Erklärung der Bundesregierung zum Thema "Öffentliche Verwaltung" von Dr. Rainer Barzel vom 29.10.1969
In: Legislaturperiode 6 des deutschen Bundestags
Abstract
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wieder in Bonn — nicht in Berlin — beginnt auch der 6. Deutsche Bundestag seine Arbeit. So wird deutlich: das deutsche Volk hat sein unveräußerliches Selbstbestimmungsrecht immer noch nicht verwirklichen können. So wird auch deutlich: wir haben noch viel zu tun — Koalition wie Opposition. Wir bleiben dem deutschen Volk, dem unser erstes Wort gilt, vor Geschichte und Gewissen verantwortlich, die Menschenrechte und deren Anerkennung für alle Deutschen zu erringen. Das ist die Anerkennung, für die wir arbeiten. Durch diese Aussage bestätigen wir nicht nur unser politisches Ziel, sondern zugleich den zentralen Maßstab, nach dem die stärkste Fraktion dieses Bundestages politische Fragen beantwortet: für uns ist Fortschritt, wo Menschenrechte und ihre gesellschaftliche Basis mehr zur Alltagswirklichkeit werden. Für uns ist Rückschritt, wo Menschenrechte nicht gelten, wo Strukturen sich etablieren, welche sie unterdrücken oder ihre wirksame Entfaltung hemmen. Unser zweites Wort gilt Ihnen, Herr Bundeskanzler, und den Mitgliedern Ihrer Regierung, die, wie wir zuversichtlich hoffen, schließlich doch noch vollzählig zu der ersten Einlassung der Opposition anwesend sein werden. Im Interesse unseres ganzen Volkes wünschen wir Ihnen Erfolg und eine glückliche Hand. Erlauben Sie mir ein persönliches Wort. Sie haben zwar, Herr Kollege Brandt, zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt, nun mehr Sorgen als andere. Zugleich beginnen Sie zu einer Zeit besonderer Möglichkeiten und in einer Lage, die Ihnen den Kopf völlig frei läßt für diese neuen Möglichkeiten. Der Schutt der Nachkriegsjahre ist weggeräumt. Die Hektik des Wiederaufbaus ist vorbei. Sie treten Ihr Amt an bei Vollbeschäftigung, stabilem Geld und wohlgeordneten Finanzen. Sie finden auf den Gebieten der Bildungspolitik, der Finanz- und der Wirtschaftspolitik bessere Kompetenzen und ein gerade geschaffenes modernes Instrumentarium vor. Dazu treten die neuen Möglichkeiten des Arbeitsförderungs- und des Berufsausbildungsgesetzes sowie die anderen Reformwerke der Großen Koalition. Außenpolitisch bleibt festzuhalten: Frankreich setzt seine Akzente der Europa-Politik näher zu den unseren. Polen zeigt Gesprächsbereitschaft. Die Sowjetunion denkt, so scheint es, neu nach über Mitteleuropa. Die Verantwortlichen in Ost-Berlin beginnen sich von starren Formeln zu lösen. Das weltpolitische Gespräch der beiden Großmächte wendet sich den Raketen-Problemen zu und nimmt damit zugleich — endlich — auch politische Spannungsursachen als Thema auf. Seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland stand kein Bundeskanzler bei seinem Amtsantritt in einer vergleichbaren Situation. Wir werden sehen, Herr Bundeskanzler, wie Sie von diesem soliden Fundament aus "den Nutzen des deutschen Volkes mehren''. Wir sind bereit, Ihnen dabei zu helfen. Aber auch unsere Politik umgreift die Pflicht, "Schaden vom deutschen Volk zu wenden". Wir werden als Opposition nicht nur dafür sorgen, daß die Koalition hier immer wieder für ihre Politik einstehen und ihre Mehrheit beweisen muß; wir bieten auch in aller Form die Möglichkeit an, in den Lebensfragen der Nation zur Kooperation aller zu kommen. Ob das zum Nutzen aller Deutschen erreicht wird, liegt ganz wesentlich an Ihnen, Herr Bundeskanzler, nämlich an dem Ausmaß, der Stetigkeit und der Offenheit, mit der Sie uns unterrichten, mit uns sprechen und unsere Meinungen in Ihre Entscheidungen einbeziehen. Dieses Angebot wäre — und ich will hier von Anfang an konkret sein und nichts im Unklaren lassen — in Frage gestellt, wenn Sie z. B. den Atomwaffensperrvertrag unterschrieben, bevor unsere Grolle Anfrage, die bereits vorliegt, hier behandelt worden ist, und zwar mit der dem Gegenstand angemessenen Sorgfalt. Meine Damen und Herren, es wird auch sehr schwer möglich sein, dieses Angebot wirklich durchzuhalten, wenn Sie etwa, Herr Bundeskanzler, wie — bei Ihrem Start — Zeitungsinterviews den Vorrang vor dem Parlament geben. Sie haben es mit einer Opposition zu tun, die aus 20 Jahren Regierungsverantwortung weiß, was möglich und was unmöglich ist. Diese Erfahrung werden wir als Opposition nicht vergessen. — Ich hoffe, Herr Dorn, Sie vergessen auch nichts von den vielen Jahren, in denen wir zusammen in der Regierung saßen. Sie haben es mit einer Opposition zu tun, welche zum sechsten Male von den Wählern, denen wir danken, zur stärksten Fraktion dieses Hauses gemacht wurde und in deren Reihen der Mann sitzt, der nach dem Willen von 46,1 % der Wähler wieder Bundeskanzler sein sollte: Kurt Georg Kiesinger. Ihre Koalition, Herr Bundeskanzler, hat eine schmale Basis, und Sie selbst werden das Unbehagen spüren, das viele in unserem Volke erfüllt. Wir fühlen uns nicht als eine abgelöste Wache, die nun schlafen gehen und die Augen zumachen darf; und wir denken weder daran, Reden zum Fenster hinaus oder die leichtere Hand beim Geldausgeben für große Stunden der Opposition zu halten. Ja, für uns ist nicht einmal unvorstellbar, zu sagen: die Regierung hat recht. Wir sind als Opposition nicht aus der Verantwortung für unseren Staat entlassen. Wir werden diesen Teil der Verantwortung ebenso ernst nehmen und ebenso gewissenhaft erfüllen wie den anderen Teil, den wir bisher innehatten. Wir halten es für unsere Pflicht, unbequem und kritisch zu sein, Kontroversen und Konflikte sichtbar auszutragen, — auch