Spielmann, Raphael (2011). Filmbildung! Traditionen, Modelle, Perspektiven. München: kopaed Verlag 279 S., 19,80 €. Kepser, Matthias (Hrsg.) (2010). Fächer der schulischen Medienbildung. Mit zahlreichen Vorschlägen für einen handlungs- und produktionsorientierten Unterricht. München: kopaed Verlag. 246 S., 18,80 €. Henke, Thomas/Kunsthalle Bielefeld/FH Bielefeld (Hrsg.) (2010). Social Dogma. Heidelberg: Kehrer. 194 S., 19,80 €. Mit der rasanten Entwicklung des Internets und insbesondere dem Aufkommen von Social Web Angeboten gewinnt auch ein in der Vergangenheit eher vernachlässigter Bereich der Medienpädagogik mehr und mehr an Bedeutung – die Filmbildung. Während vor dieser Entwicklung das Drehen und vor allem die Veröffentlichung eigener Filme wesentlich schwerer zu bewerkstelligen war, gehört es mittlerweile zunehmend zur gängigen Praxis auch vieler Privatpersonen, selbst gedrehte Videos ins Netz zu stellen und zu kommentieren. Der Kreativität der Nutzerinnen und Nutzer sind keine Grenzen gesetzt. Die Internetplattform Youtube verzeichnete bereits 2008 ca. 150.000 Videouploads pro Tag (vgl. Spielmann 2011). Was läge da näher, als dieses offensichtlich im Trend liegende Medium auch für Bildungszwecke nutzbar zu machen? Gerade in der Schule – so die Hoffnung – könne so die Motivation gesteigert und neben Softskills auch Fachwissen ganz nebenbei vermittelt werden.Genau damit beschäftigen sich die Monografie Filmbildung! Traditionen, Modelle, Perspektiven von Raphael Spielmann und das Herausgeberwerk Fächer der schulischen Medienbildung von Matthias Kepser.Spielmann umreißt dazu zunächst die geschichtlichen und theoretischen Hintergründe der Filmbildung und die immer wiederkehrenden Probleme des Faches, sich neben den etablierten Bildungsbereichen als vielversprechende Lehrform durchzusetzen und in der Schule Fuß zu fassen. Daraufhin geht er genau dieses Problem an, indem er den Versuch unternimmt, ein filmdidaktisches Modell für den Unterricht zu entwerfen. Gerade die vielfältigen Kompetenzen, die sich Jugendliche bei der Beschäftigung mit dem Genre Film aneignen können, sind es, die Spielmann hervorhebt. Dies kann allerdings nur umgesetzt werden, wenn es gelingt, in der Filmdidaktik sowohl die Theorie als auch die Praxis zu vereinen und den Schülerinnen und Schülern so zum einen praktische Erfahrungen und zum anderen aber auch wertvolles Hintergrundwissen zu vermitteln. Zudem versucht Spielmann die einzelnen durch die Filmbildung zu erlernenden Kompetenzen mit den jeweiligen Schulfächern zu verknüpfen und so praktische Herangehensweisen aufzuzeigen. Doch er geht sogar noch einen Schritt weiter und bietet seinen Leserinnen und Lesern Anregungen für eine mögliche curriculare Einbindung der Filmbildung in die schulischen Lehrpläne. Dazu arbeitet er zunächst die aktuelle Situation heraus und zeigt auf, inwiefern Filmbildung bereits jetzt in die Lehrpläne integriert ist. Daran anschließend stellt er einzelne Filmcurriculums-Entwürfe vor und erarbeitet darauf aufbauend selbst ein detailliertes Filmcurriculum. Schließlich untermauert Spielmann seine theoretischen Ausführungen noch durch die ausführliche Evaluation verschiedener Schülerfilme, wobei er erneut gezielt auf den Kompetenzerwerb durch die Filme eingeht. In der Diskussion der Ergebnisse bezieht er zudem verschiedene äußere Einflüsse, wie das Schulfach, die Lehrkraft oder die Schulart mit ein und führt auf Basis der Ergebnisse zum Abschluss noch eine Überarbeitung des zuvor aufgestellten Filmcurriculums durch. Durch viele Grafiken und Fotos gelingen ein anschaulicher Überblick sowie ein detailliertes Aufzeigen von Möglichkeiten praktischer Filmbildung in der Schule, die sich in allen Punkten durch umfassende theoretische Untermauerung aber auch praktische Anwendungsorientierung auszeichnet. Einzig eine Nummerierung der Unterkapitel könnte den Lesekomfort noch etwas erhöhen.Auch das Herausgeberwerk von Matthias Kepser geht auf die schulische Filmbildung ein. Der Schwerpunkt liegt hier allerdings zunächst auf der Kanondebatte, mit der sich die ersten drei Artikel auseinandersetzen. Dabei wird die Frage diskutiert, welche Filme im Unterricht behandelt werden sollten und ob dies in einem Filmkanon festzulegen ist. Während im ersten Beitrag die Situation in Deutschland genauer beleuchtet wird, wird im zweiten Artikel ein Blick auf die Situation in den USA, der 'Heimat' des Films geworfen. Grundsätzliche Fragen zu Entstehung und Funktion medialer Kanons diskutiert der dritte Beitrag und wirft dabei die Frage auf, ob ein solcher Kanon in der heutigen Zeit nicht als obsolet angesehen werden kann. Der zweite Teil des Herausgeberwerkes beschäftigt sich wie auch Spielmann mit den verschiedenen Fächern schulischer Filmbildung. Dazu umreißt Carola Surkamp zunächst, wie Filmbildung unter besonderer Berücksichtigung der Filmästhetik in den einzelnen Fächern umgesetzt werden kann, während der zweite Beitrag die innovative Filmbildung insbesondere im Geschichtsunterricht thematisiert. Daraufhin wirft das Buch noch einen Blick auf die Filmgeschichte als Teil schulischer Bildung, wobei auf Filmklassiker – wie etwa Emil und die Detektive oder Filme aus den ufa-Studios der 20er und 30er Jahre – und deren Einsatz im Schulunterricht, aber auch auf die Filmmontage als neue Kunstform eingegangen wird. Schließlich verweist der letzte Teil des Herausgeberwerkes auf die handlungs- und produktionsorientierte Arbeit mit (Spiel-)Filmen, wie etwa das Schreiben von Drehbüchern oder Filmkritiken und liefert damit Ansätze für eine praktische, in der Schule auch umsetzbare Filmbildung. So gelingt ein guter Überblick über die Nutzung des Films in der Schule, wobei die praktische Anwendung sowie die Verknüpfung mit einzelnen Schulfächern immer berücksichtigt werden. Es sei aber darauf hingewiesen, dass dabei im Gegensatz zu den Ausführungen Spielmanns die Nutzung bereits bestehender Film im Vordergrund steht, während die eigene praktische Arbeit mit dem Medium Filme lediglich im letzten Beitrag zum Ausdruck kommt.Einen ganz anderen, aber ebenso interessanten Zugang wählt Thomas Henke mit seinem Projekt Social Dogma, das die Vorlage für das gleichnamige Herausgeberwerk bildet. Hier geht es nicht um theoretische Rechtfertigung sondern um die rein praktische Anwendung des Films als Kunstform. Henke bezieht dabei auch geschickt Studentinnen und Studenten in sein Projekt mit ein und überlässt ihnen sogar die federführende Umsetzung der Filmarbeit. Damit leistet auch er einen wichtigen Beitrag zur Filmbildung, zwar weniger auf konzeptioneller, als vielmehr auf praktisch anwendender Ebene. Die Studentinnen und Studenten portraitierten für das Projekt je eine Person, die sich in einer außergewöhnlichen Lebenssituation befindet oder eine spezielle Besonderheit aufzuweisen hat. Wichtig waren dabei neben dem inhaltlichen Gehalt und der sozialen Brisanz des Themas vor allem auch die künstlerische Umsetzung und der kreative Umgang mit dem Medium Film. So entstanden elf ganz unterschiedliche (Selbst-)Portraits, die auch die Beziehung zwischen Student bzw. Studentin und dem gefilmten Individuum widerspiegelt. Das Herausgeberwerk beleuchtet das Projekt aus ganz unterschiedlichen Perspektiven, wobei alle Beiträge sowohl in deutscher als auch in englischer Sprache verfasst sind: So beschreibt nicht nur der Projektleiter Thomas Henke seine Sicht auf das Projekt, sondern es werden von den unterschiedlichen Autorinnen und Autoren auch das Museum als Ort der Filmausstellung, die Selbstinszenierung als soziale Erfahrung oder eine philosophische Sicht auf das Projekt eingenommen. Zudem weist auch die Gestaltung des Buches mit vielen anschaulichen Fotos einen sehr künstlerischen Charakter auf.Jedes der drei sehr anschaulich gestalteten Werke ermöglicht somit auf ganz unterschiedliche Weise einen Einblick in das Thema Filmbildung, ob auf die konkrete Anwendung in der Schule oder durch die konkrete Erfahrung im Rahmen eines Projektes. Somit eröffnet sich dem Leser oder der Leserin eine Vielfalt möglicher Herangehensweisen an die Themen Film – Bildung und Filmbildung.
Seit 2014 betreibt die Journalistin Mareice Kaiser das Blog "Kaiserinnenreich", auf dem sie über ihr Leben als Mutter von zwei Töchtern, mit und ohne Behinderung, über Inklusion sowie nunmehr auch über Trauer und Trauerbewältigung berichtet. Das inklusive Familienblog wurde 2016 bei den "Goldenen Bloggern" als Bestes Tagebuch-Blog ausgezeichnet. Im Gespräch mit Dagmar Hoffmann berichtet Mareice Kaiser über ihre Erfahrungen, über Ansprüche an ein kreatives und ansprechendes Blog sowie über allgegenwärtige strukturelle Diskriminierungen. merz: Du hast deinen Blog vor zwei Jahren eingerichtet mit dem Titel 'Das inklusive Familienblog'. Was genau war deine Intention? Kaiser: Ich glaube, es hieß damals Kaiserinnenreich: Unser Leben zwischen Krankenhaus und Kita. Ich hatte nämlich noch gar nicht auf dem Schirm, was Inklusion eigentlich bedeutet und was wir als Familie damit eigentlichzu tun haben. Das ist irgendwann später entstanden, macht aber gut anschaulich, was in der Zwischenzeit mit mir passiert ist.
merz: Welches Ereignis hat dazu geführt, dass du irgendwann entschieden hast, dass es für dich ein inklusives Familienblog ist? Kaiser: Ich bin mir gar nicht sicher, ob es das über¬haupt ist. Mittlerweile bin ich noch einen Schritt weiter und denke: Nur weil ich eine behinderte Tochter hatte, habe ich noch lange nicht das Recht, das Wort Inklusion für mich gepachtet zu haben. Aber ich glaube, die Umbenennung in ein 'inklusives Familienblog' war in dem Moment, als ich so eine Ahnung hatte, wie eine inklusive Gesellschaft aussehen kann und wie viele unterschiedliche Menschen davon profitieren können. Unter anderem auch wir, als Familie mit einem behinderten Kind. Ich bin einfach Fan von dem Wort Inklusion und vor allem von seinem Wortsinn geworden – und fand es schön, es als Blickfang auf meinem Blog zu haben.
merz: Weißt du etwas über die Leserinnen und Leser deines Blogs? Kaiser: Es gibt viele Menschen, die Blogs gründen, damit ein Marketingziel verfolgen und ganz genau wissen, woher die Leserschaft kommt. Das ist bei mir anders. Ich schaue ungefähr alle zwei Monate mal, wie viele Leute meine Texte gelesen haben und freue mich darüber. Ich bekomme Kommentare auf Blog-Artikel und viele Mails – übrigens von viel mehr Frauen als Männern. Am Anfang dachte ich, dass sich viele Eltern behinderter Kinder mel-den. Das passiert auch, aber in der Relation nicht viel mehr als andere Menschen, die bisher keinen Kontakt zu behinderten Menschen in ihrem Leben hatten und für die mein Blog eine Horizonterweiterung war. Auch Menschen, die mit behinderten Kindern oder behinderten Menschen arbeiten, haben mir zurückgemeldet, dass sie einen ganz neuen Blick auf ihre Arbeit bekommen haben. Und dann melden sich Frauen, die schwanger sind bzw. werden wollen. Sie haben mir viele Rückmeldungen gegeben, dass meine Texte sie dazu bewegt haben, neu über Pränataldiagnostik nachzudenken. Oder ein konkretes Beispiel, was mich sehr bewegt hat: Eine Frau, die ein Kind bekommen hatte, welches nur zehn Wochen gelebt hat. Sie wusste nicht, wie lange es leben würde – und in den zehn Wochen musste sie sich damit auseinandersetzen, vielleicht mit einem schwerbehinderten Kind zu leben. Mein Blog hat ihr geholfen, mit dieser Vorstellung zu leben. Es gibt noch andere Beispiele – und genau die waren für mich immer ein Grund weiterzuschreiben, auch wenn ich zwischendurch daran gezweifelt habe.
