Medienaneignung und Aufwachsen im ersten Lebensjahrzehnt: Editorial
In: Merz Medien + Erziehung: Zeitschrift für Medienpädagogik, Band 59, Heft 6, S. 3-8
Abstract
"Die aktuelle Ausgabe von merzWissenschaft nimmt die Wechselbeziehungen zwischen den Bedingungen des Aufwachsens und aktuellen medialen Entwicklungen in den Blick. Im Fokus stehen dabei Prozesse der Medienaneignung im ersten Lebensjahrzehnt." So steht es im Call for Papers für die vorliegende Fachpublikation. Die Bedeutung der Medien und medialen Entwicklungen im Aufwachsen der jüngsten Mitglieder der Gesellschaft beschäftigt die Medienpädagogik und benachbarte Disziplinen schon seit einiger Zeit. Dennoch gibt es zu diesem Thema bislang noch wenig gesichertes Wissen. Angela Tillmann, Sandra Fleischer und Kai-Uwe Hugger haben mit dem 2014 erschienen Handbuch Kinder und Medien einen strukturellen Überblick über den aktuellen theoretischen und empirischen Forschungsstand herausgegeben. Aber auch hier ist die jüngste Zielgruppe nur sehr schwach vertreten. merz hat mit der zweiten Ausgabe in diesem Jahr den Versuch unternommen, die Altersspanne der frühen und mittleren Kindheit aus medienpädagogischer Perspektive in den Fokus zu nehmen (merz 2/2015 Medien und Kindheit) und zeigt verschiedene Ansatzpunkte in der medienpädagogischen Forschung und Praxis. Mit merzWissenschaft wurde das Spektrum noch einmal geöffnet für den Blick anderer Forschungsdisziplinen auf das Feld Medienaneignung und Aufwachsen im ersten Lebensjahrzehnt. Die zügig voranschreitende Mediatisierung der Lebenswelten hält sowohl die davon betroffenen Akteurinnen und Akteure als auch die Forschung und die Theoriebildung auf Trab. Diese Beschleunigung und das permanente Gefühl hinterher zu hecheln dürfen aber nicht dazu verführen, den Kopf in den Sand zu stecken und die Entwicklungen als solche zu notieren, ohne sie zu analysieren und zu evaluieren. Das breite Spektrum der Beiträge zu dieser Ausgabe von merzWissenschaft qualifiziert sich dadurch, dass einerseits aktuelle mediale Entwicklungen aufgegriffen und andererseits konzeptionelle und theoretische Deutungsversuche vorgelegt werden.
Von Mediennutzung bis Kinderglück
In ihrer Auswertung des Medienzusatzmoduls im Rahmen des DJI-Surveys Aufwachsen in Deutschland konzentrieren sich Alexander Grobbin und Christine Feil auf die Eltern von Kindern im Klein-, Vorschul- und Grundschulalter. In ihrem Beitrag Informationsbedarf von Müttern und Vätern im Kontext der Internetnutzung von Klein-, Vor- und Grundschulkindern wird deutlich, dass Eltern heute herausgefordert sind, die mit den technologischen Innovationen einhergehenden sozialen und persönlichen Implikationen praktisch im Alltag zu bearbeiten, was insbesondere auch heißt, sich mit Fragen des Kinder- und Jugendschutzes auseinanderzusetzen. Aus den Daten geht hervor, dass Eltern auch der Jüngsten die digitalen und mobilen Medien selbstverständlich in ihren Alltag einbinden. Aber sie sind in großem Ausmaß bemüht, die Kinder im genannten Altersbereich im Internet persönlich zu begleiten. Auch in Haushalten Alleinerziehender gehen Kinder selten oder nie alleine ins Internet. Dabei werden in der überwiegenden Anzahl der Familien Regeln betreffend der Inhalte und der Nutzungsdauer festgelegt. Bemerkenswert ist die größere Offenheit der Väter, das Internet als Erziehungsthema anzusehen, was auf eine stärker eingeschätzte eigene Internetkompetenz zurückgeführt werden kann. Die Relation familialer und institutioneller Medienerziehung ist dadurch geprägt, dass die Eltern die Kindertagesstätten nicht als Ort der zusätzlichen Einführung in den Mediengebrauch und der entsprechenden Begleitung ansehen. Das ändert sich entscheidend mit dem Schuleintritt. Schule soll aus Sicht der Eltern ihren Beitrag zum Bildungsbereich Medien leisten. Darüber hinaus wünschen sich Eltern insgesamt vor allem direkt umsetzbare Informationen zu den Kinderschutzeinstellungen. Etwas weniger ausgeprägt ist das Informationsbedürfnis bezüglich kindgerechter Internetseiten und Apps. Die neuen Möglichkeiten des Internets und der Internetapplikationen stellen ein Werkzeug zur Selbstermächtigung dar. In der frühen Kindheit werden beispielsweise mit einem Wischen über oder Tippen auf das Tablet