Blogbeitrag11. Juli 2024

So grundlegend wie das Einmaleins

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Abstract

Die Ständige wissenschaftliche Kommission der KMK präsentiert ihre Empfehlungen für eine hochwertige Demokratiebildung in den Schulen. Was folgt daraus für den Fachunterricht und für die Schulentwicklung? Eine fordernde Stellungnahme inmitten der Demokratiekrise.






Foto: Pxhere, CCO.






"WIE WICHTIG DEMOKRATIEBILDUNG IST, sehen wir jeden Tag", sagt die Berliner Schulpädagogik-Professorin Felicitas Thiel. Deshalb hat die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) der
Kultusministerkonferenz, deren Ko-Vorsitzende Thiel ist, jetzt eine umfangreiche Stellungnahme erarbeitet. Sie lag dem Wiarda-Blog exklusiv vorab vor.



 



76 Seiten, die aufzeigen sollen, welch zentrale Rolle die Schulfächer Geschichte und Politik einnehmen, damit Kinder und Jugendliche zu selbstbestimmten, politisch entscheidungsfähigen Bürgern
heranreifen können. Und was daraus für diese Fächer folgen sollte. Doch, betonen die 16 Forscher, die die Bildungspolitik beraten, damit Demokratiebildung in der Schule gelingen
kann, brauche es noch mehr. "Nehmen Sie den Krieg in Nahost", sagt Thiel. "Die Konflikte zwischen den Schülern warten nicht, bis der Fachunterricht anfängt, sie sind eine Angelegenheit der
gesamten Schule." Genauer: eine Angelegenheit der Schulfächer und der Schule als Lebensort.



 



Sieben Empfehlungen hat die SWK formuliert. Die erste und irgendwie auch erwartbarste für ein Gremium voller Bildungswissenschaftler: So, wie es die Hauptfächer wie Deutsch, Mathematik,
Englisch oder die Naturwissenschaften längst haben, so brauche es auch für die Demokratiebildung in Geschichte und Politik genau definierte und verbindliche
Kompetenzziele. Auf die, fordert die SWK, sollten alle Bundesländer sich verständigen auf der Grundlage vorliegender bildungswissenschaftlicher Kompetenzmodelle und unter Einbeziehung
der Fachgesellschaften für die Didaktik der Geschichte und der Politik. Warum verbindlich? Weil sich dann daraus, ebenfalls wie in anderen Fächern, Bildungsstandards ableiten lassen.



 



Bildungsstandards für
die Demokratiebildung



 



"Die Festlegung von Bildungsstandards für diese Fächer ist sicher komplexer als beispielsweise für Mathematik, aber eine Auseinandersetzung mit der Frage, was hier erreicht werden soll, wäre
wichtig", sagt SWK-Mitglied Petra Stanat, die zusammen mit Thiel die Federführung bei der Stellungnahme hatte.



 



Das Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), das Stanat leitet, ist in Deutschland im Auftrag der Länder für die Weiterentwicklung von Bildungsstandards zuständig. Und für deren
Operationalisierung und Prüfung. Denn auch das gehört zur Logik der Bildungsstandards: dass man ihr Erreichen durch die Schüler, Stichwort Bildungsmonitoring, zumindest teilweise auch
abprüfen kann.



 



Moment mal, könnte man an der Stelle einwenden, lässt sich die Befähigung zur Demokratie wirklich so testen, wie Pisa oder die IQB-Bildungstrends es bei den Grundkompetenzen im Lesen, Schreiben
oder Rechnen tun?



 



Ja, hatte schon vergangenes Jahr der Münchner Bildungsökonom Ludger Wößmann hier im Blog gesagt.
Wößmann hatte da gerade seine Mitarbeit in der Kommission "Demokratie und Bildung" abgeschlossen, die auf Initiative der Hertie-Stiftung ebenfalls Empfehlungen für die
Demokratiebildung an Schulen zu erarbeitet hatte. Am wichtigsten, sagte Wößmann, sei die Feststellung, dass Demokratiebildung in der Schule unbedingt auf die nationale politische Agenda gehört.
Es brauche verbindliche Bildungsstandards für die Demokratiebildung entwickeln, "wie wir sie bereits für Deutsch, Englisch oder Mathematik haben. Und zweitens brauchen wir eine Art
Demokratie-Pisa."