um politische Entscheidungen für jedermann durchsichtig und verständlich zu machen. Wir halten es für unsere Pflicht, nicht einfach nein zu sagen, sondern Besseres vorzuschlagen. Wir werden der Politik der Koalition gegenüberstellen: a) unsere Auffassung von den objektiven Notwendigkeiten der deutschen Politik, b) die Wahlversprechen der Koalitionsparteien und c) die Regierungserklärung der Koalition. Damit ist klar, wie wir unsere Aufgabe sehen und Ihrer Politik begegnen werden, und jedermann kann sich darauf einrichten. Sie haben, Herr Bundeskanzler, sich als kleinlich erwiesen, indem Sie kein Wort fanden für Ihre Vorgänger Ludwig Erhard und Kurt Georg Kiesinger. Und es hätte Ihnen, so meine ich, in dieser Lage, in der zum erstenmal ein Sozialdemokrat als Kanzler eine Regierungserklärung abgibt, wohl angestanden, einen Namen noch zu nennen, ohne den doch die Sozialdemokratische Partei Deutschlands nicht stünde, wo sie ist. Ich meine: Fritz Erle r. — Sehen Sie, wir denken noch an diesen Mann und dessen großen Beitrag für die Demokratie in Deutschland. — Meine Damen und Herren, daß die erste Unruhe an dieser Stelle kommt, ist ein bemerkenswerter Vorgang. Ich habe von Fritz Erler, lesen Sie die Debatten, immer viel gehalten! Ich sprach davon, daß wir als die stärkste Fraktion von dem ausgehen, was wir für die objektiven Notwendigkeiten der deutschen Politik halten. Welches sind diese objektiven Notwendigkeiten? 1. Eine nüchterne, nicht an Wünschen, sondern an den gegenwärtigen Tatsachen ausgerichtete Analyse der Lage zwingt, unsere Verteidigungsanstrengungen im Bündnis ungeschmälert fortzusetzen und — auch dadurch — die bleibende Anwesenheit der USA in Mitteleuropa sicherzustellen. Die Bundeswehr selbst bedarf der Reform; sie ist eingeleitet. Von der Basis der gesicherten Freiheit aus muß unsere Friedenspolitik stetig und geduldig fortgeführt werden. Auswärtige Kulturpolitik, Entwicklungshilfe und internationale Gesellschaftspolitik gehören wesentlich dazu. 2. Durch solide Reformen muß unser freiheitlicher, sozialer Rechtsstaat ausgebaut werden. Wir betrachten ohne Selbstgerechtigkeit das Erreichte als gute Basis für weiteren Fortschritt. Aus unserer Sicht ist vordringlich: in der Bildungspolitik müssen zügig die neuen Bundeskompetenzen ausgeschöpft werden, also ein Rahmengesetz über die allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens, das Zusammenwirken mit den Ländern in der Bildungsplanung, das Wahrnehmen der Gemeinschaftsaufgaben. Wir halten für dringlich eine zweite Stufe des Ausbildungsförderungsgesetzes. Die Ausdehnung der Bundeskompetenz auf die Fachhochschulen muß diskutiert, die Zulassungsbeschränkungen an den Hochschulen müssen rasch abgebaut werden, und der Zugang zur Universität für solche Mitbürger, die ihrer Wehrpflicht genügt haben, sollte unverzüglich erleichtert werden. Die erfolgreichen Bemühungen der letzten Bundesregierung auf dem Gebiete des technologischen Fortschritts müssen fortgesetzt und ausgebaut werden. Die Eigentumspolitik bedarf neuer Akzente, zumal die Tarifpartner die Möglichkeiten, welche der Gesetzgeber geschaffen hat, bisher kaum genutzt haben. Ein verbessertes Betriebsverfassungsgesetz, die Errichtung von Arbeitnehmerkammern, die Neuordnung des Familienlastenausgleichs — ein Wort, das in der Regierungserklärung fehlt —, eine bessere Kriegsopferversorgung und bessere Leistungen für Vertriebene und Flüchtlinge, die Lage der Hausfrau, die Altersversorgung der Selbständigen, die Reform der Krankenversicherung, die Verbesserung der Lage der Krankenhäuser sowie ein vernünftiges Städtebauförderungsgesetz — alles das sind gesellschaftspolitische Notwendigkeiten. - Herr Wischnewski, wir werden sehen hören Sie zu, Herr Kollege —, wer schneller ein besseres, mehrheitsfähiges Städtebauförderungsgesetz vorlegt, diese Koalition oder die Opposition. Dieser Bundestag sollte die Strafrechtsreform abschließen und die Justizreform weiterführen. Die Steuerreform muß nun auf die vollzogenen Reformen der Finanzverfassung und des Haushaltsrechtes folgen. Die sektorale und die regionale Strukturpolitik, die eingeleitet sind, müssen fortgesetzt werden. Hierzu gehören auch die Fragen der Förderung des selbständigen und des unselbständigen Mittelstandes, der Landwirtschaft und der freien Berufe. Natürlich gebührt wie bisher der Verkehrspolitik der Vorrang. Aber wichtig ist — und darauf komme ich nachher zurück, Herr Bundeskanzler —, daß die mittelfristige Finanzplanung fortgeschrieben wird. Wichtig ist, daß dabei sichtbar wird, daß der investive Teil der öffentlichen Ausgaben anwächst. Es muß alles geschehen, um unsere Wirtschaftskraft zu stärken, — zumal andere Nationen uns die Spitzenstellung in Welthandel und Industrieproduktion streitig machen. Dies alles erfordert Anstrengungen und eine feste Führung, gestützt auf eine verläßliche Parlamentsmehrheit. Das Dritte, meine Damen und Herren! Mit dem Wahlkampf und der Regierungsbildung darf das Gespräch mit der kritischen Jugend nicht zu Ende sein. Wir müssen unseren parlamentarischen Arbeitsplan so einrichten, daß genügend Zeit auch für dieses Gespräch bleibt. Denn der Wahlkampf hat doch gezeigt, daß dieses Gespräch und diese Diskussion zwar strapaziös, aber schließlich für die Demokratie doch lohnend ist. Demokratie braucht beides: den Kompromiß, ohne den praktisches Zusammenleben ebensowenig möglich ist wie die schrittweise Verwirklichung großer Konzeptionen, und die Herausforderung durch Positionen des moralischen Rigorismus, — und dies letzte schon deshalb, damit die Kompromisse, unsere