logik im Vergleich zu "Mehr-oder-weniger" darauf angelegt, Ambivalenzen und Ambiguitäten zu beseitigen. "Das Autoritäre dient dann als Strategie zur Reduzierung von ökonomischer, sozialer und politischer Komplexität – und gleichzeitig von Freiheitsräumen" (Heitmeyer, 2022 b, S. 259).Heitmeyers Analysen zeigen, dass die Fähigkeiten zum Aushalten von Ambiguitäten und zum Umgang mit Ambivalenzen über zukünftige soziale, politische und ökonomische Entwicklungspfade in Teilen der Bevölkerung abnehmen. Dies ist passgenau für das Angebot vonseiten der autoritär-nationalradikalen Akteur:innen mit ihren dichotomischen Welt- und Gesellschaftsbildern (siehe Kapitel 2.2); das Angebot eignet sich hervorragend für mobilisierende Ideologien und rhetorische Eskalation (Heitmeyer, 2018, S. 246 f.).Erfolge rechter Parteien und Bewegungen wären demnach also nicht möglich gewesen ohne bestimmte Entwicklungen im sozialen System der Gesellschaft, im politischen System der Demokratie und im ökonomischen System des globalisierten Kapitalismus (Heitmeyer, 2018, S. 16). Konkreter ist es das Zusammenwirken eines autoritären Kapitalismus, sozialer Desintegrationsprozesse und politischer Demokratieentleerung als Ursachenmuster für die "Realisierung autoritärer Sehnsüchte" (Heitmeyer, 2018, S. 17).5. Die Partei "Alternative für Deutschland"Mit der inhaltlichen Neuausrichtung der vormals liberal-konservativen, eurokritischen Partei ab 2015 sowie mit dem immer weiter um sich greifenden Einfluss von rechtsextremistischen Akteur:innen innerhalb der AfD hält Heitmeyer es nicht mehr für angemessen, die AfD als rechtspopulistisch zu "verharmlosen", noch die Partei als vollständig rechtsextrem oder neonazistisch zu bezeichnen (Heitmeyer, 2022 a, S. 302; Heitmeyer, 2022 b, S. 265 f.; Heitmeyer & Piorkowski, 2023). Mit der herkömmlichen Typologie sei die AfD, als Typ einer neuen Partei, nicht zu beschreiben. Ebenso reichen die bisherigen Begriffe und Kategorien nicht aus, um "analytische Klarheit" über Zustand und Entwicklung der AfD zu gewinnen (Heitmeyer, 2018, S. 233).Seit dieser Neuausrichtung zieht die AfD Teile der Bevölkerung an, die unter den oben beschriebenen Krisen Kontrollverluste wahrnehmen oder empfinden und eine Wiedererlangung der Kontrolle forcieren. Das Autoritäre ist dann ein Weg zur Realitätskontrolle. Insofern lässt sich deutlich machen, dass die AfD nicht der Grund für die Entstehung von autoritären Versuchungen in der Bevölkerung ist. Diese autoritären Einstellungsmuster "schlummern" in Teilen der Bevölkerung bereits über einen längeren Zeitraum als Gefahrenpotenzial für die offene Gesellschaft (Heitmeyer, 2018, S. 113):"Ein Zwischenfazit zum Zusammenwirken von strukturellen Entsicherungen und individuellen Verunsicherungen zeigt, dass aufgrund der Krisen und ihrer Verarbeitungen, aufgrund von veränderten Lebensumständen und von Verschiebungen der gesellschaftlichen Koordinaten in entsicherten Zeiten bei Teilen der Bevölkerung ein erheblicher "Vorrat" an gruppenbezogen-menschenfeindlichen Einstellungen existiert, an die autoritäre politische Akteure bloß noch anzuknüpfen brauchten" (Heitmeyer, 2018, S. 117).Dies bedeutet, dass die Erfolgsvoraussetzungen des autoritären Nationalradikalismus der AfD eine längere Vorgeschichte haben, die in den letzten Jahrzehnten geformt und vorangetrieben wurden durch neue Entwicklungen des kapitalistischen Systems. Die Wähler:innen der AfD waren zuvor Wechselwähler:innen oder wählten gar nicht (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 115). Sie verharrten dann in "wutgetränkter Apathie", was folgenlos blieb für die Politik, da diese Teile der Bevölkerung keinen wahlpolitischen Ausdruck fanden.Dieser in der Bevölkerung existierende Autoritarismus, der laut Heitmeyer "[...] vagabundierte, mal auf diese, mal auf jene im Bundestag vertretene Partei setzte oder aber gar nicht offen zutage trat, sondern in der politischen Apathie verharrte [...]" (2018, S. 237), hat durch das Aufkommen der Partei "Alternative für Deutschland" und ihren autoritären Nationalradikalismus ein neues politisches "Ortsangebot" bekommen. Hinsichtlich des oben beschriebenen Zwischenfazits lässt sich konstatieren, dass es der AfD offensichtlich gelungen ist, "[...] Personen aus ihrer individuellen Ohnmacht herauszuholen und mit kollektiven Machtfantasien auszustatten. Dazu gehört es auch, gruppenbezogen-menschenfeindliche Einstellungen zu kanalisieren und gegen schwache Gruppen zu richten" (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 116).In diesen Prozessen ist die Ideologie der Ungleichwertig eingelagert und wird genutzt, um sich selbst aufzuwerten durch Abwertung und Ausgrenzung der vermeintlich "Anderen". Für die sogenannte "rohe Bürgerlichkeit" entstehen neue Anschlussmöglichkeiten. Unter diesem Begriff verbirgt sich keine soziale Klassenzugehörigkeit, sondern es handelt sich um eine verachtende Haltung gegenüber Schwächeren, geäußert in einer rabiaten Rhetorik und gepaart mit einer Ideologie, in der bestimmte Gruppen als ungleichwertig angesehen werden, während sich die eigentlichen autoritären Haltungen hinter einer dünnen Schicht zivilisiert-vornehmen, also bürgerlichen äußeren Umgangsformen, verbergen (Heitmeyer, 2018, S. 310; Heitmeyer, 2022 b, S. 273).6. Der autoritäre Nationalradikalismus der AfDSo folgert Heitmeyer, dass die AfD vorrangig für jenes Publikum attraktiv ist, "[...] das sich einerseits von den flachen Sprüchen rechtspopulistischer Akteure, die nur auf schnelle Erregungszustände fixiert sind, nichts verspricht, und sich andererseits von der Brutalität des Rechtsextremismus distanziert, um seine Bürgerlichkeit zu unterstreichen" (Heitmeyer, 2018, S. 235). Er weist zurecht auf ihre "bürgerliche Patina" hin, die die AfD für viele gesellschaftliche Gruppen wählbar macht (Heitmeyer & Piorkowski, 2023).Vor diesem Hintergrund überrascht der empirische Befund nicht, dass die bereits benannten 19,6 % der Bevölkerung mit Einstellungen zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sich selbst in der "politischen Mitte" einordnet, weshalb sich die "bürgerliche Patina" für die AfD als unentbehrlich erweist (Schaefer, Mansel & Heitmeyer, 2002, S. 132 f.).Die neue begriffliche Rahmung dient dazu, unterschiedliche inhaltliche und formale Ebenen zusammenzufassen, wie prägende Einstellungsmuster, der Mobilisierungsstil sowie zentrale programmatische Aussagen zu "bewegenden Themen" (Heitmeyer, 2018, S. 234). Daher ordnet Heitmeyer die AfD als autoritäre nationalradikale Partei ein, die gleichzeitig als Kern des autoritären Nationalradikalismus in Deutschland fungiert. Im Folgenden wird das Agieren der Partei als Protagonistin des autoritären Nationalradikalismus anhand der in Kapitel 2.4 erklärten Charakteristika erläutert:Als autoritär wird sie charakterisiert, da das Kontrollparadigma grundsätzlich ihre Vorstellungen von Politik sowie Gesellschaft durchzieht. Beispiele sind Forderungen nach einer streng hierarchisch organisierten sozialen Ordnung sowie nach rigider Führung in politischen Institutionen. Auch beruht das Verständnis von Politik und Gesellschaft wesentlich auf den Kategorien "Kampf und Konflikt", womit dichotomische Gesellschaftsbilder und strenge Freund-Feind-Schemata einhergehen (Heitmeyer, 2018, S. 234).Als national wird sie aufgrund der "[...] Betonung der außerordentlichen Stellung des deutschen Volkes" bezeichnet (Heitmeyer, 2018, S. 234). Hinzu kommt auch die Beanspruchung einer "neuen deutschen" Vergangenheitsdeutung sowie eines Überlegenheitsanspruchs gegenüber anderen Nationen oder ethnischen und religiösen Gruppen (Heitmeyer, 2018, S. 235).Das radikale Moment liegt in der Bekämpfung der offenen Gesellschaft und dem Ziel, die liberale Demokratie grundlegend umzubauen. Somit positioniert sich die Partei gegen zwei zentrale politisch-gesellschaftliche Errungenschaften. Hierzu dient ein rabiater und emotionalisierter Mobilisierungsstil der AfD, der mit menschenfeindlichen Grenzüberschreitungen arbeitet (Heitmeyer, 2018, S. 235).Die AfD hat die Destabilisierung gesellschaftlicher und politischer Institutionen zum Ziel, was entscheidend für die Erfolgsgeschichte der Partei ist, es geht um Militär, Polizei, Gerichte, Gewerkschaften, Rundfunkräte, politische Bildung, Theater oder auch Feuerwehrverbände (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 107). Hierin besteht nach Heitmeyer die eigentliche Gefahr. Das Fiasko rund um die Wahl des Ministerpräsidenten in Thüringen 2020 zeigt, dass mittlerweile auch das parlamentarische System von der forcierten Destabilisierung betroffen ist (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 107). Der autoritäre Nationalradikalismus der AfD und das Agieren der Partei soll im folgenden exemplarisch an zwei Krisen der vergangenen Jahre behandelt werden.Die Fluchtbewegungen ab 2015 bezeichnete Alexander Gauland als "Geschenk" für seine Partei, die AfD (Decker, 2022). In der Tat diente sie AfD und PEGIDA, um Personen, die vorrangig unter Anerkennungsdefiziten litten, mittels dichotomischer Weltbilder und der Emotionalisierung sozial-kultureller Probleme zu instrumentalisieren. Der anhaltende Erfolgsmechanismus von Parteien und Bewegungen wie AfD und PEGIDA besteht demnach darin, Anerkennungsprobleme zu bearbeiten und so Selbstwirksamkeit erfahren zu lassen. Als (potenzielle) Wähler:in würde man wahrgenommen werden und dies ließ Handlungsbereitschaften entstehen, die einerseits autoritäre Ausrichtungen entwickelten und andererseits themengebunden immer wieder neu aktiviert werden können (Heitmeyer, 2022 b, S. 275). Dies ist bei dem bereits genannten "Entweder-Oder"-Mechanismus der Fall, da es um "Alles" geht und Kompromisse von vornherein ausschließt.Weiter führt Heitmeyer aus, dass die Verbindungen von einem systemischen Krisentypus, wie beispielsweise der COVID-19-Pandemie, mit einer "Entweder-Oder"-Konfliktstruktur gesellschaftliche Entwicklungen begünstigen, die zwar nicht die Gesellschaft spalten, jedoch asymmetrisch polarisieren zwischen einer Bevölkerungsmehrheit und einer Minderheit (Beispiel: Geimpfte vs. Impfgegner:innen). In solchen Konstellationen enthüllt sich das Zusammenwirken und gemeinsame