 



IQB-Chefin Stanat äußert sich da ein Stückweit zurückhaltender. "Ganz am Ende steht dann die Frage, in welcher Form man die Zielerreichung überprüfen will und für welche Kompetenzbereiche dies
überhaupt möglich ist. Hierzu gibt es bereits einige Vorarbeiten, an denen man sich orientieren kann."



 



Tatsächlich: So abwegig ist das nicht. Auch in Deutsch, Mathe oder Englisch werden parallel abprüfbare und nicht abprüfbare Kompetenzen vermittelt, warum nicht auch in Geschichte oder Politik?
Wenn dafür im Gegenzug ein gelegentlich diffus erscheinendes Ziel – Demokratiebildung! – fassbarer wird.



 



"Es gibt ja längst aussagekräftige Vorbilder, an denen wir uns orientieren können, zum Beispiel die International Civic and Citizenship Education Study (ICCS), bei der in der Vergangenheit die
meisten westlichen Länder mitgemacht haben. Im Gegensatz zu Deutschland", sagte bereits im vergangenen Jahr der Bildungsökonom Wößmann. Das ist das "Demokratie-Pisa", auf das er anspielt und
das auch die Ständige Wissenschaftliche Kommission auf ihren 76 Seiten gleich ein knappes Dutzendmal erwähnt.



 



Demokratiebildung ohne Kenntnis
der Geschichte geht nicht



 



Die zweite Empfehlung der Kommission ist wie die erste eigentlich eine Forderung: Es brauche ein "durchgängiges Unterrichtsangebot in den Fächern Politik und Geschichte" sowie
die "Orientierung an einem Spiralcurriculum von der Grundschule bis zum Ende der Sekundarstufe I", "das am Leitbild geschichtsbewusster, mündiger Bürger:innen ausgerichtet ist".



 



Das mit dem "geschichtsbewusst" ist ein Aspekt, auf den die SWK immer wieder pocht, und zugleich der Grund, warum die Stellungnahme der Kommission die Fächer Geschichte und Politik in
einem Atemzug nennt: Demokratiebildung ohne Kenntnis der Geschichte, das geht nicht. "Historische Narrative sind zentral für die Ausbildung kollektiver Identitäten", sagt Felicitas Thiel. In
einer Einwanderungsgesellschaft träfen unterschiedliche Narrative aufeinander. Es sei wichtig, dass Schüler:innen historisch falsche oder verzerrte Narrative erkennen. "Das gilt für
Narrative der Reichsbürger ebenso wie für die der türkischen Grauen Wölfe, um nur einmal zwei aktuelle Beispiele herauszugreifen. Das bedeutet: Auch der Geschichtsunterricht trägt zur
Demokratiebildung bei."



 



Die Realität allerdings, auf die die SWK ebenfalls hinweist, sieht so aus, dass in etlichen Bundesländern in den Klassen 5 und 6 gar kein Politik- und Geschichtsunterricht stattfindet. Und dass
der Sachunterricht sich bis in diesen Jahrgängen oft mit allem Möglichen beschäftigt, aber allzu selten mit Demokratiebildung oder der Bearbeitung historischer Zusammenhänge. Thiel warnt: "Wenn
wir das Wahlalter senken wollen, müssen die Jugendlichen früher politisch entscheidungsfähig sein." Dazu passe keine Politik- und Geschichts-Lücke in der 5. und 6. Klasse. 



 



Aber woher die Stunden nehmen, wenn die Länder gleichzeitig – und ebenfalls auf Empfehlung der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission – aufgrund unter anderem der schlechten Pisa- und
IQB-Ergebnisse den Umfang des Deutsch- und Matheunterrichts hochschrauben?



 



Welche Rolle die anderen
Schulfächer spielen sollen



 



"Natürlich gibt es einen Zielkonflikt, weil die vorhandenen Schulstunden endlich sind", räumt SWK-Kochefin Thiel ein. "Trotzdem ist es richtig, dass die Länder das Stundenkontingent für Deutsch
und Mathe erhöhen. Wenn die Schüler zum Beispiel in Deutsch das Argumentieren einüben, zahlt das als Kompetenz auch auf die Demokratiebildung ein." Sie würde eher woanders hinschauen, fügt Thiel
hinzu: "Bevor wir Wirtschaft als zusätzliches Fach einführen, sollten wir die Grundlagenfächer Politik und Gesellschaft stärken. Und wenn die Kultusminister wie kürzlich beschlossen den
Sachunterricht ebenfalls ausbauen, was sinnvoll ist, dann sollten dafür auch Kompetenzziele in der Demokratiebildung definiert werden."