eigenen eingeschlossen, nicht immer "fauler" werden. Demokratie braucht feste Prinzipien, aber auch Kompromisse. Sie lebt von der Rücksicht auf den anderen und dessen Meinung, von der Achtung vor dem Gesetz und von der Toleranz aller. Wir wissen, daß viele junge Menschen auf die neue Opposition schauen. Auch ihrer kritischen Vernunft zu entsprechen, wird unser Bemühen sein. Nun folgt auf die Zeit der "Großen Koalition" eine Zeit der "Großen Kontroverse". Den verschlossenen Türen des "Kreßbronner Kreises" folgt das öffentliche Ringen um den besten Weg hier im Parlament. Es ist schade, Herr Kollege Schmidt, daß Sie sich an diesem Abschnitt der deutschen Demokratie nicht vor allem hier beteiligen. Viertens. Die Vereinigung des freien Europas ist die Lebens- und Friedensbasis für alle Menschen dieses Kontinents. Der in den Römischen Verträgen konzipierte Weg muß zu Ende gegangen werden. Also darf die deutsche Politik sich nicht in eine Alternative zwischen Ausbau oder Erweiterung der Gemeinschaften zwingen lassen; wir brauchen beides. Das bevorstehende Treffen der Regierungschefs, Herr Bundeskanzler, sollte nicht nur die anstehenden Fragen des Ausbaus der Gemeinschaft betreffen und auch nicht nur grünes Licht für die Beitrittsverhandlungen geben und Formen der Zusammenarbeit für die Neutralen finden; diese Konferenz sollte endlich die politische Zusammenarbeit nach festen Regeln beschließen. Bundeskanzler Kiesinger hat am 22. August mit uns sein Konzept für diese Konferenz erörtert. Wir haben dem zugestimmt und es, soweit es ging, veröffentlicht. Wir halten daran fest, Es muß — so heißt es darin — ein Anfang gemacht werden auf dem Wege zu einer europäischen politischen Gemeinschaft ... Nur dann wird Europa dem gerecht werden, was die Welt von ihm erwartet: ein Faktor der Stabilität und des Friedens zu sein und den Völkern in Asien, Afrika und Lateinamerika mit seinen wirtschaftlichen Leistungen, seinem Wissen und seinen Erfahrungen auf dem Wege ihrer Entwicklung zu helfen. Dies bleibt unsere Politik, meine Damen und Herren! Dieses Europa muß offen sein für alle und die Zusammenarbeit wie den Ausgleich mit den Europäern in der Mitte und im Osten unseres Kontinents suchen. Für diese Politik, die Deutschland-Politik eingeschlossen, gelten für uns unverändert diese Festlegungen unserer Haltung fort, und ich will sie hier bezeichnen, damit wir am Schluß dieser Debatte auch wissen, wo Kontinuität gesagt und wo sie noch eingehalten wird. Meine Damen und Herren, unsere Haltung liegt in folgenden Dokumenten fest: a) der an Polen gerichtete Aufruf zur Aussöhnung Konrad Adenauers vom 1. September 1959, b) die Friedensnote der Regierung Erhard vom 25. März 1966, c) die Regierungserklärung des Bundeskanzlers Kiesinger vom 13. Dezember 1966, d) der Beschluß der NATO-Konferenz von Reykjavik vom 25. Juni 1968, e) der Bundestagsbeschluß vom 25. September 1968. In allen diesen Fragen stimmen wir Henry Kissinger zu, der in seinem jüngsten Buch sagt — ich empfehle, die Stelle genauer nachzulesen; ich kann hier nur einen Satz verlesen —: Die Neigung vieler Leute im Westen, mit Änderungen im Ton der Sowjets zufrieden zu sein und Atmosphäre mit Substanz zu verwechseln, war sicherlich den Dingen nicht besonders dienlich. Bei allem Verzicht auf Pathos und auf Sonntagsreden zur deutschen Frage — diesen Verzicht begrüßen wir — bleibt nüchtern festzustellen: auf der Grundlage der andauernden Diskriminierung Deutschlands und der Deutschen wird es mit unserer Zustimmung weder eine europäische noch eine innerdeutsche Lösung oder auch nur Befriedung geben! Auf der Basis der Menschenrechte — auch für alle Deutschen — hingegen, um deren Anerkennung wir kämpfen, läßt sich über alles reden. Wir haben in der Debatte vom 15. Dezember 1966 konkrete Punkte bezeichnet, über die mit den Verantwortlichen in Ostberlin durch Gespräch, für das wir sind, Einigung erzielt werden sollte. Diese Punkte finden sich in der Regierungserklärung vom 12. April 1967 und in den verschiedenen Verhandlungsangeboten des Bundeskanzlers Kiesinger wieder. Das alles gilt für uns fort. Im Interesse der Menschen sollten auch diese Themen behandelt werden, die wir damals noch nicht in unserem Katalog hatten: bessere Telefonverbindungen, leichtere Abfertigung im Paket- und Päckchenversand, Reiseerleichterungen, private Geldüberweisungen, mehr wissenschaftlicher, sportlicher und kultureller Austausch, Absprachen über direkte Hörfunk- und Fernsehübertragungen, Rückführung von Kulturgütern an den Ort der ursprünglichen Aufbewahrung und die gemeinsame Abwehr von Seuchen und Katastrophen. Auch in den innerdeutschen Fragen ist für uns nur ein Maßstab gültig, nämlich die Menschenrechte. Sie Stück für Stück zu erreichen, bleibt die Hauptaufgabe der Deutschlandpolitik. Und da dies, wie ich hoffe, ein Feld von Gemeinsamkeit wird oder bleibt, möchte ich an dieser Stelle Herbert Wehner zitieren, der dieser Tage auf "die harte Wirklichkeit mit ihren Schranken" hingewiesen hat. Er hat betont: Die Deutschlandpolitiker kennen zu ihrem Mißvergnügen nur die Disziplinen Hürden- und Hindernislauf, von Anfang an und bestimmt noch auf lange Strecken. Wenn Sie sehr viel Atem brauchen, Herr Franke, sprechen Sie rechtzeitig mit der Opposition. Meine Damen und Herren, die stärkste Fraktion betrachtet sich hier nicht nur als Opposition; sie wird auch durch eigene Anträge tätig werden. Deshalb habe ich diese Punkte unseres eigenen Programms bezeichnet. Nun zur Kritik der Regierungserklärung; darauf wartet der Bundeskanzler sicher schon lange. Das Programm der