Auftreten der aufgeführten Mechanismen als äußerst gewaltanfällig (Heitmeyer, 2022 b, S. 275 f.).Im Jahr 2015 war der "Kampf um die Opferrolle" ein zentraler Mechanismus der AfD, um die Mobilisierung gegenüber Geflüchteten und staatlicher sowie gesellschaftlicher Integrationspolitik voranzubringen. Entsprechend entstanden Kampfbegriffe wie "Umvolkung" oder das Propagieren des "Untergangs der deutschen Kultur". Die Opferrolle kann nach Heitmeyer als Schlüsselkategorie interpretiert werden, "[...] denn wer [sich] in der öffentlichen Wahrnehmung glaubhaft als Opfer darstellen kann, schafft damit eine zentrale "moralgetränkte" Kategorie, um Widerstand als Notwehrrecht einschließlich Gewalt zu legitimieren" (Heitmeyer, 2022 b, S. 266). Insofern gilt der Opferstatus als eines der wichtigsten Instrumente, um Anhänger:innen an sich zu binden.Im Verlauf der COVID-19-Pandemie verkehren sich die Verhältnisse in den digitalen Medien, auf radikalisierten Demonstrationen und in der öffentlichen Debatte, was auch darauf zurückzuführen ist, dass der Mechanismus einer veränderten "Täter-Opfer"-Konstruktion sich ausbreitet. Neue Gelegenheitsstrukturen und Mobilisierungsaktivitäten werden in Figuren von "Freiheitskämpfern" ausgebaut und radikalisiert.Während der sogenannten "Flüchtlingskrise" waren es vor allem männliche Geflüchtete, die in der öffentlichen Wahrnehmung als bedrohliche Täter, die Verbrechen wie Vergewaltigungen und Tötungen begehen, dargestellt wurden. Staatliche Institutionen ließen sie "gewähren" im Sinne einer bevorstehenden "Umvolkung" (Heitmeyer, 2022 b, S. 266). In der COVID-19-Krise trat der Staat als Haupttäter auf: Die Bevölkerung wurde in den Lockdown getrieben, massiven Freiheitsbeschränkungen unterworfen und Ungeimpfte – ob Gegner:in oder nur Zweifelnde – wurden durch eine "Corona-Diktatur" in die Knie gezwungen.In diesem Strukturwandel wirken Verschwörungstheorien passgenau auf ideologische Konzeptionen ein, die an Krisen sowie an Kontrollverluste andockt. Verschwörungstheorien bilden hier als quasi-religiöses, glaubensbasiertes Kampfinstrument eine Art Ersatzlösung für die in der Moderne verloren gegangenen Gewissheiten und markieren gleichzeitig Feindgruppen für autoritäre politische "Lösungen", meist auch antisemitisch aufgeladen.Im Sinne des angeführten konzentrischen Eskalationskontinuums sind es unter anderem solche Parolen und Kampfbegriffe, die als begrifflich "notwehrrelevante" Legitimationsbrücken dienen. So wurden während der COVID-19-Pandemie von parlamentarisch einflussreichen Positionen weitere eskalationsorientierte Handlungsweisen beflügelt (Heitmeyer, 2022 b, S. 267). Die bisher aufgeführten Mechanismen und Strukturen fungieren demnach also als Bestandteile von Radikalisierungsprozessen. Diese wiederum bilden die Voraussetzungen für das Aufkommen von physischer Gewalt, von Körperverletzungen bis hin zu rechtsterroristischen Vernichtungstaten. Um diese Wirkung aufzuzeigen, soll folgend das Agieren der AfD anhand des oben beschriebenen Eskalationskontinuums verdeutlicht werden.In den "Schalen" des "Zwiebelmusters" wird, wie oben erläutert, die Gewaltorientierung größer, während die eskalierenden Akteur:innengruppen kleiner werden. Als Kernmechanismus werden die verschiedenen Legitimationsbrücken angeführt. In der äußersten, der größten Schale, finden sich feindbildliche autoritäre Einstellungsmuster in Teilen der Bevölkerung gegenüber dem Staat als Ganzes und generell demokratischer Politik. Diese liefern die entsprechenden Legitimationen für das Auftreten und Agieren des autoritären Nationalradikalismus der AfD.Zu Beginn der Pandemie forderte die AfD zunächst besonders harte Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung, sie blieb bei ihrem Stil der Emotionalisierung politischer und sozialer Probleme inklusive dem autoritären Kontrollparadigma. Da hiermit keine Zustimmungserweiterungen von potenziellen Wähler:innen gewonnen werden konnten, wurde eine radikale Richtungsänderung ins Gegenteil vollzogen. Dies führt Heitmeyer an, um zu verdeutlichen, "[...] dass es der Partei nicht um sachbegründete Prinzipien, sondern um opportunistische Nutzenkalküle zur Ausbreitung von Zustimmungen bzw. Verfestigungen der Wählerschaft geht – und um die Straße" (Heitmeyer, 2022 b, S. 276). Insofern mussten Parolen geprägt werden, wie der Begriff der "Corona-Diktatur", dem Selbststilisieren als "Freiheitskämpfer:innen" oder dem Verbreiten von Verschwörungsideologien wie des "Great Resets" (Siggelkow, 2023).So trat die AfD im Herbst und Winter 2021/2022 als wesentlicher Treiber der Corona-Proteste auf und baute gleichzeitig mit diesen Parolen, wie bereits ab 2015 in Zusammenhang mit der Krise um die Flüchtlingsbewegungen, gezielt Legitimationsbrücken für ohnehin schon mit Gewalt operierende rechtsextremistische Gruppen (Heitmeyer, 2022 b, S. 277). Diese Gruppierungen können sich durch diese Parolen auf eine Art gewaltlegitimierendes "Notwehrrecht" berufen, um gegen eine "Diktatur" zu agieren, verbunden mit "Umsturzfantasien".Heitmeyer führt weiter aus, dass diese Gruppen sich öffentlich in Demonstrationen bewegen und gleichzeitig klandestine rechtsterroristische Kleingruppen bedienen, "[...] die unter anderem aus Misserfolgen gegen die staatlichen Ordnungsmächte dann Legitimationen zum Umsturz des Systems ziehen" (Heitmeyer, 2022 b, S. 277). Aus diesem Mechanismus eröffnet sich, was Heitmeyer durch das konzentrische Eskalationskontinuum eindrucksvoll darstellen kann, dass schlussendlich Teile der Bevölkerung durch die verschiedenen "Schalen" hindurch zu den Legitimationslieferant:innen zählen, auf die sich Gewaltakteur:innen berufen, wenn sie sich auf "das Volk" beziehen (Heitmeyer, 2022 b, S. 277).Die Mechanismen verweisen insgesamt auf Bedrohungen der liberalen Demokratie und der offenen Gesellschaft. Weiter führt Heitmeyer an, dass staatliche Kontrollapparate sowie die Politik samt Appellen oder Ankündigungen der "wehrhaften Demokratie" nicht in der Lage sind, mehrere dieser Mechanismen in ihren Wirkungen "in den Griff zu bekommen". Die aufgezeigten Mechanismen, die bereits während der Krise der Flüchtlingsbewegungen und der Corona-Pandemie gewirkt haben, sind etabliert und werden auch weiterhin wirken.Die so genannte "3K-Trias" - Krisen, Konfliktstruktur und Kontrollverluste - gilt mittlerweile als etabliert und wirkt als wirkungsvoller Zusammenhang für autoritäre Entwicklungen. Die zukünftigen Krisenthemen werden wechseln, jedoch bleiben die gesellschafts- und demokratiezerstörerischen Mechanismen bestehen und können durch autoritär-nationalradikale Akteur:innen immer wieder neu themenbezogen aktiviert und emotional aufgeladen werden (Heitmeyer, 2022 b, S. 277).7. Fazit & AusblickHeitmeyers Arbeiten bilden einen Meilenstein in der empirischen Forschung zu Einstellungen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und zu rechten Einstellungen in der Bevölkerung. Er wies bereits zu Beginn seiner Studien im Jahr 2001 darauf hin, dass ein globalisierter Kapitalismus zu politischen und sozialen Kontrollverlusten führen könne, die mit Demokratieentleerung und einem Erstarken des rabiaten Rechtspopulismus einhergehen.Anhand der Ergebnisse seiner langjährigen Forschung, unter anderem der Langzeitstudie zu den "deutschen Zuständen", konnte er empirisch nachweisen, dass knapp 20 % der Bevölkerung autoritäre Einstellungen haben (Schaefer, Mansel & Heitmeyer, 2002, S. 125 f.). Diese Einstellungen "schlummerten" in diesen Bevölkerungsteilen und fanden politisch bis zum Aufkommen der AfD keine sonderliche Beachtung. Sie "vagabundierten" zwischen den Parteien - meist zwischen den Volksparteien CDU/CSU und der SPD - oder verharrten in einer "wutgetränkten Apathie" und machten von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch (Schaefer, Mansel & Heitmeyer, 2002, S. 127 f.).Die strukturellen Ursachen des autoritären Kapitalismus, also Transformationsprozesse in ökonomischen Strukturen samt den Krisen in der "Post-9/11"-Ära führen zu Veränderungen im sozialen Bereich, wie individuelle Verarbeitungsprozesse der Krisenfolgen in Form von Abstiegsängsten oder Anerkennungsverlusten, also soziale Desintegrationserfahrungen bzw. Desintegrationsgefährdungen. In Kombination mit den damit einhergehenden Kontrollverlusten sehnen sich Teile der Bevölkerung nach einem krisensicheren, kollektiven kulturell-politischen Identitätsanker und nach der "Wiederherstellung der Ordnung" (Heitmeyer, 2022 a, S. 325). Dies schafft günstige Gelegenheitsstrukturen für die AfD, die sich 2015 inhaltlich radikal neu ausrichtete und als autoritär nationalradikales Angebot wahlpolitisch von diesen Entwicklungen profitierte. Durch ihre Fokussierung auf die kulturelle Dimension hat die Partei die Möglichkeit erhalten, "[...] soziale Kontrollverluste in Versprechungen zur Wiederherstellung von politischer Kontrolle zu übersetzen" (Heitmeyer, 2022 a, S. 325).Die Frage nach dem weiteren Verlauf liegt auf der Hand. Hier spricht Heitmeyer von "Zukünften" in einer Zeit, in der viele Menschen auf tiefgreifende Verunsicherungen seit 2001 mit einer Sehnsucht nach Ordnung, Kontrolle und Sicherheit reagiert haben, die von dem autoritären Nationalradikalismus der AfD bedient wird (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 281). Zu den Entsicherungen der sozialen Zustände der letzten Jahrzehnte gesellt sich nun eine "Unübersichtlichkeit möglicher Zukünfte". Klar ist, dass die Routinen zur Bewältigung politischer, ökonomischer und sozialer Probleme und Krisen nicht länger funktionieren und es kein Zurück zu den Zuständen davor geben wird.Nach Heitmeyer muss die Frage nach der Resilienz demokratischer Einstellungen und Gegenevidenzen zum grassierenden Autoritarismus auf der Ebene der Akteur:innen angesetzt werden, bei der Bürger:innenschaft. Jedoch beschreibt er sie, die in Krisen sonst durchaus wehrhaft und spontan auf Herausforderungen reagierten und heute mehr denn je gefragt seien, als erschöpft, auch wenn in der Mehrheit der europäischen Staaten bisher nur eine Minderheit der autoritären Versuchung vollends nachgibt (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 282; Heitmeyer, 2022 b, S. 277).Dennoch