Bilder und andere Kreationen möglich. Dass aus dieser Selbstermächtigung auch eine Förderung der positiven Eltern-Kind-Interaktionen entstehen kann, thematisiert Sandra Michaelis in ihrem Artikel Welchen Einfluss haben Mobile Apps auf die frühe Eltern-Kind-Beziehung? Dazu benennt sie die anthropologisch-entwicklungspsychologischen Voraussetzungen unter Rekurs auf die Arbeiten von Tomasello (2010). Auf diese Weise gewinnt die Medientheorie eine veränderte Perspektive auf die Art der Nutzung unterschiedlicher Medien mit besonderem Fokus auf den sozialinteraktiven Aspekt, der auf geteilte Intentionen und geteilte Aufmerksamkeit angewiesen ist. Plastisch gemacht wird ebenso, dass die Identifizierung von Elementen einzelner Apps für Kinder aufgrund ihrer Zweidimensionalität und kindgerechten Nutzungsmöglichkeiten einen hohen kognitiven Aufwand erfordert. Ein weiteres Fundament der Erörterungen bilden Aspekte der Gebrauchsforschung aus der Medieninformatik. Nur in einem solchen interdisziplinären Zugriff wird es gelingen, Apps zu entwickeln, die produktiv von Eltern und Kindern genutzt werden können.
Während hierzu noch so gut wie keine Forschung existiert, werden im Beitrag von Jutta Wiesemann, Clemens Eisenmann und Inka Fürtig Medienpraxis in der (frühen) Kindheit Ethnografische Exploration des familiären Smartphonegebrauchs erste eigene explorative Daten und Auswertungen für das multifunktionale, polymediale Smartphone und seine Einbettung in familiale Praktiken vorlegen. Dazu wurden drei Orte systematisch unter die Lupe genommen: Sondiert wurde daheim in den Familienwohnungen, an den Übergängen zu institutionellen Zusammenhängen und an öffentlichen Orten, an denen die Familien als Familien präsent sind (Gaststätten, Spielplätze). Berichtet werden Situationsanalysen aus dem öffentlichen Raum – Situationen, in denen durch das Smartphone präsente Dritte die Interaktion von Eltern und Kind beeinflussen. Als neue Sozialisationskonstellation wird hier eine, durch Präsenzerfordernisse mitbedingte, quasi-symbiotische Inkorporation des Handys in die Eltern-Kind-Interaktion herausgearbeitet.Diese ist zwar störungsanfällig, besticht aber gleichzeitig durch ihre Kreativität. Das Smartphone 'wirkt' also nicht linear-kausal auf die Familieninteraktionen, sondern wird eingewoben in den Teppich der Herstellung von Familie und verändert gleichzeitig in noch zu erforschendem Ausmaß die Textur des Teppichs. Während das Öffentliche bei Wiesemann et al. als Forschungssetting vorausgesetzt ist, begibt sich Michael Viertel auf die Spuren der Entstehung der Differenz des Öffentlichen zum Privaten durch die Medien am Beispiel von Hörmedien in der mittleren Kindheit. Seine Schlussfolgerungen entwickelt er in dem Text Vom Beginn des Privaten und Öffentlichen. Zum Phänomen eines öffentlichen und privaten Sprechens von Kindern am Beispiel der Aneignung von Hörkassetten und Hör-CDs in der mittleren Kindheit. Das Private gilt seit der bürgerlichen Moderne als bevorzugter Raum der Persönlichkeitsentwicklung. In der Ontogenese etabliert sich das Verständnis der Differenz zwischen Öffentlichkeit und Privatheit nicht zuletzt auch in Gestalt der Nutzung von Medien. Nach einer historischen Skizze, welche die relative Neuheit eines Verständnisses privater Kindheit unterstreicht, berichtet der Autor über sein Forschungsprojekt. Dessen Datenbasis bilden Gruppendiskussionen und Einzelinterviews. Hörgeschichten entpuppen sich durch diesen doppelten Zugriff einerseits als Praxis der Entlastung im Rahmen des Einschlafens, welches in der mittleren Kindheit nicht mehr so stark von den Eltern begleitet wird wie im Kleinkindalter. Ferner dienen die Hörgeschichten zum 'Runterkommen' nach der Schule. Andererseits stellen sie die Zielscheibe einer Stigmatisierung des öffentlich bekundeten Hörens von bestimmten Geschichtengenres dar. Diese werden als dem schon erreichten Alter nicht mehr angemessen abgewertet, und damit der Hörer oder die Hörerin ebenfalls. Zusammengebracht bedeutet dies, dass Hörgeschichten einerseits private Kontinuität sichern, andererseits man sich öffentlich, in kindspezifischen Öffentlichkeiten allemal, unter Umständen vehement davon distanziert. Eine noch selten bedachte Facette der Mediatisierung von