merz: Du kommst aus dem journalistischen Bereich und hast schon viele Kompetenzen mitgebracht. Was denkst du muss man für Eigenschaften haben, um einen Blog zu führen und wie aufwändig ist die Gestaltung? Kaiser: Je nachdem wie perfektionistisch man veranlagt ist, kann man es mit ganz einfachen Mitteln machen. Es gibt unterschiedliche Systeme zum Bloggen, so dass man auch mit wenig Technikwissen selbst einen Blog starten kann. Als meine nicht-behinderte Tochter geboren wurde, hatte ich mich mehr mit Elternblogs beschäftigt und mich mit den Themen, die ich mit ihr hatte, wiedergefunden. Aber nicht mit den Themen, die ich dann noch extra mit meiner behinderten Tochter hatte. Die Blogs, die ich dafür gefunden hatte, waren mir zu sehr auf das Thema Behinderung spezialisiert. Und sie sahen leider für mich auch ganz oft so aus, wie sich viele Menschen Behinderung vorstellen: uncool. Ich wollte einfach gerne, dass mein Blog das widerspiegelt, was ich im Alltag mit meiner behinderten Tochter erlebt habe. Wenn ich von ihr erzählt oder ihre Diagnosen aufgezählt habe, dann waren immer alle total geschockt. Wenn sie aber meine Tochter gesehen haben, haben sie gesagt "die ist total süß und hübsch und so liebenswert" – was natürlich überhaupt nicht im Gegensatz zu einer Behinderung steht. Ich wollte auf meinem Blog zeigen, dass auch ein behindertes Kind cool ist und auch der Blog von einer Mutter eines behinderten Kindes cool sein kann. Von daher hatte ich an mich selbst hohe Ansprüche, als ich mein Blog gestartet habe. Die resultierten auch daraus, dass ich schon vorher als Social Media-Redakteurin gearbeitet und andere Blogs konzipiert habe – und jetzt nicht irgendwas starten wollte. Natürlich ist es gut, wenn man dann bekannter werden möchte, wenn man auch auf anderen Social Media-Kanälen unterwegs ist. Das bin ich sowieso schon gewesen, weil ich indirekt seit 2001 online publiziere. Ich glaube aber, das Einzige, was man mitbringen muss, ist sowas wie ein Sendungsbewusstsein und ein Thema. Das habe ich eben mit meiner behinderten Tochter quasi in den Schoß gelegt bekommen. Seitdem sie tot ist, habe ich gar nicht mehr das große Bedürfnis noch weiter zu erzählen. Für mich persönlich reicht jetzt dieses 'normale' – in Anführungszeichen – Familienleben nicht mehr zum Schreiben aus. Ich finde es spannend, über Trauer und Tod im Internet zu lesen und vielleicht ab und zu mal was dazu zu schreiben. Aber das eigentliche, für mich auch politische Thema, das bleibt – ich habe bloß aus dem Alltag nicht mehr so viel dazu zu erzählen. Da muss ich jetzt gerade gucken, in welche Richtung es gehen kann.
merz: Gab es andere Bloggerinnen und Blogger, die deine Arbeit beeinflusst haben? Kaiser: Ich hab mich immer so eher als Außenstehende (im besten Sinne) von zwei digitalen Filterblasen gefühlt: Auf der einen Seite die Familienblogger, auf der anderen Seite die Inklusionsblogger. Ich war bei den Inklusionsbloggern das Anhängsel, weil ich nicht selbst behindert bin, und hatte bei den Elternbloggern die Außenseiterrolle, weil ich eben eine behinderte Tochter habe – und dadurch natürlich auch ein paar extra Themen. Ich fand es aber schön, sowohl in der einen als auch der anderen Filterblase wirklich herzlich begrüßt zu werden und von vielen Menschen lernen zu können. Aber es gab nicht die Bloggerin oder den Blogger. Gleichzeitig lese ich unheimlich gerne Blogs, in denen es nicht um Familie oder Behinderung geht, sondern um Musik, Bücher, das Leben, Politik, Gesellschaft. Was für mich selbst eine Horizonterweiterung war, waren Blogs von behinderten Menschen, vor allem von behinderten Frauen, zu denen ich mittlerweile oft auch persönlichen Kontakt habe. Denn das ist spannend, wenn man vor jemandem sitzt, ungefähr im gleichen Alter. Eine Frau, die irgendwie so tickt wie ich selbst, einfach wie eine Freundin, und gleichzeitig bin ich aber eben die Mutter, die über ein behindertes Kind schreibt und sie selbst ist quasi das behinderte Kind und hat auch eine Beziehung zu ihrer Mutter ... Es gab da viele spannende, Horizont erweiternde Gespräche, vor allem mit Anastasia Umrik, die mittlerweile auch eine Freundin von mir geworden ist. Ich weiß nicht, ob ich eine solche Begegnung gehabt hätte, wenn ich meinen Blog nicht gestartet hätte, und letztendlich ist das dann auch eine schöne Rückmeldung, von so jemanden eine Wertschätzung zu erfahren.
merz: Was hat der digitale Austausch oder auch die Präsenz mit dir und deiner Familie gemacht? Kaiser: Auf jeden Fall habe ich daraus ganz viel gelernt: Zum Beispiel, was Diskriminierung bedeutet. Durch den digitalen Austausch ist mir erst bewusst geworden, wie viel Diskriminierung wir erlebt haben als Familie mit einem behinderten Kind. Bewusst war mir das schon vorher, aber ich konnte es nicht so richtig artikulieren. Vor allem auch, was strukturelle Diskriminierung angeht. Durch Kontakte zu anderen Bloggerinnen und Bloggern – nicht nur aus dem Behindertenkontext – habe ich viel gelernt, beispielsweise aus Blogs über Rassismus. Einfach ein Bewusstsein dafür bekommen, wie politisch das Private ist. Also, dass es tatsächlich eine politische Relevanz hat, was wir erleben bzw. erlebt haben: rund um die Beantragung von Hilfsmitteln, dass Hilfsmittel für behinderte Menschen von der Krankenkasse abgelehnt werden und viele einfach gar nicht wissen, dass sie Widerspruch einlegen können. Wenn ich solche Sachen aufgeschrieben und darauf Reaktionen bekommen habe und gesehen habe, dass wir kein Einzelfall sind, sondern dass es mindestens jeder zweiten Familie mit einem behinderten Kind so geht, sind das so Momente, in denen man sich fragt: Okay, wo ist denn jetzt die Gesellschaft? Und genau an diesen Punkten zeigt sich, dass sie behinderte Menschen eigentlich nicht will und sie ausschließt. Das hätte ich ohne das Internet auch erlebt, aber sehr viel schwächer in der politischen Dimension.
merz: Gab es auch Reaktionen, die du auf gar keinen Fall veröffentlichen wolltest auf deinem Blog? Kaiser: Die behindertenfeindlichen Teile der Gesellschaft sind auch im Internet. Ich habe auch einige verletzende und diskriminierende Kommentare bekommen. Die meisten habe ich nicht freigeschaltet. Ab und an habe ich mich dazu entschieden sie zu veröffentlichen und fand es dann schön zu sehen, dass die Leserschaft, die ich dann schon hatte, das quasi selbst geregelt hat. Letztendlich tut es dann auch nicht mehr so weh.
merz: Gab es Momente, in denen du das Schreibensein lassen oder abbrechen wolltest? Kaiser: Immer wieder. Die positiven Momente überwiegen aber. Ich glaube, der deutlichste Moment war nach dem Tod meiner Tochter. Ich hatte auf meinem Blog veröffentlicht, dass sie gestorben ist und dann gab es eine sehr große Anteilnahme, auch über das Netz hinaus. Alles, was im Netz passiert ist, war für mich in Ordnung, aber als es die Grenzen des Internet überschritten hat und auf einmal eine dpa-Nachricht wurde, war es zu viel. Es wurde ohne meine Zustimmung ein Foto von meiner Tochter und mir veröffentlicht. Da war für mich die Grenze eindeutig überschritten. Ich hatte ein Gefühl von Kontrollverlust. Gleichzeitig – mit etwas Abstand – ist es natürlich auch die Quittung dafür, dass ich mit meinen Texten Nähe erzeuge. Wobei das das ekelhafte Verhalten inklusive Urheberrechtsverletzung der Zeitung natürlich nicht rechtfertigt. Das war aber wirklich der einzige Moment, wo ich dachte, ich mach nicht weiter. Ansonsten erzeugt Kritik bei mir eher Power nach vorne, à la 'jetzt erst Recht'.
merz: Du hast nach dem Tod deiner Tochter eine Zeit lang pausiert. Dann gab es große Resonanz und Freude, als du wieder präsent warst. Hast du dich verpflichtet gefühlt, dich wieder zu zeigen? Kaiser: Ich wünsche mir, dass Tod und Trauer auch Themen sein können, über die wir miteinander sprechen, so dass ein Rückzug für mich eine falsche Reaktion gewesen wäre. Gleichzeitig ist aber Trauer auch keine Situation, in der man öffentliche Entscheidungen treffen möchte. Also war es schwierig – und ist es auch weiterhin schwierig für mich. Den genauen Weg für mich suche ich gerade noch.
merz: Der Tod eines geliebten Menschen ist immer schmerzlich. Ein Kind zu verlieren fordert nochmal ganz anders, nicht wahr? Kaiser: Zum Leben gehört eben auch Tod dazu und bei einem Leben mit Behinderung ist das vielleicht ein noch präsenteres Thema – oft, nicht immer. Ich habe mich irgendwann dazu entschieden, dieses Thema öffentlich zu machen und wie es jetzt zukünftig weitergeht, weiß ich nicht bzw. weiß ich schon ein wenig, weil ich auch ein Buch geschrieben habe, das in diesem Jahr veröffentlich wird.
merz: Ein Buch über deinen Blog? Kaiser: Über meinen Weg als Mutter einer behinderten Tochter, die arbeitet und weitere Themen um Inklusion und Feminismus entdeckt. Es gibt im Buch kleine Ausschnitte vom Blog, aber auf 256 Seiten erzähle ich natürlich anders als in Posts.
merz: Hast du eine Wunschvorstellung, wohin es mit dem Blog gehen soll? Kaiser: Ich würde mir wünschen, dass es ein Ort ist, an dem Eltern behinderter Kinder und alle Interessierten eine Horizonterweiterung und einen Perspektivwechsel erfahren können. In einer Porträt-Reihe stelle ich andere Mütter behinderter Kinder vor. Als Journalistin setze ich gern Menschen in Szene und lasse sie erzählen. Ich könnte mir gut vorstellen, dass das Kaiserinnenreich vielleicht in ein oder zwei Jahren eine Plattform ist, auf der Mütter behinderter Kinder aus ihrem Alltag berichten; dass es mehrstimmiger wird. Ich sehe mich nicht als Vorbild und meine nicht, dass andere Mütter behinderter Kinder es so machen sollen wie ich. Ich denke einfach, dass es wichtig ist, dass Mütter behinderter Kinder sprechen können und Gehör bekommen. Mareice Kaiser, 1981 geboren, lebt als Journalistin und Autorin in Berlin. Sie schreibt über Inklusion, Geschlechtergerechtigkeit und Vereinbarkeit von Familie und Beruf unter anderem für das MISSY Magazine und die taz. Im November erscheint ihr erstes Buch Alles inklusive im S. Fischer Verlag.Das Interview führte Dagmar Hoffmann.