haben sich quer durch die Altersgruppen und unabhängig von der sozialen Lage unterschiedliche Teile der Bevölkerung "[...] statistisch signifikant und im Erscheinungsbild deutlich autoritären Versuchungen nachgegeben [...]" (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 74). Ebenso erschöpft seien auch die politischen Eliten, die eigentlich Visionen und Ideen für individuelle und gesellschaftliche Zukünfte, die Freiheit spenden und Sicherheit verheißen, entwickeln sollten. Es benötigt also mehr visionäre und zukunftssichernde Gesellschafts- und Politikvorstellungen gepaart mit neuen Beteiligungsformen, die von den Bürger:innen wahrgenommen werden (Heitmeyer, 2022 b, S. 278).Aktuelle empirische Befunde zu weiteren demokratischen Fortschritten geben wenig Anlass zu Optimismus (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 73 f.). Insofern folgert Heitmeyer, dass sich der Höhenflug autoritärer Politikangebote weiter fortsetzen wird, insofern sich der autoritäre Nationalradikalismus nicht selbst (von innen) zerlegt und es kein massives politisches Umsteuern mit gravierenden wirtschaftspolitischen Reformen gibt, wofür derzeit keine Anzeichen bestehen (Heitmeyer, 2018, S. 368). Nach Heitmeyer müssten aus den folgenden Punkten ökonomische, soziale und politische Konsequenzen gezogen werden:"Der finanzialisierte Kapitalismus verfolgt weiter ungehindert seine globale Landnahme, ohne Rücksicht auf die gesellschaftliche Integration.Die nationalstaatliche Politik ist angesichts der ökonomischen Abhängigkeit nicht willens oder in der Lage, soziale Ungleichheit konsequent zu verringern.Ein Fortschreiten der sozialen Desintegration ist angesichts von Prozessen wie der Digitalisierung sehr wahrscheinlich.Kulturelle Konflikte entlang konfessioneller und religiöser Grenzen werden nicht dauerhaft befriedet; vielmehr ist davon auszugehen, dass sie – auch im Zusammenhang mit Migrationsbewegungen – immer wieder angefacht werden.Sozialgeografische Entwicklungen wie Abwanderung und das ökonomische Abdriften ganzer Regionen gehen ungebremst weiter" (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 283 f.).Die aufkommenden Probleme dieser auf Dauer gestellten Faktoren können von autoritär nationalradikalen Parteien und Bewegungen als "Signalereignisse" für sich ausgebeutet werden. Sie stellen also "stabile" günstige Voraussetzungen für ein weiteres Erstarken des autoritären Nationalradikalismus der AfD dar (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 284). Es ist mittelfristig nicht abzusehen, dass die Themen, die die AfD mit ihrer eskalativen Rhetorik bearbeitet, in absehbarer Zukunft von der Bildfläche verschwinden werden.Zudem weisen die Strukturen der AfD und des sie unterstützenden Milieus mittlerweile einen hohen Organisations- und Institutionalisierungsgrad auf. Insofern ist davon auszugehen, dass die autoritär nationalradikalen Parteien und Bewegungen öffentliche Debatten weiterhin maßgeblich prägen und so das soziale Klima innerhalb der Gesellschaft dauerhaft in Richtung von mehr Aggressivität verschieben werden.Die Bedrohungen für die liberale Demokratie und die offene Gesellschaft durch den globalisierten Kapitalismus, durch Desintegrationsprozesse und dem autoritären Nationalradikalismus sind offensichtlich. Es hängt also viel von der Kraft konfliktbereiter und widerspruchstrainierter Gegenbewegungen ab, die für die offene Gesellschaft eintreten und sich nicht mit den Normalitätsverschiebungen, die aktuell bereits ablaufen, abfinden wollen (Heitmeyer, 2018, S. 372).LiteraturverzeichnisDahrendorf, R. (14. 11 1997). Die Globalisierung und ihre sozialen Folgen werden zur nächsten Herausforderung einer Politik der Freiheit. Von zeit.de: https://www.zeit.de/1997/47/thema.txt.19971114.xml/komplettansicht abgerufen am 21.10. 2023.Decker, F. (02. 12 2022). Etappen der Parteigeschichte der AfD. Von bpb.de: https://www.bpb.de/themen/parteien/parteien-in-deutschland/afd/273130/etappen-der-parteigeschichte-der-afd/ abgerufen am 21.10. 2023.Frankenberg, G., & Heitmeyer, W. (2022). Autoritäre Entwicklungen. Bedrohungen pluralistischer Gesellschaften und moderner Demokratien in Zeiten der Krisen. In G. Frankenberg, & W. Heitmeyer (Hg.), Treiber des Autoritären: Pfade von Entwicklungen zu Beginn des 21. 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Von reuters.com: https://www.reuters.com/article/deutschland-wahl-afd1-idDEKCN1BZ0QJ abgerufen am 21.10. 2023.Schaefer, D., Mansel, J., & Heitmeyer, W. (2002). Rechtspopulistisches Potential. Die "saubere Mitte" als Problem. In W. Heitmeyer (Hg.), Deutsche Zustände. Folge 1 (S. 123-135). Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1. Auflage.Siggelkow, P. (16. 01 2023). Verschwörungsmythen: Klaus Schwab, das WEF und der "Great Reset". Von tagesschau.de: https://www.tagesschau.de/faktenfinder/wef-schwab-101.html abgerufen am 21.10. 2023.Universität Bielefeld. (o.J.). Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer. Von ekvv.uni-bielefeld.de: https://ekvv.uni-bielefeld.de/pers_publ/publ/PersonDetail.jsp?personId=21765 abgerufen am 21.10. 2023.
Ist der Aufmarsch des "Islamischen Staates" zu stoppen? Was wird aus Syrien, was aus dem Irak? Prognosen für eine unberechenbare Region sind schwer zu stellen. Doch eins scheint sicher : ohne eine Machtteilung, die alle relevanten Kräfte einbindet, und ohne glaubwürdige Regierungen werden die politisch und identitär zerklüfteten Länder zerfallen. (IP)
Wann, wo, wie, für wen und warum macht man Theater? Fünf leitende W-Fragen stecken in der aktuellen Buchpublikation von Eugenio Barba und Nicola Savarese die titelgebenden fünf Kontinente des Theaters ab. Das vorliegende Resultat – ein umfassender, großformatiger und an Bildmaterial reicher Band – der jahrzehntelangen Zusammenarbeit und intellektuellen Komplizenschaft zwischen dem Gründer des Odin Teatret und dem Theaterwissenschaftler erschien 2017 auf Italienisch und liegt inzwischen in englischer, französischer, rumänischer und spanischer Übersetzung vor. Ein Zitat von Eugenio Barba auf dem Umschlag der 2020 erschienenen französischsprachigen Ausgabe, das mit einem impliziten Verweis auf Paul Gauguins gleichnamiges Gemälde beginnt, lässt Ziele und Struktur der Publikation erahnen: "Woher komme ich? Wer bin ich? Wohin gehe ich? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir die unzähligen Formen, Erfahrungen, Überreste und Rätsel, die uns die Geschichte unseres Berufs vermacht hat, aus einer anderen Perspektive betrachten. Nur auf diese Weise können wir einen persönlichen Kompass bauen, um die fünf Kontinente unseres Berufs zu durchqueren […]". (Übers. LB) Die Beitragenden des Buchs stammen allesamt aus der italienischen Theaterwissenschaft und dem Umfeld des Odin Teatret, der ISTA bzw. der Fachzeitschrift Teatro e Storia. Neben den Herausgebern exemplarisch zu erwähnen sind Fabrizio Cruciani († 1992), Ferruccio Marotti, Ariane Mnouchkine, Franco Ruffini, Mirella Schino (die 2008 das Odin Teatret Archive gegründet hat), Ferdinando Taviani († 2020) und Julia Varley (seit 1976 Truppenmitglied des Odin Teatret). Savarese zeichnet in seinem Vorwort den über 20 Jahre umspannenden Entstehungsprozess des vorliegenden Buchs nach. 1996 wurde in Gesprächen mit italienischen Theaterforschenden der Wunsch ausgedrückt, das strukturelle und gestalterische Prinzip der seit 1983 mehrfach wiederaufgelegten, überarbeiteten und in zahlreiche Sprachen übersetzten Anatomia del teatro von 1983 (dessen erneuerte Version den Titel L'arte segreta dell'attore. Un dizionario di antropologia teatrale trägt) aufzugreifen, um wiederum die Techniken von Akteur*innen zu studieren, allerdings unter einem veränderten Blickwinkel: Standen im Theateranthropologie-Lexikon körperlich-mentale Techniken und prä-expressive Qualitäten im Zentrum, widmet sich Les cinq continents du théâtre der Geschichte und Gegenwart von Theater aus der Perspektive der "techniques auxiliaires" (S. 7) der materiellen Kultur von Akteur*innen. Welche sind aber diese Hilfs- bzw. Nebentechniken? Es handelt sich um die strukturellen, organisatorischen, sozialen, räumlichen, ökonomischen, politischen Faktoren von Theaterarbeit, die im Buch auf transhistorische und transkulturelle Weise präsentiert werden. Les cinq continents du théâtre ist ein eigenwilliges Buch. Mit seinen ca. 1400 Abbildungen, seiner Gleichwertigkeit von aufeinander Bezug nehmenden Bild- und Textelementen, seiner Bibliografie, seinem Namens- und Stichwortverzeichnis ist das Ergebnis weder ein Lexikon noch ein Bildband oder ein theatergeschichtliches Handbuch. Raimondo Guarino wählt in seiner auf dem Buchdeckel zitierten Rezension den stimmigen Begriff Almanach, um die Zusammenstellung aus verschiedensten Textsorten, wissenschaftlichen Analysen, Dialogen, Chronologien, Anekdoten, Bildern und vielsagenden Bildlegenden zu kategorisieren. Sechs Kapitel ("Quand", "Ou", "Comment", "Pour qui", "Pourquoi", "Théâtre et histoire") und ihre insgesamt über 130 durchnummerierten Unterkapitel präsentieren auf mäandernde Weise Aspekte des Theaterschaffens weltweit. Das konsequent heterogene Bildmaterial im Buch umfasst u. a. Satellitenaufnahmen von Sonneneruptionen, Buster-Keaton-Filmstandbilder, Hoffest-Kupferstiche, Saalpläne, japanische Holzschnitte, historische und zeitgenössische Fotografien von (Toten-)Masken, prähistorischen Skulpturen, Lipizzaner-Dressur, balinesischen Neujahrsfesten, Eintrittskarten, Butoh-Tänzer*innen, Theaterbränden, Fronttheater, sowie Gemälde und Grafiken zu Publikums-Krawall, Schausteller*innen, Hinrichtungen, römischen Zirkuselefanten, sowie acht Seiten mit Sonderbriefmarken zu Ehren von Schauspieler*innen und Dramatiker*innen. Die Lektüre eines konventionellen theatergeschichtlichen Buchs suggeriere, so die Herausgeber, dass alles klar, quantifizierbar und in Form von Ursachen und Wirkungen beschreibbar sei, "[m]ais sous cette évidence rassurante coule une histoire souterraine que ne se laisse pas enfermer dans les interprétations linéaires élaborées a posteriori." (S. 10) Das erste Kapitel des Buchs widmet sich textuell und bildlich dieser unterirdischen Geschichte aus der Perspektive der Zeitlichkeit: Wann