Open Access BASE2013

Michaela Bauks/Martin F. Meyer (Hg.): Zur Kulturgeschichte der Scham.: Hamburg: Meiner 2011. (Archiv für Begriffsgeschichte: Sonderheft 9). ISBN 978-3-7873-1979-4. 232 S. Preis: € 98,-

Abstract

"Sie sah ihn nicht einmal an, […] Morten küsste sie langsam und umständlich auf den Mund. Dann sahen sie nach verschiedenen Richtungen in den Sand und schämten sich über die Maße." Scham – ein Gefühl, das die Menschheit seit Jahrtausenden begleitet. In diesem Zitat aus Thomas Manns Buddenbrooks. Verfall einer Familie klingt ein kleiner Teilaspekt eines menschlichen Phänomens an, das von sexueller Scham, Scheu, Schuld bis zu Schande, Peinlichkeit, Schamhaftigkeit reicht und in einer 2009 veranstalteten Tagung "Zur Kulturgeschichte der Scham" vom Institut für Kulturwissenschaft der Universität Koblenz Landau analysiert wurde. Das daraus entstandene Buch präsentiert ein bunt gemischtes Programm aus zwölf Beiträgen zur Scham, wobei theologische, soziologische, moralphilosophische neben anthropologischen und historischen Zugängen für eine Diversität sorgen, die für diese Thematik fruchtbar ist. In "Zur Nacktheit und Scham in Genesis 2–3" (Erzählung der Vertreibung aus dem Paradies in der Bibel) erläutert die Herausgeberin Michaela Bauks semantisch wie das doppeldeutige Wort 'Scham' (weibliche Scham bzw. Gefühl der Scham) unterschiedlich gedeutet und übersetzt wurde. Das im Althebräischen zunächst als "Schande, Beschämung" begriffene Wort verwandelt sich im Mittelhebräischen in "Schamhaftigkeit". Spätestens im Mittelalter wird die Vertreibung aus dem Paradies als "Sündenfall" bewertet. Bauks kommt zu dem Schluss, dass das Sich-Schämen im Paradies aber nicht sexuell besetzt ist, sondern als ein "In-Schande-Sein als Konsequenz unloyalen Verhaltens gegenüber Gott" (S. 23) zu werten sei. Gott stattet die Menschen letztendlich mit Kleidung aus, nicht um ihre körperliche Nacktheit zu verhüllen, sondern um ihnen einen Schutz gegen die Verletzlichkeiten, die das Leben außerhalb des Paradieses mit sich bringt, zu bieten. Anhand des frühgriechischen Epos Illias erläutert Martin F. Meyer das klassische griechische Denken in Bezug auf die Scham anders: Das Thema der Schamempfindung habe einen großen Stellenwert; es sei jedoch mehr der Verlust des Ehrgefühls bzw. die Folge einer Verletzung der Norm in der sozialen Gruppe z. B.: Fliehen vor einer Kampfhandlung. Bei Hesiod sei die Scham stark mit dem Gefühl des Rechts verbunden. Meyer verweist auch auf eine Abhandlung über die Rolle der Bettler und die soziale Scham im letzten Teil der Odyssee. Schämen dürfe sich nur derjenige, der auch um Achtung kämpfen muss. Jörn Müller beschreibt die Scham bei Augustinus und Thomas von Aquin. Bei Ersterem ist die Scham eindeutig jene für und vor dem eigenen Körper, den man nicht kontrollieren kann. Bei Thomas von Aquin ist sie die Furcht vor der Schändlichkeit, die bei Unmäßigkeit existiert. Müller interpretiert dies als Proportionalitätsbeziehung. "Unmäßigkeit ist zwar schändlich, aber nicht automatisch sittlich schlecht" (S. 62). Rudolf Lüthe befasst sich in seinem Beitrag mit David Humes Lehre zu "pride" and "humility" im 18.Jahrhundert. Da der Begriff "humility" auf Deutsch zwischen Niedergedrücktheit, Demut und Scham changiert, hält Lüthe sich gar nicht mit Übersetzungen auf, sondern stellt einen Hume-Katalog der Eigenschaften zusammen, die "humility" auslösen. Wir schämen uns unserer inneren und äußeren Mängel wegen, unserer Laster, unserer Hässlichkeiten und unserer Armut, die wieder im Betrachter Antipathie auslösen, weil sie als glücksgefährdende Eigenschaften erlebt werden. Als Scham und Schande im sozialen Sinn sieht Michael Meyer "shame" in der frühen Neuzeit Englands. Scham ist eine "internalisierte Verhaltenskontrolle" (S. 86), die aber rang- und gesellschaftsspezifischen Unterscheidungen unterliegt. Scham und Schande können entsprechend auch als Instrumente der Macht fungieren. In Ulrike Bardts Ausführungen finden wir Analysen des Themas von Micha Hilgers, der Scham als Regulativ des Selbst auch in Bezug auf unsere Wirkung auf die anderen sieht – ein positives Gefühl, das "förderlich für die Identitätsfindung und die Autonomie des Menschen" (S. 107) sei. Die Autorin untermauert die These mit Zitaten von Descartes, Montaigne, Rousseau und Sartre. Für den Laien ist der "Versuch über die Transzendentalität der Scham" von Werner Moskopp, in dem er die Scham bei Kant reflektiert, auf sehr hohem Niveau angesiedelt. Die Scham sei eine Art "Zwischenphänomen" (S. 132), das uns helfe, dem Postulat der Unsterblichkeit der Seele und unserer Vervollkommnung (die wir natürlich nicht erreichen können) näher zu kommen. Jürgen Boomgaardens Exkurs zu Kierkegaards Schambegriff ist leichter zu verstehen: Scham und Angst sind seit Adam und Eva eng miteinander verbunden. Der Mensch ist quasi durch dieses Gefühl gefangen, besinnt sich aber dann auf sich selbst und seine bis dato unbeachteten Möglichkeiten. Eine Entfesselung seines Potentials wird durch Scham erst ermöglicht. Dieser Artikel ist aufgrund seiner Verständlichkeit – bei gleichzeitiger wissenschaftlicher Fundiertheit – ein Highlight dieser Phänomenologie. Max Schelers anthropologisch-philosophische Deutung der Scham – beleuchtet durch Eduard Zwierlein – sieht in der Scham "ein schönes Verbergen des Schönen" (S. 165). Scham und Ehrfurcht stünden nahe nebeneinander. Das Vermögen des Menschen, Scham zu empfinden, situiere ihn zwischen Tieren und Göttern. Nach Japan führt Clemens Albrecht in "Zur Wirkungsgeschichte der Unterscheidung von Scham- und Schuldgefühlen", basierend auf Ruth Benedicts 1946 (im Auftrag der US-Regierung) entstandener Studie "The Chrysanthemum and the Sword. Patterns of Japanese Culture". Kritisch interpretiert Albrecht das darin angesprochene Schamgefühl, das bis zum heutigen Tag im Westen kulturgeschichtlich missverstanden werde, auch bedingt durch Benedicts politisch-historisch gefärbte Auslegung (zeitliche Nähe zur japanisch-amerikanischen Auseinandersetzung im Zweiten Weltkrieg). Die Verschiedenheit und die Gemeinsamkeit, das, was man sieht, zu sehen glaubt oder das verborgen bleibt, machen für ihn die Basis der Scham und auch der Anthropologie aus. Der Soziologe Axel T. Paul behandelt das Werk Norbert Elias' Über den Prozeß der Zivilisation aus den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts und die Kritik von Hans-Peter Duerr an diesem Werk. Betitelt mit "Die Gewalt der Scham" stellt Paul diese beiden Werke einander gegenüber und versucht eine Dialektik zwischen Scham und Schamlosigkeit zu entfalten. Christina-Maria Bammels Artikel "Zur Relevanz der Scham im Theater und dramatischen Denken" beendet diese Phänomenologie. "Im Theater wird aufgeführt, wie maßlos Menschen sein können, wenn ihnen die Scham fehlt" (S. 221). Durch den Fall der Protagonisten werde die Geschichte für das Theater interessant. Beispiele aus Shakespeares Stücken belegen dies. Der Autorin fällt es jedoch schwer, nach der interessanten theaterwissenschaftlichen Abhandlung über Darstellung, "Lebensschauspieler" (S. 227) und Maske den Bogen zur Scham und den Zitaten von Nietzsche und Plessner zu spannen. Insgesamt eröffnen die unterschiedlichen Beiträge zur Scham in diesem Buch ein erstaunlich breit gefächertes Spektrum, das auch dazu einlädt, sich mit den Autoren selbst näher zu beschäftigen.

Verlag

tfm | Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien

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