Familie und Kindheit besteht darin, wie Helen Knauf in ihrem Beitrag Soziale Netzwerke als Instrument der Bildungs- und Erziehungspartnerschaft mit Familien in Kindertageseinrichtungen unter Bezug auf deutsche und amerikanische Daten darlegt, dass Kindertagesstätten den Austausch mit Eltern über die unmittelbare Face-to-Face-Situation bei Elternabenden hinaus durch den Einbezug sozialer Medien wie Facebook und Twitter ergänzen. Diese Überlegung resultiert aus den in der Literatur breit abgehandelten Barrieren der Kooperation zwischen Fachkräften und Eltern, die in der unterschiedlichen Auffassung von Kooperationsformat und Kooperationsinhalt sowie in dem ohnehin schon dicht getakteten Alltag der Familien gesehen werden. Ins Visier der empirischen Erhebung nahm die Autorin dabei ausgewählte Posts der Einrichtungen und unterzog sie einer inhaltsanalytischen Auswertung. Drei Hauptfunktionen schälten sich heraus: Dokumentieren, Informieren und Verbinden, jeweils noch differenziert in Unterkategorien. Im Vordergrund steht dabei, im Unterschied zu anderen Organisationen, das Dokumentieren als Vehikel der Demonstration von Transparenz, vor allem über den Tagesablauf der Kinder.Zudem ergeben sich nach Ansicht der Autorin neue Möglichkeiten der neutralen Bildungsdokumentation.
Die Erschütterung der ontologischen Gewissheiten im Sinne der selbstverständlich unterstellten Ko-Präsenz als Grundlage des Familienlebens ist eine weitere mögliche Konsequenz der Mediatisierung, wie Heike Greschkes Artikel "Mama, bist Du da?" Zum prekären Status von Anwesenheit in mediatisierten familialen Lebenswelten zeigt. So wird das Familienleben im Normalfall, unter stationären Bedingungen, von Medien mitgestaltet und durchdrungen. Im Falle multilokaler und transnationaler Familien haben sie aber einen ungleich höheren Stellenwert. Sie können als ein Katalysator und Stifter sozialer Kontakte der Familienmitglieder untereinander gelten und eventuell in bestimmten Fällen als erleichternder oder gar ausschlaggebender Impuls, 'zerstreute' Formen der Familie überhaupt einzugehen oder zu etablieren. Überdies liefert die Autorin Argumente dafür, Abschied zu nehmen von einer normativ-kulturpessimistischen Bevorzugung der leiblichen Kopräsenz als "besserer Form der Interaktion" und sich zu öffnen für die Hybridkonstellationen von leiblich und medial vermittelten Formen von Präsenz. Typisch für die späte Moderne sind dann Grade von Anwesenheit, die in differenzierter Art und Weise von Medien mitreguliert werden und die in neuer Form immer wieder auszuhandeln sind. Ebenfalls eine mehrkulturelle Note weist der Beitrag von Ilka Goetz, Habib Güneşli und Gudrun Marci-Boehncke auf, überschrieben mit Migration und Gender: Medienaneignung in der frühen Bildung in intersektionaler Perspektive. Auseinandersetzungen mit der Bildungsgerechtigkeit sind im Feld des Medienzugangs und der Medienrezeption heute in theoretisch anspruchsvoller Weise bevorzugt als intersektionale Analyse zu betreiben: Es geht den Autorinnen und dem Autor konkret um das Zusammenwirken der Faktoren Soziales Milieu, Kultureller Hintergrund und Geschlecht in einem ersten Zugriff auf Daten zur Benachteiligung im Bildungssystem, danach in einer Darstellung eines eigenen, interventionsorientierten Forschungsprojektes. Hier zeigen sich markante Unterschiede der Einschätzung eines Medienkompetenzzuwachses entlang der Beurteilungsposition Eltern versus Erzieherinnen, der erst dann deutlich wird, wenn der kulturelle Hintergrund und das Geschlecht des Zielkindes betrachtet werden. Daraus ergeben sich Notwendigkeiten der unterschiedssensiblen medienpädagogischen Arbeit in Kitas. Für einen engeren Dialog mit der neuen Kindheitssoziologie plädiert Andreas Lange im abschließenden Aufsatz Glück und Medien in der spätmodernen Kindheit. Dort hat sich in jüngerer Zeit vor allem die Auseinandersetzung mit den Bedingungen des kindlichen Wohlbefindens, kindlicher Lebensqualität und kindlichen Glücks als ein Schwerpunkt der Forschung und der praktischen Umsetzung etabliert. Überträgt man dieses Ansinnen der Dechiffrierung der Bedingungen des Kinderglücks auf die Medien, öffnen sich interessante neue Perspektiven auf Fragen der Medienwissenschaft und der Medienpädagogik.