wurde und wird Theater gemacht? Markante Momente von zeitlicher Gebundenheit in der europäischen und internationalen Theatergeschichte werden skizziert, religiös-politisch motivierte Festkalender mit ihren kleinen oder größeren Zeitfenstern für Theaterpraxis beschrieben. Gemeinschaftliche Feste als Unterbrechung des gewöhnlichen Zeitverlaufs – Dionysien, Karneval, Narrenfeste – mit ihrem Simulakrum sozialer Unordnung finden im ersten Kapitel ihren Platz, sowie ein Panorama diverser Ursprungsmythen (Europa, Indien, China etc.) von Theater. Wann haben Menschen begonnen zu tanzen, zu repräsentieren, sich zu kostümieren und zu maskieren? Inwiefern sind Theater und Schamanismus, Halluzinationen, Trancezustände historisch miteinander verbunden? Der vermutliche "Bocksgesang" der antiken griechischen Tragödie wird im Sinne einer theateranthropologisch interessierten, alternativen Etymologie nach Vittore Pisani auf die illyrischen Wurzeln trg (Markt) und oide (Gesang) zurückgeführt. Diese Herleitung verknüpft die Ursprünge des westlichen Theaters mit einem konkreten Beruf – der Straßendichter, Rhapsoden, fahrenden Sänger – und bietet eine Verbindung zu den buddhistischen Erzählkünstlern zur Entstehungszeit dramatischer Kunst im asiatischen Raum. Es folgen historische Abrisse zur Entwicklung des Mäzenatentums, hin zum Bezahltheater (mit Verweis auf Raufereien um Gratis-Theaterkarten) und der Funktion von Impresarios (u. a. Domenico Barbaja, Lewis Morrison, Sergei P. Djagilew, Loïe Fuller, Max Reinhardt). Vier farbig unterlegte Seiten bieten eine "petite anthologie de la censure" (S. 44) mit Schlaglichtern auf ausgewählte Fälle, darunter Auftrittsverbote für Frauen, der Theatrical Licensing Act (1737), die Theaterzensur in Frankreich von der Revolution bis zu Napoleon, die kirchliche Zensur in Lateinamerika ab der frühen Neuzeit, das Kabuki-Verbot in Japan unter US-amerikanischer Besatzung nach Ende des Zweiten Weltkriegs im Sinne der antimilitaristischen Umerziehungsideologie und die Anekdote der Rettung des Kabuki durch den US-Amerikaner Faubion Bowers. Das zweite Kapitel streift erneut die bereits erwähnten Genese-Mythen, die Entwicklungen von Berufsschauspiel und von Theater in Innenräumen, allerdings aus der Perspektive der Orte und Räume für Theaterpraxis. Wo finden Akteur*innen ihren Platz? In Baracken, Kellern, sogenannten Laboratorien und Ateliers, unter freiem Himmel, in Theaterarchitekturen, auf Straßen etc. Die erste Doppelseite des Kapitels zeigt eine suggestive Bilder-Montage, bestehend aus einer Saalansicht des Teatro San Carlo in Neapel, dem (bescheiden-funktionalen) Saal des Teatro Experimental de Alta Floresta sowie dem (repräsentativen) Teatro Amazonas in Brasilien, das laut Bildlegende 1896 eröffnet wurde, mit importierten Dachschindeln aus dem Elsass, französischen Textilien, Stahl aus England, Marmorsäulen und -statuen aus Italien. Die Autor*innen der folgenden Unterkapitel nehmen die Kreisform zum Anlass für Überlegungen und Bebilderungen zu Genese-Mythen, Stadtentwicklung, frühen Publikums-Konstellationen, Rundtänzen, antiken Theaterbauten. Mittels Freilufttheater, Bänkelsängern und Scharlatanerie wird die Entwicklung vom Verkauf von Produkten zum Verkauf von Aufführungen illustriert, gefolgt von Rückgriffen auf die Spielorte der frühen Neuzeit durch Vertreter*innen der historischen Avantgarden (u. a. Wsewolod Meyerhold, Jacques Copeau). In einer theaterhistorisch internationalen Rundumschau werden in Kürze die Spielorte mittelalterlicher Aufführungspraktiken sowie erste Theaterbauten in England, Frankreich, Spanien, Indien, Japan, China, den USA, Lateinamerika, Italien thematisiert, bis hin zur Entwicklung der Konvention der Guckkastenbühne bzw. des Rang-Logen-Theaters, basierend auf Renaissance-Interpretationen antiker Theaterbauten, und nicht auf den Spielpraktiken von Akteur*innen. Mirella Schino argumentiert, dass "das Theater im italienischen Stil [das Rang-Logen-Theater mit Guckkastenbühne, Anm. LB] als autonomes Denkmal seine Entstehung dem abstrakten Wunsch verdankt, bedeutungsvolle Orte für die ideale Stadt zu schaffen. Es entstand als eine Reflexion in Verbindung mit der Architektur – mit der Nostalgie eines Ursprungs im griechischen und römischen Theater – und nicht in Verbindung mit der Aufführung und der materiellen Kultur der Schauspieler" (S. 132, Übers. LB). "[l]e théâtre à l'italienne, en tant que monument autonome, doit sa naissance à un désir abstrait de créer des lieux signifiants pour la ville idéale. Il naît comme une réflexion liée à l'architecture et non au spectacle et à la culture matérielle des acteurs, avec la nostalgie d'une origine dans le théâtre grec et romain." (S. 132) Das dritte Kapitel fragt nach dem Wie. Wie wird man Akteur*in? Wie wird theatral agiert? Bücher für Akteur*innen, über Trainings- und Arbeitsmethoden seien "compagnons de voyage" (S. 158) und böten manchmal, wie z. B. Antonin Artauds Das Theater und sein Double, "des mots-talismans" (S. 158) die auf intuitive Weise bei der Orientierung helfen. Acht farbig unterlegte Seiten bieten eine Gegenüberstellung von "acculturation" und "inculturation" (S. 160) als mögliche Wege zum Theaterberuf, sowie einen Überblick zu Ausbildungsarten (Meister, Gurus, gegenwärtige Schauspielschulen und Theaterlaboratorien), Techniken und theateranthropologischen Ansätzen. Der Wandel der Techniken der Akteur*innen seit dem 19. Jahrhundert wird unter dem – in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft wenig geläufigen – Begriff der "Grande Réforme" (erste Phase 1876–1939, zweite Phase 1945–1975) bearbeitet und illustriert. Eine umfassende Chronologie historischer Ereignisse und theatergeschichtlicher Wegmarken zeichnet Entwicklungen ab Richard Wagners Gesamtkunstwerk-Konzept nach, über die "fondateurs de traditions" (S. 169) zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis hin zu experimentellen Truppengründungen und Praktiken der 1970er-Jahre, im Zeichen eines Neuauslotens von retheatralisiertem, von der Literatur emanzipiertem, gattungsübergreifendem Theater. Das Kapitel befasst sich aber ebenso mit dem Naheverhältnis von technischem und ästhetischem Wandel, etwa im Fall des Bühnenlichts, sowie mit diversen Spielmodi (Clowns, Puppentheater, Maskentheater) und dem Spiel mit Requisiten (wobei das Taschentuch und der Stuhl jeweils eine eigene Bilder-Doppelseite in Anspruch nehmen), denn "[l]es objets possèdent l'acteur", sie sind "seine Prothesen, seine Auswüchse, seine Fesseln, die den Akteur dazu zwingen zu reagieren, das Gleichgewicht zu verlieren, zu übertreiben, zu vereinfachen" (S. 216, Übers. LB). Das Publikum steht im Zentrum des vierten Kapitels. Zuschauer*innen in allen Aggregatszuständen werden bildlich dekliniert: wartend vor der Aufführung, Schlange stehend, raufend, gähnend, weinend, enthusiastisch, als Attentäter. Verschiedene soziale Schichten als Zuschauer*innen und ihre jeweilige Sitzordnung (z. B. im Kolosseum, in einem Teehaus in Peking) werden beschrieben, sowie Verhaltensweisen von teilnehmendem Publikum im Karneval und als "spect-acteurs" (S. 288) bei Augusto Boal, aber auch die Sonderform des unfreiwilligen Publikums, etwa von Performances im öffentlichen Raum. Ein Exkurs zu Epidemien und Theaterpublikum – mit Verweis auf Pestepidemien zur Zeit der Entstehung von Berufsschauspiel in Europa – präsentiert das Foto eines Mundschutz-tragenden Publikums einer Aufführung in Taipei im Kontext der SARS-Epidemie 2003. Auch die Frage nach dem Theaterpublikum in politischen und sozialen Ausnahmezuständen wird beleuchtet, vom Fronttheater, Aufführungen in Gefangenenlagern, Gefängnissen, NS-Konzentrationslagern, bis zu aktuellen Fällen, u. a. 2015 im türkischen Flüchtlingslager Midyat und anlässlich einer Hamlet-Aufführung im Flüchtlingslager "La Jungle" in Calais 2016. Warum überhaupt Theater machen? Was ist der Motor dieses anstrengenden Tuns? Das fünfte Kapitel, eines der lesenswertesten des vorliegenden Buchs, beginnt mit dem Gemälde Die Gärtner von Gustave Caillebotte nebst Fotografien der mutwilligen Zerstörung von Theaterbauten und der Rekonstruktion von historischen Theatergebäuden, begleitet von einer Überlegung zur Gärtner-Metapher in Shakespeares Othello (der Körper als Garten, der Wille als Gärtner) und bei Rudyard Kipling (Gärtnerarbeit müsse oft kniend gemacht werden). Die ökonomische Begründung wird nahegelegt – denn europäisches Theater sei nicht aus dem griechischen Ritual entstanden, sondern auf italienischen Märkten des 16. Jahrhunderts. Hinweise auf ästhetische und vor allem ethische Beweggründe für Theaterschaffen im Zuge der "Grande Réforme" und die Utopie des "éternel premier pas" (S. 299) bilden die Basis für das umfangreichere Unterkapitel "Petite encyclopédie sur l'honneur de l'acteur" (S. 300), in welchem Individuen präsentiert werden, die inmitten von und trotz Diskriminierung, Sklaverei, politischer Unterdrückung und Verfolgung, sozialer Missstände als Theaterakteur*innen aktiv waren bzw. sind, u. a. Ira Aldridge, Patricia Ariza, Josephine Baker, Wsewolod Meyerhold, Norodom Bopha Devi, Hedy Crilla, die Moustache Brothers. Die Autor*innen gehen ebenfalls in Kürze auf Verbindungen von Sexarbeit und Tanz bzw. Schauspiel in verschiedenen Ländern ein, sowie auf Theater "in der Hölle" (Gulag, NS-Konzentrationslager), auf kolonialistische "Menschenzoos". Zwölf farbig unterlegte Seiten, betitelt als "Florilège sur la valeur du théâtre" (S. 324), überlassen schließlich Theaterleuten das Wort und geben Textauszüge von Adolphe Appia, Antonin Artaud, Julian Beck, Walter Benjamin, Augusto Boal, Bertolt Brecht, Peter Brook, Enrique Buenaventura, Jacques Copeau, Isadora Duncan, Hideo Kanze, Sarah Kane, Jewgeni B. Wachtangow, Ariane Mnouchkine und anderen wieder. Das Reise-Motiv bestimmt die anschließenden Unterkapitel, von den Fahrzeugen und Gepäckstücken reisender Truppen über die geografischen und kulturellen Reisen von Theatermasken, bis hin zu Reisen von Körpertechniken mittels Tourneen, Exkursionen, internationaler Streuung durch ehemalige Schüler*innen bzw. Flucht und Exil (illustriert durch eine Karte der zahlreichen Exil-Stationen Brechts 