Koalition, so meinen wir, bleibt hinter diesen objektiven Notwendigkeiten der deutschen Politik zurück. Die neue Regierung beginnt mit einer Politik der leichten Hand. Ohne eine veränderte Finanzplanung vorzulegen, beschlossen die Koalitionspartner zuerst einmal eine Steuersenkung durch Verdoppelung des Arbeitnehmerfreibetrages. Ohne den sozialen Bezug der Einführung der Ergänzungsabgabe — z. B. den Rentnerkrankenversicherungsbeitrag — wenigstens zu erwähnen, beschloß die Koalition, diese Steuer in zwei Etappen abzubauen. Ohne mittelfristige Gewißheit über die Stärke und die Kosten der andauernden militärischen Anwesenheit der USA sowie ohne eine größere Zahl tatsächlich vorhandener Berufs- und Zeitsoldaten in der Bundeswehr wird — und dies ist in der Regierungserklärung vage formuliert; vielleicht ist es anders gemeint, aber man kann es auch so auffassen — erst einmal ein kürzerer Wehrdienst als künftige Möglichkeit an die Wand gemalt. Ohne den Beweis für etwa verminderte Bedrohung und ohne Rücksicht auf die militärische Integration der Verbündeten werden die Trägerwaffen in Frage gestellt. Das fehlt freilich in Ihrer Regierungserklärung, aber die Ihnen nahestehende Presse brachte es vorher, die FDP behauptete es vorher. Wer hat nun recht? Was ist mit den Trägerwaffen? Ohne ein Programm, das den gestiegenen Finanzbedarf für investive Zwecke, für Bildung, Verkehr, Strukturpolitik, Technologie zusammenordnet, ohne den Blick auf die anwachsende Wirtschaftskraft anderer Nationen, welche unsere Stellung im Welthandel in Frage stellt, wurden Haushaltsbelastungen und wurde eine Aufwertung beschlossen, welche nicht nur den Export und damit die Vollbeschäftigung morgen trifft, sondern die Bundesbank und den Bundeshaushalt sofort erheblich belasten. Kaum hatten Sie die Führung, banden Sie sich und damit leider uns allen erhebliche Klötze ans Bein, und das Ausmaß der Klötze ist, wie wir aus Brüssel hören, zur Stunde nicht einmal fixierbar und berechenbar. So stütze ich mich nur auf die öffentlichen Aussagen der Regierung: 4 Milliarden DM Aufwertungsverlust, 1,7 Milliarden DM jährlich zusätzliche Agrarsubventionen, 1,4 Milliarden DM jährlich Mindereinnahmen durch die Sofortvorhaben der Koalition. Was kosten die anderen Ankündigungen, wie die Abnahme der Schuldenlast der Deutschen Bundesbank, wie die Flexibilität der Altersgrenze und all die anderen Dinge? Bisher ist Antwort darauf nur Schweigen, meine Damen und Herren. Wir werden schon noch Antworten bekommen, meine Herren von der Bundesregierung. — Dann ist es doch gut! Wenn Sie Rechnungen haben und die hier nicht vortragen, dann muß man das doch als schlechten parlamentarischen Stil bezeichnen, und wenn Sie keine haben, muß man das als leichtfertig bezeichnen. Suchen Sie sich eins von beiden aus, meine Damen und Herren! Die Steuermehreinnahmen werden auf 3,8 Milliarden DM geschätzt. Aber mehr als das wird gebraucht, und mehr wird verbraucht werden, und das angesichts dieser Konjunktur und angesichts der Priorität, ein modernes Land zu bleiben. Wir fragen Sie, Herr Bundeskanzler, nach Ihren Argumenten für diese Politik. Es hätte Ihnen und uns allen besser angestanden, nicht einen fröhlichen Einstand zu geben, sondern die Anstrengungen zu fordern, die unser Land machen muß, wenn es modern bleiben will. Wir fragen Sie, auf welche Lagebeurteilung, auf welche Finanzplanung, auf welche Konjunkturverläufe Sie, Herr Bundeskanzler, diese Politik, erst einmal einen auszugeben, gründen wollen. Ich fürchte, diese Politik, die sich zu Beginn so billig macht, wird uns am Schluß allen zu teuer kommen. Hätten Sie es, Herr Bundeskanzler, mit einer leichtfertigen Opposition zu tun, so hätten Sie doch bereits — und Herr Kollege Möller müßte schon darüber rechnen — all die Gesetzentwürfe auf dem Tisch, die in der Luft hängen, die scheinbar populär und zum großen Teil auch notwendig sind: so z. B. die Steigerung aller Kriegsopferrenten, einschließlich einer Abschlagzahlung, eine wesentliche Verbesserung des Kindergeldes, Gesetzentwürfe über bessere Beamtenbesoldung, über die Erhöhung der Kilometergeldpauschale, über die Hausfrauenrente, über die Herabsetzung des Rentenalters, über die Verdoppelung des Betrages von 312 DM in der Eigentumspolitik, über die Aufstockung der landwirtschaftlichen Altershilfe und ähnliche Sachen. Nichts davon ist geschehen. Es blieb der Koalition vorbehalten, die ersten ausgabewirksamen Anträge hier ohne mittelfristige Finanzplanung vorzulegen. Wenn Sie sich erinnern, wie Sie selbst — nicht alle von Ihnen, aber die, die 1965 schon hier waren — ziemlich kaltherzig das Haushaltssicherungsgesetz 1965 gegen bessere Einsicht abgelehnt haben, dann werden Sie, glaube ich, zu würdigen wissen, welche verantwortliche Haltung die Opposition hier einnimmt. — Bevor ich mich außenpolitischen Fragen zuwende, möchte ich gern einige Merkwürdigkeiten der Regierungserklärung und der Regierungspolitik festhalten, sozusagen eine kurze Folge von Hört-HörtZurufen. Herr Bundeskanzler, Sie wollen mehr Demokratie wagen. Das ist gut. Mehr Demokratie wagen heißt aber zunächst, dem Parlament mehr und Konkretes sagen. Wir haben erstmals einen Berlin-Bevollmächtigten, der nicht in Berlin residiert. Nicht wahr, Herr Kollege Mattick: früher hätte man das — ich erinnere an einen bestimmten Vorgang — Demontage von Bundesadlern genannt. Der Herr Bundeskanzler hat einen Kanzleiminister. Nun gut. Dieses Parlament freilich, Herr Bundeskanzler, hat es mit Ihnen zu tun, und auch in den Fragen der parlamentarischen Kontrolle der Nachrichtendienste sind Sie der