Erklärung der Bundesregierung zum Thema "Öffentliche Verwaltung" von Fritz Erler vom 06.12.1961
In: Legislaturperiode 4 des deutschen Bundestags
Abstract
Herr Kollege Burgbacher, ich glaube das ehrlich gestanden nicht, einmal weil ich nach unseren bisherigen Erfahrungen loyalerweise Zweifel anmelden muß, ob das ehrliche Bemühen um die Erarbeitung einer gemeinsamen Linie und nicht nur der Wunsch, die Opposition möge sich hinten anschließen und dadurch die Gemeinsamkeit bekunden, ohne weiteres schon vorausgesetzt werden kann, zum zweiten weil ich wirklich und wahrhaftig der Meinung bin — gut, die Dinge sind vorbei; trotzdem sage ich es mit Bedauern —, daß man angesichts der außerordentlichen Umstände, in denen wir heute unser Staatsschiff zu steuern gezwungen sind, für die Zeit der Bewältigung dieser Umstände — weiß Gott nicht, für alle Zeit, das ist selbstverständlich — auch der Umwelt gegenüber zu einer solchen Handlung der Entschlossenheit und der Demonstration mit Nutzen hätte kommen ;,können. Ich entsinne mich, daß der Kollege Reinhold Maier hier einmal gesagt hat: Was muß eigentlich in der Bundesrepublik alles passieren, damit einmal etwas passiert? Der Kollege Katzer — allerdings gebe ich zu: Am Fernsehen hat einer seiner Koalitionskollegen etwas schnippisch gefragt: Wer ist Herr Katzer?; ich hoffe, daß er sich demnächst auch einmal bei seinen neuen Koalitionsfreunden persönlich vorstellt; das wird er sicher tun —, der Kollege Katzer hat in der Sozialen Ordnung" einen nachdenklichen Satz geschrieben: Wenn die außenpolitische Situation gegen eine Minderheitsregierung spricht, spricht sie dann nicht für eine Allparteienregierung? Darauf ist eine befriedigende Antwort .... nicht gegeben worden. Deshalb stellt sich doch wirklich die Frage, was muß denn noch passieren, um eine solche Rechtfertigung zu geben? Genügt die bedrängte Situation in Berlin nicht, genügt das harte Schicksal unserer Landsleute in der Zone nicht? Diese Frage habe nicht ich gestellt, sie stammt aus Ihrer Mitte, meine sehr verehrten Damen und Herren! Kollege Mende, ich kenne einen Abgeordneten dieses Hauses, der einmal in einer Lage, in der es noch keine Mauer gab, als man sich in Berlin noch frei bewegen konnte, als noch wesentlich mehr Verbindungen zu den geknechteten Landsleuten in der Zone möglich waren, als noch manches ein bißchen offener war als heute, einer Lage, in der das sowjetische Ansinnen auf Abtrennung Berlins aus unserer Lebensgemeinschaft und auf völkerrechtliche Zementierung der Spaltung Deutschlands in der Form der von der Sowjetunion vorgeschlagenen Verträge noch nicht auf dem Tisch lag, — ich kenne also einen Abgeordneten, der damals leine Forcierung in Richtung auf eine solche Allparteienregierung gestellt hat. Er hat ,gesagt: Der Deutsche Bundestag hat vier Tage lang darum gerungen, ob der Friede Deutschlands auf dem Wege über eine Politik des entspannenden Ausgleichs zwischen Ost und West gesucht wenden soll, oder ob es der abschreckenden Wirkung deutscher Atomwaffen zur Sicherung des Friedens bedürfe; und er hat nach weiteren Passagen dann daraus die Folgerung gezogen, daß eine Regierung gebildet werden sollte, die imstande sei, das Programm des nationalen Notstands auszuführen, und zwar unter einem Bundeskanzler, der der stärksten Fraktion dieses Hauses entstamme und der den Willen und die Eignung für eine gemeinsame Außenpolitik besitze. Gemeint war klar und eindeutig eine Allparteienregierung. Der Sprecher, icier das damals gesagt hat, war Dr. Mende. Der Sprecher war Dr. Mende! Offenbar ist also die Notlage nach Ihrer Meinung damals größer gewesen als heute. Eine ganz interessante Feststellung. Eine ganz interessante Feststellung! Meine Damen und Herren, ich bin nun einmal der Meinung, daß wir das, was in unserem Volke geschieht, nicht so eng sehen dürfen, daß nur, wenn unmittelbar Leib, Leben und Eigentum von Einwohnern der Bundesrepublik Deutschlands bedroht seien, sich unser Volk in einer Notlage befinde. Denn was in Berlin und was in der Zone geschieht, das geschieht auch in Deutschland, meine Damen und Herren; das ist ein Vorgang, der sich in der ganzen Nation abspielt; und wir hier sprechen — das ist der Auftrag unseres Grundgesetzes — für jene Deutschen, die nicht in Freiheit sprechen können, und in dem bescheidenen Maße unserer Möglichkeiten sind wir aufgerufen, für sie zu wirken. Daraus aber hätte sich wahrscheinlich eben doch eine andere Konsequenz ableiten lassen müssen. Vielleicht hätte das, verehrter Kollege von Brentano, auch einen gewissen Einfluß gehabt auf die Gefühle, die Sie mit Recht hier erwähnt haben, die in der jungen Generation unserem Staatswesen gegenüber sich vielleicht noch nicht ganz so entwickelt haben, wie es sein sollte. Ich glaube, ein solches Stück Vorleben hätte vielleicht manchem klargemacht, daß die Bundesrepublik Deutschland der freie Teil des deutschen Vaterlandes ist und daß jeder junge Mensch wissen muß und wissen kann, daß des, was wir hier tun, nicht auf den Wirkungsbereich der Bundesrepublik Deutschland beschränkt bleibt, sondern dazu bestimmt ist, dem ganzen deutschen Volke und dem ganzen deutschen Vaterland zu dienen. In dieser äußeren Lage nun, in diesen Drohungen, unter denen wir zu leben gezwungen sind, kommt es darauf an, dieses freie Stück unseres Vaterlandes, die Bundesrepublik Deutschland und den freien Teil unserer deutschen Hauptstadt Berlin, auch im Innern so stabil, so krisenfest, so sicher, so freiheitlich und so gerecht wie möglich zu gestalten. Ich will mich zu diesen verschiedenen Themen etwas äußern und bekenne offen, daß ich dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebe; das ist ausgeschlossen; man kann nur auf einige Probleme aufmerksam machen. In der Debatte hat z. B. der Kollege Dollinger von dem Föderalismus als einem Ordnungsprinzip in unserem Staate gesprochen. Ich bin ihm hier noch eine Antwort schuldig. Es steht nicht nur — aber das ist schon wichtig genug — in unserem Regierungsprogramm, daß die sozialdemokratische Bundesregierung — wenn sie gekommen wäre — den föderalen Aufbau der Bundesregierung achten und vertrauensvoll mit den Ländern zusammenarbeiten wird, sondern unser Verhältnis zum Föderalismus als Ordnungsprinzip fließt seit 1945, und nicht erst seit 1949 — etwa Weil wir hier auf den Bänken der Opposition sitzen — aus anderen Quellen. Wir haben in Deutschland auf sehr schmerzliche Weise alle miteinander eingeprügelt bekommen, wie wesentlich für die Bewahrung der Freiheit der Bürger unseres Landes es ist, daß Macht sich nicht in unguter und vielleicht noch dazu unkontrollierter Weise in zu wenigen Händen zusammenballt. In Stunden von Gefahren muß man Macht konzentrieren. Auch das ist eine Binsenweisheit. Aber der innere Zustand eines Staates ist um so freiheitlicher, je mehr wir noch über die klassischen Grundsätze der Gewaltenteilung hinaus versuchen, die Machtfaktoren einander in der Balance halten zu lassen. — Entschuldigen Sie, unsere Väter haben auch noch keinen Adolf Hitler hinter sich gehabt. Es ist doch wohl erlaubt, aus der Geschichte zu lernen. Ich meine, es gibt andere, die waren früher Föderalisten und haben sich inzwischen in Zentralisten verwandelt. Aber das will ich nicht als einen grundsätzlichen Wandel ansehen, sondern das hängt so mit der zufälligen Regierungsverantwortung zusammen, das kann wieder vergehen. Das Prinzip der Gewaltenteilung in unserer Gesellschaft reicht doch heute weit hinaus über die klassischen Regeln des Zusammenspiels von Legislative, Exekutive und Justiz. Sie haben die ganze bunte Fülle der Verbände, der Parteien, die alle ein Stück Einfluß auf den politischen Bereich ausüben. Sie sind nicht vom Übel, sondern in einer freiheitlichen und in einer pluralistischen Gesellschaft notwendig. Nur müssen wir wissen, daß das dort zu einem Übel werden kann, wo eine bestimmte Gruppe, ausgestattet mit einem Übermaß an Macht, versucht, ihr Gruppeninteresse dem Allgemeinwohl vorgehen zu lassen. Das wissen wir doch alle, und darum müssen wir also ringen, daß