Sammelwerksbeitrag(gedruckt)2006

Nationale Identität und europäische Gemeinschaft: Grundbedingungen politischer Gemeinschaftsbildung

In: Nationale Identität im vereinten Europa, S. 55-74

Abstract

"In seinen grundsätzlichen Überlegungen geht der Autor von der These aus, die Europäische Union werde so, wie wir sie kennen und in ihrer Attraktivität schätzen, künftig nicht mehr weiterexistieren; sie werde eher in eine Phase der Stagnation fallen. Auch der vom Europäischen Verfassungskonvent 2003 vorgelegte Verfassungstext 'wird juristisch nicht in Kraft treten', da 'die Identität der Mitgliedsstaaten dies nicht zulassen werde". Der Prozess der Einigung im Sinne einer überstaatlichen Einheit werde weit mehr als 10 bis 15 Jahre brauchen, jedenfalls länger dauern, als offizielle EU-Vertreter derzeit prognostizieren. Dies müsse man konstatieren angesichts der von der EU-Erweiterungskommission empfohlenen Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, deren 'kultureller Abstand zu Europa' eine Weiterentwicklung der europäischen Institutionen in bisheriger Weise nicht zulassen werde. Als die 'Nagelprobe' der europäischen politischen Entwicklung kennzeichnet der Autor die demokratische Willensbildung, insbesondere das Prinzip der Mehrheitsentscheidung. Die staatstheoretische Antwort auf das Akzeptanzproblem des politischen Systems sei dessen demokratische Legitimierung durch das Volk. Aber: 'Wer gehört zum Volk? Wen lassen wir einreisen? Wen bürgern wir ein?' Diese Fragen stellen sich vordringlich im Hinblick auf die Mehrheitsentscheidungen durch das Volk - Mehrheitsentscheidungen, die auch gegen die eigenen Interessen (als Minderheit) gerichtet sein können. 'Wer das Volk durch Einbürgerungen ändert, ändert das Substrat Demokratie.' Von einer europäischen Identität und einer demokratischen Legitimität Europas könne man erst sprechen, wenn Entscheidungen nicht mehr von den Nationalstaaten, sondern vom 'europäischen Volk' getroffen werden. Europäische Identität werde es demnach nur geben als 'Aufbau' auf den nationalen Identitäten. Als Alternative zu einer imaginären europäischen Nationsidee sieht der Autor den von Dolf Sternberger in den 1970er Jahren kreierten Begriff des Verfassungspatriotismus. Für das deutsche Verständnis sei wichtig, dass dieser Begriff eine Reflexion des problematischen Identitätsverständnisses der Deutschen seit dem Untergang des alten Reiches ist. Auf die 'Kulturnation' ('Land der Dichter und Denker') folgte die 'verspätete Nation', die von einer Hypertrophie gekennzeichnet gewesen sei. Nach 1945 fungierte das 'deutsche Wirtschaftswunder' als Ersatz für fehlendes politisches Selbstbewusstsein. Der Begriff Verfassungspatriotismus sei angesichts dieses Vakuums ein 'genialer Begriff', der adäquat die Befindlichkeit 'westdeutscher Identität' gekennzeichnet habe und die 'deutsche Identität' angesichts der Teilung auf die geschriebene Verfassung und den Verfassungsauftrag der wiederherzustellenden deutschen Einheit gründe. Der Begriff Verfassungspatriotismus beinhalte darüber hinaus 'die Frage nach der politischen Einheit', wobei nicht mehr das 'Volk als ethnische, relativ homogene vorpolitische Schicksalsgemeinschaft', sondern als 'modernes politisches Gemeinwesen' definiert wird. Dieses werde primär 'zusammengehalten durch die politische Praxis der Bürger', also im Sinne von Ernest Renans 'plaiscite de tous les jours'." (Textauszug)

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