1933–1947). Beerdigungsprozessionen als letzte Reise sowie die Weitergabe und Übersetzung von Theatertechniken in Form von Büchern, Zeitschriften, Spiel- und Dokumentarfilmen beenden das Warum-Kapitel. Das sechste Kapitel, "Théâtre et histoire. Pages tombées du carnet de Bouvard et Pécuchet" (S. 370), dient primär der Wiedergabe von Bildmaterial, das durch seine Anordnung und Kontrastierung zum Sprechen gebracht wird: Internationale Briefmarken und (Presse-)Fotografien bilden die Basis für Doppelseiten zu Theater und Aufständen, Protestbewegungen, Kriegen, Theatermasken und Schutzmasken (Gasmasken, Sturmmasken, Maskierung als Anonymisierung bei Demonstrationen), Theatergebäuden und massiver Zerstörung durch Tsunamis oder Bomben. Theaterbrände, ikonografische und mediale Inszenierungen von Hinrichtungen, die Thematisierung des Holocaust auf der Bühne folgen. Anstelle von Theatergeschichte werden im Abschlusskapitel Theater und Geschichte (im Sinne von Teatro e storia) als Montage präsentiert. Die letzte Doppelseite ist schwarz unterlegt: Links ist ein Foto von Frauen mit Schminkmasken in El Salvador zu sehen, die gegen das herrschende Abtreibungsverbot protestieren, rechts ein Porträtfoto von Pjotr A. Pawlenski mit zugenähtem Mund, begleitet von einem Abschlusszitat von Barba. Es werde immer einige Personen geben, die Theater als Mittel praktizieren, um ihre eigene Revolte auf nicht zerstörerische Weise zu kanalisieren; Personen "die den scheinbaren Widerspruch einer Rebellion erleben werden, die sich in ein Gefühl der Brüderlichkeit verwandelt, und eines einsamen Berufes, der Verbindungen schafft" (S. 395, Übers. LB). Jedes Kapitel des Buchs wird eingeleitet von einem Dialog zwischen zwei Stellvertreter-Figuren von Barba und Savarese: Bouvard und Pécuchet. Es handelt sich um die Protagonisten eines posthum veröffentlichten satirischen Romanfragments von Gustave Flaubert – zwei Pariser Kopisten, die sich zufällig auf einer Parkbank kennenlernen und voller Enthusiasmus und Naivität ein gemeinsames Projekt in Angriff nehmen: aufs Land ziehen und Landwirtschaft betreiben. Als frenetische Leser wollen sie immer mehr erkunden und kultivieren ihr zerebrales und oberflächliches Wissen in den Bereichen Gärtnerei, Schnapsbrennerei, Chemie, Zoologie, Medizin, Archäologie, Politik, Gymnastik, Religion, Theater etc. Die Wahl dieser Stellvertreter durch die Herausgeber bringt eine durchaus sympathische Ironisierung ihrer Positionen und künstlerisch-wissenschaftlichen Biografien mit sich, aber auch eine verbesserte Zugänglichkeit für Leser*innen mittels der lockeren und teils amüsanten Dialoge. Die niederschwellige und im Konkreten fußende Methode der fünf W-Fragen als roter Faden für die Arbeitsweise am Inhalt und an der Struktur des Buchs, sowie die Wertschätzung von heterogenem Bildmaterial für die Erkundung von Theaterpraktiken machen Les cinq continents du théâtre für Forschende (insbesondere für jene, die mit Ansätzen von Barba/Savarese noch nicht eng vertraut sind), für Theaterpraktiker*innen und für Studierende zu einem ausgezeichneten Entdeckungs- und Orientierungsband.
Um kulturelle Werte von Landschaft in Landschaftsplanungen stärker zu berücksichtigen wurden sie in dieser Arbeit als kulturelle Landschaftsfunktionen bestimmt, die sich in ein System aus Landschaftsfunktionen einordnen, wie es Landschaftsplanungen insgesamt zugrunde liegen kann. Neben bereits ausdifferenzierten naturhaushalterischen Landschaftsfunktionen umfasst es damit folgende kulturelle Landschaftsfunktionen: - bedeutungstragende und sinnstiftende Funktion - Handlungsfunktion - ästhetische und stimmungsstiftende Funktion - Kommunikationsfunktion - Wissensfunktion - Kontinuitätsfunktion - Gestaltungs- und Ausdrucksfunktion - Ordnungs- und Orientierungsfunktion Ihnen sind jeweils Teilfunktionen zugeordnet. Die kulturellen Funktionen stehen in einem hierarchischen Verhältnis zueinander. Übergeordnete kulturelle Funktionen sind die bedeutungstragende und sinnstiftende sowie die Handlungsfunktion. Die Funktionen können sich wechselseitig bedingen oder in Konkurrenz zueinander stehen. Nachdem Werte nicht aus der Landschaft, sondern nur aus der Gesellschaft bestimmt werden können, bildete die Untersuchung der gesellschaftlichen Konzepte hinter den zentralen Begriffen "Werte", "Raum und Landschaft" sowie "Kultur" eine Grundlage zu ihrer Bestimmung. Ein Schwerpunkt lag auf der Auswertung sozialwissenschaftlicher Theorien. Dabei wurde auch ein auf Planungstauglichkeit angelegtes Verständnis der zentralen Begriffe dieser Arbeit geschaffen. Gewählt wurde ein utilitaristischer und zweckrationaler Zugang zu Werten, ein anthropologischer Zugang zu Kultur und ein konstitutions- und handlungstheoretischer Zugang zu Raum und Landschaft; Landschaft wird als Spezifikation von Raum verstanden. Die andere Grundlage zur Bestimmung kultureller Werte bildete die Untersuchung von Entwicklungstrends, von sozialempirischen Untersuchungen sowie eine Untersuchung prosaischer Darstellungen. An die Ausprägung der kulturellen Funktionen sowie von Raum und Landschaft insgesamt wurden im Ergebnis der Untersuchungen Anforderungen in Form von Hypothesen formuliert, die den Zugang zu Raum und Landschaft weiter erklären. Sie haben den Charakter von Prinzipien, insofern Präferenzen in hohem Maße gebietsspezifisch sind. In der Planung gängige Wertmaßstäbe und Urteile werden damit zum Teil in Frage stellt, so die Hypothese eines ästhetisierenden Zugangs zu Landschaft. Andere werden spezifischer gefasst, so die Rolle von Elementen für die Konstitution oder die Rolle von Wissen und von Natürlichkeit für das Schönheitserleben einer Landschaft. Einige zentrale Hypothesen, die Anlass für diese Arbeit waren bzw. die aus dem theoretischen Teil der Untersuchung entwickelt wurden, konnten im sozialempirischen Teil nicht bestätigt werden. Dies gilt maßgeblich für die Zukunftsperspektive, die Landschaft enthält, die jedoch im Regelfall nicht gefragt ist. Wertgebend ist landschaftliche Kontinuität, die Geschichten erzählt, indem sie die Vergangenheit aufzeigt und Erinnerungen manifest macht. Nicht vollständig aufrecht erhalten werden konnte die im theoretischen Teil der Arbeit aufgebaute Hypothese, dass Landschaftsplanungen stärker gruppenspezifisch anzulegen sind. Verbleibt hier eine Überprüfung des Milieukonzepts auf landschaftsspezifische Fragestellungen, so zeigt sich andererseits relativ klar, dass Landschaft eher für das gruppenübergreifend Geteilte steht. Sie ist nicht Gegenstand eines Luxusgeschmacks, sondern Gemeingut. Klarer zu unterscheiden sind jedoch die Erwartungshaltungen aufgrund der Perspektive als Einheimischer oder Tourist. Für die Planung bedeutet das eine deutlichere Unterscheidung zwischen der Definition der landschaftlichen Eigenart und eines landschaftlichen Images. Beide können für die Konstruktion eines Leitbildes Maßstäbe setzten, wobei ein eigenartbasiertes Leitbild eher den Ansprüchen einer gemeinwohlorientierten Planung genügt, ein Image eher auch einem Bedürfnis nach Inszenierung nachkommt. Landschaftsplanungen sind darin zu stärken, produktiven Landnutzungen ein Landschaftsnutzungsinteresse gegenüberzustellen, das zumeist nichtproduktiver und immaterieller Art ist. Dieses Landschafts-nutzungsinteresse ist über die kulturellen Landschaftsfunktionen abgebildet. In Landschaftsplanungen sollten sie entsprechend differenziert betrachtet werden, um die unmittelbaren gesellschaftlichen Anforderungen an Landschaft umfänglich aufzubereiten und zur Verhandlung zu stellen. Sie materiellen klar benennbaren Interessen allein als Komplexparameter und übergreifende emotionale Bedeutungszuschreibungen gegenüber zu stellen, stärkt ihre Verhandlungsposition nicht. Gerade auch im Zuge eines zunehmenden Landnutzungsdrucks ist dies notwendig. Zu sondieren, welche Rolle einer jeden der kulturellen Funktionen für die künftige Entwicklung einer Landschaft zukommt, sollte darüber hinaus Bestandteil eines Planungsprozesses werden, insofern gerade auch dienende Funktionen für die Ausjustierung der Richtung der weiteren Entwicklung notwendig sind, die sich ansonsten schnell auf Fortschreibungen der Vergangenheit anhand einer expertenbasierten Vorstellung von der Eigenart einer Landschaft nach romantischem Ideal beschränken kann. Im Gegenzug wären auch die Landnutzungsinteressen einer gesellschaftlichen Aushandlung der Inanspruchnahme des Gemeinguts Landschaft besser zugänglich zu machen, indem sie beispielsweise fachplanerisch ebenso raumspezifisch und umfassend aufbereitet und der abwägenden Gesamtplanung zugänglich gemacht werden. Als Forderung betrifft das vor allen die Landwirtschaft. Einen konzeptionellen Anschluss finden die Ergebnisse dieser Arbeit im Konzept der Ökosystemdienstleistungen. Es eröffnet den Zugang zu einer stärkeren Integration ökonomischer und insbesondere sozialempirischer Methoden in Landschaftsplanungen. Zur methodischen Stärkung von Landschafsplanungen, insbesondere für die raumspezifische Integration der gesellschaftlichen Aspekte, die es im Zusammenhang mit kulturellen Werten von Landschaft in Landschaftsplanungen stärker zu berücksichtigen gilt, wird darin in Ergänzung zu nutzerunabhängigen Methoden und explizit über partizipative Methoden hinaus ein großes Potenzial gesehen. Gefragt ist also ein Methodenmix, der sich auch vor dem Hintergrund einer inkonsistenten theoretischen Basis weniger an theoretischer Stringenz orientieren kann. Der interdisziplinäre Anspruch an Landschaftsplanungen steigt damit. Er kann sich im Ergebnis z. B. in einer Verräumlichung sozialer Dimensionen und der beschreibenden Erfassung der expliziten und impliziten Dimension landschaftlicher Werte beispielsweise in Storylines äußern. Einer stringenten Erfassung landschaftlicher Funktionen auch in ihrer kulturellen Dimension und einer methodischen Weiterentwicklung unbenommen bleibt es originäre planerische Herausforderung in jedem Einzelfall, mit dem Nichtfaktischen umzugehen. Eine Leitbildentwicklung unter diesen Vorzeichen kann erheblich von der Anwendung von Szenarien profitieren. Szenarien können auch den gesellschaftlichen Diskurs über die angestrebte Entwicklung unter Anerkennung der