dies nicht eintreten kann. Hierhinein gehört nun ein klares Bekenntnis zum machtverteilenden Prinzip des Föderalismus in einer demokratischen Gesellschaft. Jawohl, dazu sagen wir uneingeschränkt ja. Das ist aber noch lange nicht identisch mit Partikularismus; denn beim Partikularismus streben die Teile vom Ganzen weg. Beim Föderalismus wissen sie, daß sie ans Ganze gebunden sind und eine untrennbare Schicksalsgemeinschaft bilden, Stücke des Ganzen sind. Das heißt, daß gerade der Föderalist überall dort, wo er wirkt, wissen muß, daß auch die Länder dem Ganzen verpflichtet sind so wie das Ganze den Teilen. Sonst, meine Damen und Herren, könnte es z. B. nicht gehen, wie es unser Grundgesetz vorsieht, daß die Kulturpolitik von den Ländern in den entscheidenden Bereichen getragen wird, weil es sich doch wohl um eine "deutsche Kultur" handelt, eine Kultur, die dem ganzen Volke eigen ist, wenn sie auch in manchem Ausprägungen örtlicher Art hat. Hierher gehört auch, daß wir das Prinzip der Gemeindefreiheit sehr ernst nehmen. Ich kenne Föderalisten, bei denen reicht das föderalistische Prinzip genau noch bis zum Verhältnis zwischen Land und Bund; aber im Land hätten sie ganz gern ,die französische Präfekturverfassung. Das sind mir schöne Föderalisten! Aber die Gemeindefreiheit muß auch dafür sorgen, daß das, was eigenständig geregelt werden kann, auf der örtlichen, überschaubaren Ebene wirklich in die Hand genommen wird. Daher, was heute in der Debatte über die Regierungserklärung an den verschiedensten Punkten anklang, das Bemühen um die Wiederherstellung der Autonomie unserer Gemeinden auf einem doppelten Wege. Einmal auf dem Wege einer Neugestaltung der Finanzverfassung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, wo die Gemeinden als dritte Säule eingezogen werden müssen. Hier wurde der Minister Eberhard so gelobt. Nun erheben wir keine Urheberrechtsklagen, so ist das gar nicht, aber das steht auch wieder in unserem Regierungsprogramm, daß die Gemeinden an dem Aufkommen ertragreicher und krisenfester .Steuern beteiligt werden und in diesem Sinne dritte Säule unserer Finanzverfassung werden müssen. Gut, wenn wir uns so weit einig sind, hoffe ich, daß sich, obwohl man uns vor der Wahl dafür beschimpft hat und gesagt hat, das sei wegen der fehlenden Zweidrittelmehrheiten und der fehlenden Grundgesetzergänzung und wegen der Länder gar nicht möglich, nun vielleicht doch in gemeinsamer Arbeit alle die zusammenfinden, die man für ein so großes Werk braucht, und daß man das große Werk der Neuordnung der Finanzverfassung in der Bundesrepublik Deutschland in Angriff nimmt. Ich möchte diese Hoffnung hier — ausdrücklich im Namen meiner Freunde — aussprechen. Erst dann sind die Gemeinden imstande, die ihnen obliegenden Aufgaben auch eigenständig zu erfüllen. Allerdings sollte man sie dann zweitens auch nicht in der Erfüllung dieser ihrer eigenständigen Aufgaben hindern, wie das gelegentlich durch Bundesgesetze — noch kurz vor dem Auseinanderlaufen des vorigen Bundestages — geschehen ist. Darüber müssen wir auch noch einmal nachdenken. Die Gemeinden dürfen in ihren örtlichen Aufgabenbereichen nicht verkümmern. Was wollen wir daraus lernen? — Daß die Demokratie, in der wir uns bewegen, nie vollendet ist, daß sie eine ständige Aufgabe bleibt, immer neue Probleme stellt. Unsere Gesellschaft ist einem beständigen Strukturwandel unterworfen — sie fließt —, und infolgedessen werden auch die Organisationsformen, die politischen Regeln, die Gesetze, die wir hier zu beschließen haben, immer wieder diesem Wandel angepaßt werden. Aber dabei kommt es u. a. darauf an, daß wir unsere Rolle richtig spielen; ich meine die Rolle des Parlaments, das nicht ein ausführendes Organ der Bundesregierung ist, sondern das als Ganzes der Regierung als Kontrolleinrichtung gegenübergestellt ist. Auch das müssen wir sehen: diese lebendige Spannung nicht nur zwischen Regierungsmehrheit und Opposition, sondern zwischen Parlament und Regierung, gehört auch zu den Notwendigkeiten, die wir beachten müssen, um die Freiheit zu bewahren, und es gehört dazu, daß das Parlament dabei auch auf seine eigene Behandlung durch die Regierung achtet und ein gewisses Maß von Selbstachtung entfaltet, damit wir Vorbild für draußen werden. Unsere Demokratie hat leider nicht die lange Geschichte, wie sie gewachsene Demokratien in manchen anderen europäischen und überseeischen Ländern haben. Da haben wir noch sehr viel nachzuholen. Wir werden erst dann festen Grund unter den Füßen haben, wenn unsere Mitbürger im Lande draußen weithin wirklich begriffen haben — und sich so verhalten —, daß sie keine Untertanen mehr, sondern Staatsbürger sind, die Rechte haben, aber auch korrespondierende Pflichten erfüllen müssen; das gehört zusammen. Hier könnte, obwohl es nicht Sache der Bundesregierung ist, vielleicht eine Einrichtung wie die Bundeszentrale für Heimatdienst über den Rahmen des normalen Schulunterrichts hinaus, der ja in Länderhand liegt, einiges tun. Hier liegt die große Aufgabe politischer Bildung, die wir nicht verwechseln dürfen mit der Propaganda für eine bestimmte Partei, auch wenn sich diese Partei gerade in der Regierung befindet. Die Öffentlichkeitsarbeit ist eine Öffentlichkeitsarbeit für den ,ganzen. Staat und nicht für die Mehrheitspartei. Hierher gehört auch, meine Damen und Herren, daß wir mit unserem Grundgesetz so behutsam wie möglich umgehen. Es gab unter den Juristen dieses Hauses Erwägungen darüber, wie man dieses Haus davor bewahren kann, bei aller guten Absicht unter Umständen selber einmal verfassungsrechtlich danebenzutreten und nachher von Karlsruhe gerügt zu werden. — Das ist aber nur eine Nebenerwägung, mir geht es um etwas anderes. Das Grundgesetz sollte einen solchen Rang haben, daß man nicht im Laufe einer Legislaturperiode bei den verschiedensten Sachgesetzen zu den verschiedensten Terminen plötzlich entdeckt: da ist also noch rasch eine Grundgesetzergänzung mit hineinzuflicken, sondern daß sich die Regierung überlegt: wo mag es Notwendigkeiten geben, und daß sie das auf längere Zeit übersieht. Sie weiß, daß es zu Grundgesetzergänzungen oder -änderungen einer Zweidrittelmehrheit des Hauses bedarf. Darin steckt der Zwang zur Zusammenarbeit mit der Opposition, jetzt nun nicht als Opposition, als Gegenüberstehenden, sondern als Partner. Sonst bekommt man keine Grundgesetzergänzungen zustande. Wir wollen der Bundesregierung nicht in irgendeiner Weise das Initiativrecht beschneiden. Das steht ihr nach dem Grundgesetz zu; das ist selbstverständlich. Es ist aber eine Frage des politischen Stils, wieweit man dahinkommen kann, daß gerade im Umgang mit dem Grundgesetz zunächst einmal vorgeklärt wird, für welche Notwendigkeiten und wie eine breite Grundlage geschaffen werden kann, bevor eine öffentliche Polemik entbrennt, die dann normalerweise das Ergebnis gefährdet. Ich habe nach den bisherigen Ausführungen des neuen Bundesinnenministers Höcherl das Gefühl, daß er diesen Zusammenhang richtig erkennt. Wir hoffen, daß er auch die praktischen Folgerungen daraus zieht. Es ist in den vergangenen Monaten manchmal z. B. über die Notwendigkeit gesprochen worden, für Notfälle Vorkehrungen zu treffen. Seien wir uns darüber im klaren, daß das eben nur geht, wenn die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung, die Bindung der Staatsgewalt an die Grundrechte, die Gewaltenteilung und die Grundsätze der im Notfall notwendigen Dezentralisation bei gleichzeitiger Gesamtverantwortung respektiert werden. Wir haben eine Fülle von Anmerkungen zu diesem Thema gemacht und werden sicher später darauf zurückkommen. Wir wollen diesen Staat aber nicht nur so stabil wie möglich, so fest auf dem Grundgesetz stehend wie möglich, gestalten, sondern wir wollen uns auch darum bemühen, jedem einzelnen Bürger das Gefühl zu geben: in diesem Staat habe ich das, was in dieser unvollkommenen Welt an Gerechtigkeit gefunden werden kann, auch wirklich verbürgt. Hierher gehört die Justizreform, die Reform des Strafprozeß- und des Verkehrsstrafrechtes. Wir