Wirkung und soziale Praxis beachten
Die Zusammenschau der Artikel erlaubt einige übergreifende Trends zu identifizieren und Aufgaben für die Forschung und praktische Arbeit zu formulieren. Hervorgehoben werden soll an erster Stelle, dass die Artikel nicht alleine für den medienpädagogischen und medienwissenschaftlichen Diskurs neue Einsichten bergen, sondern vor Augen führen, dass wir Zeugen der Umstellung basaler Formen von Sozialität in der späten Moderne werden. Medien und Medienartefakte fädeln sich in den Strom der alltäglichen Praktiken in Familie, Schule, Kita und öffentlichen Settings ein und weben gemeinsam mit den menschlichen Akteurinnen und Akteuren ein dichtes, gleichwohl sich permanent veränderndes Netz der graduellen Kopräsenz und Konnektivität. Übergreifende Herausforderungen an den Umgang damit sind darin zu sehen, dass an den elterlichen Haushalt oder andere 'stationäre' Settings gebundene Mediennutzungsmodi ergänzt werden durch solche, die im öffentlichen Raum, abseits von Familie und Bildungsinstitutionen, genutzt werden können und damit einem autonomen Gebrauch durch die Kinder in die Hände spielen. Auf einer forschungsstrategischen Ebene kristallisiert sich bei der Lektüre die Botschaft heraus, dass die komplexe Medienwelt und die subtilen Aneignungspraktiken sich nur angemessen in einer interdisziplinären und multimethodischen Allianz verstehen und erklären lassen. Hierbei sollte das gesamte Spektrum an Methoden, insbesondere auch non-verbaler Datenerhebungen, ausgeschöpft werden. Ein zweiter Punkt, der hier genannt werden soll, nimmt die Vielfalt der Medien, die damit verbundenen zahllosen situations- und bedürfnisspezifischen Funktionen, die diese zu erfüllen versprechen und dies zum Teil auch tun sowie ihre Präsenz in unterschiedlichsten Nutzungssettings in den Blick. Damit verbunden sind nicht nur Fragen nach der immanenten Mediatisierung des familiären Alltags, sondern auch die Forderung nach einer Methodenvielfalt, um die Bedeutung dieser Mediatisierung zu erforschen und sie dadurch in ihren verschiedenen Facetten zu verstehen. Es genügt nicht, einen klassischen Survey zu Nutzung und Umgang durchzuführen. Ein solcher kann nur einen ersten Anhaltspunkt für tiefergehende Fragen nach Motiven und Gründen geben, hat damit aber in jedem Fall seine Berechtigung. Ergänzt werden muss so ein quantitativer Überblick durch weitere Methoden und interdisziplinäre Kooperationen entsprechend der Fragen, die es zu beantworten gilt. Auch wenn die Medienpädagogik im ersten Moment vielleicht wenig Anknüpfungspunkte mit der Medieninformatik aufweist, so sind die Erkenntnisse aus medieninformatischen Gebrauchsstudien doch hilfreich und notwendig, wenn es darum geht, einerseits Medien und Medienangebote in Kinderhänden kritisch einzuschätzen und das Medienverhalten von Kindern zu verstehen. Andererseits können basierend auf diesen Erkenntnissen gekoppelt mit Ergebnissen aus eigenen medienpädagogischen Untersuchungen Forderungen zur Weiterentwicklung medialer Produkte formuliert werden, die sich an altersentsprechenden Fähigkeiten und Herangehensweisen orientieren und somit die kindliche Aneignung im Hinblick auf einen souveränen Medienumgang unterstützen können. Einen ganz anderen Weg als die Usability-Forschung verfolgen Studien, die einem ethnografischen Vorgehen folgen und deren Ziel es ist, Medienaneignung eingebettet in den je individuellen Kontext zu erfassen. Diese Beispiele – und das zeigen auch die Beiträge in diesem Heft – machen den Wert deutlich, den eine Methodenvielfalt sowie ein interdisziplinärer Austausch haben, wenn es um das Verstehen