Die Idee, sich in einen Diskurs einzuschreiben, der sich gegen den Eurozentrismus wehrt, diesen aufdeckt und versucht, ihm etwas entgegenzustellen, war Leitgedanke für die Gründung der "Gesellschaft für TheaterEthnologie" und hat sich nun auch im ersten von dieser Gesellschaft herausgegebenen Buch manifestiert. Es ist dies der erste Band einer geplanten Schriftenreihe, die der Dekonstruktion eines eurozentrisch definierten Theaterbegriffs und der Dekonstruktion des Kulturbegriffs gewidmet ist. Die als Sammelbände konzipierten Publikationen offerieren eine Vielfalt an theoretischen wie methodologischen Ausführungen. In Aufbruch zu neuen Welten: Theatralität an der Jahrtausendwende sind unterschiedlichste Essays und Beiträge von WissenschafterInnen und TheaterpraktikerInnen zu künstlerischer wie wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit Performanceformen publiziert, zum Teil erstmals in deutscher Sprache. Grotowski Im Zentrum des ca. 360 Seiten umfassenden Buches steht ein Dokument, das auf Wunsch des Autors, dem das gesamte Buch gewidmet ist, posthum erscheint: ein Text - einer der wenigen - von Jerzy Grotowski. Ein Unbetitelter Text von Jerzy Grotowski, unterzeichnet am 4. Juli 1998 in Pontedera wird hier erstmals in deutscher Übersetzung abgedruckt. Dieser letzte Text Grotowskis ist eine Klarstellung, ein Testament, ein Abschied; ein letzter Einblick in die Gedankenwelt des Theaterpraktikers und Gurus Grotowski, sich selbst schon einer vergangenen Generation zurechnend. Sein Erbe wird von Thomas Richards angetreten, der in einem Interview, Der Rand-Punkt des Schauspielens, aufs genaueste von seiner Zusammenarbeit mit Grotowski erzählt. In diesem Beitrag kann sozusagen aus erster Hand erfahren werden, was "Action" meint, was sie bewirkt und wie sie erarbeitet wird. Er ist Ausdruck einer Selbstdarstellung jenseits von Augenblick und Gegenwärtigkeit, ein historisches Dokument der Arbeit Richards, in der er seinen Lehrer nicht vergißt, aber bereits seinen eigenen Weg betont. Der vorangestellte Beitrag Action. Der nicht darstellbare Ursprung von Lisa Wolford wiederum ergänzt auf interessante Weise die Ausführungen des Performers aus der Perspektive einer privilegierten Zuschauerin. In der letzten Phase von Grotowskis Theaterschaffen, in der er bereits verstärkt als "Lehrer" von Thomas Richards aufgetreten ist, entsteht "Action" im Sinne von "Kunst als Fahrzeug". Da die Betonung nicht bei "Kunst als Vorstellung" und somit beim Zusehenden, sondern beim Handelnden liegt und dieser zu schützen ist, ist die Öffentlichkeit nicht nur nicht notwendig, ihr ist kein Zugang mehr gewährt. Allerdings werden in regelmäßigen Abständen Gäste, für gewöhnlich nicht mehr als acht, eingeladen. Die Beschreibung Wolfords ist somit als ein wichtiges Zeugnis zu sehen. Die von Michael Hüttler geschriebene Einleitung Für ein Theater der Kulturen bietet einen guten und informativen Überblick über die unterschiedlichen Beiträge und führt überdies in das Forschungsfeld der Theaterethnologie mit historischen Rückblicken ein. Vor allem Hüttlers ausführliche Auseinandersetzung mit Grotowski liefert eine gute Einführung in das Kapitel Grotowskis Erbe. Während sich sowohl der Bericht von Wolford, das geführte Interview mit Richards als auch der Text Grotowskis vor allem auf die letzte Arbeitsphase eines der wichtigsten Theatermacher des 20. Jahrhunderts beschränken, umreißt Hüttler das gesamte Theaterschaffen Grotowskis. Ein Blick aus der und in die Praxis Weitere Beiträge, die direkt aus der praktischen Erfahrung und Auseinandersetzung mit theatralen Aufbrüchen berichten, sind ein bereits zum Klassiker avancierter und ursprünglich in englischer Sprache erschienener Text von Richard Schechner, der Aufsatz von Walter Pfaff sowie ein Beitrag des Multimedia- und Performancekünstlers Guillermo Gomez-Peña. Dieser Text ist eine "der Stimmen der anderen", die im Kapitel Internationaler Diskurs abgedruckt sind. Unbestritten müssen diese Stimmen gehört und wahrgenommen werden, wie Karl R. Wernhart und Susanne Schwinghammer in ihren Vorworten betonen. Beide beschäftigen sich in ihrer Arbeit mit dem Spannungsfeld von Ritual und Theater, wo Theater nicht vom sozialen Aspekt zu trennen ist. Pfaff geht es nicht um eine definitorische Abgrenzung der Bereiche Theater und Ritual, es geht ihm um Wahrnehmung, um "den Bereich der unmittelbaren Erfahrung der Wirksamkeit ritueller Techniken und Instrumente am eigenen Leib". Auf anschauliche Weise berichtet er in seinem Beitrag Rituelle Realitäten I: Arbeit an Verfahren der Ritualisierung von der Forschungsarbeit und den Projekten des Parate Labor und warnt vor Dilettantismus und Scharlatanerie in diesem Bereich. "Theater und Ritual" zusammendenkend oder auseinanderdividierend, erfordert offensichtlich zunächst eine Festlegung der Begrifflichkeiten, denn auch Schechner nimmt zu Beginn seines Textes Die Zukunft des Rituals Stellung zur Definitionsproblematik. Die Vergangenheit des Rituals zeigt er anhand eines Baumdiagramms, führt dann über Girard, Goodman, Turner, Freud und Grotowski zu einer Zukunft des Rituals, die "die fortgesetzte Begegnung von Imagination und Erinnerung, übersetzt in machbare Handlungen des Körpers" ist. Der Körper ist auch Entscheidungskriterium bei der polarisierten Auseinandersetzung mit "Maschinen-Kunst". Einerseits wird das totale Verschwinden des Körpers diagnostiziert, andererseits für das Organische als dem Theater immanenter Aspekt plädiert. Guillermo Gomez-Peña wollte "neue Technologien verwenden, um die mythisch-poetische Interaktivität zwischen dem Performer und dem Publikum zu steigern". In seinem Beitrag Ethno-Cyborgs und genetisch konstruierte Mexikaner stellt er Projekte, die er gemeinsam mit Roberto Sifuentes erarbeitet hat, ausführlich und genau vor. Er führt in die Welt bzw. die Welten der Cyborgs ein, deren kreatives Potential durch Subversivität gekennzeichnet ist. Auch beschreibt Gomez-Peña die spannende Auseinandersetzung mit dem Publikum, das im Vergleich zu einem Live-Publikum wesentlich radikaler in die Performance einzugreifen wagt. Spezielle Einblicke Es ist nicht zu leugnen, daß noch immer von Randgebieten und Zentren gesprochen wird, weshalb es umso bedeutender ist, daß der Sammelband auch Beiträge von AutorInnen beinhaltet, die aus einer Perspektive außerhalb der sogenannten Zentren schreiben. Simo kritisiert nicht zu unrecht in seinem Artikel Theater in Afrika. Der Blick von Außen und von Innen den "ethnographischen Blick", der Kategorien und Begriffe zur Folge hat, mit denen auch jetzt noch Theaterwissenschaft in Afrika betrieben wird. Der ethnographische Blick ist bestimmt durch seine Außenperspektive und ist "weil er ein kolonialer Blick ist, oder zumindest erst durch die koloniale Situation möglich wurde, [.] ein paradoxer Blick". Simo fordert, um diesen Blick zu überwinden und um einen anderen Diskurs eingehen zu können, die ernsthafte Auseinandersetzung mit oral überlieferten Texten der afrikanischen Kultur. Diese müßten als "Rede" und nicht mehr nur als "Sprache" verstanden werden. Lamice El-Amari spricht sich in ihrem Artikel Bemerkungen zu den Theaterkünsten in der arabischen Welt ebenfalls gegen eine einseitige, respektive abendländische, Kategorisierung von theatralen Phänomenen aus. Sie widerlegt anhand zahlreicher Beispiele die allgemein akzeptierte Annahme, daß arabisches Theater erst begann, als Maroun El Naquash das europäische Theater im Jahr 1848 einführte. Die Argumentationen, die diese Meinung etablierten, sind teilweise äußerst absurd und werden von Lamice El-Amari auch als solche entlarvt. El-Amari vertritt hingegen den Standpunkt, daß "eine moderne Auseinandersetzung mit Theatergeschichte [.] bis hin zu den ersten kreativen Menschen: zu den Jäger-Tänzer-Malern von Altamira" reicht. Sie weist theatrale Phänomene, öffentliche Schauspiele, frühe Dramen, Shows etc. lange vor 1848 nach. In Kulturelle Dualität und deren Reflexion in den ländlichen und urbanen Gegensätzen des türkischen Theaters, ein Artikel von Aysin Candan, wird kurz und übersichtlich in das theatrale Geschehen der Türkei eingeführt. Candan zeigt vor allem die unterschiedlichen Tendenzen des sozialen Umfelds von Land und Stadt, die sich in den "bäuerlichen Spielen" und ihren "urbanen Gegenstücken" nach 1960 wiederfinden, auf. Ausblicke Jene in der Theaterpraxis diagnostizierten Aufbrüche müssen ihre logische Fortsetzung, aber auch ihre mutigen Vorwegnahmen in der theoretischen Beschäftigung mit Theater finden. Sei es auf der Suche nach passendem Werkzeug für Dokumentationen und Beschreibungen, sei es in der Entwicklung neuer Methoden. Interessante und innovative Beiträge dazu bringen Knut Ove Arntzen, Ulf Birbaumer, Jean-Marie Pradier, Susanne Schwinghammer und Monika Wagner. "Das Interesse westlicher Kunstwissenschafter und -kritiker an nicht-westlicher Kunst beschränkt sich im wesentlichen auf formale und ästhetische Aspekte der betreffenden Kunstwerke oder künstlerischen Darbietungen", kritisiert Monika Wagner in ihrem Text Performance. Berührungspunkte zwischen Bildender und Darstellender Kunst. Ganz abgesehen davon, daß Wagner einen interdisziplinären Ansatz schon innerhalb der Kunstrichtungen anstrebt, betont sie die Notwendigkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit Kunst und ein eingehendes Wissen um die gesellschaftliche Struktur, in der diese Kunst entsteht. Sie sieht KunstethnologInnen und TheaterwissenschafterInnen als Bindeglied und VermittlerInnen zwischen den Welten. Susanne Schwinghammer stellt in ihrem Beitrag TheaterEthnologie: Dekonstruktion einer Kunstauffassung einen Überblick der europäischen Theatergeschichte des 20. Jahrhunderts zusammen, in der sie als "durchgehendes Thema [.] die darstellerische Erforschung des Körpers durch die Integration interkultureller Impulse" feststellt und kritisiert, daß "in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft [.] ein[em] interkulturelle[n] und interdisziplinäre[n] Forschungsansatz, bis auf wenige Ausnahmen, bislang eine geringe Bedeutung beigemessen" wurde. Ihrem Verständnis nach müßten nicht-europäische Theatralitätsformen in ihrer Eigenständigkeit betrachtet werden. Dies fordert neue Forschungsansätze und Perspektivenwechsel, die zu einer notwendigen Dekonstruktion der europäisch geprägten Theater- und Kulturauffassung führen sollen. Einen derartigen und notwendigen Perspektivenwechsel bekundet auch Ulf Birbaumer, indem er Theaterwissenschaft und Ethnologie zusammendenkt. In Kreolisierung und Spektakelkunst unterstreicht er anhand einleuchtender und bekannter Beispiele der letzten Jahrzehnte die Potentialität, aber auch die Mißverständnisse von Theater im Kontext von Interkulturalität, Intermedialität und Intersoziabilität. Um die Bedeutung und Vorteile von Theater in diesem Zusammenhang besser herauszuarbeiten, schlägt er vor, "dem Polylog Begriffe wie Polymag und Polymim zuzugesellen, um die Unterschiede von T (Dramentext) und P (présentation, représentation, Aufführung) [.] noch zu verdeutlichen". Eine bislang absolute Steigerung dieses zuvor angedachten Perspektivenwechsels innerhalb der Theaterwissenschaft führt Jean-Marie Pradier mit seiner "Ehtnoszenologie" ein. Dieser Neologismus steht für die Vermeidung "jede[r] Art [von] ethno-zentristischer Anspielung auf das westliche Theatermodell" und für eine neue Disziplin, die sich durch ihre holistische Perspektive auszeichnet. Sehr ausführlich und einleuchtend erklärt er in Ethnoszenologie. Das Fleisch ist Geist den neuen Weg, "organised human performance practices - OHPP" zu untersuchen. Voraussetzung für eine holistische Arbeitsmethode ist es aber auch, Randgebiete wahrzunehmen und zu erkennen, daß diese die sogenannten Zentren mindestens genauso beeinflussen wie vice versa. Knut Ove Arntzen veranschaulicht in seinem Text Post-mainstream als geo-kulturelle Dimension von Theater, daß gerade Randgebiete Impulse für innovative Weiterentwicklung bieten. Ausgehend von einem interdisziplinären Ansatz entlehnt Arntzen Begrifflichkeiten aus der Geographie und beschreibt so die jüngsten Entwicklungen von Theater in Europa in bezug auf dessen nördliches Randgebiet. Seine Vorgangsweise begründet er damit, daß es "die Vorstellung einer geo-kulturellen Dimension erlaubt [.], über Verschiedenartigkeit in theatraler Kultur in Zusammenhang mit Ästhetik, Dramaturgie, Identitäten und Energien zu sprechen". Hakan Gürses arbeitet in seinem Text Theater und Identität die identitätsstiftende Funktion von Theater heraus. So konstatiert er symbolhafte, indikatorische Wirkung im Sinne einer nationalen Identitätsstiftung bei den Staatstheatern, während es sich bei Experimentaltheaterformen um ethnische Identitätsstiftung handelt. Gürses bemerkt allerdings eine Doppelbödigkeit im Umgang mit diesem Thema, Tabu bei gleichzeitiger Salonfähigkeit, sodaß er vermuten muß, daß das Ethno-Konzept mit Theater nicht viel zu tun hat. Er ist der Meinung, daß "Theater in dieser Politik der Identitäten und der Anerkennung nur als Vehikel verwendet werden kann/wird." Aufgrund der in ihren Ansätzen und Zugängen unterschiedlichen Beiträge wird die vielfältige und rege, sowohl künstlerische als auch wissenschaftliche Beschäftigung mit theatralen Phänomenen gezeigt. Allen gemeinsam ist der Wunsch nach und die Bereitschaft zu einem grundlegenden Perpektivenwechsel: Nicht um ein neues Zentrum zu etablieren, sondern um ein altes ein bißchen aufzubrechen.
