Über das Verhältnis von Tradition und Modernität
In: Merkur: deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Band 62, Heft 10, S. 903-910
Abstract
Der Beitrag befasst sich mit der Frage, was heute Tradition und was Modernität heißt. Den Ausgangspunkt bildet der Leitsatz von L. Kolakowski: 'Erstens, hätten nicht die neuen Generationen unaufhörlich gegen die ererbte Tradition revoltiert, würden wir noch heute in Höhlen leben; zweitens, würde die Revolte gegen die ererbte Tradition einmal universell, befänden wir uns wieder in den Höhlen. Eine Gesellschaft, in der die Tradition zum Kult wird, verurteilt sich zur Stagnation, eine Gesellschaft, die von der Revolte gegen die Tradition leben will, zur Vernichtung.' In den Ausführungen finden unter anderem die Positionen von F. Rückert, J. R. Bergmann, I. Kant, G. Duby, M. Weber, H. Blumenberg und T. Peters Berücksichtigung. Wohin die Reise der sekundären Rationalisierung - Hilfe für das Individuum aus der Selbstverwirklichungspatsche durch Experten und deren Ratgeberliteratur - führt, ist nach Ansicht des Autors noch ungewiss. Angesichts dieser Art des Managements von Innovation, dem Gegenteil von echter Wissbegierde und Kreativität, sind wir zwar noch nicht ganz zurück in den Höhlen, wie Kolakowski befürchtet hat. Aber der sekundären Rationalisierung entspricht eine sekundäre Neugier, die gegenüber neuen Ideen und Praktiken häufig blind bleibt. Gerade wenn alle das gleiche Neuartige im mimetischen Gleichmaß begeistert verfolgen, wird das kollektive Resultat dieser Erneuerungsversuche überraschungsfrei ausfallen: Die Substitution des Neuen durch das Neuartige. Gesellschaft als Betrieb und Betriebsamkeit als oberste Tugend legen eine neue unheimliche Koalition nahe, nämlich die Ehe von 'ewiger Wiederkehr des Neuen' und 'ewiger Wiederkehr des Gleichen'. (ICG2)
Themen
Sprachen
Deutsch
ISSN: 2510-4179
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