und die Unterstützung der kindlichen Medienaneignung geht.Eine Frage, der bisher nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, die aber in künftigen Forschungen zur Medienaneignung jüngerer Kinder mit berücksichtigt werden muss, ist die Bedeutung von zeitdiskreten und zeitkontinuierlichen Medien, die in unterschiedlicher Weise Zuwendung fordern und Aufmerksamkeit binden. Die Rezeption des zeitdiskreten Mediums Buch verlangt keine durchgängige Aufmerksamkeit. Die Zuwendung zum Text und – beispielsweise bei einem Bilderbuch – zu den Bildern kann jederzeit unterbrochen und zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgenommen werden, ohne dass die Leserin oder der Leser etwas vom Inhalt verpasst oder sich dieser ändert. In der Zeit der Unterbrechung kann die Aufmerksamkeit auf etwas anderes gerichtet werden. So können Vater oder Mutter während der gemeinsamen Rezeption von Eltern und Kind jederzeit auf das Kind eingehen, sie können Fragen beantworten, auf emotionale Äußerungen des Kindes reagieren oder die Rezeption unterbrechen, weil das Kind müde und nicht mehr aufnahmefähig ist, also die Reaktionen des Kindes interpretieren. Die Rezeption des Buches kann zu einem beliebigen Zeitpunkt wieder aufgenommen werden. Eine App dagegen ist ein zeitkontinuierliches Medium. Durch verschiedene fortlaufende und aufeinander aufbauende Reize wie Videos, Audios, animierte Szenen und Geschichten, in eine Geschichte integrierte Rätsel und Aufgaben, die zur Interaktion anregen, bindet es die Aufmerksamkeit der Rezipierenden stärker. Es ist schwieriger, während der Rezeption die Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu richten als auf das mediale Angebot. Auch eine Unterbrechung fällt schwerer, weil es oft nicht möglich ist, dort weiterzumachen, wo aufgehört wurde. Schon jetzt spielen Apps bei jüngeren Kindern eine wichtige Rolle. Daran schließt sich die Frage an, was diese medienimmanenten Merkmale aber für die Aneignung von Medieninhalten gerade jüngerer Kinder bedeuten? Ein letzter Komplex von Herausforderungen, der hier aufgegriffen werden soll, zentriert sich um Begriffe wie Absorption, Immersion; jüngst ist auch die Rede von 'POPC' , also vom Trend "permanent online und permanent connected" zu sein, was eine neue Form der Lebensführung konstituiert (Vorderer 2015). Hier stellt sich beispielsweise die Frage, was es für die Bewältigung sozialer Situationen sowie interpersonelle Kommunikation und Beziehung, insbesondere zwischen Eltern und Kindern bedeutet, wenn diese sich kaum mehr aus ihren Spiel- und Kommunikationswelten lösen können und diese aufgrund von Aufgaben, die in einem bestimmten Zeitraum erledigt werden müssen, der Notwendigkeit, jederzeit auf Nachrichten von Freunden reagieren zu müssen, eine übermächtige Bedeutung im Alltag erhalten. Zusammengefasst sind die Artikel als eine erste, sicherlich sehr selektive Zwischenbilanz der Umbrüche des Aufwachsens im ersten Lebensjahrzehnt in Zeiten der Mediatisierung zu verstehen, die begleitet sind von Umwälzungen der Formen des Zusammenlebens und der Formen der institutionalisierten Betreuung und Bildung. Sie präsentieren wichtige Einblicke in dieses Feld, verweisen aber gleichzeitig auf einen immensen Forschungs- und Theoriebildungsbedarf, der letztlich auch der Steigerung der Lebensqualität der Heranwachsenden dienen soll.Literatur Tomasello, Michael (2010). Warum wir kooperieren. Frankfurt: Suhrkamp.Vorderer, Peter (2015). Der mediatisierte Lebenswandel. Permanently online, permanently connected. Publizistik, 60 (3), S. 259-276.
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