In den 1840er-Jahren nehmen die Autorinnen des Vormärz zunehmend gesellschaftliche, politische und ökonomische Themen aus der von Umbrüchen geprägten Gegenwart in ihre literarischen Werke auf – allen voran das Phänomen der Massenverelendung, das das öffentliche Leben zwischen dem Schlesischen Weberaufstand (1844) und der Märzrevolution (1848) dominiert. Dabei schreiben die Autorinnen nicht nur über ein zeitgeschichtliches Thema, sondern auch gegen zugewiesene Begrenzungen und Beschränkungen an, denn sie sind einer zweifachen Marginalisierung ausgesetzt: Zum einen aufgrund ihres Geschlechts, und zum anderen aufgrund des Erzählgegenstandes. So haftet sowohl den Werken von Frauen als auch der Literatur über den Pauperismus der Verdacht der Minderwertigkeit an, und zwar aus demselben Grund: aus einer angeblich zu großen Nähe zum ,Leben', sei es aufgrund von traditioneller Geschlechterontologie oder aufgrund von allzu ,ungefilterter' Darstellung der Wirklichkeit in der Kunst. Als Antwort auf die auferlegten Begrenzungen entwickeln die drei untersuchten Autorinnen jeweils individuelle Modelle des Erzählens über das Elend. Für Louise Aston dient das Sujet des Liebesromans in Aus dem Leben einer Frau (1847) als ein ,Schafspelz', um brisante politische Theorien über den Pauperismus unter die Leserinnen zu bringen. Auch werden im Roman die Parallelen zwischen der Lage der Frauen und der Lage der Arbeiterschaft vorgeführt, da in der frühindustriellen Vormärz-Gesellschaft mit beiden wie mit Ware gehandelt werde. Louise Ottos Schloß und Fabrik (1846) ist ein Gesellschaftsroman, in dem sämtliche Lösungsszenarien für das Elend präsentiert, diskutiert oder in Szene gesetzt werden. Der Text ermöglicht insbesondere den Leserinnen, die zur damaligen Zeit von höherer Ausbildung und der Teilnahme am öffentlichen Leben ausgeschlossen waren, "spielend [zu] lernen", d. h. in der Sphäre der Phantasie Wissen über die Not zu sammeln, Denkweisen zu erproben oder sich in ein Leben in Armut einzufühlen. Bettina von Arnims Armenbuch (1844) bringt statistische Zahlenlisten, philosophische Denkschriften und ein Märchen in einer Gattungstriade zusammen. Von den behandelten Werken geht es in der ästhetischen Grenzüberschreitung am weitesten und ist darin auch in der gesamten Literaturproduktion der Zeit einzigartig. Besonders innovativ ist der biografisch-poetische Selbstentwurf des sozial engagierten Genies, der die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion, zwischen sozialem Engagement und politischem Handeln, zwischen Literatur und Leben durch einen kreativen Schöpfungsakt verschwinden lässt. Die Autorinnen greifen literarische Formen und Muster, die zum großen Teil mit dem Erwartungshorizont der damaligen Zeit zusammenhängen, in ihren Erzählwerken auf, unterminieren sie und gehen über sie hinaus. Häufig werden dabei überlieferte literarische Topoi – wie etwa das Bild vom bescheidenen Glück in den Hütten der Armen – als Wunschbilder entlarvt und es wird ein kritischer Blick auf die gesellschaftliche Ordnung gerichtet, die die extreme Not hervorgebracht hat. So führen das Einbringen von Wirklichkeit, bzw. ,Leben' in die Literatur und das Überschreiten von Begrenzungen dazu, dass die von Vormärz-Autorinnen verfassten Erzählwerke über das Elend ein innovatives Potential entfalten. ; In the 1840s, women writers of the Vormärz increasingly started including social, political and economic issues of contemporary history, which was marked by upheavals, into their literary works. The most prominent among them was the mass impoverishment phenomenon, which dominated public life in the years between the Silesian weavers' uprising (Schlesischer Weberaufstand, 1844) and the March Revolution (Märzrevolution, 1848). Women writers did not only write about a topic of the times, but they were also up against considerable restrictions and limitations, because they were subjected to a double marginalization: on the basis of their gender and of the narrative subject. Literary works written by women, as well as prose on the subject of pauperism, were labelled as substandard art, and essentially for the same reason: allegedly, because they were too close to 'life', whether this was based on traditional gender ontology or an 'unfiltered' representation of reality in art. As a response to imposed limitations, the three women writers examined in the thesis developed individual models of writing about pauperism. Louise Aston used the form of the love novel in Aus dem Leben einer Frau (1847) as 'sheep's clothing' to expose female readers to controversial political theories about poverty. Furthermore, the novel showed parallels between the position of women and the position of workers in the early industrial Vormärz society, since both were treated as commodities. Louise Otto's Schloß und Fabrik (1846) is a social novel (Gesellschaftsroman) that presented, discussed or set the scene for diverse solutions of the poverty problem. The text enabled especially the female readers, who did not have access to higher education and public life, to learn through play (''spielend lernen''), i. e. to acquire knowledge, try out ways of thinking and empathize with a life in need while in the realm of imagination. Bettina von Arnim's Armenbuch (1844) brings together statistical lists of numbers, philosophical think pieces and a fairy tale in a triad of genres. Of all the analyzed literary works, it goes the furthest in crossing aesthetic limitations, and it is also unique in the literary production of the whole era. The project of the biographical and poetical Self is particularly innovative, i. e. the socially engaged genius, which in an act of creation erases the borders between fact and fiction, social engagement and political action, literature and life. Women writers of the Vormärz took up literary forms and patterns mostly connected to the level of expectations of the times, undermined them in their narrative literary works, and went beyond them. In their texts, they would often use traditional literary topoi – e.g. an image of modest happiness in the huts of the poor – only to expose them as illusions and cast a critical gaze at the social order which was the cause of extreme misery. Therefore, the introduction of reality, i.e. 'life', into literature and the surpassing of limitations unfold the innovative potential in narrative works on poverty by women writers.
"Wenn es anderen Leuten bedauerlich scheine, daß eine immer größere Anzahl von Kindern keine Milch mehr bekomme, so scheine es ihnen [den Kunsthistorikern] bedauerlich, dass eine immer kleinere Anzahl von Leuten Kunstwerke bekomme. Es sei auch ihrer Ansicht nicht in der Ordnung, daß genauso wie die Bergwerke auch die Kunstwerke nur mehr einigen wenigen Leuten gehören sollten. So meinen sie und kommen sich soweit ganz revolutionär vor. […] In Wirklichkeit besteht nämlich zwischen dem Zustand, in dem hungernde Kinder keine Milch bekommen, und den Bildwerken und Plastiken ein tiefer und böser Zusammenhang. Der gleiche Geist, der jene Kunstwerke geschaffen hat, hat diesen Zustand geschaffen."[1] Der von Eva Knopf, Sophie Lembcke und Mara Recklies herausgegebene Sammelband Archive dekolonialisieren. Mediale und epistemische Transformationen in Kunst, Design und Film setzt an, einen solchen "bösen Zusammenhang" zu entschlüsseln. Basierend auf Beiträgen zur Tagung Translating Pasts into the Future – Dekoloniale Perspektiven auf Dinge der HFBK Hamburg setzt sich die Sammlung mit den kolonialen Fundamenten europäischer Museen, Archive und ihrer historiographischen Deutungsmacht auseinander. Es werden ästhetische, kreative und intellektuelle Verfahren besprochen, die es ermöglichen sollen zu "intervenieren in Fortschreibungen kolonialer Zusammenhänge" (S. 7). Die Autor_innen gehen der Leitfrage nach, inwieweit diese "strukturelle Verschiebungen auslösen" (S. 8) oder "neue Erzählungen hervorbringen" (S. 8). Der Fokus auf das Wissen der Objekte, die durch ihre Eigenschaft als Zeit- und Geschichten-Speicher der europäisch-wissenschaftlich ideologischen Modellierung ihrer Historiographie widersprechen und ihr andere Erzählformen entgegenstellen, zeichnet den Band aus. Viele Beiträger_innen fordern ein Mitspracherecht der Gegenstände als Zeug_innen kolonialer Gewalt, Enteignung und Ausbeutung. Verwendung und Anwendung des Archivbegriffs durch die Autor_innen leiten sich deshalb sowohl von konkreten Praxisbeispielen als auch von einem stark von Foucault geprägten Konzept des Archivs als sozial umgrenzten Speicherorts des Sagbaren und Sichtbar-Sein-Könnenden innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Milieus ab. Akademisches Schreiben wird von Text- und Bildkombinationen unterbrochen, die sich in Artikeln von Marie Kirchner, Anna Morkowska, Veronika Darian und Jana Seehusen als Transkriptionen von Performances und Experimentieren mit sprachlichen Möglichkeiten lesen. Schwellen-Texte, die zwischen akademischem und experimentellem Schreiben siedeln – von Ofri Lapid zu subversiven Lesetechniken von Schriftzeichen und Undine Stabrey zur Überwindung des Anthro-Kolonialismus, der auf andere Lebensformen dieses Planeten permanent übergriffig wird – lassen Passagen zwischen diesen Komponenten zu. Dem Gedanken folgend, dass jedes Archiv auch der Scherenschnitt seiner Lücken ist, integrieren die Herausgeber_innen einen ins Deutsche übersetzten Textausschnitt von Trinh T. Minh-Ha, der das Fehlen von Information durch Zensur in einen potentiellen Raum für rebellische Imagination transformiert. Die weiteren Schauplätze der Dekolonisierungs-Bemühungen umfassen eine Bandbreite von Archiven, die von ethnographischen Sammlungen über Film- und Musikarchive bis hin zum Körperwissen im Tanz reicht. Alyssa Großmann, deren Artikel den Auftakt des Buches darstellt, untersucht "ethnographische Archive, Kataloge und Lager" (S. 13), welche "Objekte in ideologisch begrenzten Kategorien gefangen" (ebd.) halten. Aus einer kunsthistorischen Perspektive betrachtet sie künstlerische Praktiken des Surrealismus wie 'Bricolage' und 'Assemblage' als aktuelle Strategien zur kolonialkritischen Auseinandersetzung mit Museumskollektionen. Hier wie im Großteil der Beiträge wird jedoch eine Hinterfragung der Zugänglichkeit dieser Sammlungen und Kataloge und damit eine klassenkritische Überlegung dazu, wer "zum Assembleur, zur Assembleurin werden und anhand eines in sich geschlossenen Inhalts mit dessen Form experimentieren" (S. 19) kann, ausgespart. Zwei Texte setzen sich aus jeweils entgegengesetzter Perspektive mit Filmarchiven der kolonialen Welt auseinander. Eva Knopf skizziert auf Grundlage ihres eigenen Filmschaffens die widerständigen Spuren von Majub Bin Adam Mohamed Husseins Alltags-Rebellionen in den Archiven der deutschen Kolonial- und NS-Bürokratie. Knopf fragt, ob es möglich sei, dem später als Statist beim deutschen Film arbeitenden Hussein "posthum seine erste Hauptrolle [zu] geben" (S. 83) bzw. "die Kolonisierten wieder in die 'große' Geschichte einzuschreiben" (S. 85). Sie übersieht jedoch, dass dies durch Hussein und viele andere längst geschehen ist: "Decolonization […] transforms spectators crushed with their inessentiality into privileged actors, with the grandiose glare of history's floodlights upon them"[2]. Aus einer tatsächlich dekolonialen Sichtweise heraus, muss die "große Geschichte" – so man daran festhalten will – also von wo anders angefangen, von anderen Stimmen erzählt werden. Cornelia Lund geht auf zwei Filmarchive der Befreiungskämpfe Palästinas und Guinea-Bissaus ein. Beide Archive haben innerhalb der vergangenen Jahre im deutschsprachigen Raum durch das Arsenal Institut für Film und Videokunst in Berlin einen relativen Bekanntheitsgrad erlangt. Eine Analyse dessen, wie bestimmte, machtvolle Institutionen die öffentliche Wahrnehmung bestimmter Archive formatieren (und die Grundlage des Wissens der Autorin zu großen Teilen konstituieren), fehlt auch an dieser Stelle. Daher bietet das Interview mit Mitwirkenden des Projekts Colonial Neighbours in Berlin indirekt Aufschluss über die Nachbarschaft (!) des Arsenals und die neokolonialen Verhältnisse des Sammelns. Sich diesen Strukturen zu widersetzen, heißt für Colonial Neighbours, das "Sammeln radikal zu öffnen" (S. 152), um gerechtere Praktiken des Archivierens zu erfinden und "gegenwärtige Erinnerungspolitiken in Bezug auf den deutschen Kolonialismus zu verändern" (S. 152). Marc Wagenbach und Holger Lund setzen sich mit dem Machtmissbrauch von Kulturinstitutionen Europas auseinander. Wagenbach untersucht das europäische Ballett als politisch aufgeladene Tanztradition, die als Institution und "Praktik zur Disziplinierung und Normierung von Körpern" (S. 200) rassistisches koloniales Gedankengut verankert und fortschreibt. Holger Lund benennt Kontinuitäten zwischen Zentrum und Peripherie in den Wertschöpfungsketten der Popmusikindustrie anhand konkreter Ungleichheiten in der Musik-Label Arbeit, wo "Europa und die USA […] immer noch zentrale Macht- und Entscheidungszentren" (S. 243) darstellen und "die nicht-westlichen Elemente nicht-westlicher Pop-Musik als exotischer Wert gleichsam kulinarisch genossen" (S. 245) werden. Zwei weitere Beiträge gehen auf Designgeschichte als bislang unzureichend in kolonialen Kontexten betrachtet ein, verharren jedoch bei einer Zusammenfassung mittlerweile standardisierter Theorien zu Nationalismus und Transnationalismus, Globalisierung und Postkolonialismus. Daher tut es dem Buch gut, mit einem Interview mit Ruth Sonderegger zur Kolonialialität der europäischen Ästhetik zu schließen. Denn wenn Sonderegger sagt, dass " [d]ie westliche Ästhetik seit ihrer Gründung eine – wie auch immer schräg verschobene – Auseinandersetzung mit