Variabilität, die Eigenart als zentraler planerischer Wertmaßstab innewohnt, stärken. In der Konsequenz können diese Ansätze zu einer Demokratisierung einer Landschaftsplanung beitragen, die stärker auf die Handlungs- und Lebensrealität der Menschen ausgerichtet und stärker als Aushandlungsinstanz über Verfügungsrechte verstanden werden sollte.:1 KONTEXT, AUFGABE UND VORGEHENSWEISE 6 1.1 ANLASS 6 1.2 AUSGANGSSITUATION 6 1.2.1 GESELLSCHAFTLICHE EINORDNUNG UND PLANUNGSVERSTÄNDNIS 6 1.2.2 ENTWICKLUNG DES THEMAS KULTURLANDSCHAFT IN DER FORSCHUNG UND IM PLANERISCHEN DISKURS 7 1.2.3 ÜBEREINKÜNFTE 10 1.2.4 DEFIZITE IN DER PLANUNGSPRAXIS 10 1.2.4.1 Inhalte 10 1.2.4.2 Begründungen 11 1.2.5 KONSEQUENZEN 12 1.3 AUFGABE 12 1.4 RAUMBEZUG UND INSTRUMENTELLER BEZUG 13 1.5 VORGEHENSWEISE 14 2 BEGRIFFE UND DEREN KONZEPTE 16 2.1 ZWECK UND VORGEHEN DER BEGRIFFSANALYSE 16 2.2 WERTE 16 2.2.1 PLANUNG UND WERTE 16 2.2.2 WERTEDISKURS IN PHILOSOPHIE UND SOZIOLOGIE 18 2.2.2.1 der philosophische Diskurs zur Relativität von Werten 19 2.2.2.2 der philosophisch-soziologische Diskurs um die Werturteilsfreiheit der empirischen Wissenschaften 19 2.2.3 EINORDNUNG DIESER ARBEIT 23 2.2.3.1 Relativität und sachlicher Gehalt 25 2.2.3.2 Veränderbarkeit 26 2.2.3.3 Seinsollen 27 2.2.3.4 Fazit und Herausforderungen 28 2.3 LANDSCHAFT UND WERTE 29 2.3.1 VOM GUT ZUR FUNKTION 29 2.3.2 VON DER FUNKTION ZUM POTENZIAL 32 2.4 RAUM 32 2.4.1 AKTUELLE ENTWICKLUNGEN ZUM RAUMVERSTÄNDNIS 32 2.4.2 PHYSISCH-MATERIELLE RAUMKONZEPTE 33 2.4.2.1 Arten und Merkmale 33 2.4.2.2 Reflexion und Kritik 34 2.4.3 KONSTITUTIONS- UND HANDLUNGSTHEORETISCHE ANSÄTZE 35 2.4.3.1 Arten und Merkmale 35 2.4.3.2 Dualismus und Dualitäten 36 2.4.3.3 Kritik und Reflexion 39 2.4.4 VERGLEICH UND POSITIONIERUNG 41 2.4.4.1 Verbreitung von Raumkonzepten und gesellschaftliche Übereinkunft über ein Raumverständnis 41 2.4.4.2 Planerische Handhabe: Raum in dieser Arbeit 42 2.4.4.3 Zusammenfassung 45 2.5 LANDSCHAFT UND RAUM 45 2.5.1 ENTWICKLUNG DES BEGRIFFSVERSTÄNDNISSES VON LANDSCHAFT 46 2.5.1.1 Historische Bedeutungen 46 2.5.1.2 Physis versus Konstrukt 46 2.5.1.3 Gestalt versus Bild 47 2.5.1.4 Natur versus Kultur 47 2.5.2 VERSTÄNDNIS ZUM VERHÄLTNIS VON LANDSCHAFT UND RAUM 48 2.5.2.1 Gestalt- und Schaffensaspekt 49 2.5.2.2 Zweckaspekt 49 2.6 KULTUR 50 2.6.1 ETYMOLOGIE 50 2.6.2 GEGENWÄRTIGES KULTURVERSTÄNDNIS 52 2.6.3 ANTONYME 53 2.6.4 DICHOTOMIEN UND BRÜCKEN AUSGEWÄHLTER KONZEPTE 54 2.6.4.1 Kultur im weiten oder im engen Sinne: Alltagskultur oder Kunst? 54 2.6.4.2 Eine mögliche Brücke zwischen einem weitem und einem engen Kulturverständnis: "KULTUR" als Voraussetzung und Aufgabe von "Kultur" 55 2.6.4.3 Vergangenheitsbezug und Zukunftsperspektive 56 2.6.4.4 Eine mögliche Brücke zwischen Vergangenheitsbezug und Zukunftsperspektive: Kultur als Vervollkommnung 58 2.6.4.5 Andere Dichotomien 61 2.6.4.6 Kultur und Religion 62 2.6.5 ZUSAMMENFASSUNG: KULTUR IN DIESER ARBEIT 63 2.6.5.1 Einordnung und Grundverständnis 63 2.6.5.2 Merkmale 64 2.7 LANDSCHAFT UND KULTUR: ANSÄTZE ZU EINER SYSTEMATIK 65 2.7.1 VORGEHENSWEISE 66 2.7.2 SYSTEMATIK 66 2.7.3 METHODISCHE KONSEQUENZEN 70 2.8 ZUSAMMENFASSUNG UND KRITIK 72 3 ERWARTUNGSHALTUNGEN UND PRÄFERENZEN 74 3.1 VORGEHENSWEISE 74 3.1.1 AUSWAHL UND AUSWERTUNG SOZIALEMPIRISCHER UNTERSUCHUNGEN 74 3.1.2 GRENZEN DER UNTERSUCHUNG 75 3.1.3 UNTERSUCHUNG VON ENTWICKLUNGSTRENDS 76 3.1.4 UNTERSUCHUNG VON BELLETRISTIK 77 3.1.5 AUFBAU 77 3.2 ZUKUNFTSSTUDIEN. TRIEBKRÄFTE GESELLSCHAFTLICHER ENTWICKLUNGEN UND GESELLSCHAFTLICHE ENTWICKLUNGSTRENDS 78 3.2.1 GLOBALISIERUNG UND GLOKALISIERUNG 78 3.2.2 MOBILITÄT 79 3.2.3 DEMOGRAFISCHER WANDEL 81 3.2.4 WERTE UND WANDEL 82 3.2.4.1 Individualität, Pluralität und Gemeinschaftlichkeit 83 3.2.4.2 traditionelle Werte und postmaterialistische Einstellungen 84 3.2.5 LEBENSSTANDARD UND BILDUNG 86 3.2.6 ENTINSTITUTIONALISIERUNG UND ENGAGEMENT 87 3.2.7 ZEIT UND FREIZEIT 88 3.2.8 LANDSCHAFT, RAUM UND ORT 90 3.2.9 ZUSAMMENFASSUNG, SCHLUSSFOLGERUNGEN UND AUSBLICK 93 3.2.9.1 Trends 93 3.2.9.2 Bedarfe 94 3.3 SOZIALEMPIRISCHE UNTERSUCHUNGEN: PRÄFERENZEN 96 3.3.1 LANDSCHAFTSWAHRNEHMUNG UND ALLGEMEINE ANFORDERUNGEN AN LANDSCHAFT 96 3.3.1.1 Landschaftswahrnehmung 96 3.3.1.2 allgemeine Anforderungen an Landschaft als Bestandteil der Lebensqualität 98 3.3.2 DIE BEDEUTUNGSTRAGENDE UND SINNSTIFTENDE FUNKTION 99 3.3.2.1 Vorüberlegungen und Forschungsfragen 99 3.3.2.2 Bedarf nach Heimat und ihre Dimensionen 100 3.3.2.3 räumliche Dimensionen 102 3.3.2.4 zeitliche Orientierung 108 3.3.2.5 Verräumlichung zeitlicher Dimensionen 111 3.3.2.6 soziale Dimensionen 113 3.3.2.7 Kritik am Konzept und Ablehnung von Heimat 114 3.3.2.8 Merkmale von Raum und Landschaft als Heimat 116 3.3.2.9 landschaftliche Prägung 123 3.3.2.10 Zusammenfassung 126 3.3.3 DIE KONTINUITÄTSFUNKTION 130 3.3.3.1 Vorüberlegungen und Forschungsfragen 130 3.3.3.2 Ergebnisse aus sozialempirischen Untersuchungen und Schlussfolgerungen 131 3.3.3.3 Gruppenspezifik 133 3.3.3.4 Zusammenfassung 133 3.3.4 DIE ORDNUNGS- UND ORIENTIERUNGSFUNKTION 134 3.3.5 DIE WISSENSFUNKTION 136 3.3.5.1 Vorüberlegungen und Forschungsfragen 136 3.3.5.2 Kritik des Aussagegehalts der vorliegenden Untersuchungen 137 3.3.5.3 gesuchte Kenntnis 138 3.3.5.4 Wissen der Menschen über ihre Landschaft und die Abhängigkeit von der Nutzung 140 3.3.5.5 andere Faktoren, welche die Landschaftskenntnis beeinflussen 141 3.3.5.6 Wunsch nach mehr Kenntnis 143 3.3.5.7 Wirkung von Wissen auf die Wertschätzung von Landschaft 145 3.3.5.8 Zusammenfassung 146 3.3.6 DIE GESTALTUNGS- UND AUSDRUCKSFUNKTION 150 3.3.6.1 Vorüberlegungen und Forschungsfragen 150 3.3.6.2 Wahrnehmung und Beurteilung von Landschaftsveränderungen 152 3.3.6.3 gewünschte Veränderungen 157 3.3.6.4 Gruppenspezifik 158 3.3.6.5 Zusammenfassung 159 3.3.7 DIE ÄSTHETISCHE UND STIMMUNGSSTIFTENDE FUNKTION 160 3.3.7.1 Vorüberlegungen und Forschungsfragen 160 3.3.7.2 Ästhetik und Identität. Zwischen dem Schönen und dem Eigenen 161 3.3.7.3 Ästhetik und Handlungsbezug. Zwischen dem Schönen und dem Nützlichen 163 3.3.7.4 Natur und Schönheit 172 3.3.7.5 wie eine schöne Landschaft aussieht 176 3.3.7.6 Merkmale, die eine Landschaft unattraktiv machen 189 3.3.7.7 Einflussfaktoren 190 3.3.7.8 Zusammenfassung 192 3.3.8 DIE HANDLUNGSFUNKTION 198 3.3.8.1 Vorüberlegungen und Forschungsfragen 198 3.3.8.2 Bedeutung von Landschaft für die Arbeit 199 3.3.8.3 Bedeutung von Landschaft für die Erholung 199 3.3.8.4 Formen landschaftsbezogener Erholung 203 3.3.8.5 Anforderungen an die Landschaft 207 3.3.8.6 Gruppenspezifik 208 3.3.8.7 Zusammenfassung 212 3.3.9 DIE KOMMUNIKATIONSFUNKTION 213 3.3.9.1 Vorüberlegungen und Forschungsfragen 213 3.3.9.2 Partizipation und Engagement 214 3.3.9.3 Kommunikation und Interaktion 218 3.3.9.4 Zusammenfassung 219 3.4 ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK 221 4 REFLEXION UND KONSEQUENZEN 222 4.1 INHALTE 222 4.1.1 ÜBERGREIFENDE HYPOTHESEN 222 4.1.1.1 Aneignung, Diskurs und Kommunikation 222 4.1.1.2 Vergangenheitsorientierung und Gestaltungswunsch 223 4.1.1.3 vom Diskurs zum Handeln 226 4.1.1.4 Nutzbarkeit, Eigenart und Schönheit 227 4.1.1.5 Ästhetische Merkmale 229 4.1.1.6 Wissen 230 4.1.1.7 Natur und Kultur 230 4.1.1.8 Heimat 231 4.1.2 KULTURELLE FUNKTIONEN 231 4.1.2.1 Charakterisierung der Funktionen 231 4.1.2.2 Hierarchien und Interdependenzen. 235 4.2 METHODISCHE KONSEQUENZEN 236 4.2.1 ZUR AUSGESTALTUNG DES PLANUNGSPROZESSES UND ZUR ROLLE SOZIALEMPIRISCHER UNTERSUCHUNGEN 238 4.2.1.1 Potenziale sozialempirischer Methoden 238 4.2.1.2 Defizite der verschiedenen Methodenkomplexe 239 4.2.1.3 Kombination 241 4.2.1.4 Weiterentwicklung der Bestandteile 243 4.2.1.5 Leitbildentwicklung 247 4.2.1.6 räumlicher Bezug 249 4.2.1.7 Schlussfolgerungen 251 4.2.2 GRUPPENSPEZIFIK 252 4.2.2.1 Einflussfaktoren 252 4.2.2.2 Kritik monofaktorieller Klassifizierungen 257 4.2.2.3 mehrfaktorielle Klassifizierungen 260 4.2.2.4 eigene Differenzierung 263 4.2.2.5 Zielgruppen 266 4.2.2.6 Zusammenfassung 267 4.3 KONZEPTIONELLE UND INSTRUMENTELLE KONSEQUENZEN 267 4.3.1 ÖKOSYSTEMDIENSTLEISTUNGEN 267 4.3.1.1 das Konzept 267 4.3.1.2 Landschaftsfunktionen und Ökosystemdienstleistungen 268 4.3.2 INSTRUMENTELLE UMSETZUNG 270 4.3.2.1 Raum- und Landschaftsplanung 270 4.3.2.2 Landschaftsplanung und Landnutzungsplanung 271 4.4 WEITERFÜHRENDER FORSCHUNGSBEDARF 272 5 ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK 275 6 LITERATUR 277 7 ABBILDUNGEN 299 8 TABELLEN 302 9 ANHANG 303 9.1 ANHANG 1: WERTE UND WERTSYSTEME IM PHILOSOPHISCHEN UND SOZIOLOGISCHEN DISKURS: EINE ÜBERSICHT 304 9.1.1 WERTLEHRE/ WERTEHTIK, WERTPHILOSOPHIE, WERTIRRATIONALISMUS 304 9.1.2 VERANTWORTUNGSETHIKEN: METAPHYSISCHE WERTLEHRE, TELEOLOGISCHE UND RELIGIÖSE KONZEPTE 305 9.1.2.1 metaphysische Wertlehren 305 9.1.2.2 Naturteleologie 305 9.1.3 UNIVERSALISTISCHE PRINZIPIENETHIKEN 306 9.1.3.1 Utilitarismus 306 9.1.4 ABSCHWÄCHUNG DER STRIKTEN DICHOTOMIE ZWISCHEN SEIN UND SOLLEN 307 9.1.5 WERTRELATIVISMUS 307 9.1.6 (NEU-)POSITIVISMUS, WERTSUBJEKTIVISMUS, WERTINDIVIDUALISMUS: 307 9.1.6.1 Positivismus 308 9.1.6.2 Wertsubjektivismus 308 9.2 ANHANG 2: KONNOTATIONEN IM ANTHROPOLOGISCHEN KULTURBEGRIFF NACH KROEBER UND KLUCKHOHN (1952) 309 9.3 ANHANG 3: EAGLETONS "KULTUR" UND "KULTUR" IM VERGLEICH 310 9.4 ANHANG 4: ERKENNTNISSE ZU KULTURELLEN FUNKTIONEN VON RAUM UND LANDSCHAFT AUS DER BEGRIFFSANALYSE 311 9.4.1 BEDEUTUNGSTRAGENDE UND SINNSTIFTENDE FUNKTION 311 9.4.2 GESTALTUNGS- UND AUSDRUCKSFUNKTION 313 9.4.3 ORDNUNGS- UND ORIENTIERUNGSFUNKTION 315 9.4.4 KONTINUITÄTSFUNKTION 315 9.4.5 WISSENSFUNKTION 316 9.4.6 ÄSTHETISCHE UND STIMMUNGSSTIFTENDE FUNKTION 317 9.4.7 KOMMUNIKATIONSFUNKTION 317 9.4.8 HANDLUNGSFUNKTION 318 9.5 ANHANG 5: AUSGEWERTETE EMPIRISCHE SOZIALWISSENSCHAFTLICHE UNTERSUCHUNGEN ZUM LANDSCHAFTSBEWUSSTSEIN UND ZU ERWARTUNGSHALTUNGEN AN LANDSCHAFT. ÜBERSICHT UND KERNAUSSAGEN 319 9.6 ANHANG 6: FACETTEN DES HEIMATEMPFINDENS DER AUTOREN IN GROPP ET AL. (2004) 339 9.7 ANHANG 7: ANSPRÜCHE AUSGEWÄHLTER FREIZEITAKTIVITÄTEN AN LANDSCHAFT 343 9.8 ANHANG 8: LANDSCHAFTSELEMENTE UND LANDSCHAFTSBESTANDTEILE, DIE "GEFALLEN" 347 9.9 ANHANG 9: TRADITIONELLE UND POSTMATERIELLE WERTORIENTIERUNGEN IM VERGLEICH 350
