Aufsatz(gedruckt)2004

Die gesellschaftliche "Seinsverbundenheit" des Wissens: Wissenssoziologie bei Karl Mannheim

In: Sowi: das Journal für Geschichte, Politik, Wirtschaft und Kultur, Band 33, Heft 4, S. 68-83

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Abstract

"Nach Vorarbeiten von Max Scheler und Georg Lukács ist die hier gekürzt dokumentierte Darstellung der 'Wissenssoziologie', die Karl Mannheim für das Handwörterbuch der Soziologie im Jahre 1931 verfasste, eine Art Gründungsdokument der soziologischen Erforschung von gesellschaftlichen Wissenssystemen, auch von denen, die das Etikett 'wissenschaftlich' tragen. Die Klassiker der Wissenschaftssoziologie, beginnend mit Ludwik Fleck, haben hier empirisch präzisiert und angeknüpft. Allenthalben macht der Text deutlich, wie sehr die Wissenssoziologie der Zeit um 1930 auf die Herausforderungen des Marxismus und der Arbeiterbewegung reagiert. Die klassen- und interessenbedingte Relativität alles Wissens, auch des vermeintlich 'wissenschaftlichen', macht den Soziologen der Zeit zu schaffen. Sie gibt, wenn sie nur radikal genug formuliert wird, der allgemeinen Wissens- und Relativitätskrise der Zeit einen klassenkämpferischen Hintergrund in den Machtinteressen der Herrschenden. Karl Mannheim versucht, die soziale 'Relativität' des Wissens anzuerkennen und den wissenschaftlichen Erkenntnisanspruch gleichwohl zu retten. Mannheims Lehre von der mehrfachen 'Seinsverbundenheit' des Wissens lässt aber neben dem Marxismus noch weitere implizite Fronten erkennen. Der Text sucht auch den für die Geisteswissenschaften der Zeit so bedrohlichen Reputationszuwachs und Hegemonieanspruch des weithin für vorbildlich geltenden mathematisch-naturwissenschaftlichen Erkennens zu erklären und gleichzeitig zu relativieren, mit dem Ziel, auch für die sich bedroht fühlenden Geisteswissenschaften einen modifizierten Objektivitätsanspruch zu retten, der im Strudel von Historismus- und Relativitätskrise unterzugehen droht. 'Neue Wissenschaften', so schreibt Karl Mannheim, 'tauchen letzten Endes stets aus dem kollektiven Lebenszusammenhange auf und entstehen nicht erst, nachdem eine Prinzipienwissenschaft ihre Möglichkeit demonstriert hat' (S. 669). Was als erkenntnistheoretisches Fundament der einzelnen Fächer erscheint, das folgt weithin dem empirischen, gesellschaftlichen und technischen Erfolg der einzelnen Fächer. Es versteht sich, dass in dieser Annahme auch eine Zurückweisung der Philosophie als allgemeiner Erkenntnistheorie steckt. Rhetorisch richtet sich der Stoß freilich nicht gegen die Philosophie schlechthin, sondern gegen die als 'exakt-naturwissenschaftlich' apostrophierte Erkenntnislehre des Neukantianismus, dessen fachliches und außerfachliches Ansehen freilich um 1931 bereits deutlich im Niedergang war. Zeitgemäß und zukunftsweisend dürfte auch der Versuch Karl Mannheims gewesen sein, der Analyse gesellschaftlichen Wissens eine pragmatische, auf die jeweils aktuelle 'Lebensdurchdringung' des Wissens gerichtete Wendung zu geben. In dieser Argumentationsfigur ist das Kunststück vollbracht, gleichzeitig den 'zeitlosen' Absolutheitsanspruch des mathematisch-naturwissenschaftlichen Erkennens und den 'zeitrelativen' Absolutheitsanspruch des historisch-philologischen Erkennens der Geisteswissenschaften in Frage zu stellen. Die 'Geltung' gesellschaftlichen Wissens ist weder absolut und unhistorisch wie bei den Naturwissenschaftlern, noch ist sie erklärt, wenn ihre historische Genese gefunden und geklärt ist. Vielmehr müssen immer die aktuellen Kräfte aufgesucht werden, die einen Wahrheitsanspruch in den sozialen und kommunikativen Verhältnissen seiner Gegenwart stützen und halten." (Autorenreferat)

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