imperial-kapitalistischen Verhältnissen" (S. 251) sei, dann verdeutlicht sie auch, dass das Buch selbst innerhalb dieser Klammern gelesen werden muss. Sie spricht gezielt einen "Kreativkapitalismus" (S. 255) an, dessen Ursprünge ebenfalls in einem auf Versklavung der 'Anderen' basierenden Wirtschaftssystem zu suchen sind. Dies stellt die Rhetorik des 'Dekolonialen' auf den Prüfstand. Denn während die Terminologie rund um Archive auf nachvollziehbare Weise offengelegt und dann angewendet wird, wirft die verwendete Begrifflichkeit hinsichtlich Dekolonisierung Fragen auf. Auch die im Titel verwendete Abweichung vom regulär gebrauchten Verb 'dekolonisieren', das in der deutschen Sprache definiert wird als "die politische, wirtschaftliche und militärische Abhängigkeit einer Kolonie vom Mutterland beseitigen, aufheben"[3], bleibt unbegründet. Es ist zudem auffällig, dass als häufigste und mitunter einzige Referenz zur Besetzung des Begriffs 'dekolonial' Walter Mignolo genannt wird. Nur vereinzelt wird zusätzlich Anìbal Quijano als der Vordenker von Mignolos Texten angeführt. Diese verkürzte Herleitung des Begriffs verschweigt nicht nur die Arbeit der Coloniality Working Group,[4] welche die Grundlage für Mignolos Publizieren erarbeitete. Sie radiert Geschichte, Gegenwart und Zukunft der antikolonialen Kämpfe, deren Theoretiker_innen wie Pratiker_innen aus. Sie bringt weitere Wortschöpfungen wie beispielsweise den in Alyssa Grossmanns Text aufkommenden Begriff des "gegen-kolonialen" (S. 14) mit sich. Ein derartiges Ignorieren der langen Geschichte des Antikolonialismus und seiner vielfältigen Widerstandsformen und -theorien in allen Bereichen des Lebens stellt einen performativen Widerspruch zu den rhetorischen Intentionen dar. Offengelegt wird der Widerspruch auch durch den bereichernden Beitrag von Sophie Lembcke zur Kunstgeschichte von Reproduktionen und Kopien im Kontext des Kolonialraubs. Ausgestattet mit detailliertem Hintergrundwissen zum Fall der Nofretete von Tell Al-Amarna, skizziert Lembcke eine koloniale Kontinuität, die in die aktuelle Digitalisierung der kolonialen Raubkunst durch das Neue Museum Berlin mündet, welches nun "als staatliche Institution nicht nur die Büste, sondern auch die Daten ihres Scans unter Verschluss hält" (S. 56). Auch das darauffolgende Interview mit Nora Al-Badri und Jan Nikolai Nelles kritisiert die von Konzernen wie dem Google Cultural Institute angetriebene "Verzerrung des kulturellen Gedächtnisses im digitale Raum" (S. 57), da diese Unternehmen mit staatlichen Museen zusammenarbeiten, um Archivbestände zu digitalisieren, welche dann theoretisch allen, in Wirklichkeit aber nur sehr wenigen Menschen zugänglich sind und "derzeit nur recht beschränkte, auf Konsumieren und digitales (Daten-)Sammeln ausgerichtete Anwendungen möglich" (S. 58) machen. Reale Dekolonisierung als Befreiung aus diesen Strukturen hat diese Machtzentren anzugreifen, wie es das Künstlerduo mit seinem Nefertiti Hack getan tat. Hier wird in der Zusammenschau der Artikel der fundamentale Unterschied deutlich zwischen jenen Interventionen, die gegen das gesamte Kolonialsystem in all seinen Verstrickungen aufbegehren, und solchen, die innerhalb einer dominanten Ordnung lediglich 'umordnen' oder 'transformieren'. "Decolonization, which sets out to change the order of the world, is, obviously, a program of complete disorder. But it cannot come as a result of magical practices, nor of a natural shock, nor of a friendly understanding"[5]. Ein freundliches Verständnis, wie es auch die Kunsthistoriker_innen bei Brecht zeigen, schafft für ein Denken Raum, welches an "dekoloniale Optionen" (S. 44, wieder in Referenz zu Mignolo) glaubt, ohne sich die Frage zu stellen, für wen Dekolonisierung eine "Option" sein und bleiben kann und für wen sie in Form von anti-kolonialem Widerstand immer schon eine Notwendigkeit des Über-Lebens war und ist. Ein freundliches Verständnis sieht denn auch die "Befreiungskämpfe der 1960er und 1970er Jahre" als "gescheitert" an (S. 164), deren Filmarchive folglich als "alternative institutionelle Ordnungsstruktur" und nicht als der einzige Ausweg angesehen werden. Dies macht es möglich, dass ein ins Deutsche übersetzter Text zur Dekolonisierung von Design mit offenkundig rassistischen Vokabeln arbeitete und von "Ethnien" und "verstreute[n] Völker[n] wie Juden und Roma" (S. 230) spricht. Dies alles hinterlässt nach Lektüre des Sammelbandes ein Unbehagen, das die Skepsis und Selbstkritik gegenüber der derzeit inflationären Verwendung des Dekolonialen im deutschen akademischen Sprachgebrauch stärkt. Verhält es sich nun mit der 'Dekolonisierung' als Worthülse der Ent-Schuldigung wie mit der 'Ent-Nazifizierung', damit "der gleiche Geist", der Kolonialismus und Faschismus gleichermaßen und immer schon gemeinsam am Leben hält, Stabilität und Sicherheit der Zustände garantiert in einer Zeit, in der sich mit den Geistern der kolonialen und anderen Weltkriege viel 'Geschäft' machen lässt? [1] Bertolt Brecht: "Über die Notwendigkeit von Kunst in unserer Zeit" [Dezember 1930]. In: Ders.: Über Kunst und Politik. Leipzig 1977, S. 34–35. Hervorhebung im Original. [2] Frantz Fanon: The Wretched of the Earth. New York 1963, S. 36. [3]https://www.duden.de/rechtschreibung/dekolonisieren, letzter Zugriff 29.09.2019. [4] Zur Arbeit der Coloniality Working Group siehe Coloniality's Persistence, Sonderausgabe von CR: The New Centennial Review 3/3, 2003. [5] Frantz Fanon: The Wretched of the Earth. New York 1963, S. 36.
Der Theaterwissenschaftler Manfred Brauneck erhielt 2010 den Balzan-Preis für seine umfassenden Forschungen zur Geschichte des Theaters in all seinen Ausdrucksformen. Gemäß den Statuten stiftete er die Hälfte des Preisgeldes einem Forschungsprojekt für Nachwuchswissenschaftler_innen und realisierte so zusammen mit dem ITI-Zentrum ein groß angelegtes Projekt, das sich mit der Rolle des freien Theaters im europäischen Theater der Gegenwart befasste. Das daraus entstandene Buch stellt Studien vor, die sich zum einen auf inhaltliche Schwerpunkte beziehen (Osteuropa, Migration, Postmoderne) und zum anderen theatrale Ausdrucksformen in den Blick nehmen (Tanz und Performance, Musiktheater, Kinder- und Jugendtheater). In seinem Vorwort legt Manfred Brauneck die Basis für alle in der Publikation angesiedelten Studien, indem er neben einer Einführung in die Begriffsproblematik 'Freies Theater'auch einen Überblick über Formen und Entstehung des freien Theaters seit den 1960er-Jahren gibt. Er widmet sich darin ebenso den bekanntesten Avantgardegrößen des 20.Jahrhunderts, die sich selbst noch nicht als Akteur_innen des freien Theaters bezeichneten, aber aufgrund ihrer nicht-institutionalisierten Produktions- und Arbeitsweisen dazuzurechnen sind. In der ersten Studie Für eine Topologie der Praktiken widmet sich die Choreographin und Philosophin Petra Sabisch vor allem statistisch gestützten Untersuchungen zur sozioökonomischen Arbeits- und Lebenssituation freier Künstler_innen im Bereich der experimentellen Tanz- und Performancekunst und deren kulturpolitischen Rahmenbedingungen. Ihre Bestandsaufnahme macht auf gravierende Missstände aufmerksam: Allgemein verzeichnen Kunstschaffende einen Einkommensverlust von 30 bis 40 Prozent im Vergleich zu den Vorjahren und Frauen verdienen noch einmal 30 bis 40 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. Ein solches Ungleichgewicht ist nicht nur in der Theaterarbeit zu verzeichnen, sondern auch in der vorliegenden Publikation, da viele Beiträge entweder gar nicht oder nur sporadisch gendern. Nach einer sehr umfangreichen und detaillierten Auflistung aller Studien, Materialien und Beiträge, die es zum Thema gibt, kommt Sabisch auf die künstlerischen Praktiken zu sprechen, auf die sich ihre Untersuchung bezieht. Doch es bleibt unklar, was diese Praktiken nun bedeuten, auch wenn sie sehr anschaulich beschrieben sind. Selbst in den vorangestellten Erklärungen zur Methodik der Studie findet sich keine klare Verortung. Andrea Hensels Untersuchung Das Freie Theater in den postsozialistischen Staaten Osturopas beschäftigt sich anhand exemplarischer Produktionen mit der Entwicklung des Theaters jenseits institutioneller Einrichtungen sowie mit den Rahmenbedingungen der freien Theaterarbeit. Zunächst nimmt Hensel eine geopolitische Unterscheidung zwischen den ehemaligen sozialistischen Volksrepubliken, den postjugoslawischen und den postsowjetischen Staaten vor. Es folgt ein Exkurs in den Bereich des Tanzes. Dabei konstatiert die Autorin, dass trotz ähnlicher politischer Entwicklungen seit dem Umbruch von 1989 sehr unterschiedliche Entwicklungen in der jeweiligen länderspezifischen Theaterszene zu verzeichnen sind. Zum Beispiel gab es durch die Sonderstellung Ungarns in den sozialistischen Republiken schon seit den 1960er-Jahren einen internationalen Austausch der Theaterszene sowie unabhängige Festivals. Seit 2010 hat der derzeitige Ministerpräsident Victor Orbàn diesen Entwicklungen erfolgreich entgegengearbeitet, hat massive Budgetkürzungen im freien Sektor vorgenommen und ausschließlich 'staatliche' (staatstreue) Intendanten an die Spitze von Theatereinrichtungen gesetzt. In Rumänien sah die Entwicklung anders aus, da unter der staatlichen Repression keine freie Theaterszene entstehen konnte und es erst seit den 1990er-Jahren langsam zur Formierung freier Künstler_innen und Kollektive kam. Auch innerhalb der postjugoslawischen Staaten beobachtet Hensel ganz unterschiedlichen Entstehungsprozesse der freien Szene. Ähnlich verhält es sich mit den postsozialistischen Staaten, wobei die Autorin hier auf die interessante Erschaffung des Novaya Drama eingeht, eine Art Theater, das sich als Mischform zwischen dem deutschen Dokumentartheater der 1960er-Jahre und dem britischen In-Yer-Face-Theatre versteht, indem es dokumentarisches Material sammelt, künstlerisch bearbeitet, zerschneidet und neu zusammensetzt. Eine Gruppe, die diese Ästhetik praktiziert, ist u. a. das regimekritische teatr.doc, das jedoch zunehmend Repressionen durch das derzeitige politische System in Russland erfährt. Das Produzieren in einem freien Kontext gestaltet sich in den untersuchten Ländern ebenfalls sehr unterschiedlich, aber allen ist gleich, dass die Produktions- und Präsentationsbedingungen der freien Gruppen und Künstler_innen prekär bleiben. Sie arbeiten überwiegend ohne eigene Spielstätte, müssen einen hohen administrativen Aufwand betreiben und sind immer noch oder erneut mit staatlicher Repression und ökonomischen Restriktionen konfrontiert. Der Dramaturg und Kulturforscher Hennig Fülle konzentriert sich in seinem Beitrag Theater für die Postmoderne in den Theaterlandschaften Westeuropas vor allem auf die verschiedenen Dimensionen postmoderner Theaterkunst und bezieht sich dafür auf die programmatische Publikationsreihe Theaterschrift, die von 1992 bis 1998 in 13 Ausgaben von einem Netzwerk europäischer Produktions- und Koproduktionsnetzwerke herausgeben wurde. Mit "independent theatre" (das er dem Begriff des "Freien Theaters" vorzieht) bezeichnet Fülle die seit den 1960er/70er-Jahren forschende Theaterkunst für ein heutiges Publikum, die auf ihre Zeit und den Zeitgeist bezogen ist und immer die gegenwärtige Wahrnehmung von Welt behandelt. Er beschreibt neue Ansätze in der Szenografie, in der Musik, zitiert Marianne van Kerkhovens Aufsatz über den Dramaturgen des neuen Theaters und beschreibt das Konzept des neuen Schauspielers, von dem nun mehr als nur die bis dato benötigte technische Qualifikation gewünscht wird. Dabei benennt Fülle zwei Ansätze bzw. Strömungen, die aus einem Impuls zur zeitgenössischen Erneuerung des Theaters entstanden sind: Zum einen beschreibt er Künstler_innen, die auf gesellschaftliche, politische oder kulturelle Entwicklungen reagieren und zum anderen Ansätze einer "kunstimmanenten" ästhetischen Forschung. Im Sinne einer immerwährenden Suche nach sich verändernden künstlerischen Haltungen gibt er mit Beispielen von SIGNA oder machinaEx einen Einblick in die Gegenwart von Kunstformen, die über den Kanon des postmodernen Theaters als kritische Kunst der Wahrnehmung hinausweisen. In ihrer Studie Theater und Migration versammelt Azadeh Sharifi neben einer Untersuchung darüber, wie artists of color allgemein in den künstlerischen Szenen der europäischen Länder eingebunden und repräsentiert sind, Gruppen, Künstler_innen und Projekte, die in diesem Sinne positiven Einfluss auf den Theaterdiskurs genommen haben, wie u.a. das Ballhaus Naunynstraße, Nurkan Erpulats Verrücktes Blut, Jonas Hassen Khemiris dramatisches Schreiben, God's Entertainments Interventionen im öffentlichen Raum oder auch das WUK Wien und die ehemalige Garage X in Wien. Sharifi untersucht anhand von Beispielen wie dem Roma-Theater, dem deutsch-sorbischen Volkstheater oder dem Jüdischen Theater Berlin, das Selbstrepräsentation ermöglichende Theater für Minderheiten, in Abgrenzung zu einem migrantischem Theater, dessen Thema vielmehr die Differenz in der Gesellschaft ist. Insgesamt liest sich die Studie schon etwas veraltet, weil es inzwischen – und das nicht nur durch die Besetzung Shermin Langhoffs als Intendantin des Maxim-Gorki-Theaters – zahlreiche Entwicklungen in der deutschen Theaterlandschaft gibt, die den defizitären Beschäftigungsverhältnissen migrantischer Künstler_innen durch Arbeistverträge an staatlich subventionierten Häusern entgegenzuwirken versuchen. In ihrer Untersuchung Freies Kindertheater in Europa seit 1990 unternimmt die Autorin Tine Koch den Versuch, Entwicklungen, Potentiale und Perspektiven innerhalb des zeitgenössischen europäischen Kindertheaters nachzuzeichnen. Darin beschreibt sie zum einen, dass die Grenzen zwischen dem Erwachsenen-, Kinder- und Jugendtheater verwischen und die