haben vorgeschlagen, eine Familienrechtskommission einzusetzen, die auch auf diesem dornigen Gebiet einmal unabhängig von den politischen Auseinandersetzungen des Tages Grund machen soll. All das muß das Gefühl wecken, daß in der Demokratie der Staatsbürger sein Schicksal und das der Gemeinschaft mitbestimmt. Dazu gehört, daß es in einem demokratischen Staatswesen keine wirkliche Macht geben kann, ohne daß ihr auf irgendeine Weise eine Kontrolle zugeordnet ist. Es gibt hier die vielfältigsten Formen. Im Wirtschaftsleben z. B. ist die wirksamste Form der Machtkontrolle die Gegenmacht im Wettbewerb. Aber da, wo das nicht reicht, muß von Rechts wegen nachgeholfen werden. Kartellgesetz! Ich glaube, wir werden da manches noch neu regeln müssen, um einer ungesunden Machtkonzentration entgegenzuwirken. Hierher gehört auch ein gewisser Einblick in die Machtpositionen unserer großen Wirtschaftsunternehmungen dort, wo sie wirklich Macht darstellen und nicht durch andere Faktoren bereits kontrolliert werden. Hierher gehört eine neue Unternehmensverfassung, die die Unternehmen durchsichtiger macht und damit der öffentlichen Kritik aussetzt; denn ein wichtiger Teil der Kontrolle der Macht vollzieht sich durch die öffentliche Beobachtung und Kritik. Das geht uns so, das geht der Regierung so, und das muß allen so gehen, die Macht ausüben, gleichgültig in welchem Bereich sie sich befinden. Hierher gehört dann auch der Einbau etwa der Erfahrungen mit dem Mitbestimmungsrecht. Ich war vorhin etwas seltsam von dem Vorstoß berührt, den gerade der Kollege Dr. Mende gegen eine bestimmte Zusammenballung von Macht unternahm: nämlich gegen die gemeinnützigen Wohnungsbauunternehmen. Herr Kollege Dr. Mende, wenn ich darin Ihre Ankündigung erblicken dürfte, daß sie überall dort — auch im Bereich der privaten Großwirtschaft —, wo große Wirtschaftskomplexe mit Hilfe öffentlicher Mittel — z. B. durch Selbstfinanzierung oder über Steuerbegünstigungen — entstanden sind, den Weg zur breiten Eigentumsstreuung mit uns beschreiten wollen — 1957 stand es in der Regierungserklärung; diesmal ist es vergessen worden, Herr Kollege Barzel —, dann wären wir uns sehr bald einig. Was ich aber nicht für richtig halte, ist, daß man sich nur einen Zweig herauspickt. Das Ganze, verehrter Herr Kollege Mende, wird ideologisch nämlich mit schwerer Fracht behaftet, wenn man sich ausgerechnet die gemeinnützigen Wohnungsbauunternehmen als einzigen Faktor herausnimmt, bei dem man Macht kontrollieren will. Dazu kommt, daß ein großer Teil jener Unternehmen in der Rechtsform der Genossenschaft betrieben wird. Ich wäre sehr froh, wenn überall im Wirtschaftsleben die Mitglieder als Genossenschaftler — oder auch als ehrenamtliche Mitarbeiter, von denen es hier Hunderte und Tausende gibt — in der gleichen Weise Einfluß auf die Unternehmenspolitik hätten, wie es bei diesen Unternehmen der Fall ist. Es Stecken hier Probleme drin, das sei zugegeben; zu passender Zeit wird darüber zu reden sein. Wenn wir schon vom Wohnungsbau hier sprechen — er spielt auch in der Regierungserklärung eine gewisse Rolle —, dann sollten wir auch spüren, wie eng der Spielraum hier durch die Tatsache geworden ist, daß der Bodenwucher für absehbare Zeit eine vernünftige Wohnungsbaupolitik, die auch für den kleinen Mann erträgliche Mieten bringt, geradezu zu verhindern droht. Was sich auf dem Baulandmarkt abspielt, ist erschütternd. Ich habe mit Interesse in der Regierungserklärung gelesen, daß man, um diesem Problem, aber auch noch einigen anderen, zu Leibe zu gehen, ernsthafte Anstrengungen auf dem Gebiet der Raumordnung vorhabe. Ich begrüße das. Nach meiner Meinung kann durch ein entsprechendes gewichtiges Vorgehen erreicht werden, daß auch unsere wirtschaftlich schwachen Gebiete mit an die allgemeine Entwicklung herangezogen werden. Eine Bemerkung aber kann ich mir nicht versagen: wir fangen wirklich etwas spät mit der Raumordnung an, meine Damen und Herren, nachdem wir einige Millionen Wohnungen hingebaut haben und der Raum auf diese Weise erst einmal besetzt ist, den es eigentlich zu ordnen gegolten hätte. — O nein, Raumordnung reicht weit über die gemeindlichen Probleme hinaus, — Ballungsproblem und all das; aber darüber wollen wir wohl jetzt keine Fachdebatte führen, die kommt sicher ein andermal. Herr Kollege Mende hat hier das Wohnungsbauproblem angesprochen und daraus — in seiner Sicht — ein Stückchen Eigentumspolitik gemacht. Wir werden uns sehr bald über Vorschläge meiner Freunde zur Vereinheitlichung der Sparförderung unterhalten können und auch darüber, wie der Grundgedanke der Regierungserklärung des Jahres 1953, daß die Ausgabe von Volksaktien nicht auf Betriebe im Bundesbesitz beschränkt bleiben solle, in diesem Bundestag vielleicht doch einmal einer ernsthaften Diskussion zugeführt werden kann. Gerade Herr Kollege Dollinger hat im Zusammenhang mit der Eigentumspolitik sehr ausführlich auf die Mittelstandsprobleme aufmerksam gemacht. Hier gibt es in vielem ein hohes Maß an Übereinstimmung. Endlich hat sich der Gedanke einer wettbewerbsneutralen Umsatzsteuer überall herumgesprochen. Ich möchte das ausdrücklich anerkennen, auch hier, ohne dine Urheberrechtsgebühr für meine Freunde zu verlangen. Das Institut für die Mittelschichten sollte so beschaffen sein, daß die Erkenntnisse der modernen Wissenschaft auch für Selbständige nutzbar gemacht werden können. Nebenbei, Kollege Dollinger — vielleicht haben Sie es gemerkt —: Sehen Sie, jetzt sind einige Teile dran, die der Kollege Brandt aus Zeitmangel weggelassen hat. Sie kommen also auf Ihre Kosten. Nur sagt das jeder halt in seiner Sprache; das ist selbstverständlich. Aber ich halte die Punkte für so wichtig, daß sie nicht der zeitlichen Begrenzung, die sich der Kollege Brandt gesetzt hat, zum Opfer fallen sollten. Ich muß einen Satz zu den Ankündigungen der Bundesregierung bezüglich der Behebung der Verkehrsnöte sagen. Mir wäre es lieb gewesen, wenn Herr Minister Seebohm seine Gedanken, die er vor der Wahl vorgetragen hat, auch nachher in die Regierungserklärung hineinpraktiziert hätte — das ist leider nicht geschehen —, nämlich daß die vom Verkehr erbrachten spezifischen Verkehrsabgaben so lange für den Straßenbau zweckgebunden werden, bis die Verkehrsnöte wirklich behoben sind. Als zweites gehört wohl die Feststellung hierher, daß unsere Bundesbahn erst dann wieder richtig wettbewerbsfähig wird, wenn die Bundesregierung ihr zu einer angemessenen Kapitalausstattung verhilft und ihr die gemeinwirtschaftlichen Sonderlasten abnimmt. Im Ruhrgebiet herrscht von Zeit zu Zeit Unruhe, wenn bestimmte Betriebe von den Schwierigkeiten bei der Anpassung an die Umstellungsvorgänge in der Energiewirtschaft betroffen sind. Die Bergbauenquete, die Energie-Enquete ist immer noch in der Arbeit. Ist sie fertig? — Dann um so besser! — Ich höre das soeben vom Kollegen Friedensburg. — Ich finde, wir sollten dafür sorgen, daß uns die Bundesregierung möglichst bald die Grundzüge einer vorausschauenden Energiepolitik vorträgt, weil es sich um die Bewahrung einer der sicheren Grundlagen für große Teile unseres Wirtschaftslebens überhaupt und um die Existenz von Hunderttausenden von Menschen und von zahlreichen Gemeinwesen in der Bundesrepublik Deutschland handelt. Sonst werden vielleicht Anpassungsprozessen gegenüber Opfer gebracht, die nur bestimmte Schichten treffen, während heute hier das Wort Opfer in einem ganz anderen Sinne gemeint war. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir von Opfern sprechen, sollten wir uns nicht scheuen: dann muß man auch von Geld sprechen. Mit all dem, was Sie, Kollege Dollinger, zur Steuerpolitik vorgetragen haben — Sie haben sich dabei ja auch eingehend mit dem Regierungsprogramm der SPD beschäftigt —, haben Sie mich nicht davon überzeugt, daß selbst dann, wenn dadurch, daß um der Wiederherstellung eines größeren Maßes an Gerechtigkeit willen Spitzeneinkommen und Spitzenvermögen ein angemesseneres Ausmaß an Lasten auf sich nehmen, keine völlige Umschichtung unseres Steuersystems eintritt, daß selbst dann, wenn dadurch nicht viele, viele Milliarden zusätzlich in unseren Säckel fließen, es sich nicht dennoch lohnt, dahinzukommen, daß jeder Bürger unsere Landes weiß: wenn Opfer gebracht werden, dann werden sie in unserem Lande nach den Maßstäben der Gerechtigkeit gebracht. Das ist doch der Punkt, auf den es ankommt. Wir sind nun einmal der Meinung, daß es auf die Dauer nicht angeht, wenn ein Land in unserer Lage, das sich heute noch mit den Folgen des verlorenen Krieges herumzuschlagen hat, wenn ein solches Land Spitzeneinkommen und Spitzenvermögen wesentlich generöser behandelt als etwa — um nur zwei Beispiele zu nennen — die Vereinigten Staaten oder Großbritannien. Hier ein besser ausgewogenes Verhältnis wiederherzustellen — beileibe nicht mit konfiskatorischen Sätzen zu arbeiten —, ist wichtig. Daß das Arbeiten nicht bestraft werden darf daß die Initiative nicht erstickt werden darf, darüber sind wir uns einig; aber hier ist noch ein erheblicher Spielraum für ein höheres Maß an Gerechtigkeit gegeben. Daher eben doch unsere Vorschläge, nicht nur das Steuersystem übersichtlicher zu gestalten, sondern auch die Vermögen- und Erbschaftsteuer für Millionenvermögen gestaffelt zu erhöhen, große Spekulationsgewinne der Einkommensteuer zu unterwerfen, mit der außergewöhnlichen Begünstigung großer anonymer Gesellschaften bei der Körperschaftsteuer Schluß zu machen und für Großeinkommen über 100 000 DM jährlich bei der Einkommensteuer eine etwas stärkere Progression als bisher einzuführen. Gerade wenn man von Opfern spricht, erleichtert es den sonst Betroffenen ihre Opferbereitschaft ganz erheblich, wenn sie wissen, daß sich die hier gemeinten Gruppen in einer angemessenen Weise an den Opfern beteiligen. Was wir auf der anderen Seite vorgeschlagen haben und dem Hohen Hause auf dem Gebiete einiger Verbrauchsteuern demnächst in Form von Vorlagen zuleiten werden, das hat nicht unbedingt etwas mit dem Nikolaus zu tun, sondern das hat auch etwas mit unserer Außenhandelspolitik zu tun und damit, daß sich die Bundesregierung auf einer Reihe internationaler Konferenzen in einer sehr schlechten Lage gesehen hat, als sie den konzentrischen Angriffen der Entwicklungsländer gegenüberstand bei der Forderung, nun endlich einmal durch die Reduzierung von Fiskalabgaben bestimmte tropische Produkte in die Bundesrepublik in größerem Ausmaß einzuführen. Wir wissen, daß das für jene Länder in Wahrheit auch nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist, aber sie spüren dann wenigstens unsere Bereitschaft, ihnen auf diese Weise zu helfen. Wenn das außerdem unsere Hausfrauen freut, warum soll man es dann nicht tun? Nach unseren bisherigen Erfahrungen steigen die Umsätze so, daß bei dem Geschäft kaum Steuerausfälle eintreten. Meine Damen und Herren, da wir hier schon von Steuern sprechen, möchte ich jenes Schuldbekenntnis in Ihre Erinnerung rufen, das die Bundesregierung in ihrer Regierungserklärung zum Thema "Finanzreform" ausgesprochen hat. Sie hat nämlich gesagt, man müsse sich darum kümmern, aus der allzu gelegentlichen Steuerflickarbeit herauszukommen, die Jahr um Jahr hier und dort Kleinigkeiten ändert und die unser Steuersystem als Ganzes auf die Dauer eher verschlechtert als verbessert. Das ist richtig, und wir werden deshalb wie die Bundesregierung dafür eintreten, daß zur Lösung des Gesamtproblems der Finanzreform in all ihren Aspekten möglichst bald eine Sachverständigenkommission eingerichtet wird. Das stand auch in unserem Regierungsprogramm, aber mit einem wichtigen Unterschied: Wir wünschen nicht, daß die Kommission bis ans Lebensende ihrer Mitglieder tätig wird, sondern daß sie Ende 1962 das Ergebnis ihrer Arbeiten vorlegt. Aber auch hier, meine Damen und Herren: ohne Zweidrittelmehrheit und Zusammenarbeit der Parteien und der Länder ist die Aufgabe der Finanzreform nicht zu meistern. Lassen Sie mich noch auf ein anderes für unsere innere Stabilität wichtiges Gebiet eingehen. Es ist hier verschiedentlich vom sozialen Bundesstaat gesprochen worden. Auch der ist nie fertig, auch der ist eine mit dem sich verändernden Fluß unserer technischen und industriellen Entwicklung beständig neu gestellte Aufgabe. Auch der, verehrter Kollege Gerstenmaier, trifft in Wahrheit eben doch nie ganz an die Grenzen, von denen Sie gesprochen haben, sondern auch der muß in Bewegung gehalten werden und darf nicht erstarren. — Das nehme ich mit Befriedigung zur Kenntnis. Es ist eine Binsenwahrheit, daß ein Volk nur jene sozialen Leistungen erbringen kann, die sich aus einer gesunden und einer ständig wachsenden Wirtschaft herausarbeiten lassen. Daher wünschen wir, daß die Bundesregierung endlich auf die Forderung eingeht, in Form eines Jahreswirtschaftsberichts eine Übersicht über das, was war, und über das, was vermutlich kommt, sowie über die Ziele zu schaffen, die die Regierung selber mit dem Instrumentarium moderner Konjunkturpolitik erreichen will. Ich habe beide Ohren gespitzt, verehrter Herr Kollege Dollinger, als Sie davon sprachen, daß die Hochkonjunktur kein Naturgesetz sei. Jawohl! Gerade weil das so ist, brauchen wir einen solchen Jahreswirtschaftsbericht und ein Instrumentarium für aktive Konjunkturpolitik. Das erspart uns vielleicht auch manches Geschwätz über die vielbeschrieene Versachlichung der Lohnpolitik. Ich glaube es einfach nicht, daß man, wie Herr Dr. Mende und wie die Bundesregierung es getan haben, einen so engen Sektor aus dem Wirtschaftsablauf herausgreifen und nur auf dem Gebiet der Lohnpolitik den Beteiligten, vor allen Dingen natürlich dem einen Beteiligten, nämlich den Gewerkschaften, gut zureden kann. Das geht gar nicht. Die Lohnbildung gehört genau wie die Preisbildung in den Gesamtzusammenhang unserer wirtschaftlichen Vorgänge hinein. Wenn Sie dieses Gespräch versachlichen wollen, gibt es dafür nur eine einzige vernünftige Grundlage: den von uns geforderten Jahreswirtschaftsbericht. Mit ihm haben Sie dann ein solches Gespräch über diese Probleme. Ich habe mich gewundert, daß man sich ebenso wie zur Lohnpolitik auch auf einem anderen Gebiet einseitig nur an eine Adresse gewandt hat. Man hat nämlich vor einem Übermaß an Forderungen, die eine Inflation auslösen könnten, nur bei der Sozialpolitik gewarnt. Andere Gruppen der Gesellschaft, die bei ihren Wünschen an das Parlament nicht gerade zart besaitet auftreten, wurden nicht genannt. Von anderen Haushaltsansätzen, die unter Umständen auch etwas mit der Entwicklung der öffentlichen Ausgaben rund mit möglichen inflationären Gefahren zu tun haben, wurde nicht gesprochen. Genau diese beiden Dinge waren es, die uns zu der Feststellung geführt haben, die Herr von Brentano etwas sehr hart mit dem Wort "Demagogie" glaubte zurückweisen zu müssen, nämlich daß die Gefahr bestehe, daß die Arbeitnehmer angesichts der Regierungserklärung das Gefühl bekommen könnten, sie würden an den Rand der Regierungspolitik gedrückt. Meine Damen und Herren, wenn unser Kollege Katzer dasselbe sagt, dann ist das offenbar keine Demagogie. Ich hoffe auch, daß es nicht etwa als Demagogie betrachtet wird, wenn sich Ähnliches in den Beschlüssen findet, die der Deutsche Gewerkschaftsbund bei seiner Analyse der Regierungserklärung gefaßt hat. Da heißt es: Zu den lebenswichtigen Fragen der Arbeitnehmer hat sich die Regierungserklärung gar nicht oder nur ausweichend geäußert. Es fehlt in der Regierungserklärung jede Kritik an den maßlosen Gewinnsteigerungen der Unternehmungen. Dagegen wird den Gewerkschaften eine maßvolle Lohnpolitik zugemutet und damit die Drohung verknüpft, daß gegebenenfalls neue Lösungen und Formen der Zusammenarbeit der Sozialpartner gefunden werden müßten. Der einseitige und arbeitgeberfreundliche Standpunkt der Regierungserklärung konnte nicht deutlicher dokumentiert werden. Die Drohung mit einem Eingriff in die Tarifautonomie deckt sich auffallend mit den Vorstellungen der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände. Mit diesem Zitat wollte ich Ihnen lediglich warnend vor Augen