Adressat des Parlaments. Sie haben eine Regierung, die in Wahrheit neue, zusätzliche Stellen für acht Parlamentarische Staatssekretäre braucht, während Sie die Zeitungen mit Ihren Heldentaten des Einsparens von vier Ministern beschäftigen. Wir haben in der Regierung Minister, deren Taktgefühl es zuließ, Staatssekretäre, die besonders erfolgreiche Berufsbeamte waren, nicht einmal selbst zu verabschieden. Wie man hört, soll die Rechtsstellung der Parlamentarischen Staatssekretäre verändert werden. Ohne Gesetz geht das nicht. Und wenn die Vorhaben, die man in der Presse liest, stimmen, geht es nicht einmal ohne Änderung des Grundgesetzes. Sie suchen, meine Damen und Herren, nach Ihrer Regierungserklärung ein Sofortprogramm für die bessere Verbrechensbekämpfung. Nehmen Sie das, was Ernst Benda auf seinem Schreibtisch liegen hatte! Das war nämlich gut. Interpretieren wir richtig, wenn wir nach der Regierungserklärung in Sachen Krankenversicherung und flexible Altersgrenze Vertagung und in Sachen Hausfrauenrente Wegfall notieren? Warum ist die Koalition im Parlament gegen unsere Forderung nach einem besonderen Jugendausschuß, während die Koalition in der Regierung so gute Worte zum Problem fand? Sie haben gute Worte zur Sozialarbeit der Kirchen gefunden. Gehe ich nun fehl in der Annahme, Herr Bundeskanzler, daß Sie Ihren Einfluß als Parteivorsitzender auch benutzen werden, daß dies auch in Fragen Jugend- und Sozialhilfegesetz bis in die Kommunalpolitik der Sozialdemokraten hinein durchdringt? Angeblich hat die Bundesregierung — ich zitiere — "ein schwieriges wirtschaftspolitisches Erbe übernommen". Wir hoffen für Sie, Herr Bundeskanzler, und für uns alle, daß es nie schwieriger für uns alle und auch für Sie werden wird. Es gab ein Problem, aber kein schwieriges Erbe. Und wenn das, was die letzte Regierung hierzu gemacht hat, gar so schlimm gewesen wäre, dann hätten Sie ihr doch nicht bis zum Schluß angehört. Sie haben ihr angehört, also kann es nicht gar so schlimm gewesen sein. Die Hinweise auf "Konzertierte Aktion" und auf volle Tarifautonomie werden hoffentlich die Erfahrungen mit den wilden Streiks einbeziehen und der Konzertierten Aktion ebenso wie der angenommenen Machbarkeit aller wirtschaftlichen Dinge Grenzen setzen. Das Wort "Familienlastenausgleich" fehlt. Während für die so notwendige Kriegsopferversorgung ein Datum genannt wird — 1. Januar 1970 , wird in Sachen Kindergeld eine ungewisse Terminierung bestimmt. Wir wollen, Herr Bundeskanzler, beides, wie wir das früher hier im Hause zusammen beschlossen hatten, beides zum 1. Januar. Das Wort "Wiedervereinigung" kommt in der Regierungserklärung nicht vor. Trotzdem gilt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17. August 1956 mit dem Wiedervereinigungsgebot und mit diesen Sätzen, die ich zitiere: Nach der negativen Seite hin bedeutet das Wiedervereinigungsgebot, daß die staatlichen Organe alle Maßnahmen zu unterlassen haben, die die Wiedervereinigung rechtlich hindern oder faktisch unmöglich machen. Das führt aber zu der Folgerung, daß die Maßnahmen der politischen Organe verfassungsgerichtlich auch darauf geprüft werden können, ob sie mit dem Wiedervereinigungsgebot vereinbar sind. Soweit, meine Damen und Herren, meine einzelnen Zurufe. Nun zu einigen Punkten des Koalitionsprogramms, die nicht auf dem ökonomischen Gebiet liegen, das im Laufe der Debatte ein anderer von uns einführen wird. Erstens. Die Regierungserklärung gibt der Bildungspolitik Vorrang. Wir stimmen dem zu und haben vorher gesagt, was wir selbst konkret vorschlagen. Ihnen, Herr Wissenschaftsminister, geben wir gerne eine gute Chance. Ihr Erfolg liegt in ganz besonderer Weise in unser aller Interesse. So bleibt uns nur, der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion unser herzliches Beileid dafür auszusprechen, daß Ihr eigener Vorsitzender Ihnen bescheinigt hat, daß Sie für den wichtigsten Posten dieser Regierung dort, wo die Priorität liegt, kein geeignetes Talent hätten, ich sage: hätten! — Ja, ich kenne solche bei Ihnen. Zweitens. Das Wort "Reform" kommt in der Regierungserklärung oft vor. Jede wichtigere Frage wird so bezeichnet. Das kann nicht darüber hinwegtäuschen, Herr Bundeskanzler, daß Ihr Gesamtprogramm — was jetzt kommt, schließt an den Schluß Ihrer gestrigen Rede an in seinem reformerischen Ansatz weit hinter dem zurückbleibt, was in unserer Regierungszeit an Reformen verwirklicht wurde. — Ich nenne, schon um zu sagen, was wir besonders verteidigen werden, Herr von Dohnanyi: soziale Marktwirtschaft, soziale Partnerschaft, dynamische Rente, sozialen Wohnungsbau, Familienlastenausgleich — jawohl! — und viele andere Dinge. Ja, wollen Sie denn bestreiten, daß wir das gegen Ihre Stimmen angefangen haben? Sollen wir denn die Debatte noch einmal führen? Ich habe das ja alles nachgelesen, meine Damen und Herren. Ich füge hinzu — auch das alles nur wegen dieses Schlußabsatzes; sonst hätte es diese Passage gar nicht gegeben —: die europäische Orientierung der deutschen Friedenspolitik, die Aussöhnung mit Frankreich, die Überwindung des Klassendenkens und des Konfessionshaders in unserem Lande. Dies i s t ein modernes demokratisches Land, meine Damen und Herren. Herr Bundeskanzler, es würde vieles erleichtern, wenn Sie meine gestrige öffentliche Aufforderung ernst nähmen und ihr entsprächen. Den Satz: "Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an", diesen Satz halten Sie also aufrecht? Meine Damen und Herren von der FDP, waren Sie nicht in diesen zwanzig Jahren an der Demokratie und in der Regierung beteiligt? Oder