Generationenräume fließender werden, dass es vermehrt Tendenzen zu genre- und disziplinübergreifenden Arbeiten gibt, Kinder zunehmend als Partner in künstlerischen Produktionen aktiv werden und die Allerkleinsten als Zielgruppe im Kindertheater entdeckt wurden. Sie unterscheidet nach Carmen Mörsch zwischen einem affirmativen Ansatz des Kindertheaters, der als Generierung der zukünftigen Zuschauer_innengeneration im Stadttheater anzutreffen ist und dem kritisch-dekonstruktiven und transformativen Ansatz der freien Kindertheaterszene, der die gesellschaftliche Emanzipation fördert. Sehr interessant lesen sich ihre Ausführungen über die sogenannte "arts education", die unterschieden wird in "education through the art" (extrinsisch, Bildung durch das Kunstanschauen) und "education in the arts" (intrinsisch, ästhetische Erfahrung). Dabei ist ihre Conclusio, dass zunehmend Wert auf "education through the arts" gelegt wird, nämlich den Erwerb von Schlüsselkompetenzen durch kulturelle Bildung, um das Zielpublikum auf zukünftige gesellschaftliche Erwartungen (u. a. am Arbeitsmarkt) vorzubereiten. Die Erfahrungen, die Kinder nur für sich innerhalb eines Kunsterlebens machen können und sollen, geraten zunehmend in den Hintergrund. Die durch die UNESCO festgelegten Qualitätsparameter für kulturelle Bildungsprozesse (Teamwork, lokaler Kontext, prozessorientiertes Arbeiten auf Basis künstlerisch-kreativer Recherchen) sind aufgrund der zunehmenden finanziellen Unterversorgung des freien Kindertheaters nicht mehr sicherzustellen. Mit Spielarten des freien Musiktheaters in Europa beschäftigt sich Mattias Rebstock, der die nur unzulängliche Sichtbarkeit der freien Musiktheaterszene damit erklärt, das bisher keine Studien dazu existieren, es keine empirischen Untersuchungen zu Akteur_innen oder Publikum gibt, keine Verbandstätigkeit vorliegt und allenfalls eine sporadische internationale Vernetzung zu verzeichnen ist. Dieser Bereich muss als zusammenhängendes Forschungsfeld erst erschlossen werden. In seinem Beitrag versucht Rebstock Ansätze zu formulieren, wie man das Feld des freien Musiktheaters in Europa kartographieren könnte. U. a. bezieht er sich dabei auf Diskurse wie die small scale operas, Opernbearbeitungen, neue Oper/neues Musiktheater, das musikalisierte Theater und das szenisch/inszenierte Konzert. Insgesamt verschafft die vorliegende Publikation einen sehr umfassenden Einblick in die Entwicklung des freien Theaters vor dem Hintergrund der sich seit Beginn der 1990er-Jahre vollziehenden Strukturveränderungen der Theaterlandschaft in Europa. Und es ist ein großer Verdienst der Herausgeber_innen und Autor_innen, dass darin den unterschiedlichen Spielarten zeitgenössischer künstlerischer Ausdrucksformen in gleichem Maße Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Rosi Braidottis Deliberation über das Posthumane ist angesichts gegenwärtiger Bewegungen in den Geistes- und Kulturwissenschaften – oder, um den von der Autorin bevorzugten Begriff ins Treffen zu führen: den 'Humanities' – keine Zufälligkeit; vielmehr entspricht sie haargenau einer umfassenden Dynamik, die sich vor allem im anglo-amerikanischen Kontext seit einigen Jahren rapide und reich entfaltet: nämlich einer affirmativen Abkehr vom Menschen als dem Maß der Dinge, dem Nonplusultra aller Aneignung von Geist und Welt. Die Konsolidierung des Fachs 'Animal Studies', die hohe Konjunktur des Begriffs der Ökologie im Theoretischen, die Hinwendung zu sogenannten 'objekt-orientierten' Ontologien mögen diese Tendenz symptomatisch charakterisieren. In diesem Sinne schreibt sich Braidotti in ein weites Feld posthuman(istisch)er Forschungsanstrengung ein. Die Autorin selbst, wollte man eine Schublade für ihr Werk bereithalten, würde sich am ehesten das Etikett des 'Neo-Materialismus' gefallen lassen: Eine Denkbewegung mit stark feministischer Schlagseite, die für gewöhnlich mit den Namen Elizabeth Grosz, Jane Bennett, Karen Barad und Manuel De Landa assoziiert wird. Die Motivation dahinter besteht darin, Materie in ihrem auto-poietischen Charakter, also in ihrer unabhängigen, physischen Entfaltung zu denken. Nicht umsonst verweist Braidotti, im Rechtfertigen ihres Tuns, gerne auf die sogenannte 'Gaia-Hypothese' (S. 84), derzufolge, zurückgehend auf Lynn Margulis und James Lovelock, die Biosphäre als selbstorganisierter Lebenszusammenhang begriffen wird, innerhalb dessen einzelne Lebensformen nur in Relation zu den jeweils übrigen vorgestellt werden können. Welcher Name philosophiegeschichtlich für diese Art von Argument geradezustehen hat, liegt auf der Hand: Spinoza. Und zwar ein durch das jüngere französische Denken gefilterter. So versteht sich Braidotti zunächst als Schülerin von Deleuze und Foucault – und, durch die interpretativen Linsen des Ersteren hindurch – als Auslegerin des spinozistischen Immanenzgedankens: "The 'Spinozist legacy' […] consists in a very active concept of monism, which allowed these modern French philosophers to define matter as vital and self-organizing, thereby producing the staggering combination of 'vitalist materialism'. Because this approach rejects all forms of transcendentalism, it is also known as 'radical immanence'" (S. 56). Die berühmte Frage des Althusser-Schülers Pierre Macherey, 'Hegel oder Spinoza?', entscheidet sich bei Braidotti demnach zweifellos zugunsten des Letzteren – die Arbeit der Theorie müsse sich heute von der Einheit der Substanz und der Multitude ihrer lebendigen Ausdrücke, vor deren Hintergrund die Einmaligkeit des Menschen radikal an Boden verliert, her bestimmen. Das Fragwürdig-Werden des Menschen als Brennpunkt unseres Weltverständnisses ist dabei natürlich keine revolutionäre Nouveauté. Spätestens seit Heideggers "Brief über den Humanismus", in dem Jean-Paul Sartre höflich aber bestimmt ausgerichtet wird, dass der Existenzialismus eben kein Humanismus sein könne, arbeitet sich die Kontinentalphilosophie am Abschied vom Menschen ab. So folgten auf Heidegger Foucaults 'Ende' und Derridas 'Enden des Menschen', in jüngerer Zeit etwa Peter Sloterdijks Menschenpark-Fantasie und Donna Haraways Mediationen über den Cyborg-Charakter des Lebendigen; mit Judith Halberstam, Ira Livingston (Posthuman Bodies) und N. Katherine Hayles (How We Became Posthuman) erfuhr das Posthumane in den 1990er-Jahren schließlich seine begriffliche Prägung. Warum sie ihren Gegenstand dennoch als ganz zeitgeistig und dringend begreift, erklärt Braidotti im ersten Viertel ihres Traktats, worin gefordert wird, das Neinsagen einzustellen und über die Humanismus-Kritik des 20. Jahrhunderts noch ein Stück weit hinauszugehen: "Posthumanism is the historical moment that marks the end of the opposition between Humanism and anti-humanism and traces a different discursive framework, looking more affirmatively towards new alternatives" (S. 37). In dergestalt effektvoller Assertorik kommt der deleuzianische Spinozismus, durch den sich dieser Text animiert sieht, unumwunden auf seine Kosten. So firmiert 'Affirmation' – und zwar durchweg – als jene Kampfvokabel, in die Braidottis gesamte Argumentation ihr unbeschränktes Vertrauen investiert: Wo sich endlich die Epoche dekonstruktiver Melancholie ihrem Ende zuneigt, kann Politik als Handlung wieder bejaht werden – doch Handlung braucht, per definitionem, ein Subjekt. Genau dieses versucht die Autorin aus den Überresten des, nach den legitimen Anschlägen der anti-humanistischen Kritik, in Trümmern liegenden humanistischen Wertegerüsts zu retten. Zwischen dem humanistischen Angebot einer subjektiven Ipseität, die eher modellhaft ausschloss als dass sie eine menschliche Gemeinschaft beschwor (und letztlich die radikale Unterdrückung aller geschlechtlichen, rassischen, ökonomischen etc. Abweichungen vom europäischen weißen Mann programmatisch mit sich führte), und seiner ersatzlosen Abschaffung, soll demnach eine dritte Option sich auftun – eine Art von Subjektivität, die keinen universalen Standard ins Recht setzt, sondern sich relational (Deleuze würde schreiben 'transversal') vorstellt, das heißt: als differentieller Bezugspunkt inmitten der Multiplizität von Lebensformen unseres ökologischen Zusammenhangs. "Posthuman subjectivity expresses an embodied and embedded and hence partial form of accountability, based on a strong sense of collectivity, relationality and hence community building" (S. 49). Die Lücke, die diese feierliche Einsetzung einer neuen Handlungsmacht offen lässt, bezieht sich dabei auf das 'Wie' des Umsetzens. Politik als Handlung bedarf einer strategischen Disposition, zumindest eines Plans, der Richtung und Vorgehen determiniert. Weil Braidottis Gedankengang sich an diesem Dilemma der Praxis vorbeizustehlen scheint, entsteht eine unweigerliche Ratlosigkeit darüber, auf welche Weise sich das posthumane Subjekt denn nun konkret manifestieren soll. Noch diffiziler wird der Status dieser Subjektivität, wenn nach der Umwelt gefragt wird, innerhalb derer ihre Realisierung statt hat. Braidotti schlägt vor, einen singulären, allumfassenden Lebenszusammenhang zu denken, der sich in seinem Zentrum nicht mehr auf die Figur des Menschen als 'anthropos' hin zuspitzt; stattdessen soll das Leben selbst als kreative Kraft affirmiert werden, die den Rahmen der Spezies übersteigt, um den kosmischen Zusammenhalt an sich zu garantieren: "As a brand of vital materialism, posthuman theory contests the arrogance of anthropocentrism and the 'exceptionalism' of the Human as a trancendental category. It strikes instead an alliance with the productive and immanent force of zoe, or life in its non-human aspects" (S. 66). 'Zoe', der griechische Term für eine Lebendigkeit, die allen Lebewesen gemeinsam ist, wird von der Autorin in Stellung gebracht, um den verbrauchten, anthropozentrisch justierten Begriff des 'Bios' abzulösen (womit auch eine Substitution des foucaultschen 'biopouvoir' durch eine vitalistische 'Zoe'-Politik einhergeht). Dem posthumanen Subjekt inhäriert mithin ein Solidaritätsverhältnis der Arten untereinander, die Teilhabe an einem produktiven Lebensprozess, der mehr ist als bloß menschlich. Jedwedem Naturalismusverdacht soll dabei allerdings postwendend der Wind aus den Segeln genommen werden, da Braidotti die Effekte der Technik selbst dem monistischen Relationsgeflecht der Lebensressourcen zuschreibt. Was nichts anderes bedeutet, als dass das technologische Artefakt der Physis nicht mehr gegenübersteht, sondern selbst als intelligent und vom generativen Lebensprozess beseelt verstanden wird. Damit geht der Zusammenbruch der Natur-Kultur-Distinktion einher, die sich in das Kontinuum eines einzigen energetischen Kontexts, in welchem natürlicher und technischer Substanzsausdruck ineinander übergehen, auflöst: "A rather complex symbiotic relationship has emerged in our cyber universe: a sort of mutual dependence between the flesh and the machine" (S. 113). Allein, bei aller Emphase für den medial-technischen Charakter der von ihr vorgeschlagen relationalen Subjektivität wehrt sich Braidotti vehement, den Immaterialitätsphantasien des Transhumanismus nachzugeben und betont wiederholt die unabweisbare Körperlichkeit ('embodiment') des Lebendigen. Nicht zuletzt, reflektiert Braidotti im letzten Teil des Buchs, nimmt die posthumane Kondition die Arbeit der Universität in die Pflicht. Die traditionellen Geistes- und Kulturwissenschaften, die sich – der anglo-amerikanische Begriff der 'Humanities' lässt da keine Zweifel aufkommen – vom gesicherten Status des Subjekts Mensch her derivieren, riskieren ihre absolute Geltungseinbuße, gelingt es nicht, den disziplinären Anthropozentrismus zu brechen und zugleich das Nachmenschliche auf den zeitgemäßen Begriff zu bringen: "As a vitalist and self-organizing notion of 'matter' comes to the fore, the Humanities need to mutate and become posthuman, or to accept suffering increasing irrelevance" (S. 147). Ein Festhalten an den rigiden Grenzen der klassischen Disziplineneinteilung sei dabei mindestens kontraproduktiv, wenn nicht gefahrvoll. Um den Geist der Zeit zu fassen bedarf es einer grenzüberschreitenden Begriffsarbeit, die Braidotti vor allem in den am akademischen Rand florierenden 'Studies'-Formationen realisiert sieht (vgl. das gegenwärtige Interesse an den erwähnten 'Animal Studies', 'Disability Studies', 'Critical Science Studies', 'Extinction Studies' etc.) – das heißt in dynamischen Denkfeldern, die flexibler manövrierbar und methodisch offener sind als das traditionelle Fach es zulässt. Damit einher geht die vehemente Forderung der Autorin nach einer Neudefinition (besser: einem Sich-neu-etablieren) des Verhältnisses zwischen Geistes- und Naturwissenschaften. Dass Braidotti dem nüchternen Titel The Posthuman keinen Untertitel beifügt, gibt dem Werk eine enzyklopädische Note und kreiert den Eindruck, der Diskurs über das Nachmenschliche sei hier ganz konvenient eingerahmt und auf den Punkt gebracht worden. Während es zutrifft, dass die Autorin sich sehr bemüht zeigt, etwas wie eine posthumanistische Ideengeschichte möglichst umfassend wiederzugeben, darf dabei nicht übersehen werden, dass sich Braidotti einem spezifischen philosophiepolitischen Programm verschreibt, das im Lichte eines post-marxistischen Materialismus alles daran setzt, den 'Linguistic Turn' zu Grabe zu tragen: "The posthuman subject is not postmodern, because it does not rely on any anti-foundationalist premises. Nor is it post-structuralist, because it does not function within the linguistic turn or other forms of deconstruction" (S. 188). Was dabei unbeantwortet bleibt, ist die Frage, wie eine Theorie des Posthumanen an gesellschaftlicher Relevanz gewinnen soll, wenn sie die Analyse der Sprache – unhintergehbares Moment jedwedes Repräsentationsprozesses – dem Nichts überlässt.