Im Folgenden stelle ich den Sammelband Performing Politics vor, der anlässlich der ersten Internationalen Sommerakademie 2010 in Hamburg entstanden ist. Die zentrale Fragestellung der Akademie lautete: "wie man heute im Sinne der von Jean-Luc Godard vorgeschlagenen Unterscheidung statt politischer Kunst politisch Kunst machen kann" (S. 7). Außerdem sollte der Austausch zwischen Theorie und Praxis gepflegt und die Veranstaltung für eine größere Öffentlichkeit geöffnet werden. Trotz der Heterogenität ergänzen sich einige Beiträge und vermitteln einen Eindruck des vielfältigen und weiten Feldes. Unter der Überschrift "Politik (in) der Kunst" wurden Beiträge versammelt, die sich mit den grundlegenden Voraussetzungen dafür beschäftigen, wie Kunst politisch sein kann. Es geht dabei vor allem um künstlerische Methoden und Vorgangsweisen. Der Gemeinschafts-Begriff bzw. der Begriff des Kollektiven spielt eine wichtige Rolle in mehreren Beiträgen. Das Nature Theater of Oklahoma (NTO) – Pavol Liska und Kelly Copper – versucht ein krisenhaftes Moment in ihre Arbeiten einzuführen, das ihre eigene Arbeitsweise, die der Schauspieler_innen und die Erwartung des Publikums herausfordert. So sollen neue Formen entstehen, die die traditionellen Grenzen des Theaters überschreiten. Die Theatermacher_innen verwenden einen Begriff von "Echtheit" bzw. "Realismus", der einen Zwischen-Zustand meint, in dem die Darsteller_innen weder sie selbst noch ihre Rolle sind. Robin Arthur thematisiert das Problem der Gemeinschaft und 'der Anderen' im Kontext des Politischen. Dabei wirft der Autor die Frage auf: Ist jede Art von Performance schon Politik, weil sie eine bestimmte (wenn auch exklusive) Kollektivität erzeugt? Reinhard Strobl und Jasna Žmak versuchen mit ihrem Text "High Hopes" eine fiktive Gemeinschaft mit ihren Lesern_innen herzustellen. Man könnte diese Textform auch als 'performatives Texten' beschreiben, da es den/die Leser_in aktivieren soll, eigene Gedanken anzuschließen. Sebastian Blasius fragt sich angesichts der Arbeit … although I live inside … my hair will always reach towards the sun … der Choreographin Robyn Orlin, "ob überhaupt innerhalb des theatralen Mediums Alternativen oder Lösungen politischer Fragen erdacht werden können, die nicht schon anderswo versucht wurden" (S.42). Spannend finde ich seine Schlussfolgerung, dass die Form an sich in Frage gestellt werden müsse, um politisch Theater zu machen. Auch in Astrid Deuber-Mankowskys Beitrag geht es um das Herstellen einer Gemeinschaft, genauer um "das Fehlen des Volkes" in Filmen der Nachkriegszeit. Die Formel des "Fehlens des Volkes" geht auf Gilles Deleuze zurück. Nach Deleuze sei es die Aufgabe des modernen Kinos, zu zeigen "wie das Volk fehlt" – was verbunden sei mit der Herstellung der Bedingungen von Kollektivität, dem Problem der Wahrnehmung und dem Problem des Denkens (vgl. S.30). Rudi Laermans spricht in seinem Text über Meg Stuart hingegen vom "kollektive[n] Blick" bzw. dem "kollektiven Ohr". Gemeint ist einerseits die Gemeinschaft von Zuschauer_innen/Zuhörer_innen und andererseits eine kulturelle Gemeinschaft, die dieselben Zeichen lesen kann. Die sogenannte "Politik des Zuschauens" tritt dann ein, wenn die Voraussetzungen und kulturellen Normen des Schauens/Hörens oder die Beziehung zwischen Zuschauern_innen und Akteuren_innen in Frage gestellt werden (vgl. S.43f.). Im Abschnitt "Interventionen – Kunst und (subversive) Aktionen" geht es um die Rolle von Kunst als 'politisches Instrument' sowie um die Frage, inwiefern Kunst konkrete Auswirkungen auf politische und gesellschaftliche Zusammenhänge haben kann. Sergej A. Romashko betont die Bedeutung des jeweiligen situativen und historischen Kontextes für die Frage, wann Kunst politisch ist. Mit Walter Benjamin weist er außerdem darauf hin, dass das Politische an der Kunst nicht allein am Inhalt festgemacht werden könne, sondern auch die Form zu berücksichtigen sei. So können die Arbeiten von Kollektive Aktionen (Kollektivnye dejstvija), einer russischen Künstlergruppe, der der Autor selbst angehört, im Kontext der Sowjetzeit und im Verhältnis der gesellschaftlichen Spielregeln als 'politisch' gedeutet werden. Die Teilnehmer_innen stellen nichts dar, sondern vollziehen eine bestimmte Handlung, die sich zu kulturellen, historischen und politischen Rahmenbedingungen ins Verhältnis setzt. André Schallenberg bezieht sich in seinem Beitrag ebenfalls auf Arbeiten von Kollektive Aktionen (KA), aber auch auf aktuelle Aktions- und Interventionsprojekte von Labofii, den Yes Men, 01.org und der russischen Gruppe Voina. Er unterscheidet zweckorientierte Kunst, die sich in den Dienst von Protest oder einer pädagogischen Funktion stellt von jenen Praktiken, die versuchen Freiräume für Kunst zu schaffen, die außerhalb jeglichen Systemzwangs stehen. Daher unterscheidet er das Laboratory of Insurrectionary Imagination (Labofii), das als erklärtes Ziel "die (Zurückeroberung) öffentlichen Raumes durch eine Gruppe Fahrradfahrer sowie die Herstellung einer sich einig wissenden Gemeinschaft von politisch Aktiven" habe, radikal von Gruppen wie KA oder Voina (S. 74). Demgegenüber erläutert John Jordan die Innenperspektive des Labofii. Die Künster_innen betrachten "de[n] Aufstand als eine Kunstform und Kunst als Mittel zur Vorbereitung auf den kommenden Aufstand" (S.79). Zu diesem Zweck bauten sie z.B. zurückgelassene Fahrräder in Kopenhagen/Hamburg um, und in einer Reclaim-The-Street-Aktion sollten die Straßen 'zurückerobert' werden. Fraglich ist einerseits, inwiefern Kunst die Realität auf Dauer verändern kann und andererseits, ob die Unterordnung von Kunst unter andere Zwecke – seien diese pädagogischer, politischer oder wirtschaftlicher Art – diese nicht ihrer selbst zu sehr entfremdet. Shalaby und Bansemir beziehen sich ebenfalls auf die Aktion FLOOD von Labofii, die am 22.August 2010 in Hamburg stattfand. Sie betonen die Ambivalenz der Aktion, die weder eindeutig als Kunst noch als politische Demonstration einzuordnen war, was zu einer Auflösung der Grenzen beider Bereiche führte. Maximilian Haas beurteilt die Aktionen von Labofii im Sinne von Walter Benjamin als "reine Mittel ohne Zweck, die sich dem Kontext der repräsentativen Ordnung von Kunst und Politik entziehen, und die – folgt man Benjamin – also als gewaltlos zu bezeichnen wären" (S. 87). Für Haas bleiben sowohl der Kunstcharakter der Intervention als auch die jeweilige politische Forderung unausgesprochen, was die Aktionen zu reinen Mitteln werden lasse. Die Beiträge, die unter "Konfigurationen – Politiken des Raumes" gesammelt wurden, thematisieren einerseits die Inszenierung des öffentlichen urbanen Raumes und andererseits künstlerische Interventionen, die sich mit diesem auseinandersetzen. Die Autor_innen nähern sich der Thematik aus historischer, künstlerischer, architektonischer, sozialer und kapitalismuskritischer Perspektive an. Ulrike Haß hat sich angesehen, wie kulturelle, politische, religiöse und andere Faktoren städtische Topographien im Laufe der Zeit verändern. Genauer untersucht die Autorin die Relation zwischen Raum und Sichtbarkeit in Bezug auf die Städte der Renaissance, die filmischen Topographien deutscher Filmemacher am Anfang des 20. Jahrhunderts und in Bezug auf den Städtebau der BRD. Die totale Sichtbarkeit in der Kontrollgesellschaft lässt dabei "übersehene Räume" – Zwischenräume, die noch nicht vom Konsum bestimmt werden –als potentielle Orte des Widerstands erscheinen, die zurückerobert und teilnehmend erkundet werden können. Das Kollektiv Bauchladen Monopol begann 2010 in Hamburg, öffentliche Plätze und Gebäude durch ihre Tanz-Aktionen zu besetzen und damit den Raum für die begrenzte Zeit von jeweils vierzig Minuten für sich zu beanspruchen. In der Reflexion ihrer Arbeit kommen sie zu dem Schluss, dass die Besetzung öffentlicher urbaner Räume, die keinem bestimmten Zweck dient, sowohl als Eingriff in die bestehende Ordnung, aber auch als willkommene Abwechslung gelesen werden kann. Jasmin Stommel weist in ihrem Beitrag ebenfalls auf den Zusammenhang von kapitalistischen Interessen und dem urbanem Raum hin. Ein Symptom davon seien sogenannte "Nicht-Orte" (Marc Augé) an der Peripherie von Städten, die monofunktional und transitorisch sind. Als Beispiel führt die Autorin das Kampnagelgelände in Hamburg an, in dessen vielfältiger Nutzung sich dieses Spannungsverhältnis widerspiegle. Unter dem Titel "Überschreitungen – Politiken (in) der Institution" wurden Beiträge gruppiert, die sich mit den Bedingungen von Kunstproduktion in jenen institutionellen Gefügen beschäftigen, die Kunst oftmals erst ermöglichen, aber auch behindern können. Aus ihrer Perspektive als Kuratorin führt Amelie Deuflhard vier Kategorien an, in die sie künstlerische Arbeiten einordnet, die "politisch Kunst machen": "neue theatrale Formen (Experiment), transkulturelle Arbeiten, partizipatorische Formate und performative Interventionen" (S.124). Das Problem an den genannten Kategorien ist meiner Meinung nach, dass diese sehr allgemein und weit gefasst werden. Des Weiteren müssten folgende Aspekte einbezogen werden: der geschichtliche Kontext, die raum-zeitlichen Konfigurationen sowie die spezifische Ästhetik der Darstellung. Anneka Esch-van Kan weist auf die starke Tendenz hin, Theorie und Praxis des zeitgenössischen Theaters zu verbinden, was sich sowohl in den Produktionsweisen als auch in der wissenschaftlichen Arbeit niederschlägt. Sie betont jedoch die damit verbundenen Spannungen, die es erschweren eine Sprache zu finden, "die den vielfältigen komplexen Verhältnissen begegnen könnte". Das Finden einer solchen Sprache ist ihrer Ansicht nach ein wichtiger Schritt für die "Theoriebildung zum Politischen im Theater" (S.128). Als Theaterpraktiker plädiert Matthias von Hartz dafür, das Potential der Institutionen zu nutzen, um eine – nicht näher definierte – Öffentlichkeit zu erreichen. Einerseits sieht er die Relevanz des Theaters als Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzung schwinden, andererseits will er für dessen Re-Politisierung kämpfen. Unter den verschiedenen Institutionen sieht er Festivals als "theoretisch ideale Formate", da für diese "alle Freiheiten des Theaters, aber