glauben Sie vielleicht, meine Kollegen von der SPD, wir haben je bestritten, daß Sie auch als Opposition und in der Regierung an der Demokratie dieses Landes mitgewirkt haben? Meine Damen und Herren, dies war bös, was Sie da soeben sich zusammengeklatscht haben. — Ich kann doch nicht fragen, von wem welche Passage stammt, meine Damen und Herren. Herr Bundeskanzler! Es waren Männer und Frauen des Widerstandes, welche die CDU/CSU gründeten; es war die CDU/CSU, welche die längste Periode der demokratischen Geschichte unseres Landes als führende Kraft gestaltet hat. Vieles von der Basis, auf der Sie heute stehen, entstand gegen das Nein Ihrer Partei. Diese Erklärung haben Sie provoziert. Herr Bundeskanzler, ich hatte nicht vor, diese Passage zu haben. — Nein! Ich habe gestern öffentlich gesagt: "Der Bundeskanzler soll das in Ordnung bringen, und die Sache ist vom Tisch." Wer hat denn nicht mal einen Lapsus linguae? Jeder hat den mal. Aber dann gab es ja noch den Beifall bei Ihnen, meine Damen und Herren. — Also mir wäre es lieber gewesen, es wäre nicht nötig gewesen. Aber das haben Sie provoziert, Herr Bundeskanzler. Drittens. Meine Damen und Herren, ich komme zu dem außenpolitischen Teil der Regierungserklärung, in dem wohl die entscheidende Formulierung auf Seite 40 steht, nämlich von den wenigen "Festlegungen". Der außenpolitische Teil der Regierungserklärung ist mehr durch Weglassen und durch die Kunst der Wortwahl als durch Präzision gekennzeichnet. Die Welt und Ihre Opposition hier im Hause, Herr Bundeskanzler, werden Ihnen nicht erlauben, aus jedem Entweder-Oder ein konfliktfreies Sowohl-Als-auch zu machen. Wir haben hier Fragen zu stellen; denn wir wollen wissen, wohin die Reise geht. Das Parlament hat Anspruch darauf. Es will ja nicht nur "angehört" werden. a) Sie sagen: Kontinuität. Und ich sage das Folgende jetzt alles, Herr Bundeskanzler, in dem Blick auf unser Angebot zur Kooperation. Sie sagen: Kontinuität. Wie wollen Sie Ihre Erklärung von den "zwei Staaten in Deutschland" in Einklang bringen mit der Präambel des Grundgesetzes? Wie mit Ihrer Forderung nach Selbstbestimmung aller Deutschen? Und wie mit dieser Erklärung, die wir nach der tschechischen Tragödie gemeinsam ausgearbeitet und hier mit allen Stimmen der CDU/ CSU und der SPD gebilligt haben? Und ich kenne keine verbindlichere Form, sein politisches Wort zu geben, als durch Abstimmung im Parlament. Wir haben damals gemeinsam beschlossen — ich zitiere nur einen Satz: "Die Anerkennung des anderen Teiles Deutschlands als Ausland oder als zweiter souveräner Staat deutscher Nation kommt nicht in Betracht." So erklärten am 25. September 1968 einvernehmlich alle Abgeordneten der CDU, der CSU und der SPD; nicht, an dieser Stelle, die FDP. b) Aus welchen Gründen, Herr Bundeskanzler, haben Sie Tatsachen geschaffen, welche andere mißdeuten können? Ich nenne die Umbenennung des Ministeriums für gesamtdeutsche Fragen, die Residenz des Berlin-Bevollmächtigten in Bonn und die bisherige — ich bin sehr vorsichtig — Weigerung der Koalitionsfraktionen, unserer Anregung, wie bisher im Januar mit den Fraktionen und Ausschüssen des Deutschen Bundestages nach Berlin zu gehen, zu folgen. c) Sie wollen, Herr Bundeskanzler, wie Sie sagen "über ein geregeltes Nebeneinander zu einem Miteinander" in Deutschland kommen. Ist damit gemeint, was Sie präziser nicht hier im Hause, sondern vorher in einem Interview mit einer niederländischen Fernsehgesellschaft erklärten, wo Sie sagten — ich zitiere nach dpa, anderes Material stand mir nicht zur Verfügung, aber es sind zwei dpa-Meldungen gleichen Wortlauts , Sie könnten sich "ein Rechtssystem vorstellen, das bis zur endgültigen Lösung der deutschen Frage zu zwei deutschen Staaten innerhalb einer deutschen Nation führe"? Wie begegnen Sie, Herr Bundeskanzler, für den Fall, daß das zutrifft, z. B. dem jüngsten Einwand Professor Ulrich Scheuners, der Bedenken recht gibt — ich zitiere — "gegen Empfehlungen, den bestehenden Riß durch eine formale Konföderationslösung verbergen zu wollen, deren Wirksamkeit in der gegenwärtigen Lage weder vorausgesetzt werden kann noch wirkliche Erleichterungen verspräche"? Soweit das Zitat. Rivalität — das ist unsere Meinung — läßt sich nicht konföderieren, und Freiheit kann man mit Diktatur nicht mischen, meine Damen und Herren! Kennen Sie, so frage ich weiter, die Studie des Forschungsinstituts für internationale Politik und Wissenschaft, die hierzu zu dem Ergebnis kommt — ich zitiere —: ... es ist schwer einzusehen, wie die formelle Einbeziehung dieser beiden antagonistischen Ordnungssysteme in ein loses Vertragsverhältnis ... die bestehenden Gegensätze mindern oder gar beseitigen könnte ... Ein geschichtlicher Rückblick zeigt, daß für eine funktionsfähige Konföderation drei Voraussetzungen erforderlich sind: gesellschaftliche Homogenität, ideologische Kompatibilität und außenpolitische Solidarität. Nicht eine dieser Voraussetzungen ist jedoch im Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und der DDR bisher gegeben oder auf absehbare Zeit zu erwarten. d) Herr Bundeskanzler, am 30. Mai 1969 hat die Bundesregierung Kiesinger mit Ihrer Stimme beschlossen — wenn Pressemeldungen stimmen, sogar weitgehend auf Ihren Vorschlag; ich zitiere —: Die nationale Einheit wird von der Ostberliner Regierung mißachtet, infolgedessen kann eine Unterstützung dieser Regierung nur als eine Handlung gewertet werden, die dem Recht des deutschen Volkes auf Selbstbestimmung zuwiderläuft. Die Bundesregierung muß daher die Anerkennung der DDR als unfreundlichen Akt