Journalismus auf dem Prüfstand: Editorial
In: Merz Medien + Erziehung: Zeitschrift für Medienpädagogik, Band 61, Heft 2, S. 6-12
ISSN: 0176-4918
Journalismus auf dem Prüfstand. Der Journalismus wie auch der Prüfstand, beide sind in Verruf geraten. Dem Journalismus wird vorgeworfen, dass er lügt oder manipuliert. Und dass Autos mancher Fabrikate auf den Prüfstand manipulierte Emissionswerte präsentiert haben, ist bekannt. Es soll hier in dieser Ausgabe allerdings nicht um Fälschungen und gezielte Desinformation zur Destabilisierung politischer Institutionen und Sicherheiten gehen, wie sie aktuell unter dem Schlagwort Fake News durch die öffentliche Debatte gehen. Die Idee für dieses Heft liegt länger zurück, und es ist unser Anliegen, den aktuellen Stand des Journalismus kritisch anzuschauen. Leidet er, und wenn ja, woran? Kann er Wirkung entfalten? Ist er noch notwendig und noch zeitgemäß? Den Journalismus, gibt es den überhaupt? Sind das die Lokaljournalistinnen und -journalisten, die für die wenigen noch existierenden Lokalzeitungen über die Skandale der kommunalen Abfallwirtschaft berichten? Oder 'die Meute' – wie im gleichnamigen Film von Herlinde Koelbl –, die ein Foto oder Statement nach der Nachtsitzung des Kabinetts zu erhaschen versucht? Oder die 'Alpha'- Journalistinnen und -Journalisten, die mit Politikerinnen und Politikern am Kamin teuren Wein schlürfen? Die investigativen Datenjournalistinnen und -journalisten, die aus Millionen von Dokumenten einen Skandal namens Panama Papers herauspräparieren? Kann man aus der Tatsache, dass es Zeitungen, und vor allem Lokalzeitungen, wirtschaftlich schlecht geht, schließen, dass der Journalismus mittlerweile ins Internet abgewandert ist? Werden nur noch kostenfreie oder Light-Varianten von Information wahrgenommen und bevorzugt? Oder geht das Ergebnis journalistischer Kleinarbeit am Publikum vorbei, weil es die Zuspitzung auf 140 Zeichen einer differenzierten Analyse vorzieht?
Vom langsamen Niedergang der Lokalpresse
Vor mittlerweile acht Jahren hat Jeff Jarvis (2009) die Wende von der Zeitungskultur zu den Blogs vorhergesagt und zugleich propagiert. Von Google zu lernen, so Jarvis (2009), hieße "Do what you do best and link to the rest". Für den Journalismus habe das die Konsequenz, dass man nur noch wenige brauche, nur noch den oder die besten. Der oder die beste solle sich eben im Internet vermarkten und den Rest dem Markt, sprich Google, überlassen. 'The winner takes it all' – und die restlichen Journalistinnen und Journalisten sind seither wie vorhergesagt zu einem Leben am Existenzminimum verdammt. Was Jarvis weniger in den Blick nahm, war die gesellschaftliche Rolle und Bedeutung des Journalismus. Wenn nur das erfolgreiche Geschäftsmodell zählt, ist Google der Leitstern. Wer Berichterstattung aber als eine gesellschaftlich relevante Aufgabe ansieht, ist nicht unbedingt zu blöd dazu, sich diesem gnadenlosen Geschäftsmodell zu unterwerfen. Er setzt womöglich andere Prioritäten. Jarvis war der erste Prophet in einer Branche, die etwas rascher in den Sog der Zerstörung geraten ist als andere Branchen, die seither vom Silicon Valley ausgehend filetiert werden. Branchenübergreifend hat der Internet-Skeptiker Jaron Lanier diesen Zerstörungsprozess, der uns heute überrollt, an vielen Branchen beschrieben und systematisch analysiert. Für seine Analyse, vor allem in seinem Buch Wem gehört die Zukunft (2014), wurde er im gleichen Jahr mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Der Dortmunder Zeitungsforscher Horst Röper – die Instanz, wenn es um die kritische Beobachtung der Presse geht – wurde in jahrelanger Mühe nicht müde, von der Monopolisierung der Lokalpresse zu berichten, die mittlerweile zu einer weitgehenden Monokultur in der Berichterstattung geführt hat. Auch die Auflage der gedruckten Zeitungen ist kontinuierlich über die Jahre gesunken: von 27,3 Millionen im Jahr 1991 auf 15,3 Millionen im Jahr 2016 (vgl. Statista 2017). Röper hat all die Probleme frühzeitig benannt, vor denen die Vielfalt und Lebendigkeit der