führen, daß nicht etwa nur wir allein es gewesen sind, die bei der Durcharbeitung der Regierungserklärung dieses Gefühl gewonnen haben. Deswegen sollte man das Wort des Deutschen Gewerkschaftsbundes in dieser Frage nicht überhören. Hier war davon die Rede, daß die Gewerkschaften in den ersten Jahren nach der Währungsreform ein bemerkenswertes Maß an Einsicht gezeigt hätten. Meine Damen und Herren, Hand aufs Herz! Inzwischen etwa nicht?! Ist die Bundesrepublik Deutschland nicht — bei allen Diskussionen und Auseinandersetzungen, die es natürlich zwischen den Gewerkschaften und ihren Vertragspartnern auch gibt — gleichzeitig dasjenige Land in der westlichen Welt mit dem geringsten Ausfall an Arbeitszeit durch Arbeitskämpfe?! Lohnt es sich nicht, einmal darüber nachzudenken, ob hier eine volkswirtschaftliche Gesamtverantwortung zum Ausdruck kommt, die wir respektieren und anerkennen sollten?! Und noch eine Bemerkung. Wo wären wir wohl geblieben, wenn nicht auch und gerade durch die Tätigkeit der Gewerkschaften mit den steigenden Produktionsmöglichkeiten und der effektiv gestiegenen Produktion unserer Wirtschaft einigermaßen, nicht einmal voll, das Arbeitnehmereinkommen, aber darüber hinaus auch durch unsere Tätigkeit das abgeleitete Einkommen der Empfänger von Leistungen aus der Sozialversicherung usw. mit der allgemeinen Entwicklung Schritt gehalten hätte?! Wir wurden hellhörig, als hier neulich in der Debatte — nicht über die Regierungserklärung, sondern über die neue Rentenanpassung — von den Sprechern der FDP ziemlich deutlich zum. Ausdruck gebracht wurde, daß man jetzt innerhalb der neuen Bundesregierung beginnt, den Grundsatz der automatischen Rentenanpassung an die Entwicklung der Löhne und Preise in Frage zu stellen. Meine Damen und Herren, seien wir hier wachsam! Unsere Binnenkonjunktur lebt davon, daß der gestiegenen Produktionsfähigkeit auf der einen Seite auf der anderen Seite auch immer die Kaufkraft des Letzten Verbrauchers gegenüberstand. Dafür müssen wir nämlich auch sorgen. Ansonsten war Herr Kollege Dr. Mende zu den Gewerkschaften ziemlich freundlich; denn er hat die Gewerkschaften in seine Ahnenreihe einbezogen. Vielleicht gibt es dafür einmal eine Ehrenmitgliedschaft beim DGB. Mal sehen, was sich tun läßt, Kollege Dr. Mende. Aber Sie haben hier eine Vokabel gebraucht, die mich etwas erschreckt hat. Sie haben schlicht Kapitalismus und freiheitliche Gesellschaft gleichgesetzt. Das ist genau jene Gegenüberstellung, die die Kommunisten haben wollen, damit sie dann der Gegenpol zum Kapitalismus seien. Verzeihen Sie, Kollege Dr. Mende, das ist noch 19. Jahrhundert! Wir sind inzwischen weiter. Die Bundesrepublik Deutschland, in der wir nicht regieren, sondern in der wir in der Opposition stehen, ist inzwischen, wie viele andere westliche Industriestaaten, in einen gesellschaftlichen Transformationsprozeß hineingeraten, bei dem verdammt wenig vom Kapitalismus des 19. Jahrhunderts übriggeblieben ist. Wie wir das taufen, ist mir vollkommen gleichgültig. Entscheidend ist, daß uns der Durchbruch zu neuen Ufern gelingt und daß wir auf dem Wege dahin sind. Das Ziel — ich möchte nicht davon abgehen — steht im Grundgesetz. Da steht nicht "Kapitalismus", sondern da steht "der demokratische und soziale Bundesstaat". Mir langt das völlig als Umschreibung dessen, was wir haben wollen. Das ist natürlich in dem Sinne zu verstehen, daß ein solches Ziel nie ganz erreicht wird. Es bleibt immer noch eine Menge zu tun übrig trotz vielem, was getan worden ist. Da war die Rede, Kollege Dollinger, von der Alterssicherung der Selbständigen. Da ist von uns — Sie werden im nächsten Jahr auf Grund der Zahlen merken, daß dieses Problem immer drängender wird — die Einführung einer Mindestrente zur Debatte gestellt worden, damit die Altersversorgung nicht für viele illusorisch wird und sie nicht doch noch trotz der Rente zum Wohlfahrtsamt laufen müssen. Damit werden wir uns sehr bald zu beschäftigen haben. Deswegen brauchen wir das heute nicht auszudiskutieren. Wir werden uns weiter befassen müssen mit Fragen, die sich im Hinblick auf manche Verbesserungen der Kriegsopferversorgung, aus der Rentenanpassung und mit Rücksicht auf Veränderungen auch der Leistungen an die Vertriebenen im Lastenausgleichsgesetz ergeben. Lastenausgleich! Das führt mich zu einer in der Bundesrepublik sehr wesentlichen Bevölkerungsgruppe, bei der einige Probleme jetzt in diesem Parlament auf die Hörner genommen werden müssen. Wir haben, glaube ich, nachdem ja wohl alle Ausreden, man würde sonst einen Sog auf die Zonenbevölkerung entfalten, dahingeschwunden sind, doch wirklich die Aufgabe, endlich Heimatvertriebene und Sowjetzonenflüchtlinge einander voll gleichzustellen. Gleiches Schicksal verdient gleiche Hilfe, meine Damen und Herren! Das ist das eine. Zweitens sollten wir mit dem nur zu Ungerechtigkeiten führenden System der verschiedenen Stichtage gründlich aufräumen. Drittens ist das Notaufnahmegesetz überflüssig geworden. Denn wer heute noch unter der Gefahr, tödlich getroffen zu werden, von drüben herauskommt, der hat wahrhaftig eine Gefahr für Leib und Leben hinter sich gebracht. Weiter sollten wir uns darum bemühen, die Vorfinanzierung des Lastenausgleichs mit Energie weiterzutreiben, um dort zu einem Abschlußgesetz zu gelangen. Es müßte jetzt möglich sein — wo doch keine großen Flüchtlingsströme mehr kommen die Mittel bereitzustellen, um die Lager endlich aufzulösen, — was weitgehend eine Frage der Wohnungsbaupolitik ist. Auch für die vertriebenen Bauern genügt, glaube ich, nicht das, was in der Regierungserklärung steht, daß nämlich entsprechend der bisherigen Planung verfahren werden soll. Wir wissen genau, daß die Zahl der nach dieser Planung angesetzten Bauernstellen infolge ungenügender Haushaltsmittel, gestiegener Kasten und eines zu komplizierten Verfahrens von Jahr zu Jahr zurückgegangen ist. Aber abgesehen von den materiellen Dingen wird es wohl heute mehr denn je wichtig, daß die kulturelle Tradition, die unsere Landsleute mitgebracht haben, bei uns nicht verlorengeht, daß wir es ihnen ermöglichen, immer wieder zu zeigen, was alles zur lebendigen Kulturgemeinschaft dieses unseres Volkes gehört, und daß wir dann das ganze deutsche Volk meinen und nicht nur die Bewohner der Bundesrepublik Deutschland, auch wenn diese die freien Deutschen sind. Ein anderes Thema ist in der Regierungserklärung sehr mager behandelt worden. In der Debatte kam es etwas deutlicher heraus. Wir werden darüber sicher in diesem Hause — das ist heute schon abzusehen — erbitterte Auseinandersetzungen führen. Deswegen sei es ganz freundschaftlich heute schon angekündigt. Ich meine das Gebiet der sozialen Krankenversicherung. Hier wird etwas in die Debatte geworfen, was als Schlagwort dient, was aber, glaube ich, den Tatbestand eben nicht trifft: das Wort von der Stärkung der Selbstverantwortung. Ich will zugeben, daß es in der sozialen Krankenversicherung Leute gibt, die die Versicherungseinrichtungen zum Schaden der Mitversicherten und der Allgemeinheit schamlos mißbrauchen. Jawohl! Laßt uns darüber reden, wie wir denen, die das mißbrauchen, das Handwerk legen können! Aber es entspricht geradezu polizeistaatlichem Denken, wenn man, weil einige sündigen, alle bestraft (Beifall — wir reden sowieso noch im einzelnen darüber; ich kündige es nur an, damit Sie wissen, wo wir stehen — und wenn man ausgerechnet Ärzten und Versicherten mit jenem globalen Mißtrauen gegenübertritt und so tut, als gebe es in unserer Bevölkerung eine übergroße Masse geborener Drückeberger. Der Aufstieg unseres Landes ist von fleißigen Leuten vollbracht worden, so daß ein geringeres Maß an Mißtrauen bei der Reform der sozialen Krankenversicherung durchaus angemessen wäre. Eine erfreuliche Feststellung habe ich hier heute in der Debatte machen können, nämlich die, daß die Freien Demokraten bereit sind, unseren Vorschlägen auf dem Gebiete des Kindergeldes — Kindergeld auch für das zweite Kind und Finanzierung aus öffentlichen Mitteln — zu folgen. Wir werden Ihnen