betrachten. Sie wird in einem solchen Fall ihre Haltung und ihre Maßnahmen gemäß den Interessen des ganzen deutschen Volkes von den gegebenen Umständen abhängig machen. Soweit das Zitat des Kabinettsbeschlusses, dem wir damals hier zugestimmt haben. Ich frage: Gilt das noch? e) Wir begrüßen, daß die Bundesregierung auf die Gesprächsbereitschaft Polens eingehen will. Leider haben Sie hier nichts Konkretes über Ihre Vorhaben gesagt. Herr Bundeskanzler, ohne Kooperation mit der Opposition werden Sie in dieser Frage kaum zu einem Erfolg kommen können. Wir meinen: Deutsche und Polen wollen, wie dies Bundeskanzler Kiesinger immer wieder gesagt hat, in gesicherten Grenzen leben, die frei vereinbart werden und die Zustimmung beider Völker finden müssen. Gespräche hierüber sind auch vor einem Friedensvertrag sinnvoll. Verbindliche Regelungen bedürfen der Zustimmung des deutschen Volkes. Wir meinen aber, Herr Bundeskanzler: Wer Grenzfragen lösen oder auch nur entschärfen will, muß — außer dem Verzicht auf Gewalt, das ist eine gemeinsame Politik — der Grenze, um die es geht, zunächst etwas von ihrer Totalität nehmen. In der Zeit der Raumfahrt gilt es, anstatt in Formelbüchern des 19. Jahrhunderts zu suchen, Grenzen zu überwinden, sie durchlässig und den Menschen erträglicher zu machen. Bei Freizügigkeit, bei europäischem Volksgruppenrecht — — — Aber ich habe doch damit angefangen, daß ich sagte: Wir begrüßen, daß Sie auf die Gesprächsbereitschaft Polens eingehen wollen. Meine Damen und Herren, das ist ein so wichtiger Punkt. Hier würde ich wirklich gern fortfahren; denn auch da kommt es nach unserer Meinung auf jedes Wort an. Bei Freizügigkeit — ich bleibe Ihnen doch keine Antwort schuldig; das ist doch wohl bekannt —, bei europäischem Volksgruppenrecht, bei Abbau aller Diskriminierungen nach Herkunft, Stand, Religion und Meinung überall in Europa erschienen Grenzfragen in einem anderen Licht. Nachdem diese Gesprächsbereitschaft Polens vorliegt, wäre die Bundesregierung gut beraten, nicht nur auf gesamteuropäische Initiativen anderer zu reagieren, sondern ihrerseits initiativ zu werden und allen Ländern Europas den Entwurf einer solchen Charta der Freizügigkeit, des Volksgruppenrechts und der Nichtdiskriminierung vorzulegen. Wir erinnern den Herrn Bundeskanzler an seine gute Erklärung vom 2. Juli 1967; Herrn Kollegen Wehner an sein Wort hierzu vom 28. August 1966; an unsere Festlegungen vom 29. November 1965 und vom 15. Dezember 1966 sowie an die Bundestagsbeschlüsse vom 2. Juli 1969. Ich sage das nur, damit wir die Pflöcke kennen, um die es hier geht. Eine europäische Sicherheitskonferenz, welche — und nur so ist sie doch für uns sinnvoll — einen Beitrag zur europäischen Friedensordnung leisten will, sollte nicht den staatlichen Status quo, sondern die Sicherheit menschenwürdigen Lebens in den Mittelpunkt stellen. Ein europäisches Sicherheitssystem und mehr noch eine europäische Friedensordnung brauchen gemeinsame Normen zur inneren Festigung der europäischen Lage. In dem Gespräch mit Polen muß also, wie wir meinen, auch die Lage der einen Million Deutschen, die im Verantwortungsbereich der polnischen Regierung leben, behandelt werden. An diesem Punkt wird — ebenso wie bei den innerdeutschen Problemen — deutlich, daß sich selbst eine neue politische Grenze aufbaut, wer Grenzfragen lösen will, ohne zuerst — oder zumindest zugleich — die Fragen der Menschen gelöst zu haben. Meine Damen und Herren, Franzosen und Deutsche haben allen Europäern bewiesen, daß es möglich ist — auch, wie es möglich ist —, durch gemeinsame Arbeit den Blick in die Zukunft zu richten. Auch Deutsche und Dänen haben in den Menschenrechtsfragen Lösungen gefunden. Polen und Deutsche könnten aller Welt beweisen, daß durch gemeinsame Regeln für Freizügigkeit, für Volksgruppen und gegen Diskriminierung die Landschaft des Friedens und der einvernehmlichen Regelung aller Fragen entsteht. Uns geht es auch hier um die Frage der Menschenrechte. Wenn es das zu besiegeln gilt, fragen wir nicht nach der Farbe der Tinte und der Form eines Unterschriftsformulars. Uns geht es um die Menschenrechte. Wer hier weiterkommen will, darf nicht zuerst ein Recht verschenken, der darf nichts hinter dem Rücken der Vertriebenen versuchen, der muß die Tür für europäische Lösungen offenhalten; der darf sie nicht zuschlagen; der muß anerkennen, daß gerade unsere Vertriebenen und deren oft zu Unrecht gescholtenen Funktionäre diese europäischen Lösungen allen anderen voran suchen. Ich habe eben zum Thema "europäische Sicherheitskonferenz" eine für uns wesentliche Anregung gegeben. Ich möchte dazu noch ein paar Worte sagen, weil sich die Regierungserklärung dazu ausschwieg und die Regierung eben wissen soli, wie die Opposition denkt, damit sie beurteilen kann, ob Kooperation möglich und gewünscht ist. Zu den östlichen Vorschlägen für eine solche Konferenz empfehle ich allen, die nüchtern und realistisch an das Projekt herangehen wollen, eine Studie des amerikanischen Professors Marshall D. Shulman im letzten oder vorletzten Europa-Archiv. Dort ist nachzulesen, die sowjetrussische Regierung ginge davon aus, daß Perioden hoher Spannung den Antikommunismus förderten, während unter den Bedingungen nachlassender internationaler Spannungen der Zeiger des politischen Barometers im Westen nach links wandere. Dieses Konzept sei — ich beziehe mich immer noch auf diese Studie — nicht nur außenpolitisch, sondern auch gesellschaftspolitisch gemeint und angelegt. "Ein sondierender Vorstoß zur Ermutigung neutralistischer Tendenzen in der Bundesrepublik" gehöre