Lokalberichterstattung mittlerweile kapituliert hat. Im Jahr 2013 resümierte er: "Journalismus ist nicht mehr erstrebenswert. Ich rate allen, tut euch diesen Beruf nicht an" (Presseportal 2013). Die knappen historischen Schlaglichter lassen die jüngsten Vorwürfe der 'Lügenpresse' in einem anderen, sprich wirtschaftlichen Licht erscheinen. Die Krise des Journalismus begann nicht erst mit dem Vorwurf der Lügenpresse, er ist auch nicht ihr einziges Problem. Die Arbeitsbedingungen von Journalistinnen und Journalisten sind in den letzten Jahren kontinuierlich schlechter geworden. Die 318 Lokalzeitungen mit ihren 11,8 Millionen Lesenden haben immer noch eine weit größere Bedeutung als die sieben überregionalen Tageszeitungen mit ihren eine Millionen Lesenden (vgl. BDZV 2017). Die meisten Zeitungen sind mittlerweile online. Wer sein Augenmerk nur auf aufmerksamkeitsheischende Nachrichtenhypes in sozialen Netzwerken richtet, macht sich die Reichweite und Wichtigkeit dieser Berichterstattung nicht hinreichend klar. Laut des Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) werden die Angebote der Tageszeitungen gedruckt und online von täglich 60 Millionen (!) Menschen in Deutschland (also drei von vier der Über-14-Jährigen) rezipiert. Mehrere Studien zeigen unabhängig voneinander, dass das Vertrauen auch der jungen Menschen in die Tageszeitungen gerade bei widersprüchlichen Informationen sehr hoch ist (vgl. ebd.; Feierabend et al. 2016). Der Lokaljournalismus hat dem großen Heer von Journalistinnen und Journalisten Arbeit und Brot gegeben. Für ihn gelten andere Regeln als für die überregionale Berichterstattung, etwa der Tagesschau, der Süddeutschen Zeitung oder in politischen Magazinen (siehe das Interview mit Goodwin 2017 in dieser Ausgabe).
Lügenpresse und Vertrauensverlust
Während die einen Lügenpresse skandieren und wachsendes Misstrauen und offenen Hass genießen, arbeiten die so geschmähten investigativen Journalistinnen und Journalisten, wie die Lux Leaks, unermüdlich daran, skandalöse Finanzverflechtungen oder Machtmissbrauch und die Steuerhinterziehung prominenter Fußballer ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen. Wie passt das zusammen? Wer sich für den Vorwurf der Lügenpresse interessiert, wird im Wikipedia-Eintrag 'Kompositum aus der Gruppe der Determinativkomposita' fündig. Die Geschichte ist lesenswert. Es ist erstaunlich, in welchen Zusammenhängen diese Anschuldigung von politischen, auch antiklerikalen Gegnerinnen und Gegnern schon seit dem 17. Jahrhundert und später massiv mit dem Bedeutungsgewinn der Presse im 19. Jahrhundert benutzt wurde. Keineswegs hatten in der Geschichte rechte Kreise ein Monopol auf diesen Begriff, er wurde von allen Seiten benutzt. Hauptsache, es ging gegen 'das System'. Wohl aber reklamieren es rechte Kreise seit dem 21. Jahrhundert. Lügenpresse hat so gut wie nichts mit der Wahrhaftigkeit des Journalismus zu tun. Vielmehr geht es – und ging es in der Vergangenheit – darum, gezielt das Vertrauen in die Berichterstattung der Medien zu erschüttern. Das Ansinnen scheint auch teilweise gelungen. Mehrere Umfragen aus dem Jahr 2015 belegen, dass das Vertrauen in die Berichterstattung der Medien gesunken ist (siehe Krüger 2017 in dieser Ausgabe). Das schleichende Gift des Misstrauens und der Zersetzung zeigt also Wirkung, auch in Deutschland. Der Vertrauensverlust geht über die Medienberichterstattung hinaus und betrifft auch die Politik insgesamt, der viele Menschen nicht mehr zutrauen, Probleme lösen zu können.In den USA scheint dieser Prozess weiter fortgeschritten zu sein. Wenn Trump sich anschickt, große Politik mit Hilfe von Tweets zu machen und der freien Presse und der kritischen Öffentlichkeit den Kampf ansagt, bis hin zum Schritt, den Quellenschutz abschaffen zu wollen (vgl. z. B. Richter 2017), dann weist diese Missachtung in dieselbe Richtung wie die Lügenpresse-Vorwürfe: Die vierte Gewalt soll mundtot werden. Vertrauen ist die Währung, von der die Macht der Presse und die Pressefreiheit leben.
Wer ist die vierte Gewalt?