möglichst bald Gelegenheit geben, sich hier im Bundestag zu diesen Vorschlägen zu bekennen. Darauf können Sie sich verlassen. Vielleicht läßt sich das auch noch etwas anreichern durch einige Gedanken — deren Ausführung nicht einmal allzuviel Geld kostet — über die Erleichterung der Familiengründung durch Darlehen. Ich habe mich hier heute auch darüber gefreut, daß und wie eine Lanze für eine vernünftige Neugestaltung der Beamtenbesoldung gebrochen worden ist. — Das kam ja von den Regierungsparteien! Warum darf ich mich nicht darüber freuen, Herr Kollege? Das werden Sie doch wohl einsehen. Ich nehme an, daß das Wort • deswegen so besonders sachkundig und zutreffend hier gesprochen werden konnte, weil ) der Finanzminister der gleichen Partei angehört; dahinter können wohl keine bösen Absichten gesteckt haben. Deswegen bin ich sicher, daß die Neuordnung der Beamtenbesoldung relativ rasch vonstatten gehen wird. Meine Damen und Herren, nach allen diesen Ausführungen noch zwei Schlußbetrachtungen. Ich glaube erstens, daß dieser Überblick über die Notwendigkeit, die Bundesrepublik gerade so hart am Rande der Demarkationslinie zwischen den beiden Welten in Ost und West so stabil und gesund und freiheitlich und gerecht wie möglich zu machen, gezeigt hat, daß die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus natürlich auch ihre sicherheitspolitischen Aspekte hat, aber im übrigen viel weiter reicht, daß sie viel mehr ist als ein militärisches Problem. Wenn wir die Dinge — auch wenn wir uns um Einzelheiten streiten mögen — im Prinzip so sehen, dann wird es uns auch gelingen, die geistigen und seelischen Kräfte der Nation zum Bestehen dieser Auseinandersetzung zu mobilisieren. Ich möchte in dieser weltweiten Auseinandersetzung einen Satz wiederholen, den mein Freund Willy Brandt hier gesprochen hat: daß wir uns alle miteinander schützend vor unser Volk stellen müssen, wenn die sowjetischen Politiker und ihre Gefolgsleute jenseits der Zonengrenze versuchen, ihre Geschäfte gegen das deutsche Volk dadurch zu betreiben, daß sie das deutsche Volk und die Bundesrepublik Deutschland diffamieren, es handle sich um Revanchisten, Militaristen, Kriegsbrandstifter und ähnliches Gelichter. Willy Brandt hat mit großem Nachdruck — ich glaube, wirklich im Sinne von uns allen — dargetan, daß wir Deutschen nach den schmerzlichen Erfahrungen mit unserer jüngsten Geschichte von keinem anderen Volk in der Einsicht uns übertreffen lassen, was ein militärischer Konflikt gerade für uns und auch für unsere Hauptstadt bedeuten würde, und in der Liebe zum Frieden, daß aber gleichzeitig diese Friedensliebe mit der Entschlossenheit gepaart ist, unsere Freiheit gegenüber jedem zu bewahren, der sie uns nehmen zu können glaubt, und mit dem Willen, mit politischen Mitteln, auf friedlichem Wege, nie erlahmend, immer wieder das unsere dazuzutun, daß auch jenen Landsleuten die Freiheit wieder einmal zuteil wird, denen sie heute durch fremde Gewalt vorenthalten wird. Wenn wir das so sehen, dann überkommt uns — mich jedenfalls — ein gewisses Bedauern darüber, daß der Abschnitt über die Gedanken der Bundesregierung zu dem wichtigen Weltproblem der kontrollierten Begrenzung der Rüstungen und der Abrüstung so mager ausgefallen ist. Es genügt nicht, daß wir uns nur allgemein zur kontrollierten Abrüstung bekennen und sagen: die anderen haben einen guten Friedensplan, und dem schließen wir uns hinten an. Aus vielen, vielen Gesprächen weiß ich, daß die anderen darauf warten, daß auch wir beim Mitdenken helfen, daß auch wir unseren Regierungsapparat ein bißchen besser darauf einrichten müssen, als das zur Zeit geschieht. Denn allein das Durchdenken und Durcharbeiten der Literatur geht über die Kraft der wenigen Menschen, die in unseren Regierungsämtern damit befaßt sind. Wir sollten uns, wenn wir nun schon nur zu 'allgemeinen Gedanken ja sagen, auf gar keinen Fall dazu verleiten lassen — wie es die Regierungserklärung tut —, zu spezifischen Gedanken nur blanko nein zu sagen, ohne das im einzelnen sorgfältiger durchzurechnen, als es in der Regierungserklärung geschehen ist. Ich halte es auch nicht für weise — um das ganz offen zu sagen —, daß die Regierungserklärung in einem viel härteren Wortlaut, als ihn der Verteidigungsminister in den Vereinigten Staaten gebraucht hat, der das Thema sehr behutsam behandelt hat, plötzlich unsere Verbündeten mit der Forderung überfällt, die NATO baldmöglichst zur vierten Atommacht zu machen. Sicher steckt darin — Willy Brandt hat darauf aufmerksam gemacht — ein wichtiger Punkt: wenn es um Leben und Tod des eigenen Volkes gehen kann, dann ist es legitim, zu erwarten, daß derartige Entscheidungen nicht über den Kopf der eigenen Regierung hinweg gefällt werden können. Jawohl, darüber muß man mit den Verbündeten reden. Aber die Formel, die in der Regierungserklärung steht, ist vom Verteidigungsminister bei seinen Äußerungen in den Vereinigten Staaten von Amerika vermieden worden. Sie würde gerade dazu beitragen, jener, auch kommunistischen Propaganda gegen uns Nahrung zu geben, die leider in etwas leichtsinnigen Äußerungen des Bundeskanzlers während der Wahlzeit Nahrung gefunden hat, in der er eben zum Unterschied von seinem Verteidigungsminister — ich muß das doch noch einmal sagen — nicht zwischen den Atomwaffen und den Trägern unterschieden, sondern sich für die atomare Bewaffnung schlechthin ausgesprochen hat. Wer ein Pfund Literatur zu dem Zweck zu lesen wünscht, dem stelle ich sie gern zur Verfügung; ich will Sie hier mit den Zitaten gar nicht langweilen. Daher teile ich die Kritik, die im "Rheinischen Merkur" zu dem Thema ausgesprochen worden ist mit der Befürchtung, daß Berlin solche atomaren Hochsprünge mit einer weiteren Verschärfung der Krise bezahlen müsse. Ich bitte daher die Bundesregierung, sich sorgsam zu überlegen, ob man hier in der Öffentlichkeit vorpreschen sollte, wohlwissend, daß die Verbündeten zu diesem. Thema entweder eine dezidiert andere Meinung oder noch .gar keine Meinung haben. Der Verteidigungsminister hat in den Vereinigten Staaten gesagt, daß er den Rahmen seines Vortrags überschreiten würde, wenn er mögliche Lösungen und Formeln nennte; denn das würde die kommende Diskussion stören, weil jede öffentliche Erörterung die ruhige Behandlung dieser Frage erschweren und die negativen Kritiker alarmieren würde, die genau alle Möglichkeiten wüßten, wie man eine Frage nicht lösen könne. Genau das scheint mir eingetreten zu sein. Daher bitte ich, die Regierungserklärung nachträglich dahin zu korrigieren, daß wir uns zunächst einmal behutsamer auf das einstellen, was die Verbündeten zu sagen haben; denn ich glaube nicht, die deutsche Politik fährt gut, wenn sie in solchen Fragen als Rammbock auftritt. Hier ist vorhin nach der Rede meines Freundes Brandt noch einmal gefragt worden: Wie ist denn das eigentlich mit eurer Haltung zu den größeren Verteidigungsanstrengungen der Bundesrepublik? Ich will darauf ganz unzweideutig anworten: Wir Deutsche können — auch im Hinblick auf unsere Verhandlungsposition — von unseren Verbündeten nicht verlangen, daß sie in einer Frage, in der unser Schicksal so auf dem Spiele steht wie das ihre, für uns Mehrleistungen auf dem Gebiet der Verteidigung erbringen, während wir mit den Händen in der Hosentasche danebenstehen. Das ist ausgeschlossen. Darüber herrscht in diesem Hause überhaupt kein Streit, und das möchte ich einmal klarstellen. Noch etwas anderes: Wie man das am zweckmäßigsten macht, darüber hätte nun weiß Gott die Bundesregierung zu gegebener Zeit auch einmal mit uns ein Wort reden können. Am 22. August 1961, also 9 Tage nach dem 13. August, nach der Pariser Außenministerkonferenz, nach dem Besuch des damaligen Ministers in den Vereinigten Staaten, hatte ich darum gebeten, einmal im Verteidigungsausschuß des alten Deutschen Bundestages — denn den gab es doch noch — darüber zu berichten, was im Busche ist und was unter Umständen getan werden muß. Der Minister — so habe ich mir sagen lassen — war bereit zu kommen; die Mehrheitsparteien, FDP