zu den Vorbereitungen. — Meine Meinung kommt jetzt. Es ist nach wie vor die, welche der Bundeskanzler als Außenminister bei der Tagung des Ministerrats der Westeuropäischen Union am 7. Juni 1969 unterstützt und mit herbeigeführt hat. Ich nehme an, Sie gehen davon weiter aus, Herr Bundeskanzler. Dort ist beschlossen worden: keine Vorbedingungen, Teilnahme der USA und Kanadas, sorgfältige Vorbereitung und — ich zitiere —: "Ihre Abhaltung" — also die Abhaltung der Konferenz — "ist nur gerechtfertigt, wenn Aussicht ... besteht, ... daß zumindest Fortschritte in der deutschen Frage einschließlich des Berlin-Problems und der Sicherheitsfragen, wie der Truppenstärken auf beiden Seiten, zu erwarten" sind. Dazu stehen wir. Meine Damen und Herren, die jüngsten französisch-russischen Beratungen vom Oktober haben das Prinzip einer "gründlichen Vorbereitung" bekräftigt und neben dem Fragenkreis Sicherheit den der Zusammenarbeit betont. Dies ist eine gute Tendenz. Zur Vorbereitung auf diese Debatte in einer für uns ungewohnten Rolle habe ich natürlich alte Debatten über Regierungserklärungen nachgelesen. Ich fand dabei aus der ersten Diskussion dieses Hauses am 21. September 1949 einen Satz; ich mache hier keine Mätzchen ich sage gleich, er ist von Kurt Schumacher. Ich glaube nicht, daß er für ewige Zeiten und auch nicht apodiktisch gemeint war und bestimmt auch nicht als Dogma gilt. Aber dieser Satz bleibt, ich glaube, für uns alle, eine stete Herausforderung an die kritische Selbstkontrolle vor allen ostpolitischen Schritten. Der Satz heißt: Wir müssen bei dieser Politik auch abrücken von einem Rückfall in die missionarische Illusion der Brückentheorie. Das sind Illusionen, die 1933 aus der Hoffnung entstanden, mit einem totalitären Gegner, der das Ganze will, zu einem Kompromiß zu kommen, das einem die eigene politische Existenz und Selbständigkeit läßt. So weit dieses Zitat. Fünftens und für diesen Bereich letztens: Herr Bundeskanzler, Sie haben einige Berichte angekündigt, die überwiegend seit einiger Zeit ohnehin weitgehend kraft Gesetzes in diesem Haus erstattet werden müssen. Sie haben leider vergessen, darauf hinzuweisen, daß die Terminplanung in diesem Hause nicht von der Regierung verordnet, sondern vom Parlament festgelegt wird. Hier hätten Sie doch nun klatschen können, Herr Wienand. Sie sind doch nun wirklich ein erfahrener Parlamentarier. Im Mai wollen Sie also, wie wir gestern gehört haben, hier Bildungspolitik behandeln. Meine Damen und meine Herren von der Bundesregierung und Herr Kollege Leussink, ich darf mit Verlaub sagen: Das wird früher geschehen, nämlich auf Grund von Initiativen der Opposition. — Bitte, Herr Dorn? — Aber Herr Dorn, nun hören Sie mir einmal gut zu! Sie haben doch ein gutes Gedächtnis. Wer hat sich denn bei der Gesetzgebung über die Finanzverfassungsreform, als es um diese Kompetenzen ging, vor der dritten Lesung im Vermittlungsausschuß zuerst über den zu geringen Grad an Zusammenordnung unbefriedigt gezeigt? Das waren Sie und das waren wir; Ihr Partner war das nicht. Dann ging es in den Vermittlungsausschuß und kam noch etwas geschmälerter wieder. Wir haben es schließlich akzeptiert, damit überhaupt etwas da war. Aber in der Regierungserklärung haben wir von Ihren Forderungen nach einem Bundeskultusministerium usw. nichts mehr gehört, Herr Dorn. Auf gut deutsch: si tacuisses, verehrter Herr neuer Parlamentarischer Staatssekretär! Meine Damen und Herren, ich möchte gern noch eine für uns prinzipielle Bemerkung machen. Wir begrüßen, daß der Bundeskanzler dem innenpolitischen Feld breiten Raum eingeräumt hat. Freilich muß die Debatte auf dem auswärtigen Gebiet noch die notwendigen Klarstellungen bringen. Die richtige Gesellschaftspolitik nämlich entscheidet über die Zukunft der Demokratie. Auf diesem Gefechtsfeld wird der friedliche Kampf zwischen rechter oder linker Diktatur und Freiheit gewonnen oder verloren. Ob die politischen Vorgänge für den Bürger durchsichtig und verständlich sind oder ihm fremd und unheimlich erscheinen, ob staatliche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Machtapparate Angst einflößen oder ihrer Tätigkeit und inneren Ordnung wegen als berechtigt angesehen werden, ob eine politische Landschaft der Zufriedenheit und des Respekts gegenüber der gesellschaftlichen Wirklichkeit oder die Geneigtheit zu sozialer Explosion entstehen, dies alles wird gesellschaftspolitisch entschieden. Somit ist dies die Basis der Freiheit, die Basis der Außenpolitik und auch des auswärtigen Friedens. Meine Damen und Herren, ich füge hinzu: Moderne Politik und die, die sie verantworten, brauchen heute nicht nur ein geschichtliches Bewußtsein, außenpolitische Vorausschau und das rechtzeitige Einrechnen wirtschaftlicher Fakten; ebenso sehr ist es nötig, daß die Verantwortlichen soziale Gesinnung, gesellschaftspolitische Voraussicht und Wissenschaftsverständnis haben. Meine Damen und Herren, wir werden als Opposition so arbeiten, wie es diesem Satz Konrad Adenauers entspricht: Eine große Partei, - so sagt er — sie mag heißen wie sie will und sie mag an der Macht sein oder nicht, hat in der Lage des deutschen Volkes nur eine Politik zu befolgen: das Vaterland über die Parteipolitik zu stellen. — Dies war ein Selbsttor, aber es kam von hinten, Herr Wehner, nicht von vorn in Ihrer Fraktion. Das Vaterland über die Parteipolitik zu stellen, dem wissen wir uns verpflichtet. Darauf kann uns jeder ansprechen, jeder im Volk, jeder hier im Hause und auch die neue Bundesregierung!
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