Die Presse schlägt zurück, die Auflage der New York Times ist seit Trump in die Höhe geschnellt, und neue Stellen für den Faktencheck und die Demaskierung von Desinformation sind eilig eingerichtet worden. In Deutschland ist das Verhältnis von Presse und Politik entspannt, aber deshalb noch lange nicht im grünen Bereich. Die Verbrüderung der Alpha-Journalistinnen und -Journalisten mit den Politikerinnen und Politikern führt schon allzu lange zu unguten Machtverschiebungen in den Säulen der Gewaltenteilung. Medienmenschen halten sich gelegentlich für die besseren Politiker. Die BILD-Zeitung gerierte sich als die wahre Hüterin der Demokratie, als sie – angeblich im Dienst einer schonungslosen Verpflichtung zur Wahrheit (und nichts als der Wahrheit) – den Bundespräsidenten Wulff zur Strecke brachte. Angesichts des unrühmlichen Endes kann man die Vorverurteilung als Angriff auf verfassungsmäßige Institutionen werten. Und das Publikum applaudierte der Treibjagd. Nicht alle Zeitungen gaben sich dem Zeitungssterben klaglos hin. Manche intensivieren gerade den journalistischen Anspruch, der teuer zu halten ist. Die New York Times ist in den 'postfaktischen' Trump-Zeiten ein Beispiel für den Anspruch an Wahrhaftigkeit. Auch die Süddeutsche Zeitung hat sich – ähnlich wie andere renommierte internationale Tageszeitungen in der Krise sinkender Werbeeinnahmen und Abonnentenzahlen – entschlossen, nicht an der journalistischen Qualität zu sparen, sondern sich auf die Kernwerte des Journalismus zu besinnen: Seriöse und gelegentlich aufwändige Hintergrundberichterstattung, Einordnung der Fakten und Verdichtung zu aufwändigen Reportagen. Fällt es den verbitterten Lügenpresse-Rufern denn überhaupt noch auf, wenn internationale Kooperationsnetzwerke für investigative Recherchen die Skandale um die Panama Papers ans Licht bringen oder in der Hochzeit der Lügenpresse-Anschuldigungen Interviews mit PEGIDA-Anhängerinnen und -Anhängern führen, die vormals treue Süddeutsche Zeitung-Lesende waren und ihre differenzierte Sicht darstellen? Zwei von vielen Beispielen, die zeigen, dass sich meinungsrelevante Mainstream-Medien keineswegs immer nur mit dem System arrangieren. Den Lügenpresse-Vorwurf zu dekonstruieren bedeutet nicht, die Massenmedien vom Vorwurf gezielter systematischer Meinungsbeeinflussung freizusprechen. Eine ganze Reihe von Faktoren führen zu einseitiger Berichterstattung und müssen als Gründe für den Vertrauensverlust ernst genommen werden. Uwe Krüger hat diese unter dem Begriff der Mainstream-Medien – in der gleichnamigen Publikation (2015) – analysiert und detailliert beschrieben (mehr dazu und zu möglichen Konsequenzen für medienpädagogische Arbeit siehe Krüger 2017 in dieser Ausgabe).
Die Rolle sozialer Netzwerke bei der politischen Meinungsbildung
Es ist eine Aufgabe des guten Journalismus, Geschehnisse und Fakten in größere Zusammenhänge einzuordnen. Gerade in unsicheren Zeiten und angesichts wachsender Komplexität der Zusammenhänge sollte aktuell der Bedarf an Erklärung und Einordnung besonders groß sein. Kann dieser Anspruch von anderen Medien als den tradierten Massenmedien wahrgenommen werden? Es spricht einiges dafür, dass die verfassungsmäßige Wahrnehmung der Pressefreiheit und der vierten Gewalt nicht durch Twitter, Facebook, Apple und Google kompensiert werden kann. Wie sich immer wieder zeigt, haben diese Konzerne kein verfassungsrechtliches Verständnis von ihrer Rolle, und Bedeutung für ein demokratisches Staatswesen und für die Presse. In Konfliktfällen haben sie sich oft aus der Verantwortung gezogen und sich auf die Seite der herrschenden Politik gestellt, wie es gerade aktuell Apple mit der Sperrung der App der New York Times in China getan hat (vgl. Kreye 2017). Die mächtigen Kommunikations- und Informationsplattformen im Internet, bei denen die stärksten Nachrichten- und Kommentarflüsse und damit ein wesentlicher Teil der Meinungsbildung vonstatten gehen, verstehen sich nicht als verfassungsmäßige Gewalt, sondern als international agierende privatrechtliche Konzerne. Viele Hinweise der Vergangenheit zeigen diese Tendenzen im Selbstverständnis, wobei sich das allerdings auch ändern könnte, wie eine aktuelle Maßnahme von Facebook zeigt (vgl. z. B. Jannasch 2017). Fake News, über die sich genügend Nutzende beschwert haben, will Facebook demnächst durch einen Hinweis kenntlich machen, der auf den mangelnden Wahrheitsgehalt hinweist. Eine (in Zahlen: 1!) Stelle wird eingerichtet, die die Informationen nachrecherchiert und bereitstellt. Es bleibt abzuwarten, ob Facebook eher daran gelegen ist, die drohende Gefahr eines geschäftsschädigenden Schmuddel-Image abzuwehren oder ob es den Wandel zu einem seriösen journalistischen Unternehmen anstrebt. Hat Facebook verstanden, dass Vertrauen eine Basis fürs Geschäft ist?
