Betriebsratsvorsitzende als paradoxe Führungskräfte
In: Macht und Psyche in Organisationen, S. 279-319
Abstract
Der Verfasser analysiert die rechtlichen Grundlagen der Position des Betriebsratsvorsitzenden im Unternehmen und stellt fest, dass die 'Geführten' (das Gremium, in dem jedes Mitglied gleiches Stimmrecht hat) und nicht die 'Führungskraft' (die oder der Vorsitzende) 'Souverän' der Betriebsratsarbeit sind. Gleichzeitig hat der Vorsitzende jedoch aufgrund seiner Stellung auf der Grenze des Betriebsratsgremiums eine deutlich hervorgehobene Position. Er vertritt laut Gesetz zum einen den Betriebsrat nach außen, ist Ansprechpartner und Verhandlungspartner für die Geschäftsleitung und verantwortet die Beschlüsse des Betriebsrats nach außen - und er organisiert und verantwortet zum anderen auch die Arbeit innerhalb des Gremiums. Dies stellt an die Person des Betriebsratsvorsitzenden ausgesprochen heterogene und widersprüchliche Anforderungen, deren jeweils situationsgerechte und rollenadäquate Bewältigung ein hohes Maß an triadischer Kompetenz erfordert. Es wird gezeigt, dass der Betriebsratsvorsitzende in doppelter Weise Führungskraft ist: Er ist 'Anführer' der Belegschaft und des Gremiums und zugleich Führungskraft in der betrieblichen Hierarchie. Insofern resultiert die paradoxe Rolle des Betriebsratsvorsitzenden letztlich aus dem System Mitbestimmung selbst. Mehr als den anderen Gremienmitgliedern kommt Betriebsratsvorsitzenden die Aufgabe zu, zwei unterschiedliche, ja widersprüchliche Strukturen zu verbinden und sie miteinander kommunikationsfähig zu halten: zum einen die hierarchische Struktur des Betriebs mit ihren Über- und Unterordnungen sowie ihren Top-down-Entscheidungs- und Anweisungsverhältnissen und zum anderen die demokratische Struktur der Willensbildung und Entscheidungsfindung im Inneren eines gleichberechtigten Gremiums. Durch seinen Ort auf der Grenze des Gremiums, als Schalt- und Umschlagsstelle zwischen Innen und Außen, ist der Betriebsratsvorsitzende ein Grenzgänger. Die Chance des Grenzgängers liegen darin, die Differenzen zwischen den verschiedenen betrieblichen Akteuren, Strukturen und Kulturen in sich wahrzunehmen und zu akzeptieren - auch wenn der Grenzgänger, so er verschiedene Perspektiven einzunehmen in der Lage ist und sich mit verschiedenen Interessen und Perspektiven identifizieren kann, sich mit den Begrenzungen seiner Herkunftsidentität konfrontiert sieht und ein Stück weit seinen klaren Standpunkt und damit seinen gesicherten organisatorischen Halt verliert. Aus der Grenzgängerrolle der Betriebsratsvorsitzenden zwischen den hierarchischen und funktionalen Substrukturen des Betriebs, so die These, kann dann ein organisatorischer Lernprozess erwachsen, wenn sie in der Lage sind, ihren Lernprozess den durch sie verbundenen Akteuren zur Verfügung zu stellen. In diesem Sinne beinhaltet seine Position die Chance, zwischen den verschiedenen Kulturen und organisationalen Subsystemen "Übersetzungsarbeit" zu leisten und Verbindungen herzustellen, wo diese nicht oder unzureichend bestehen. Für diese ausgesprochen anspruchsvolle Aufgabe benötigen Betriebsratsvorsitzende kontinuierliche professionelle Unterstützung in Gestalt entsprechender (gewerkschaftlicher) Bildungsveranstaltungen und eines speziell auf ihre Rolle als arbeitnehmerorientierte Manager zugeschnittenen Supervisions- und Coachingsangebots. (ICF2)
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