eingeschlossen, haben damals unser Begehren niedergestimmt — wahrscheinlich weil gerade Wahlkampf war. Meine Damen und Herren, wir waren bereit, uns unterrichten zu lassen und ernsthaft mit Ihnen darüber zu reden. Und dann wird mir heute gesagt, die Opposition hätte sich ja auch einmal den Kopf darüber zerbrechen können, wie man Mehrleistungen auf dem Gebiet der Verteidigung aufbringt. So geht das nicht. Wir sind bereit, ein gebührendes Maß an Verantwortung zu tragen, aber dann, wenn man mit uns geredet hat, bevor man die Entscheidungen ausgebrütet hat, wenn man offen die Karten auf den Tisch gelegt hat, damit wir die Argumente prüfen können und damit wir miteinander darüber reden können, wie man es am besten macht für Volk und Staat. Das ist doch wohl das Minimum dessen, was wir verlangen können. Eine bestimmte Form der Dienstzeitverlängerung ist unausweichlich. Die Frage ist, ob das wirklich mit dem richtigen Maß und für alle in der richtigen Weise geschehen ist. Dabei werden z. B. vom Standpunkt der Gerechtigkeit Probleme aufgerissen. Wenn man die Dienstzeit für die, die man hat, verlängert, zieht man noch weniger ein. Wie sieht das aus bei der territorialen Verteidigung? Wie sieht es bei den verschiedenen Waffengattungen aus, wo es welche gibt, bei denen der Mann trotz der Verbandsübungen schon nach einem Jahr eigentlich nicht mehr recht weiß, was er zu tun hat, und andere, wo er auch mit zwei Jahren in einer hochmechanisierten Truppe noch kein ausgebildeter Kämpfer ist? Laßt uns doch über diese Dinge einmal reden! Verehrter Kollege Mende, bei allem Respekt vor Ihrer wackeren Haltung — "wir haben uns im Koalitionsvertrag darauf geeinigt" —: der Koalitionsvertrag ist kein Ersatz für eine sachliche Debatte dieser Fragen. Auch für die Verteidigung gibt es die Pflicht, daß das Parlament mitdenkt. Auch die Verteidigung entzieht sich nicht dem Gebot der Diskussion auf der Suche nach der besten Lösung. Auch sie braucht eine sachkundige Beratung, und das Finden der besten Form kann man nicht durch stramme Haltung ersetzen. Ich glaube nicht, daß man es so machen kann, wie es in Ihren Äußerungen möglicherweise anklang — vielleicht wissen Sie mehr —: Ich kenne zwar die Absichten der Regierung im einzelnen nicht, aber ich billige sie. Das wäre genau so falsch, wie wenn bei uns das Echo lautete: Wir kennen zwar die Absichten der Regierung nicht, aber wir mißbilligen sie. Wir wollen erst die Absichten der Regierung genau kennen, dann wollen wir darüber reden, wie man es am besten macht, und davon wird unsere Entscheidung abhängig sein, von nichts anderem. — Sicher, es ist kein Gespräch mit uns geführt worden! — Entschuldigen Sie! Genau dies ist ein Thema, bei dem ein verantwortlicher Politiker wissen muß, was die Regierung an Tatsachen mitgebracht hat und wie die Planung aussieht. Wenn ich dieses Thema auf Zeitungsberichte hin zur Entscheidung bringen wollte, wäre ich geradezu verantwortungslos. Herr von Brentano hat gesagt, die Verteidigungsbemühungen, die verstärkt werden müßten — damit hat er recht — gälten auch der Bewahrung unserer Position in Berlin. Richtig! Aber da ist es lehrreich, wofür Verteidigungsbemühungen notwendig sind und was man unter Umständen nicht mit ihnen erreichen kann. In der Berliner Frage zeigt sich nämlich, daß man Positionen, die man politisch geräumt hat, in dieser unserer Welt militärisch nicht mehr zurückgewinnen kann. Deshalb hat die Verteidigung eine doppelte Seite: die militärischen Anstrengungen und eine zähe, einfallsreiche und auch tapfere Politik, die auch dem Bundestag in der Berlin-Frage früher gemeinsames Bekenntnis war. Mir tut es leid, daß wir eine solche Debatte in den vergangenen Jahren nicht zwischendurch einmal in Berlin abgehalten haben. Weil die Sowjetunion uns aus Berlin weggescheucht hat, ist das heute soviel schwieriger geworden, meine Damen und Herren! Wenn wir schon von Verteidigung sprechen: In der Regierungserklärung ist vom Bevölkerungsschutz etwas "mager" die Rede. Er ist ein Teil der Landesverteidigung. Warum wird die Regierung jetzt erst aktiver? Auch hier handelt es sich um eine gemeinsame Aufgabe von Bund, Ländern und Gemeinden und der politischen Kräfte, ohne deren Zusammenwirken sie schon rein organisatorisch gar nicht bewältigt werden kann. Ich bejahe den Grundsatz, daß man die Kräfte für den Bevölkerungsschutz nur gewinnen kann, wenn Klarheit darüber besteht, daß das gleichzeitig als eine Leistung anerkannt wird, die im Dienste der Landesverteidigung erbracht wird. Die Sicherheit für die Bundesrepublik Deutschland, um die wir uns in der jetzigen Lage bemühen, bleibt, auch wenn wir noch viel mehr täten als wir tun können, Stückwerk. Unser Land bleibt gefährdet, solange Deutschland gespalten ist — wir haben es mit der Insellage unserer Hauptstadt zu tun — und solange jenseits der Zonengrenze ein unmenschliches Regime auf unsere Landsleute einen solchen Druck ausübt, daß dort ein Überdruck im Dampfkessel mit unberechenbaren Folgen entsteht. Deshalb gehört zur Sicherheitspolitik — ich wiederhole das noch einmal — außer der militärischen Komponente auch die politische hinzu. Deshalb muß man sogar dieses Berlin-Problem auch im Interesse unserer Sicherheit hineinstellen in die größeren Zusammenhänge, weil sonst die Gefahr bestehen bleibt. Deshalb sollte man etwas weniger selbstgerecht über die Vergangenheit reden. Ich will jetzt gar nicht den Geschichtsschreibern die Aufgabe abnehmen; ich meine nur: es steht doch leider fest, daß das, was viele damals gesagt, angekündigt, erhofft, erstrebt haben, eben heute nicht als Ergebnis auf unserem Tische liegt, sondern leider das Gegenteil. Jetzt haben wir es zu tun mit einer Sowjetunion, die die Ergebnisse des zweiten Weltkrieges völkerrechtlich zu Papier bringen und in der Berlin-Frage noch mehr nach Hause tragen will. Deshalb wird drüben versucht, die Sowjetzone völkerrechtlich ins Spiel zu bringen, und deshalb ist es gefährlich, die Gefahr einer Isolierung der Berlin-Frage leugnen zu wollen. Leider laufen wir doch zunächst — auch wenn das von Herrn Dr. Mende als Interimsgespräch bezeichnet wird — auf eine isolierte Diskussion zu, bei der niemand weiß, wann und unter welchen Umständen sie je weitergeht. Unter Umständen bezahlen dann wirklich die Falschen. Wir sollten uns da nicht zu Gefangenen eigener Wunschvorstellungen machen lassen. Deshalb war es gut, daß der Bundestag in der Vergangenheit — und in Teilen klang das ja auch heute bei Ihnen erfreulicherweise noch durch — immer wieder auf den unlösbaren Zusammenhang zwischen Berlin, der ganzen deutschen Frage und dem Problem der europäischen Sicherheit aufmerksam gemacht hat. Herr Kollege von Brentano hat davor gewarnt, die europäische Sicherheit mit der Berlin-Frage zu koppeln. Natürlich dari sie nicht mit der BerlinFrage allein gekoppelt werden; das wäre falsch; sie ist zu koppeln auch mit der deutschen Frage; denn Berlin ist eingebettet in die deutsche Frage und von dia her in die Frage der europäischen Sicherheit. Es handelt sich doch um den gesamten Zusammenhang, wie er sehr richtig auch von der NATO im Dezember 1958 unmittelbar nach Vorlage des russischen Ultimatums vorgetragen worden ist. Heute haben wir es also leider nur noch mit dem Rest von West-Berlin zu tun. Jeder Versuch, die Viermächtediskussion über ganz Berlin wieder in Gang zu bringen, ist verdammt schwierig. Hier ist mit Recht vor dem falschen Status-quo-Denken angesichts der Mauer gewarnt worden. Der Koalitionsvertrag, von dem ja niemand weiß, was "geheime Kommandosache" ist unid was nicht und welche Fassung die richtige ist — ich nehme einfach einmal die, die in den Zeitungen stand —, hat verlangt, daß die Bundesregierung hier die Initiative zurückgewinnen müsse, und hat sich dabei bezogen auf unsere gemeinsame Arbeit, die Bundestagsentschließung vom 1. Oktober 1958, und die Rede des Bundestagspräsidenten vom 30. Juni 1961. Meine Damen und Herren, es ist schade, daß das, was also in dem Papier steht, eben nicht bis in die Regierungserklärung