Algorithmen statt Redaktion
Zur Verschärfung des Problems im Umgang mit der Komplexität und Problematik des Einordnens trägt der schiere Umfang an Nachrichten und Kommentaren im Internet bei. Algorithmen bei den Internetanbietern sortieren die Informationen, die Nutzenden vor Augen kommen, und zwar nicht nach journalistischen Kriterien der Relevanz. Algorithmengesteuert kommt Rezipierenden immer mehr von dem unter die Augen, was sie in der Vergangenheit angeklickt haben. Wenn Nutzerverhalten und alles, was der eigenen vorgängigen Meinung entspricht, zum Maßstab der Selektion wird, läuft die beste journalistische Arbeit, und sei sie noch so sorgfältig und wahrheitsgemäß, ins Leere (siehe Rohde 2017 in dieser Ausgabe). Den eigenen Voreinstellungen Widersprechendes wird ausgeblendet, bevor Rezipierende es überhaupt zur Kenntnis nehmen können. Wo zuvor irritierende Informationen kognitive Dissonanzen und damit Denk- und Suchprozesse auslösen konnten, bekäme nun Bildung nicht einmal mehr eine Chance. Sozialpsychologisch wäre dies der Weg des geringsten kognitiven Aufwands und begünstige Denkfaulheit. Ein solches Nachrichtenuniversum, bestehend aus Vorurteilen und ihrem medialen Pendant, den Filterbubbles, wäre eine zutiefst besorgniserregende Dystopie (siehe Wörz 2017 in dieser Ausgabe). Zugleich wird mit dem Vertrauensverlust in die Massen-, System- oder Mainstream-Medien das Manipulationspotenzial insbesondere sozialer Netzwerke an den Beispielen der Brexit-Entscheidung und der Trump-Wahl deutlich. Die Politikberatungs- und Wahlmanagement-Agentur Strategic Communications Laboratories soll beide Entscheidungen mit Hilfe von Big Data und gezielter Meinungserforschung in den sozialen Netzwerken mit herbeigeführt haben (vgl. Grassegger/Krogerus 2016). Aktuell ist häufig die Rede vom Einfluss durch massenhafte, gezielte und strategisch platzierte Lügen und Desinformation innerhalb der Berichterstattung zur Bildung der öffentlichen Meinung, unter anderem in den Wahlkämpfen der USA, in Frankreich und womöglich auch in Deutschland, etwa durch den russischen Propaganda- Kanal RT (März 2017). Noch fehlen belastbare Beweise, aber Hinweise sind vorhanden und besorgniserregend. Wie anfällig ist die öffentliche Meinung für eine Manipulation in großem Stil? Vermitteln Facebook und Co. politische Informationen, verstärken sie oder verzerren sie diese? Werden soziale Netzwerke als einzige, als wichtige oder als ergänzende Quellen für Informationen genutzt und vielleicht sogar als glaubwürdiger eingestuft als die Mainstream-Medien? Das ist insbesondere für jüngere Mediennutzende eine Frage von eminenter Wichtigkeit. Nur auf der Grundlage empirischer Daten zur Rezeption lässt sich abschätzen, ob die Rolle sozialer Netzwerke für die Meinungsbildung so bedeutsam ist, wie sie oft dargestellt wird, oder ob das möglicherweise einem verzerrten Abbild der Wirklichkeit entspricht, das durch die Resonanz in den Massenmedien verstärkt oder gar erzeugt wird (siehe Hasebrink et al. 2017 in dieser Ausgabe).
Hoffnungsschimmer? –Alternative Informationsportale
"Es waren einmal ein paar Mutige, die sich trotz aller Widrigkeiten unbeirrbar auf den steinigen Weg machten ...", so in etwa könnte die Geschichte der alternativen Informationsportale beginnen, wenn sie denn ein Märchen wäre. Wer sich die Zeit nimmt, nach Alternativen zum Mainstream zu suchen, wird fündig.