nur wenige seiner Zwänge" gälten (S.131). Obwohl die Idee, die Institutionen von Seiten der Künstler_innen mehr zu nutzen, durchaus interessant ist, scheinen mir die zugrunde gelegten Begriffe von "Politik" und "Öffentlichkeit" sehr vage und unreflektiert. Außerdem denke ich, dass der Autor eher "politisches Theater" meint – und weniger Theater, das auf politische Weise gemacht ist. Nina Jan weist in ihrem Beitrag darauf hin, dass Festivals genauso bestimmten "Zwängen" folgen wie andere Kunstinstitutionen und demnach nicht unbedingt mehr Freiheiten bieten. Während die Relevanz von Festivals für das Networking zwischen Künstler_innen unbestreitbar sei, betont sie auch die den Festivals inhärente Marktlogik. Als Versuch, sich dieser zu entziehen, nennt die Autorin das Festival Pleskavica, das im Juni 2011 in Ljubljana (Slowenien) stattfand. Unter dem Titel "Jenseits des Spektakels" wurden Beiträge versammelt, die sich mit dem Begriff des Spektakels bzw. des Spektakulären auseinandersetzen. In Bezug auf Letzteres geht es um reale und imaginäre Bilder, die in und durch Performances/Theater generiert werden. Das postspektakuläre Theater, das André Eiermann beschreibt, setzt sich kritisch mit den Postulaten der "Unmittelbarkeit" und der "zwischenmenschlichen Begegnung von Angesicht zu Angesicht" auseinander, die in den letzten zehn Jahren zentral für den Diskurs um das Politische im Theater und die "Mitverantwortung des Publikums" waren (S.145). Im Unterschied zum oft spektakulären Mitmach-Theater, das – ganz im Sinne der Gesellschaft des Spektakels – darauf ausgerichtet sei, sich selbst darzustellen und einen nur scheinbar gleichwertigen Austausch mit den Darstellern_innen zu simulieren, sind postspektakuläre Arbeiten abstrakter oder formaler, bieten jedoch dem Publikum Anschlussstellen für die eigenen Imagination. Jemma Nelson und Caden Manson – zwei Mitglieder der New Yorker Performance Gruppe The Big Art Group – stellen ihren Begriff des Spektakulären vor. Für ihre Performances dienen die massenwirksamen Bildproduktionsmaschinen von Internet-Foren, Online-Games, Webseiten, Talkshows oder Nachrichtensendungen als Inspirationsquellen und Rohmaterial. Es geht den Verfassern jedoch um die "Brechung des Spektakulären", die ihrer Meinung nach nicht mehr durch eine kritische oder analytische Distanz bewerkstelligt werden könne (S.151). Statt Aussagen blieben in den Aufführungen die Bildlichkeit und die Formen des medialen Informationskrieges übrig. Es geht den Theatermachern aber auch um eine Kritik an der Massenwirksamkeit von Bildern. Sanna Albjørks Außenperspektive auf zwei Produktionen der Big Art Group hilft, deren Arbeitsweise besser zu verstehen. Charakteristisch ist laut der Autorin "[d]ie Gleichzeitigkeit der Betrachtung spektakulärer Bilder […] und die Ausstellung ihrer Produktion". Es gehe nicht um den 'Inhalt' der Bilder, sondern um deren "Manipulierbarkeit" (S.153). Interessant ist vor allem die Frage, die sich Albjørk selbst stellt: Wird wirklich eine Brechung des Spektakulären bewerkstelligt, oder wird der/die Zuschauer_in durch das "Bombardement von Bildern und Sounds" (S.154) mit dieser Überforderung allein gelassen? Krystian Lada untersucht anhand von drei Beispielen "den kreativen Prozess des Herstellens von Bildern auf der Bühne" (S.155). Wie bei Eiermann kommt dem Publikum eine wichtige Rolle zu. Erst in der Vorstellung der Zuschauer_innen entstehen die 'fertigen' Bilder, die durch die Bühnenvorgänge angeregt werden. Der Prozess der Imagination kann z.B. nur durch Sprache und die Körper der Performer_innen initiiert werden. Unter dem Titel Ein anderes Subjekt des Politischen wurden Beiträge versammelt, die sich mit der Subjekt-Werdung und deren politischen Implikationen auseinandersetzen. Einerseits wird der cartesianische Subjekt-Begriff philosophisch befragt, andererseits geht es um die Subjekt-Konstitution in/durch Performances und Theateraufführungen. In seinem Beitrag "Theaterkörper" denkt Jean-Luc Nancy Martin Heideggers Da-Seins-Begriff radikal weiter, indem er das Subjekt als Körper versteht, der nicht gedacht werden kann, sondern sich zeigt. Da dieses Körper-Subjekt nicht mehr im Rahmen der Philosophie gedacht werden kann, dehnt Nancy seine Überlegungen auf das Theater aus, das derjenige Ort sei, wo Präsenz erfahren werden könne. Nancy denkt Existenz als gleich-ursprüngliche Mitzugehörigkeit (coappartenance) (vgl. S.158), als Nebeneinander von Körpern in einer zeitlich-räumlichen Konfiguration, die über Relationalitäten miteinander in Beziehung treten. Dieser Gedanke ist immens politisch, da er den Menschen nicht als vereinzeltes Individuum begreift, sondern als Teil einer Gemeinschaft von Körpern, die immer schon aufeinander bezogen sind. Maria Tataris Kommentar zu Nancys Text trägt viel zu dessen Verständlichkeit bei und ergänzt diesen um wertvolle Informationen. Das "als Solche" der Präsenz denkt Nancy als Äußerlichkeit, was dem philosophischen Denken, das immer am Immateriellen festhält, widerspricht. Folgendes Zitat fasst Nancys Text auf wunderbare Weise zusammen: "Heideggers ontologische Differenz, die die Entfaltung des Seins nicht als Bestandheit der Präsenz, sondern als Emergenz der Zeit denkt, von Nancy als Körper radikalisiert, als Errichtung von bezügezeitigenden und raumgreifenden Intensitäten im Außen, endet im Theater" (S. 175). Mayte Zimmermann wendet in ihrem Beitrag Nancys Konzept eines Körper-Subjekts auf deufert&plischkes Arbeit Anarchiv#2: second hand an. In dieser Arbeit wird das Subjekt herausgefordert, weil es keine fixe Position mehr einnimmt, von der aus es sich seiner Machtposition versichern und die Performer_innen zu angeblickten Objekten machen kann. Die Verhandlung der Frage des Gemeinschaftlichen im Theater ist für die Autorin eine politische Frage. Das Politische kann für sie jedoch nur als "quasi gespenstische Repräsentation" gedacht werden (S.176). Die Konfrontation mit dem Anderen generiert die Subjekt-Werdung: Die Körper im Raum setzten sich zueinander in Relation; sie prallen aufeinander, stoßen einander ab oder ziehen einander an. Aber sie verhalten sich immer zu-einander, sie sind immer schon mit-einander. Laut Zimmermann geht es in Anarchiv#2 auch darum, dass der Abgrund bzw. der "Zwischen-Raum" und die "Zwischen-Zeit" zwischen uns und dem Anderen geöffnet werden sollen, auf eine Weise, dass das "gespenstische Eigenleben" des Anderen erhalten bleiben kann (vgl. S. 184f.). Nikolaus Müller-Schöll untersucht in seinem Beitrag den Zusammenhang zwischen dem Verschwinden der Figur des Chores und der des Harlekins in der europäischen Theatergeschichte sowie deren Renaissance im Theater der Gegenwart. Der Harlekin bricht, wie der Chor, mit der Illusion der Bühnenhandlung, weil wir ihn immer als Harlekin/Chor erkennen und wissen, dass er "nur spielt". Beide sind nicht Teil der Handlung des Dramas, sondern ihnen kommt die "Funktion eines Trägers, Begleiters, Zeugen und Richters der Handlung zu, letztlich also eine Art von Neutrum und insofern die eines bloßen Spielers" (S.193). Müller-Schöll nennt u. a. die Performance-Gruppe Forced Entertainment als herausragendes Beispiel für die Wiederkehr des Harlekins im Gegenwartstheater. Die Geschichten, die sie erzählen, scheitern, denn es gibt keine Wahrheit mehr, die im dramatischen Dialog zutage kommen könnte (vgl. S.197ff.). Sowohl der Harlekin als auch der Chor stellen traditionelle Möglichkeiten dar, innerhalb der Theatertradition auf die Unsicherheit von Identität hinzuweisen. Für Müller-Schöll geht es um die "abgründige Erfahrung" der Existenz, um das Bewusstsein, dass wir immer schon in einem Medium sind, das "das Ende jeder geschlossenen Repräsentation und die Eröffnung unabsehbarer Möglichkeiten" bedeutet (S.200). Jurga Imbrasaite geht in ihrem Beitrag ebenfalls auf die Frage des Subjektes und dessen politische Bedeutung ein. Am Beispiel von Jérôme Bels Tänzerporträts wird aufgezeigt, wie "das choreographische Subjekt" (vgl. Zimmermann) erzeugt wird, indem es sich der Choreographie unterwirft. Die Machtkonstellation Choreograph – Tänzer wird subvertiert, indem die Stücke die Namen der porträtierten Tänzer tragen. Neben der unorthodoxen Namensgebung stellt die Art und Weise, wie die Tänzer_innen agieren, ebenfalls eine Verschiebung der Normen dar. Das private Selbst und das "choreographisches Selbst" werden einander gegenübergestellt und höhlen sich dadurch gegenseitig aus. Insgesamt gibt der Sammelband Performing Politics einen guten Überblick über aktuelle Debatten im Kontext des Politischen und der darstellenden Künste. Die Beiträge decken ein weites thematisches Spektrum ab; durch die Bündelung unter übergreifende Themen gelingt es jedoch, Querverbindungen zwischen den einzelnen Beiträgen herzustellen. Viele Autoren_innen arbeiten sich an der Schnittstelle von Theorie und Praxis der Kunst ab, tun dies jedoch aus sehr unterschiedlichen Perspektiven. Es finden sich aber auch spannende Beispiele und Berichte aus der Praxis von/über: Nature Theater of Oklahoma, Labofii, Kollektive Aktionen (KA), The Big Art Group, Kollektiv Bauchladen Monopol, deufert&plischke, Jérôme Bel und Forced Entertainment. Theoretisch besonders anregend ist der Abschnitt "Ein anderes Subjekt des Politischen", der Einblick in aktuelle philosophische Debatten (Jean-Luc Nancy) gibt, ohne jedoch den Kunstkontext hinter sich zu lassen. Die Beiträge zu "Politiken des Raumes" geben ungewohnte und spannende Perspektiven in Hinblick auf Raum, Stadt, Kapitalismus und Öffentlichkeit. Der Abschnitt "Interventionen" spiegelt wiederum sehr gut den aktuellen Trend zu aktionistischen und interventionistischen Kunstformen wieder. Andererseits taucht darin die alte Debatte um den "Zweck von Kunst" überhaupt auf, in der die Verfechter des l'art pour l'art jenen gegenüberstehen, die Kunst dem Zweck der Politik (oder anderen Zwecken) unterordnen wollen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es sich um eine vielseitige und spannende Lektüre für all jene handelt, die einen Überblick über aktuelle Debatten zur Thematik suchen. Es finden sich aber sicher auch Anregungen für auf diesem Gebiet bereits versierte Leser_innen.