 



Den Sachunterricht also besser nutzen, ihn in Bezug auf die Demokratiebildung genau wie Politik, Geschichte und ähnliche Verbundfächer gezielt
weiterentwickeln, das ist zugleich die SWK-Empfehlung Nummer 3. So wie die Empfehlung 4 darin besteht, Demokratiebildung als fachübergreifendes Prinzip in allen Schulfächern zu
verankern. 



 



Im restlichen Teil ihrer Stellungnahme beschäftigt sich die Kommission vorrangig mit der Frage, wie Schulentwicklung, Partizipation und eine demokratische Schulkultur miteinander
zusammenhängen – und wie die Lehrkräftebildung speziell in Geschichte, Politik und in den Verbundfächern, dann aber auch übergreifend für alle Fächer auf eine
hochwertige Demokratiebildung hin ausgerichtet werden kann.



 



Die Begeisterung für derlei Ansinnen, das wissen sie auch in der Kommission, wird sich in der ohnehin mitten in der Transformation steckenden Lehrkräftebildung (ein anderes
SWK-Schwerpunktthema) genauso in Grenzen halten wie in vielen Schulen, die angesichts des Lehrermangels am Limit operieren. "Die Frage, ob die Schule mit all den Erwartungen an sie
überfordert wird, ist berechtigt", sagt Felicitas Thiel. Umgekehrt sei Schule aber "der einzige Ort, an dem man alle Kinder und Jugendlichen erreichen kann. Darum gehört auch die
Demokratiebildung in ihrer ganzen Breite dorthin."



 



Das Signal der
SWK-Wissenschaftler



 



Entsprechend klingt die letzte Empfehlung der Kommission fast ein wenig wie der Ausdruck von schlechtem Gewissen angesichts all der geäußerten Erwartungen. "Strukturelle und materielle
Voraussetzungen für die Verankerung der Demokratiebildung auf allen Ebenen schaffen", lautet sie, womit die SWK unter anderem ein "länderübergreifendes Monitoring" von den
Kultusministern fordert , "das Daten zu Gelegenheitsstrukturen und Ergebnissen historisch-politischer Bildung systematisch erfasst und für unterschiedliche Akteure im Bildungssystem aufbereitet"
– also eine Art Best-Practice-Service zum Nachmachen.



 



Außerdem und vor allem aber raten die Experten, "ausreichende und verlässliche Unterstützungsstrukturen für Lehrkräfte und Schulen zu Demokratiebildung (Akteure der
außerschulischen Bildungsarbeit) und Extremismusprävention (insbesondere Schulpsychologie, externe Beratungsstellen sowie Polizei und Justiz)" bereitzustellen. Lasst die Schulen nicht allein, das
ist die Botschaft an Politik und Gesellschaft. 



 



Schüle könne und solle sich von außen unterstützen lassen, betont auch Thiel. Es gebe "hervorragende außerschulische Träger der Demokratiebildung, es gibt verschiedene Initiativen, die
sich alle gern in der Schule einbringen. Der Ganztag ist eine sehr gute Möglichkeit dafür." Nur der Ganztag allein werde es eben nicht richten. "Es braucht den Fachunterricht."



 



"Stellungnahme" steht auf der Titelseite der SWK-Empfehlungen – was in der Nomenklatur des Gremiums bedeutet, dass sie aus Eigeninitiative der Experten entstanden sind, anders als die von den
Kultusministern beauftragten "Gutachten". Diese Feststellung ist nicht trivial. Sie zeigt das Selbstverständnis der Kommissionsmitglieder, die mehr sein wollen als wissenschaftliche
Stichwortgeber. Sie wollen angesichts des erstarkenden Antisemitismus, in Zeiten des politischen Rechtsrucks und eines drohenden Erdrutsches bei den Wahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg
im Herbst ein Signal senden: Demokratie fängt mit – guter – Schule an. Und: Demokratiebildung ist kein Gedöns, kein Nice-to-Have, sondern genauso fundamental wie korrekte
Rechtschreibung und das große Einmaleins. Nein, seien wir ehrlich: wichtiger.



 



Dem wird keine und keiner der gegenwärtigen Kultusminister widersprechen. Doch, sagt die SWK sehr deutlich, dann handelt jetzt auch so.



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