durchgedrungen ist, und ich wäre Ihnen sehr dankbar, Kollege Dr. Mende, wenn es Ihrem Einfluß gelänge, hier die Übereinstimmung von Geburtsurkunde und Taufschein in der praktischen Politik wiederherzustellen. In der Berlin-Krise hat der alte Bundestag eine Reihe guter Werke getan. Wir haben mehr Zusammenwirken fertigbekommen, als die Regierung uns eigentlich ermöglichte, unter sehr ungünstigen inneren Verhältnissen. Daher noch einmal die Warnung davor, die Verbindung Berlins mit den größeren Fragen auch nur stückweise aufzugeben; und mit der Warnung natürlich die Hoffnung für die Bundesregierung, daß es selbst bei der jetzigen Lage ihr gelingen möge, diesen Zusammenhang wiederherzustellen. Sehr seltsam hat mich berührt, was in dieser Debatte über die Behandlung der Berlin-Frage vor den Vereinten Nationen gesagt worden ist. Meine Damen und Herren, da ist der Regierende Bürgermeister von Berlin damals heftig angegriffen worden, weil er die Unverfrorenheit hatte zu meinen, man sollte die Sache wegen der Verletzung der Menschenrechte vor die Vereinten Nationen bringen. und es hat dann sogar, glaube ich — ich weiß es nicht genau —, eine Diskussion !auf der Außenministerkonferenz in Paris gegeben, wo auch die Bundesregierung sich dagegen wehrte, daß das Berlin-Problem dort landet. Meine Damen und Herren, ich freue mich über die neue Erkenntnis. In der Regierungserklärung der Bundesregierung erscheint sie nicht. Wir waren nicht der Meinung, daß es gut wäre, etwa unter dem Stichwort "Gefährdung ides Weltfriedens" eines Tages unvermeidlich mit der Berlinfrage im Sicherheitsrat und .damit beim sowjetischen Veto zu landen, sondern wir waren der Meinung, daß es wirklich besser ist, die Sache, solange der Westen die Dinge noch in der Hand hat und nicht alle anderen Völker vor der sowjetischen Drohung zittern, unter dem Gesichtspunkt zertretener Menschenrechte vor die Vereinten Nationen zu (bringen. Ich wollte hier nur darauf hingewiesen haben. Ich wäre nicht auf dieses Thema zu sprechen gekommen, wenn nicht plötzlich die Vereinten Nationen attackiert worden wären, warum sie sich nicht mit dem Problem beschäftigt hätten. Aber unsere eigene Politik hat das leider zu verantworten. Die Bundesregierung will sich nach der Regierungserklärung mit aller Kraft für das Zustandekommen des Friedensvertrages einsetzen. Da bleibt ein ganzes Kapitel offen. Wie? Welche Vorbereitungen trifft sie? Trifft das zu, was im Koalitionsvertrag darüber verabredet ist, oder nicht? Hierher gehört noch, daß die Außenpolitik der Bundesrepublik im Zeichen wachsender europäischer Gemeinschaft sich nicht auf die Sorgen beschränken kann, die uns unmittelbar auf den Nägeln brennen. Bin Wort zur europäischen Zusammenarbeit. Wir haben mit Befriedigung registriert, daß sich die Bundesregierung über den Eintritt Großbritanniens freut. Ich glaube, es sollte gemeinsame Aufgabe aller kontinentalen Partner sein, das ihre zu tun, die Briten nicht nur in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hineingehen zu lassen und Hindernisse dagegen aus dem Wege zu räumen, sondern sie gleichzeitig auch in enger Fühlung mit allem zu halten, was sich auf dem Gebiet der politischen Zusammenarbeit entspinnt. Denn es wäre verhängnisvoll, wenn wir eine politische Gemeinschaft ohne Großbritannien und eine wirtschaftliche mit Großbritannien hätten; schon wegen der Verteidigungsprobleme wäre das nahezu undenkbar. Gerade das Engagement der Briten ist ein wertvolles Sicherheitsunterpfand für uns alle. Die gewachsenen Demokratien Großbritanniens und einiger skandinavischer Länder würden dem gesamten politischen Klima innerhalb der europäischen Gemeinschaften nur bekömmlich sein. Wir sind der Meinung, hier ist ein Prozeß in Gang gekommen, der nicht umkehrbar werden darf. Die Gemeinschaft darf nicht aufgelöst, nicht gelockert werden. Sie muß fester werden und trotzdem offenbleiben für die verschiedenen Formen der Mitwirkung oder der Assoziierung anderer. Diese Formen sollte man so wählen, daß nicht etwa die Sowjetunion bestimmen kann, wer sich an den europäischen Gemeinschaften beteiligen darf und wer nicht. Und ein weiteres! Es gilt, die Gemeinschaftseinrichtungen zu stärken, daraufhin auch noch einmal die Pläne unserer französischen Freunde sich anzusehen. Es gilt, die Exekutiven zusammenzufassen und dafür zu sorgen, daß ihnen dann eine funktionierende parlamentarische Kontrolle gegenübersteht. Das Parlament hat eine ungeheuer integrierende Wirkung. Die Arbeit unserer sozialistischen Fraktion etwa ist ein gutes Beispiel dafür, und vielleicht kommen wir dann bald dahin, daß ein solches Parlament auch durch direkte Wahl der Abgeordneten besonders eng mit unseren Bevölkerungen verbunden wird. Denn bei den europäischen Gemeinschaften kommt es darauf an — auch hier spreche ich, glaube ich, für uns alle —, daß sie Gemeinschaften der Völker werden und nicht nur organisierte Bürokratien. Daher ist es wichtig, daß die Bundesregierung die deutschen Absichten auf diesem Gebiete klärt und das Parlament laufend informiert. Meine Damen und Herren, damit habe ich den innen- und außenpolitischen Überblick abgeschlossen. Im letzten Absatz der Regierungserklärung steht ein Satz, der nicht allzuviel Gutes verheißt. Da heißt es in Wahrheit, daß die Bundesregierung den Anschluß der Opposition an ihre Vorstellungen fordert, statt daß sie die Hand bietet zur gemeinsamen Erarbeitung der Vorstellungen, die wir zusammen verwirklichen wollen. Sie sagt dort, sie erwarte, daß alle Mitglieder dieses Hohen Hauses den Grundprinzipien der Politik der Regierung zustimmen. Nein, meine Damen und Herren, wichtig sind Diskussion und Mitwirkung an der Entscheidung, bevor die Entscheidungen fallen, und nicht nur das Bitten um nachträgliche Zustimmung. Und ein allerletztes, aus einem ganz anderen Thema! Eine persönliche Anmerkung. Herr Kollege von Brentano sprach von den sittlichen Grundlagen, die sich bei unserer Arbeit auf die verpflichtende Tradition christlichen Denkens gründen müssen. Er erwähnte dabei, daß in der Zeit der Verfolgung durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft die Christen beider Konfessionen sich zusammengefunden und dort also den Weg in die spätere Union vorbereitet hätten. Lassen Sie mich aus eigenem Erleben und Erleiden etwas hinzufügen. Am 15. September 1939, vor mehr als 22 Jahren, stand ich vor dem Volksgerichtshof in Berlin und wurde dort zusammen mit einem evangelischen Geistlichen zu zehn Jahren Zuchthaus wegen der Arbeit gegen das Hitlerregime verurteilt. Jawohl, es haben sich damals Christen aller Konfessionen über die trennenden Gräben hinweg gefunden, aber im Widerstand gegen das "Dritte Reich" und im Wirken für ein neues Deutschland — ich sage das ganz offen und ehrlich —, Christen u n d Nichtchristen. Was uns vorschwebte, uns, den Christen — zu denen zählte ich auch in jenen Jahren in Berlin im. Kirchenkampf mit meinem Freunde —, das war ein demokratisches Deutschland, in dem es verschiedene Kräfte gibt, die miteinander ringen. Da gingen wir nicht von der Vorstellung aus, daß sich dann alle Christen etwa in einer Partei fänden. Deswegen wollte ich als Nachklang sagen: ich sage ja zum Herausstellen der sittlichen Grundlagen, aber ich meine, daß das Christentum nicht auf ein bestimmtes gesellschaftspolitisches Ordnungsbild verpflichtet; es gibt konservative, liberale und sozialdemokratische Christen. Das wollte ich hier nur gesagt haben, damit wir gar nicht erst falsche Akzente setzen. Die Christen als Salz der Erde wirken in verschiedenen politischen Parteien. Denn sobald sie sich in einem Volk mit unserer im wesentlichen durch das Christentum geprägten Tradition alle in einer Partei fänden, wäre das wieder ein Einparteienstaat, den wir alle nicht wollen. Deshalb wollte ich diese mahnende Bemerkung aus eigenem Erleben hier noch anschließen, weil ich der Überzeugung bin, daß unsere Demokratie der Vielfalt der Kräfte und des Wirkens von Christen in allen demokratischen Parteien bedarf.
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