Stell dir vor, du könntest die Gesellschaft verändern – was würdest du tun? Vor dieser Frage standen im Sommer 2019 neun jugendliche Filmgruppen aus Bayern. Ihre Antworten auf diese und weitere Fragen des demokratischen Zusammenlebens gaben sie in PARLAMENSCH, einem filmischen Planspiel mit hohem Partizipationsanteil und viel künstlerischer Freiheit. Im Folgenden sollen nun am Beispiel von Parlamensch das filmische Planspiel als Methode kollektiven, digitalen Storytellings modellhaft skizziert und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten wie auch Problematiken diskutiert werden.
Das filmische Planspiel als Methode digitalen Storytellings am Beispiel von PARLAMENSCH Thomas Kupser und Jonas Lutz Der junge Bürgermeister ist sichtlich wenig angetan von Z-241-35, dem Neustrukturierungsprogramm der Bundesregierung eines fiktiven Deutschlands der näheren Zukunft. Er, der sich monatelang mit den Problemen der Gemeinde befasst und ein halbes Jahr Wahlkampf betrieben hat, soll nun durch Losverfahren die Macht erhalten Gesetze zu erlassen?! "Das ist doch keine Demokratie!" schnaubt er, zerreißt wutentbrannt das Schreiben und macht kehrt. Während ihm ein Abgeordneter noch ratlos hierherblickt, sinken die letzten Fetzen der Legitimation langsam zu Boden. Der Startschuss Um den Grund für die Aufregung des Bürgermeisters besser nachvollziehen zu können, müssen wir zwei Schritte zurück nach München in das Frühjahr des Jahres 2019 machen. Dort trafen sich im Pixel – Raum für Medien, Kultur und Partizipation acht jugendliche Filmemacher*innen aus der Region, um angeleitet von Thomas Kupser (JFF – Institut für Medienpädagogik) über das Szenario eines filmischen Planspiels zu debattieren. Vorgaben gab es nur wenige, das Planspiel sollte eine Kooperation von Filmgruppen aus ganz Bayern darstellen und möglichst in Eigenregie realisiert werden. Geplantes Endresultat: eine dreiteilige Webserie. Der Weg dahin: noch ungewiss, Ausgang offen. Das Ausgangszenario PARLAMENSCH spielt in einem fiktiven, dem heutigen Deutschland sehr ähnlichen Staat in naher Zukunft. Kultur, Wirtschaft und Politik stagnieren. Die Gesellschaft ist unzufrieden und wird immer unruhiger. Etwas muss sich ändern. Die Regierung fasst einen Notfallplan: Zwanzig zufällig ausgewählten Bürger*innen, die unterschiedlicher kaum sein könnten, wird Souveränität verliehen: Sie können entweder ein Gesetz erlassen oder über ein Budget verfügen. Es gibt nur eine Vorgabe: Ihr Handeln muss die Gesellschaft voranbringen. Die Auserwählten werden von der Regierung mit einem Brief über ihre Aufgabe informiert. Dieses Szenario wurde zusammen mit einer bunten Auswahl verschiedener Charaktere sowie einigen organisatorischen Informationen ausgeschrieben und im Sommer 2019 von neun Filmgruppen im Alter von 16 bis 24 Jahren aus ganz Bayern bearbeitet. Im Endergebnis entstand die erste Staffel einer dreiteiligen Webserie, die am 25. Oktober ihre feierliche Premiere im NS-Dokumentationszentrum in München feierte. Das filmische Planspiel im Unterschied zum analogen Die Bundeszentrale für politische Bildung bpb beschreibt Planspiele als "eine handlungsorientierte Lehr- und Lernmethode, die sich wie kaum eine andere zur Vermittlung politischer Zusammenhänge eignet" und deren "Hintergrund ein Szenario [bildet], das fiktiv oder dem aktuellen politischen Geschehen entlehnt sein kann" (bpb 2015). Innerhalb dieses Szenarios "übernehmen [die Teilnehmenden] die Rollen von Akteuren und spielen die durch das Szenario vorgegebenen Verhandlungs- und Entscheidungsprozesse nach". Das Planspiel erstreckt sich hierbei auf vier Phasen: Vorbereitung, Einführung und Rollenvergabe, Spielphase und Nachbereitung. Überführt man diese Vorgaben nun auf ein filmisches Planspiel, so ergeben sich in jeder Phase Änderungen, es verbleiben aber auch einige Gemeinsamkeiten. Beide sollen nun exemplarisch erörtert werden, der Schwerpunkt liegt hierbei auf der Phase, in welcher sich wohl die größten Unterschiede zeigen: der Spielphase. Am Anfang eines jeden Planspiels steht die Konzeption. In dieser werden die Rahmenbedingungen erdacht und festgelegt. Hierunter fallen auszugsweise das Szenario, die Charaktere und natürlich auch die Zielgruppe. Während sich beim Szenario und den daraus resultierenden Charakteren nicht zwangsläufig Unterschiede ergeben müssen, so wird bei der Zielgruppe eines politischen und filmischen Planspiels, neben dem politischen Vorwissen, ein gewisses filmisches Vorwissen vorausgesetzt. Hierunter fällt sowohl technisches Wissen (sowie der Zugang zu Filmtechnik) als auch kinematographisches Wissen in Form von Inszenierung und Storytelling. Dieses muss entweder als vorhanden vorausgesetzt oder im Vorfeld vermittelt werden. Hieraus ergibt sich für die Teilnehmer*innen eine spürbar höhere Mitmachschwelle im Vergleich zum analogen, politischen Planspiel, welches zwar politisches, aber sonst kein spezielles Vorwissen außerhalb des Szenarios erfordert. Hinter PARLAMENSCH stehen die Idee, jungen Menschen eine Filmförderung zukommen zu lassen sowie das Vorhaben, mit möglichst vielen jugendlichen Akteuren gemeinsam an einer filmischen Auseinandersetzung zum Thema Demokratie zu arbeiten. Hierbei gab es kein Drehbuch oder einen konkreten Rahmen, sondern lediglich ein grobes Konzept sowie das Ziel, eine Bühne für jugendliche Filmemacher*innen zu kreieren. Im Bereich der Einführung und der Rollenvergabe lassen sich im Vergleich von analogem und filmischem Rollenspiel keine charakteristischen Unterschiede feststellen. Die Einführung der Filmgruppen in das Projekt erfolgte durch eine Ausschreibung. Diese bestand aus zwei Dokumenten: Einer mehrseitigen Projektbeschreibung, sowie einem vermeintlich offiziellen Brief der Regierung, welcher auch im Storytelling von PARLAMENSCH ein entscheidendes, wiederkehrendes, erzählerisches Mittel darstellen sollte. Zusätzlich wurde mit jeder interessierten Filmgruppe ein persönliches Telefonat geführt, in welchem Fragen beantwortet und das Szenario erneut erklärt sowie auf wichtige organisatorische Aspekte hingewiesen wurde. Die Auswahl der Charaktere erfolgte durch die Filmgruppen selbst. Sie hatten freie Wahl aus einem Pool von etwa 20 vorgegebenen 'Auserwählten', konnten aber auch eigene Vorschläge einreichen. In der Spielphase zeigen sich die größten und bedeutsamsten Unterschiede im Vergleich zum analogen Planspiel. Während bei diesem das Spielen durch die Teilnehmenden selbst geschieht, in dem diese in Rollen schlüpfen und innerhalb des Szenarios agieren, übernehmen die Teilnehmenden im filmischen Planspiel eine gestaltende, erzählerische Funktion. Sie spielen nicht unmittelbar einen Charakter, sondern sie lassen diesen Charakter im Rahmen einer, durch das Szenario, die Charakterzeichnung sowie auch das Drehbuch bestimmten Rolle agieren. Charakter und Teilnehmer*in sind somit nicht mehr eine Person. Im Vergleich zum analogen Planspiel wird dem Konstrukt des filmischen Planspiels durch die Filmgruppe eine weitere administrative Ebene hinzugefügt: Während normalerweise die Organisator*innen des Planspiels über die Teilnehmenden wachen, wachen beim filmischen Pendant die Organisator*innen über die Filmgruppe, die dann wiederrum über ihren Charakter 'wacht'. Ebenfalls ein wichtiger Unterschied: Beim analogen Planspiel können die Organisator*innen in das Geschehen eingreifen und moderieren. Beim filmischen Planspiel ist dies bei realistischer Betrachtung nur vor dem Dreh möglich. Mit der ersten gefallenen Klappe übernehmen die Filmgruppen das Zepter des Handelns und übergeben dieses erst wieder mit dem fertigen Film. Somit wird der Filmgruppe auch eine große Verantwortung übertragen. Wie groß diese Verantwortung ist, hängt auch vom Grad der Partizipation ab. PARLAMENSCH verstand sich als ein Projekt, das hauptsächlich durch die Jugendlichen gestaltet werden sollte. Die Ausgestaltung der Spielphase wurde somit in die Hand der Filmgruppen übergeben und nur durch wenige, rahmengebende Faktoren, wie beispielsweise Laufzeitbeschränkungen, limitiert. Dies äußerte sich bereits bei der Entwicklung des Ausgangsszenarios und fand seine Fortsetzung in der Charakterwahl. Abgesehen von einer groben Bezeichnung, wie der eingangs erwähnte 'junge Bürgermeister', der auch eine junge Bürgermeister*in hätte sein dürfen, wurden keine weiteren Vorgaben gemacht. Die Charakterentwicklung wurde vollständig in die Hand der Teilnehmenden übergeben. Diese Gestaltungsfreiheit setzte sich auch beim Filmdreh fort: Genre, Drehbuch, Thema – all diese und weitere Faktoren wurden durch die Filmemacher*innen festgelegt. Diese Freiheiten äußerten sich auch in den filmischen Ergebnissen: Von Experimentalfilm bis hin zur Instagram-Story waren verschiedenste Erzähl- und Inszenierungsformen vertreten. In der abschließenden Phase des Planspiels, in welcher Projektergebnisse präsentiert und reflektiert werden, lassen sich teilweise charakteristische Unterschiede festhalten. Diese zeigen sich vor allem in der Ergebnispräsentation, die im filmischen Planspiel den Moment beschreibt, in welcher die Filmteams erstmals ihre Werke und die der anderen Gruppen im filmischen Gesamtgefüge zu Gesicht bekommen. Außerdem werden durch den mehrschrittigen Schaffensprozess von der Idee zum Drehbuch zum Film im Vergleich zum analogen Planspiel weitere Reflexionsebenen hinzugefügt. Die Ergebnisse von PARLAMENSCH wurden im Rahmen einer feierlichen Premiere im NS-Dokumentationszentrum in München vor Publikum präsentiert. Anwesend waren alle Filmgruppen, Organisator*innen, die Presse und externe Interessierte. Im Anschluss an die Premiere luden die Organisator*innen die Filmgruppen zur Diskussion der ersten und Planung der zweiten Staffel ein. Digitales Storytelling am Beispiel von PARLAMENSCH Aufgrund der hohen Gestaltungsfreiheit und dem Übertragen von inhaltlichen wie inszenatorischen Entscheidungen an die jugendlichen Teilnehmer*innen zeigt sich die erste Staffel von PARLAMENSCH sehr vielseitig. Dies äußert sich in der Wahl des Genres, der Art der filmischen Inszenierungen, in den Erzählformen und auch in den behandelten Themen. In diesem Kapitel sollen die unterschiedlichen Herangehensweisen der Filmgruppen beschrieben, der Einfluss von Lebenswelt und jugendlicher Popkultur analysiert und wiederkehrende Muster interpretiert werden. Von Nerds und Agenturen Die Filmgruppen konnten aus über 25 verschiedenen Charakteren auswählen oder, nach Absprache, ihre eigenen Auserwählten schaffen. In ihrer Auswahl waren sie dabei sehr frei und nur durch die der anderen Filmgruppen beeinflusst – jeden Charakter gab es nur einmal. Die Auswahl fiel auf folgende Charaktere: Rentner, Technikjünger, Kiffer, junger Bürgermeister, Obdachloser, Influencerin, 18-Jähriger, Modedesignerin und eine Agentur. Hierbei wurden sechs vorgegebe Charaktere und drei Wunschcharaktere (Influencerin, Modedesignerin und Agentur) ausgewählt. Ein Planspiel ermöglicht das Ausprobieren von Rollen und Kontexten, die dem jugendlichen Alltag sonst eher fern sind. Diese Möglichkeit wurde teilweise genutzt, tendenziell wählten die Filmgruppen jedoch eher jugendliche Charaktere oder versetzten altersunabhängige Charaktere wie beispielsweise den Kiffer oder den Technikjünger in ein jugendliches Alter. Ob dies dem Alter der verfügbaren Darsteller*innen geschuldet war oder ob es sich hierbei um eine bewusste Entscheidung handelte, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Festzuhalten bleibt jedoch, dass die Auserwählten tendenziell eher im Jugendalter waren. Experimentierfreude und Tradition Eine Betrachtung der ausgewählten Genres zeigt eine Zweiteilung in Experimentalfilm und Spielfilm: Drei Filmgruppen wählten eine experimentelle Herangehensweise und fünf Filmgruppen erzählten ihre Geschichte in eher klassischer Spielfilmmanier. Ein Filmteam bewegt sich zwischen beiden Polen und bedient sich beider Spielarten. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit allen Episoden würde an dieser Stelle sicherlich zu weit führen, daher sollen nun exemplarisch drei Episoden skizziert werden, um einen Einblick in die unterschiedlichen Genres und die inszenatorische Herangehensweise zu geben. Die Filmgruppe 'Agentur' schuf einen Werbespot für eine Agentur, der die Auserwählten ihre Legitimationen und somit auch ihre Verantwortung übertragen konnten. Diese Episode ist sehr experimentell gestaltet. Vor düsterer Raum- und Soundkulisse wiederholt das Agentur-Duo beinahe mantraartig Aufforderungen an die Zuschauenden, ihnen ihre Legitimation zu überschreiben. Dabei wird viel mit Projektionen wie beispielsweise Flammen gearbeitet, unter denen sich ein Darsteller unter Schmerzen windet. Aufgelöst wird das düstere Szenario durch einen Stimmungswechsel: Die Farben werden heller, die Musik freundlicher und das Duo wendet sich direkt an die Zuschauenden: "Übertragen Sie die Last ihrer Verantwortung einfach an uns." In der Machart experimentell, in der Erzählstruktur eher klassisch-chronologisch, dreht sich die Episode der Gruppe 'Influencerin' um eine Ebensolche. Wie für Influencer*innen üblich wendet sie sich über ein soziales Netzwerk (Instagram) an ihre Community. Diese soll ihr bei der Entscheidung behilflich sein und Vorschläge für Gesetzesänderungen posten. Die Episode wird in Form einer Instagram Story erzählt. In den ersten Schnipseln wird ihr Charakter vorgestellt und die Zuschauenden lernen sie und ihr Umfeld kennen. Im Anschluss erfährt und berichtet sie von ihrer Legitimation, bevor sie schlussendlich von dem Ergebnis der Abstimmung erzählt: Die User*innen haben sich für kostenlose Fernverbindungen mit der Bahn entschieden, der Reise der Influencerin nach Budapest steht folglich nichts mehr im Wege. Sehr klassisch erzählt und inszeniert ist die Geschichte des 'Wohnungslosen'. Der Charakter wird eingeführt, die Zuschauenden begleiten ihn in seinem alltäglichen Kampf und am Ende der Episode erhält er den Brief mit der Legitimation, die Kamera fährt an ihn heran und er blickt direkt in diese. Fortsetzung folgt. Die Betrachtung der Genres und der Herangehensweisen zeigt, dass auch bei völlig freier Auswahl die Mehrheit der Filmgruppen eine klassische Herangehensweise auswählte. Aber auch die freie künstlerische Entfaltung und das Ausprobieren, welches wichtiger Bestandteil des Konstrukts Planspiel ist, war durchaus reizvoll für die Teilnehmer*innen. Ein Blick auf die Hintergründe der Filmteams zeigt auch, dass der Experimentalfilm vor allem von eher erfahrenen Filmgruppen gewählt wurde. Influencing, Schulalltag und Dystopie So bunt wie die Auswahl der Charaktere, so bunt sind auch die Inhalte der Episoden. Vom wenig beachteten Jugendlichen, der vom schulischen Außenseiter zum Mädchenschwarm wird, bis hin zur Modedesignerin, die vor der Verlagerung der Macht hin zur Technologie warnt, ist vieles geboten. Anders als die Genres lassen sich die Themen jedoch weniger eindeutig kategorisieren. Social Media, Schulalltag, Außenseiter*innendasein und Kiffen – dies sind jugendliche Themen und eine gewisse Tendenz dahingehend lässt sich in vier der neun Episoden erkennen. Neben diesen jugendlichen Themen finden sich aber auch einige erwachsene Themen wieder: Übertragung von Verantwortung, das Leben und die Sorgen eines Wohnungslosen, der perspektivlos von Tag zu Tag (über-)lebt und das Zweifeln an der Demokratie. Über all dem schwebt noch lose das übergeordnete Thema Demokratie, welches vor allem durch das Szenario im Allgemeinen und durch die daraus folgenden Überlegungen Einfluss auf die Serie nimmt. Was, wenn ich plötzlich die Macht hätte ein Gesetz zu erlassen? Was würde ich tun? Was würde es mit mir machen? Und was macht das mit einer Gesellschaft? Diese Überlegungen werden nicht in jeder Folge laut ausgesprochen, spiegeln sich jedoch spürbar im Ergebnis wider. Einfluss durch Jugend- und Popkultur Auch die Jugend- und Popkultur hat sicherlich einen Einfluss auf so manche Episode gehabt. Offensichtlich wird dies vor allem bei der Betrachtung des 18-jährigen Schulaußenseiters: Sein bester Freund leidet unter dem Tourette-Syndrom, was sich im Film durch viele körperliche und akustische Ticks äußert. Etwa im Zeitraum der Entstehung des Films gewann der YouTube-Kanal Gewitter im Kopf, auf welchem ein jugendlicher YouTuber sehr offen und humorvoll mit ebendieser Behinderung umging, stark an Popularität. Auch die schon erwähnte Episode mit der Influencerin, die ihre Follower*innen über Gesetze abstimmen lässt, ist ein sicherlich überspitztes, aber vom jugendlichen Alltag wohl gar nicht so weit entferntes Beispiel für die Einflussnahme jugendlicher Kommunikationskultur in Social Media. Weniger eindeutig, aber denkbar, ist der Einfluss der Science-Fiction-Serie Black Mirror, die sich bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen recht großer Beliebtheit erfreut. Ebenfalls episodisch aufgebaut, erzählt sie dystopische Geschichten des Konflikts zwischen Mensch und Technik. Dieser Konflikt spiegelt sich auch in PARLAMENSCH in der Episode der Modedesignerin wieder, in welcher explizit davor gewarnt wird, dass "mit der Verlagerung der Macht in Richtung der Technologie der Mensch zu Werkzeug [wird]", was früher die Rolle der Maschinen war. Ein Brief als konfliktinitiierendes Moment Ebenfalls fester Bestandteil des Storytellings von PARLAMENSCH ist ein immer wiederkehrendes, charakteristisches Stilmittel der Serie: der Brief. Jeder Charakter in PARLAMENSCH wird von der Regierung mit einem Brief über seine Legitimation benachrichtigt. Manchmal liest die*der Auserwählte den Brief laut vor, mal wird er nur am Rande gezeigt und in mancher Episode wird er auch als gelesen vorausgesetzt. Hierbei handelt es sich um eine der wenigen organisatorischen Vorgaben der inhaltlichen Gestaltung der Episoden: Der Brief als konfliktinitiierendes Moment sollte fester Bestandteil der Episode sein. Hintergedanke hierbei war die dadurch besser zu gewährleistende Verknüpfbarkeit der einzelnen Episoden zu einer Serie – über den im Folgenden beschriebenen Rahmen herrschte im Vorfeld des Planspiels nämlich noch Ungewissheit. Das rahmende Element Um die Analyse des Storytellings von PARLAMENSCH abzuschließen, ein Blick auf das animierte Intro von PARLAMENSCH: Hierbei handelt es sich um eine Kamerafahrt durch den Reichstag. In dieser etwa 30-sekündigen Sequenz tagt der Bundestag, repräsentiert durch gesichtslose, wage angedeutete Abgeordnete. Zu Beginn jeder Episode richtet sich die Kamera auf einen Redner am Pult, in dessen Gesichtskonturen nun das Bild der*des nächsten Auserwählten erscheint. Konzipiert und animiert wurde diese aufwendige Sequenz durch ein ambitioniertes, aufstrebendes VFX Studio aus München. Übertragung der Ergebnisse von PARLAMENSCH auf das Modell An dieser Stelle sollen die Ergebnisse und Erkenntnisse von Parlamensch auf das Modell des filmischen, politischen Planspiels im Allgemeinen übertragen werden. Da es sich beim filmischen Pendant um eine neuartige und weniger etablierte Form des Planspiels handelt, muss die Übertragbarkeit der Erkenntnisse natürlich etwas eingeschränkt werden. Unter Berücksichtigung dieser Einschränkung lassen sich folgende Thesen formulieren: 1. Notwendigkeit technischen Vorwissens erhöht die Mitmachschwelle Während politische Planspiele grundsätzlich ein Vorwissen der Teilnehmer*innen voraussetzen, so wird beim filmischen Planspiel zusätzlich noch technisches und cinematographisches Vorwissen benötigt. Diese Schwelle kann durch Vermittlung im Vorfeld oder durch aktive Begleitung der Filmgruppen durch medienpädagogische Fachkräfte herabgesetzt werden. Zudem kann der Fokus des filmischen Planspiels auch durchaus mehr auf den kreativen Schaffensprozess, als auf das reine Nettoergebnis gelenkt werden. 2. Filmische Planspiele sollten durch medienpädagogische Fachkräfte betreut werden Auch auf Seite der Organisation ist technisches und filmisches Vorwissen wichtig. Dieses hilft dabei im Vorfeld Machbarkeiten abzuschätzen, ermöglicht die Beratung und tatkräftige Unterstützung der Filmgruppen und befähigt zur Steuerung und Koordinierung, insbesondere dann, wenn Unvorhergesehenes eintritt. 3. Ein hoher Grad an jugendlicher Partizipation ist möglich Setzt man beide vorangegangenen Punkte als gegeben voraus, dann ist es durchaus möglich, Jugendliche bereits im Vorfeld des Planspiels miteinzubeziehen und ihre Wünsche und Ideen zu berücksichtigen. Je involvierter Jugendliche auch in grundlegende Fragen und Prozesse sind, desto motivierter werden sie bei der Ausführung sein. 4. Filmische Planspiele fördern die Reflexion Bis aus einer Idee ein fertiger Film entstanden ist, mussten mit Charakterentwicklung, Drehbuch, Filmdreh und -schnitt mehrere, gedankliche wie auch praktische Hürden genommen werden. Dies führt zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Materie: Wer ist mein Charakter? Wie verhält er sich im Film? Wie setze ich filmische Mittel ein, um de Zuschauenden genau dieses Bild meines Charakters zu vermitteln? Wie reagieren Zuschauende auf das Endergebnis? Das filmische Planspiel fügt dem Konstrukt durch seine Komplexität weitere Reflexionsebenen hinzu und fördert eine tiefergehende thematische Auseinandersetzung. 5. Jugendliche probieren sich auch filmisch aus Ein wichtiger Aspekt des Planspiels ist es, dass Jugendliche neuartige Rollen einnehmen und sich ausprobieren können. Im filmischen Planspiel nehmen die Teilnehmer*innen sogar zwei Rollen ein: Die des filmischen Ichs und die der*des gestaltenden Filmemacher*in*s. Diese Freiheiten spiegeln sich auch in den Ergebnissen wider, wie die experimentelle Herangehensweise einiger Episoden eindrucksvoll zeigt. 6. Erzählungen werden durch jugendlichen Alltag und Popkultur beeinflusst Obwohl das filmische Planspiel sich im Vergleich zum jugendlichen Spielfilm in einem thematisch strikteren und erwachseneren Rahmen bewegt, so fließen dennoch viele Elemente aus dem Alltag und der Jugendkultur in die Erzählungen ein. Ausblick in die Zukunft von PARLAMENSCH PARLAMENSCH ist längst nicht mehr nur eine Webserie, sondern entwickelt sich auch außerhalb des filmischen roten Fadens weiter: So haben bereits mehrere Autor*innen in der fiktiven, gleichnamigen Zeitung Artikel und Kommentare zum aktuellen Geschehen veröffentlicht. Eine anonymisierte Auserwählte gibt im Interview intime Einblicke in ihr Leben nach dem Tag X, während in einem anderen Artikel munter darüber spekuliert wird, dass es bei der Verteilung der Legitimationen so gar nicht mit dem Zufall zugegangen sein kann. Nachzulesen sind diese und weitere Artikel auf der Website von PARLAMENSCH. Auch abseits der Fiktion expandiert das Projekt. So wird derzeit an einem niedrigschwelligen Konzept für einen eintägigen Schulworkshop getüftelt, und auch im Hochschulkontext fand PARLAMENSCH bereits anklang: Auf Grundlage der Web-Serie entstand durch eine Studierendengruppe der Katholischen Stiftungshochschule München eine interaktive Ausstellung im Kulturraum Pixel im Münchner Gasteig, die die Themen 'Politische Entscheidungsfindung' und 'Du hast die Macht' behandelte. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels befindet sich die zweite Staffel von PARLAMENSCH in der Produktion, muss jedoch aufgrund der aktuellen Covid-19-Situation pausieren. Staffel II knüpft an die Geschehnisse von Staffel I an: Erste Auserwählte haben ihre Entscheidungen getroffen, bei anderen steht diese kurz bevor. Die Bevölkerung wird immer unruhiger und die Skepsis gegenüber dem Programm wächst. Die Presse hat einige Namen veröffentlicht und der Druck auf die Auserwählten steigt. Es bleibt weiterhin spannend, der Ausgang ist erneut ungewiss. Genauso ungewiss wie die Zukunft des jungen Bürgermeisters. Dieser wird nämlich im Parkhaus von düsteren, maskierten Gestalten entführt und in eine karge Waldhütte verschleppt. Während der Bürgermeister durch den Sack über seinem Kopf noch im Dunkeln tappt, bringt seine Entführerin wenigstens etwas Licht in die Sache. Sie müsse sich mal mit ihm über ein paar Gesetzvorschläge unterhalten… PARLAMENSCH ist ein Projekt des JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis in Kooperation mit dem Bayerischen Jugendring. Finanziert wird PARLAMENSCH durch die Bayerische Sparkassenstiftung und das Kulturreferat der Landeshauptstadt München. DE, 2019 Laufzeit Staffel I: 37:42 www.parlamensch.de