Aufsatz(gedruckt)2005

Grundlinien einer politischen Soziologie der Ungleichheit und Herrschaft

In: Widersprüche: Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich, Band 25, Heft 12, S. 13-28

Verfügbarkeit an Ihrem Standort wird überprüft

Abstract

Im Mainstream der Ungleichheits- wie Bildungsforschung lässt sich gegenwärtig eine erstaunliche "theoretische Ratlosigkeit" konstatierten. Zwar findet sich das individualisierungstheoretische Paradigma im Rückzug (Eickelpasch 1998) und die deutlichen Polarisierungstendenzen in Gegenwartsgesellschaften werden kaum noch bestritten, aber dies wird nicht von einer Rückkehr zu herrschaftssoziologischen Frage- und Themenstellungen begleitetet. Wurden die Befunde zur sozialen Vererbung von Bildungschancen oder zur Herkunftsabhängigkeit sozialen Aufstiegs in den Debatten der 70er Jahre noch unmittelbar mit gesellschaftskritischen Argumenten in Verbindung gebracht, benennen gegenwärtige Studien und politische Expertisen zwar durchaus objektive soziale Ungleichheiten (vgl. BMA 2001 und Deutsches PISA-Konsortiums 2001), aber sie verknüpfen diese nicht mit einer ungleichheits- geschweige denn herrschaftskritischen Position. Demgegenüber richtet sich dieser Beitrag auf den Zusammenhang von Milieu-Bildungsperspektiven und einer politischen Soziologie sozialer Herrschaft, die als ein notwendiges Dach zur Analyse der Verhältnisse sozialer Ungleichheit und institutionell wie klassenkulturell vermittelter Verhältnisse von Bildungsungleichheit fungiert. Hierzu wird zunächst die praxeologische Grundlegung einer Milieutheorie nach Vester skizziert, dann wird eine politische Soziologie der Milieutheorie vorgeschlagen, die die ungleichheits- und bildungssoziologischen Perspektiven mit einem herrschaftssoziologischen Zugriff verknüpft. Häufig werden die Lebensrealität und die Handlungsrestriktionen ganzer Milieus oder der älteren Geburtsjahrgänge unterschlagen, sodass unterprivilegierte Gruppen unter einen immensen symbolischen Druck geraten, an ihrer sozialen Lage selbst Schuld zu sein. Auch wird mit den augenblicklichen Deutungsmustern die prinzipielle Gestaltbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse dadurch verdrängt, dass eine individualisierte Gesellschaft als eine besonders dynamische, nicht mehr politisch steuerbare Einheit erscheint. Die Ideologie zieht sich darin zurück, dass alles so ist, wie es ist und auch gar nicht anders sein kann (Institut für Sozialforschung 1956). Auf die früheren emanzipativen Gehalte der augenblicklich dominanten Orientierungsfolie einer "individualisierten Wissensgesellschaft" Bezug nehmend könnte man etwas überspitzt in Anlehnung an Theodor W. Adorno formulieren: Der Begriff der individualisierten Gesellschaft supponiert die Utopie als wäre sie schon da. Eine Perspektive, wie sie hier vertreten wird, hat auch für einen sozialwissenschaftlichen Blick Konsequenzen. Die ständige Thematisierung von nicht mehr zeitgemäßen sozialen Herrschaftsverhältnissen wird ihr zur ersten Pflicht und der stete Hinweis auf die radikalen gesellschaftlichen Möglichkeiten zur vornehmen Aufgabe. Das bedeutet aber auch, dass Theoriemodelle sozialer Ungleichheit, die weder soziale Herrschaft noch gesellschaftliche Gestaltungspotenziale berücksichtigen, zur sinnlosen Verlängerung sozialer Herrschaft beitragen. (LO)

Problem melden

Wenn Sie Probleme mit dem Zugriff auf einen gefundenen Titel haben, können Sie sich über dieses Formular gern an uns wenden. Schreiben Sie uns hierüber auch gern, wenn Ihnen Fehler in der Titelanzeige aufgefallen sind.